Andere Kulturen und dann
noch
die Sache mit der
Religion
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der inzwischen schon fast als selbstverständlich hingenommenen Dominanz des Islam. Keine Religion beansprucht für sich einen so breiten öffentlichen Raum in der gesellschaftspolitischen Diskussion wie der Islam. Nicht selten erfolgt im Diskurs eine völlig irreführende Gleichsetzung von Migrant und Moslem. Richtig ist, dass von den rund 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland höchstens ein Viertel Muslime sind. Das Spektrum der Religionen in Deutschland ist breiter geworden. Und der Islam ist nur eine der Religionen, die neu hinzugekommen sind.
Von den 128 000 Menschen mit Migrationshintergrund in Neukölln sind – wie bereits erwähnt – etwa 57 000 Muslime. Der Islam ist also in Neukölln angekommen, und er wird auch bleiben. Gerade über die Frage, in welchem Verhältnis er zur deutschen Gesellschaft steht, gab es aus Anlass der Rede des damaligen Bundespräsidenten Wulff eine leidenschaftliche Diskussion. So richtig verstanden habe ich die Adrenalinschübe bei einigen Zeitgenossen damals nicht. Ich will zum besseren Verständnis die entscheidenden Passagen aus der Rede zitieren:
»Wir haben erkannt, dass Einwanderung stattgefunden hat, auch wenn wir uns lange nicht als Einwanderungsland definiert und nach unseren Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben auch erkannt, dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und Probleme regelmäßig unterschätzt haben: Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Macho-Gehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. (…)
Und ja, wir brauchen auch viel mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten – etwa bei Schulschwänzern. Zur Wahrheit gehört aber auch dazu: Das gilt für alle, die in diesem Land leben. (…)
Zuallererst brauchen wir eine klare Haltung. Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. (…)
Zu Hause zu sein in diesem Land – das heißt dann, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen: zuallererst die Würde eines jeden einzelnen Menschen, aber auch die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sich an unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art zu leben zu akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller in unserem Land rechnen – das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.
Wir erwarten völlig zu Recht, dass jeder sich nach seinen Fähigkeiten einbringt in unser Gemeinwesen. Wir verschließen nicht die Augen vor denjenigen, die Gemeinsinn missbrauchen. (…)
Wir achten jeden, der etwas beiträgt zu unserem Land und seiner Kultur.«
Wer will gegen diese Formulierungen ideologisch argumentieren? Auch die umstrittene Passage, ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht, ist bei emotionslosem Hinsehen sprachlich geschickt formuliert. Die christlich-jüdische Geschichte wird klar getrennt von dem »inzwischen« hinzugetretenen Islam. Die Existenz von etwa 3,5 bis 4 Millionen Muslimen in Deutschland kann wohl niemand in Abrede stellen. Also ist der Islam da. Beabsichtigt war natürlich eine völlig andere politische Wirkung. Nämlich die, die eingetreten ist. Es ging nicht um einzelne Buchstaben, sondern darum, ob der Islam Teil des Wertekanons und der Werteschöpfung in Deutschland ist oder war. Wenn heute Funktionäre der Muslime im Brustton der Überzeugung behaupten, der Islam habe zur Entwicklung Deutschlands bis hin zu unserer heutigen demokratischen Gesellschaft Wesentliches beigetragen, dann darf sich niemand über Widerspruch wundern. Es hat einige geschmerzt, trotzdem war die Relativierung durch Bundespräsident Gauck richtig und notwendig, um die ins Nichts führende Debatte zu beenden.
Nun sind 5 % der Bevölkerung (ohne die Aleviten fast nur 4 %) ohne Frage eine klare Minderheit. In diesem Fall aber eine sehr aktive, manchmal auch recht aggressive. Mir gehen die Fragen, wie ich zum Islam stehe, was ich von ihm halte und ob ich finde, dass er kompatibel mit unserer Gesellschaftsordnung ist, inzwischen auf die Nerven. Ich habe gar keine Lust, mich andauernd über Religion zu unterhalten oder mir eine solche Unterhaltung aufzwingen zu lassen. Ich diskutiere auch nicht jeden zweiten oder dritten Tag über den Katholizismus, das Judentum, den Buddhismus oder Hinduismus. Religion ist bei uns Privatsache. Wer mit welchem Gott wie seinen Frieden findet, ist für mich ohne Belang. Jedenfalls so lange, wie er nicht den Anspruch erhebt, dass ich seinen Gott auch toll zu finden habe. Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass die Religion über den Normen der Gesellschaft steht, sie die Definition der Freiheit ist oder sie gar die Normen oktroyiert, sondern heißt, dass jeder die Religion, die für ihn das Heil bedeutet, ohne Angst vor staatlicher Repression oder Einmischung ausüben kann. Religionsfreiheit heißt auch, frei von Religion leben zu können.
Aus meiner Sicht entwickeln sich die Diskussionen und Konfliktsituationen immer dann, wenn mit der Religion weltliche Bezüge hergestellt und daraus zwanghafte normative Verhaltensweisen abgeleitet werden sollen. Ich meine die hinlänglich bekannten Auseinandersetzungen in der Schule, im Kindergarten, am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Raum. Da gelangt eine Religion, die den Anspruch erhebt, spirituelle und weltliche Instanz zugleich zu sein, schnell an ihre Grenzen. Ehrlich gesagt, berühren mich die islamischen Glaubensriten genauso nur am Rande wie die der recht starken Hindugemeinde in Neukölln oder die der katholischen Kirche. Das hat nichts mit mangelndem Respekt zu tun, sondern ist lediglich Ausdruck einer persönlichen Distanz. Ich mag weder Halbmonde noch Kreuze in Schulen und Rathäusern.
In Neukölln bieten sich etwa 20 Moscheen den Muslimen zur Religionsverrichtung an. Mal sind es mehr, mal sind es weniger. Über die Eröffnung oder Schließung einer Moschee erfahren wir meist erst aus der Nachbarschaft. Immer dann, wenn sich eine leerstehende Fabriketage plötzlich zu bestimmten Zeiten meist mit Männern füllt, freitagnachmittags die Parkplätze in den umliegenden Straßen knapp werden oder auch Männer mit Kopfbedeckungen, langen Bärten sowie orientalischer Bekleidung ein- und ausgehen. Im Regelfall vollziehen sich derartige Dinge unspektakulär. Entscheidend für die Lang- oder Kurzlebigkeit ist, ob es dem Vereinsvorstand oder Imam gelingt, genügend Gläubige an sich zu binden, um das für das Überleben erforderliche Spendenaufkommen zu sichern. Anders als bei den christlichen Kirchen gibt es kein übergeordnetes Finanzierungssystem. Nur sehr wenige Moscheen legen offen, ob sie aus dem Ausland, etwa Saudi-Arabien, finanzielle Unterstützung erhalten. Außer zur Şehitlik-Moschee, die zur (staatlichen) Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) gehört, haben wir kaum regelmäßige Kontakte zu den Moscheevereinen. Sie sind auch nicht gewünscht. Wir fragen zuviel!
Die Struktur unserer Moscheen ist so heterogen wie die islamische Lehre. Die Hauptströmungen Sunniten, Schiiten und Aleviten machen durchaus das Gros aus, wobei wir aber keine genaue Datenlage darüber haben, wie stark die Anhängerschaften der einzelnen Moscheen oder insbesondere der Glaubensrichtungen des Salafismus und des Wahhabismus, also der extremsten islamischen Strömungen, tatsächlich sind. Es muss doch stutzig machen, wenn die Berliner Chefin des Verfassungsschutzes erklärt, nach ihren Erkenntnissen gebe es in der Stadt etwa 300 bis 500 Salafisten. Diese Glaubensrichtung betreibt zwei Moscheen, eine davon in Neukölln. Und schon diese eine hat einen Gebetssaal für 1500 Gläubige, und beim Freitagsgebet stehen mitunter noch ein paar Hundert auf der Straße.
Wir haben auch nur verschwommenes und rudimentäres Wissen darüber, was sich in den einzelnen Moscheen praktisch vollzieht. Wird in allen Moscheen tatsächlich nur der Glaube praktiziert, oder verfolgt man islamistische Ziele, also die des politischen Islam? Werden junge Leute angeworben, um ihnen Halt zu geben und ihre Persönlichkeit zu festigen, oder eher, um sie mit der Bestimmung zum Mujahid – also zum Gotteskrieger – vereinnahmend bekannt werden zu lassen? Was passiert tagtäglich mit Kindern ab vier Jahren in den Koranschulen? Das sind Fragen, die man sich stellen kann, die die deutsche Gesellschaft aus meiner Sicht auch stellen muss, aber es nicht tut. Vielleicht, weil wir wissen, dass wir sowieso keine vernünftige Antwort kriegen.
Einen Überblick haben wir darüber, welcher grundsätzlichen Glaubensschule sich die einzelnen Moscheevereine zugehörig fühlen. Ob sie Anlaufstellen der Hisbollah oder Hamas sind, ob sie der Moslembruderschaft oder Millî Görüş nahestehen und wer mit wem vernetzt ist. In Neukölln werden regelmäßig elf Moscheevereine durch den Verfassungsschutz beobachtet. Es stößt uns schon auf, wenn sich ein Verein aus etwa 40 nicht gerade begüterten Menschen gründet, aber kurze Zeit darauf ein Gemeindezentrum für 10 bis 15 Millionen Euro bauen möchte. Auch da sind kritische Nachfragen unerwünscht und führen sofort zu Beschützerverhalten einschlägiger politischer Kreise oder Organisationen. Christliche Gemeinden und Hochschulen sind hiervon ebenfalls nicht ausgenommen, wie das jüngste Beispiel eines in Neukölln gegründeten neuen Bürgerbündnisses gezeigt hat. Die stereotype Antwort auf den Hinweis, dass einige der Mitglieder unter der Beobachtung der Verfassungsschützer stehen, lautete: »Ja, das wissen wir, aber man muss die Liberalen in diesen Organisationen stärken.« Oder die renommierte Stiftung, die bei einem Projekt mit Moscheen zusammenarbeitet, die als Anlaufpunkte der Hisbollah, Hamas und Salafisten gelten. Hier wurden unsere Bedenken quittiert mit der Bemerkung: »Wertvorstellungen unserer Partner messen wir keine Bedeutung zu.« Da es für uns Grundvoraussetzung jeglicher Zusammenarbeit ist, dass sich Partner der demokratischen Werteordnung verpflichtet fühlen, haben wir natürlich um Verständnis gebeten, dass wir das Projekt den Neuköllner Schulen nicht empfehlen können.
Aber es ist manchmal schon nahezu absurd, welche Organisationen sich bereitwillig als Unterschlupf und seriöser Deckmantel missbrauchen lassen. Die Folge davon ist eine völlig schiefe Diskussionsebene. Man befindet sich urplötzlich im Konflikt mit jemandem, mit dem man eigentlich gar nicht im Unfrieden ist. Und es entsteht vor allem eine fast unangreifbare Position für einen zweifelhaften Verein. Es mag mitunter bei den Einzelnen Naivität und/oder Gutmenschentum die Ursache sein, bei den Frontleuten ist es Kalkül. Wer mehrere Hundert johlende Menschen aus zum Teil obskuren Gruppierungen mit Sympathie für Hamas, Hisbollah, Salafiten und Millî Görüş für das Idealbild der Zukunft Neuköllns hält, hat ein anderes Weltbild als ich. Mich stoßen derartige Rituale ab. Wer die toleranzzersetzende Wirkung des Fundamentalismus nicht erkennt oder erkennen will, der wird schon allein dadurch zum Helfershelfer.
Insbesondere auf junge Leute üben orthodoxe Religionsauslegungen eine starke Anziehungskraft aus. Sie helfen vielen Gescheiterten, die sich benachteiligt, diskriminiert und ausgegrenzt fühlen, ihre Perspektivlosigkeit zu kompensieren. An ihrer Situation muss jemand schuld sein. Da sie selbst es aus ihrer Sicht nicht sein können, liegt der Fall klar: die deutsche Gesellschaft. Oder im Straßenjargon: die Scheißdeutschen. Für diese Frustrierten stiften die Religion und insbesondere der kompromisslose und fundamentalistische Glaube eine neue Identität. Das stärkt das Bewusstsein und das Selbstwertgefühl. Ich bin anders, ich bin besser, ich lebe ein höheres, gottgefälligeres Leben als die Ungläubigen. Natürlich werden diese Gefühle von dogmatischen Religionslehrern oder Imamen geweckt und gestärkt.
Über Anwerbetechniken, Unterrichtskreise in Privatwohnungen und den Betrieb von Koranschulen ist nicht viel bekannt, wir sind auf Vermutungen und juristisch nicht belastbare Informationen angewiesen. Wir schätzen, dass es etwa 1000 Koranschulplätze mit unterschiedlicher Lehrausrichtung in Neukölln gibt. Es ist nicht auszuschließen, dass in und durch die Koranschulen die Anhängerschaft orthodoxer Religionsauslegungen, die im Widerspruch zu unserer Gesellschaftsordnung stehen, weiteren Zulauf erhält. Darüber hinaus erteilt die Islamische Föderation als Tochterunternehmen von Millî Görüş in Neukölln in fünf staatlichen Schulen Religionsunterricht. Die alevitische Gemeinde, ein Beispiel für liberales Glaubensleben, ist an zwei Schulen in Neukölln tätig.
Ich begrüße das Engagement der Aleviten in Neukölln außerordentlich. Seit vielen Jahren habe ich mit Bedauern registriert, dass sich die alevitische Gemeinde in Neukölln nur zurückhaltend repräsentiert. An dieser Stelle räume ich einmal Neidgefühl gegenüber dem Stadtteil Kreuzberg ein, und zwar insofern, als eine die Aleviten dort ein sogenanntes Cem-Haus (eine Begegnungsstätte) unterhalten und in Neukölln nicht. Das soll sich ändern. Seit etwa einem Jahr haben sich die Kontakte gefestigt, und die Aleviten sind dabei, eine entsprechende Liegenschaft für ein Cem-Haus in Neukölln zu finden.
Es ist sicher überzogen zu erwarten, dass jeder Mann und jede Frau die Feinheiten unterschiedlicher Glaubensrichtungen in sein Wissen aufgenommen hat. Deshalb an dieser Stelle einige wenige Basics, die sich spielend bei Wikipedia erweitern lassen.
Der Islam wird geprägt von zwei bestimmenden Glaubensrichtungen. Der sunnitischen und der schiitischen. Die sunnitische Lesart versammelt etwa 85 % aller Moslems unter ihrem Dach, die schiitische demnach etwa 15 %. Um die Frage, wer den wahren Islam vertritt, gibt es seit ewigen Zeiten schwere und auch blutige Auseinandersetzungen. Heute noch ist der Kampf um die Deutungshoheit im Islam Auslöser und Hintergrund vieler Attentate. Er musste sogar als Begründung für den 8-jährigen Krieg zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Irak herhalten, obwohl es dabei wohl mehr um geostrategische Ziele ging.
Zwischen diesen Hauptströmungen gibt es weitere, zahlenmäßig nicht so bedeutsame Absplitterungen. Meist eher konservativer Art. Eine Sonderstellung nimmt das Alevitentum ein. Der Ursprung dieser Glaubensrichtung ist umstritten. Es gibt Lehren, die belegen wollen, dass das Alevitentum bereits vor der Schöpfung des Islam entstanden ist, während andere es für eine Weiterentwicklung auf der Basis des Schiitentums halten. In Deutschland handelt es sich vorrangig um das anatolische Alevitentum – eine synkretistische Religion aus schiitischen, alttürkischen und mystischen Elementen.
Fest steht jedoch, dass die alevitische Glaubens- und Lebensethik eine völlig andere als die des klassischen Islam ist. Die Aleviten beziehen sich in ihrer Spiritualität zwar auf den Koran, lehnen seinen rechtsprägenden, bis in das tägliche Leben alles beherrschenden und allumfassend bestimmenden Anspruch jedoch ab. Orthodoxie ist ihnen völlig wesensfremd und findet keinen Eingang in die alevitische Lehre. Im Zentrum des Glaubens steht der Mensch als Individuum. Es gibt keinen Unterschied in der Wertigkeit der Geschlechter, Gewalt nach außen und innerhalb der Familie wird abgelehnt. Bildung gilt als erstrebenswert, und jeder Alevit ist verpflichtet, sie zu erwerben.
Das Alevitentum trägt starke humanistische Züge. Es gibt keine Kirchen und Moscheen im üblichen Sinne und keine unabdingbaren Gebets- und Verhaltensrituale. Aus der Sicht orthodoxer Moslems handelt es sich bei Aleviten auch nicht um Moslems und Gläubige des Islam, und deshalb müssten sie aus dem Hause des Islam vertrieben werden. Vor den AKP-Zeiten in der Türkei hieß es in der sonstigen islamischen Welt auch immer, dass die Türkei vom Laizismus der Kemalisten wie wohl auch vom Liberalismus der Aleviten befreit werden müsse.
Die Aleviten haben in den vergangenen Jahrhunderten in ihrem Stammland der Türkei Verfolgung und Unterdrückung erleiden müssen. Ihr historischer Kern liegt in Anatolien. Dort wurden sie enteignet, ermordet oder vertrieben. Heute gilt Izmir als das religiöse und intellektuelle Zentrum der Aleviten in der Türkei. Ihr Anteil an der türkischen Bevölkerung wird auf 20 % geschätzt. Immer wieder wird berichtet, dass bis heute bekennende Aleviten diskriminiert und unter fadenscheinigen Gründen ihrer Ämter (sofern sie welche innehaben, und sei es auch nur die Leitung einer Schule) enthoben werden. Aus diesem Grunde ist es zumindest in der Türkei ausgesprochen unüblich, dass Aleviten ihren Glauben öffentlich zu Markte tragen.
Dieses wenn auch rudimentäre Wissen über Strömungen innerhalb des Islam ist für die Beurteilung der Muslime in Deutschland nicht ohne Belang. Die alevitische Gemeinde bezeichnet sich mit rund 600 000 bis 700 000 Angehörigen in Deutschland als die zweitgrößte muslimische Vereinigung nach den Sunniten. Alle anderen Glaubensrichtungen rangieren deutlich unter ihnen. Deshalb ist es aus meiner Sicht fahrlässig und wenig hilfreich, in Schriften oder Debatten von »den Muslimen« zu schreiben bzw. zu reden. Die Aleviten sind in ganz vielen Fällen unsere verlässlichsten und engagiertesten Partner im Integrationsprozess. Sie stets unter dem Sammelbegriff »die Muslime« zu subsumieren und damit gleichermaßen mitverantwortlich für Fehlentwicklungen zu machen, die aus den fundamentalistischen Glaubensrichtungen begründbar sind, führt jedoch immer wieder zur Verbitterung und Enttäuschung bei den Aleviten über diese Nichtwürdigung ihrer Leistung. Zumal man sie damit auch noch auf eine Stufe mit ihren Peinigern in der Türkei stellt. Thilo Sarrazin macht in seinem Buch diesen kapitalen Fehler ebenfalls.
Es ist schon eine starke Vereinfachung, wenn ich versuche, Menschen, die sich noch nie mit dieser Thematik beschäftigt haben, den Unterschied mit den Worten: »Das sind in etwa die Protestanten des Islam« zu erläutern. Offener, liberaler, lebensbejahend, tolerant und demokratiefähig. Gerade die letzte Eigenschaft ist die, die dem orthodoxen Islam bisher abgesprochen werden muss. Der Glaube an die Untrennbarkeit von Religion, Staat und Gesellschaft und die Reduzierung der Bedeutung des Einzelnen, der nur als ein Teil der Umma, der Gemeinschaft aller Muslime, eine Existenzberechtigung genießt, sind mit dem Grundprinzip eines demokratisch verfassten Staates, seiner Gewaltenteilung und der Unangreifbarkeit der Würde des Individuums nicht vereinbar. Mindestens an dieser Stelle hat der Islam seine Aufklärung und seine Reformation noch vor sich. Hinter dem immer wieder gebrauchten Begriff des »Euro-Islam« verbergen sich genau diese Erwartungen. Nach meinem Dafürhalten wird diese Entwicklung jedoch noch ein bisschen auf sich warten lassen. Die Rückkehr der Türkei zu eher konservativen Glaubenssichten und die Ablösung von Diktaturen durch zum Beispiel die konservative Moslembruderschaft in Ägypten deuten für mich nicht darauf hin, dass in dieser Region der Welt ein demokratischer Schnellzug Fahrt aufnimmt.
Die Betrachtung der weltweiten Entwicklung des Islam ist sicher wichtig, für die Bewältigung unseres Alltags und die Steuerung des Integrationsprozesses aber nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Hier müssen wir uns eher damit auseinandersetzen, wie weit wir den Ausbau von Brückenköpfen fundamentalistischer, ja teilweise fanatischer Glaubensrichtungen unter dem Schutzschirm der kulturellen Identität zulassen wollen und dürfen. Denn dass der Fundamentalismus zweifelsohne nicht nur in Neukölln, sondern berlinweit an Land gewinnt, hat sich nicht zuletzt 2012 bei der Neuwahl des Berliner Landesbeirats für Integrations- und Migrationsfragen gezeigt. Dabei haben sich einige strenggläubige konservative Migrantenorganisationen und Moscheevereine durchgesetzt. Die bislang im Beirat vertretenen nichtreligiösen liberalen Kräfte wurden bis auf eine Ausnahme abserviert. Hinter vorgehaltener Hand wird sogar von Manipulation und Mauschelei geredet.
Der Versuch gesellschaftlicher Landnahme durch Vitalisierung der Dogmen insbesondere im schulischen Alltag erfordert von unseren Schulleitungen enorme Aufmerksamkeit und eine nicht erlahmende Konfliktbereitschaft. Die Streitpunkte sind immer wieder der Biologie- und der Turnunterricht, das Schwimmen, Klassenfahrten, das Tragen von Kopftüchern bei vorpubertären Mädchen (unabhängig davon, wie man zum Kopftuch überhaupt steht). Es geht so weit, dass Erziehungs- und Lehrkräfte keine mit Schweinefleischprodukten belegten Pausenbrote in der Schule oder der Kita essen sollen. Denn wenn sie das tun und sich nicht die Hände waschen, sind sie unrein und beschmutzen beim Anfassen die Kinder. Dass sich kaum noch eine Cafeteria traut, neben schweinefleischfreien auch schweinefleischhaltige Produkte anzubieten, kann da nicht mehr verwundern. Eine Cafeteria, in der Schweinefleischprodukte verarbeitet oder angeboten werden, ist eben nicht halal, sondern haram. Im Extremfall überwachen »Religionswächter« (ältere, körperlich überzeugende Schüler) an der Tür, wer was kauft und isst. Natürlich mit den entsprechenden »beratenden« Hinweisen.
Nicht jede Schulleitung findet die Kraft, sich solchen Entwicklungen entgegenzustellen. Das gilt für die Leitung von Kindertagesstätten ebenso. Man muss kein Prophet sein, um zu der Aussage zu gelangen, dass dieser Kulturkampf auf Dauer nicht zu gewinnen ist. Die Kraft durchzusetzen, dass an einer Grundschule keine Kopftücher getragen werden und nach dem Sport geduscht wird, wohnt nicht jeder Leitung unbegrenzt inne. Es hat sich Resignation in unseren Einrichtungen ausgebreitet. Das hat seine Ursache natürlich auch in dem Umstand, dass wir unsere Lehrkräfte und unsere Erzieher in diesen sehr schwierigen Situationen des Alltags meist völlig allein lassen. Kommt es zu einem Konflikt, so endet er meist mit der Ansage an die Mitarbeiter, dass man mit ein bisschen mehr Kultursensibilität die ganze Aufregung hätte verhindern können. Eine Rektorin sagte mir resigniert: »Ich habe aufgehört, mir trotz 90 % Eltern im Hartz-IV-Bezug über den jeden Morgen vorfahrenden Wagenpark Gedanken zu machen.« Auch kommt es immer wieder vor, dass das Handtuch geworfen und eine Stelle in einem anderen Bezirk gesucht wird.
An dieser Stelle möchte ich über zwei andere bemerkenswerte Gegebenheiten berichten, die gar nicht besonders außergewöhnlich sind.
Bei einer Elternversammlung kam ein türkischstämmiger Vater auf mich zu und berichtete mir, dass er aus Neukölln fortzieht. Ich kannte ihn aus seiner beruflichen Tätigkeit. Auch seine Frau ging einer Erwerbstätigkeit nach. Seine Begründung lautete, dass seine Frau und er ihren Schlaf bräuchten und ihre Leistungsfähigkeit darunter leidet, wenn im Haus jede Nacht die Partys bis in den frühen Morgen gehen.
Bei einem anderen Elternabend unterhalte ich mich mit einem arabischstämmigen Ehepaar, das eine kleine Tochter an der Hand hat. Als ich das Mädchen anspreche, reagiert es nicht. Die Eltern erklären, das Kind könne mich nicht verstehen, weil es kein Deutsch beherrscht. Ich erfrage das Alter und gebe den Rat, dass ein 3-jähriges Kind in den Kindergarten gehört, um Deutsch zu lernen. Die Eltern stimmen mir im Prinzip zu, beklagen aber, dass in ihrer Wohngegend kein Platz frei sei. Ich biete an, einen Platz zu vermitteln, allerdings müssten die Eltern mit dem Autobus, der vor ihrer Haustür hält, etwa vier Stationen zum Kindergarten fahren. Die Eltern lehnen das Angebot höflich mit der Begründung ab, dass der Weg zu weit sei.
Solche Erfahrungen mache ich immer wieder. Ich habe ein nicht erlahmendes Helfersyndrom und empfinde durchaus Freude daran, hin und wieder Schicksal zu spielen. Ich glaube, das ist nicht ungewöhnlich bei Menschen, die in einer vergleichbaren Situation sind und Gelegenheit haben, hier und dort lenkend und problemlösend einzugreifen. Auch unterliege ich immer wieder der Versuchung, lauthals beklagte Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen in der Praxis zu hinterfragen. Ich gehe den Hinweisen von Großeltern und Eltern nach, dass ihre Enkel keinen Ausbildungsplatz bekommen oder dass ihre Tochter oder ihr Sohn am Arbeitsplatz ausgebeutet werden, keinen Urlaub erhalten oder Überstunden ohne Entlohnung leisten müssen. Ich biete meine Hilfe zur Bewältigung von Problemen bei der Einbürgerung an oder bin bereit, ungerechte Einzelfälle prüfen zu lassen.
Ich muss an dieser Stelle aber das Geständnis ablegen, dass es mir bei allen Versuchen, jungen Leuten zu einem Ausbildungsplatz zu verhelfen, beim Schulwechsel auf eine höhere Schule ein gutes Wort einzulegen oder bei einem vorhandenen Arbeitgeber zu intervenieren, nicht ein einziges Mal gelungen ist, meine Bemühungen zum Erfolg zu führen. Immer wieder erwiesen sich angebliche Leistungsbereitschaft oder Interessenbekundungen als hohle Phrasen. Wenn es ernst wurde, taten sich jeweils unüberwindliche Hürden auf, die es unmöglich machten, das Angebot anzunehmen, oder es tauchten plötzlich Gründe auf, weshalb es im Moment gerade äußerst ungelegen kam. Die Hinweise von Oma oder Papa solle ich mal nicht so ernst nehmen, die hätten etwas missverstanden. Den Vorstellungstermin bei einem Unternehmen konnte der junge Mann nicht wahrnehmen, weil er frisch verliebt mit seiner Freundin nach Mallorca fliegen musste. Der vorgetragene Wunsch, einen bestimmten Beruf zu erlernen, relativierte sich durch die Mitteilung des Jobcenters, dass der Betreffende genau jene Ausbildung schon zweimal geschmissen habe. Verabredete Termine wurden, ohne abzusagen, nicht eingehalten, oder ein Strafverfahren erwies sich für unsere gemeinsamen Aktivitäten als hinderlich. Inzwischen bin ich doch schon recht stark desillusioniert ob der Halbwertszeiten der beklagten Ungerechtigkeiten.
Gerade für junge Menschen scheinen die Verlockungen von Hartz IV eine solch beherrschende Macht zu entwickeln, dass sie zu einer vernünftigen Güterabwägung und zum Denken über den Tag hinaus nicht mehr fähig sind. Wenn man Erfahrungen der vorstehenden Art über Jahre sammelt, kann man einen unendlichen Frust kriegen und jedweden Glauben an das Gute verlieren. Natürlich sind nicht alle jungen Leute so, und mit hoher Gewissheit bilden die Charaktere, die ich beschrieben habe, eine Minderheit. Aber es gibt sie, und es ist – anders als der Regierende Bürgermeister in seinem Büchlein schreibt – keine verschwindend geringe Zahl von Einzelfällen. Nicht selten also beruht das Gefühl des Nicht-geliebt-Werdens, des Ausgestoßenseins schlicht und ergreifend auf persönlicher Unzulänglichkeit. Das mag für das Gewissen einer Gesellschaft beruhigend sein, hilft in der Sache aber nicht weiter. Nichts ist so teuer wie ein nicht in die Gesellschaft integrierter Mensch. Der Reparaturbetrieb kommt die Gemeinschaft von der Alimentation über Schadensregulierung, Opferbetreuung, Justizkosten oder, oder, oder teuer zu stehen. Ein Mensch, der zur Wertschöpfung des Bruttoinlandsproduktes beiträgt und Steuern zahlt, ist für die Gemeinschaft erheblich lukrativer als jemand, der das nicht tut. Egal, wo die Schuld hierfür zu suchen und zu finden ist. Zu dieser rein volkswirtschaftlichen Sicht kommen im Bereich der Einwanderungscommunitys eben noch Belastungsfaktoren wie Randständigkeit, Separatismus und Parallelgesellschaften hinzu.
Es ist eine eigene Welt entstanden. Und sie wird von Tag zu Tag in sich perfekter und geschlossener. Menschen bestimmter Glaubensrichtungen ziehen nach Neukölln, um ihrer Moschee und ihrer Glaubenscommunity nahe zu sein. Sie bilden Netzwerke, die nicht zu unterschätzen sind und die nur einem Zweck dienen: unter sich zu bleiben, die eigenen kulturellen und religiösen Normen zu bewahren, die Kinder vor sündigen Einflüssen zu beschützen und der deutschen Lebensart, den deutschen Lebensregeln und den deutschen Gesetzen auszuweichen. Parallelgesellschaften zeichnen sich nun einmal dadurch aus, dass sie sich abschotten und alle Kraft auf die Binnenintegration und Selbstfindung in der Minderheitenposition verwenden.
Fast alle diese bei der Integration hinderlichen Begleiterscheinungen stehen im engen Zusammenhang mit Bildungsferne. Oft auch noch vermengt mit starker Frömmigkeit, Scheinreligiosität, tradierten Familienriten, überkommenem Hierarchieverhalten, Gewaltakzeptanz und Gehorsamspflichten. All diese Bremsklötze werden aus der spirituellen Metaebene des Glaubens hergeleitet, und damit wird es so gut wie unmöglich, sie in Frage zu stellen. Von mir im Einzelfall erbetene Erklärungen, aus welcher Sure oder welchem Hadith dieses oder jenes Verhalten abzuleiten ist, laufen häufig ins Leere.
Vielfach bestimmen ungeschriebene und überlieferte Verhaltensnormen den Lebensalltag und die Lebensperspektive junger Menschen, im positiven wie im negativen Sinne.
Es beginnt bereits bei den Erziehungsidealen muslimischer Eltern. Jungen werden dazu erzogen, tapfer, mutig und kampfbereit zu sein. Eben Beschützer und Verteidiger der Familienehre. Deswegen laufen schon im Kindesalter Jungen mit Waffen in der Tasche durch die Gegend, immer bereit, »die Ehre meiner Mutter zu verteidigen«. Mädchen werden dazu erzogen, keusch, rein und gehorsam zu sein. Meine Tochter soll eine gute Frau und Mutter werden. Wozu braucht sie da die Schule? So oder so ähnlich lautet eine durchaus gängige Antwort auf die Frage des Sozialarbeiters, warum die Tochter vorige Woche nicht in der Schule war.
Wenn ich mich insbesondere mit jungen Muslimen unterhalte, so möchte ich sie häufig an den Schultern rütteln und sie aufwecken. Ihnen zurufen: »Schau dich um, diese Gesellschaft hält auch für dich einen Platz bereit, nimm ihn ein und ergreife die Chancen, die das Leben dir in diesem Land bietet!« Es sind die Riten der Großväter und der Separatismus ihres sozialen Umfeldes, die sie in einem Zwiespalt aufwachsen lassen, der sie fast zerreißen muss. Die sie umgebende liberale und freie Gesellschaft passt nicht zu den vordemokratischen Strukturen zu Hause. Das gilt ganz besonders für die jungen Frauen. In Kindertagesstätten und Schulen zu selbständig denkenden und emanzipierten Wesen erzogen, werden sie häufig mit martialischen Mitteln gezwungen, sich in eine Tradition zu fügen, die nicht mehr die ihre ist. Der immer wieder zitierte »Ehren«-Mord an Hatun Sürücü oder der Film Die Fremde sowie die Romane Arabboy und Arabqueen von Güner Y. Balci beschreiben diese uns wohl immer fremd bleibenden Lebenswelten in unserem Land.
Selbstverständlich sind bei so vielen Kulturen, die zu uns gekommen sind, auch weitere Religionen in unseren Alltag eingezogen.
Die Inhaberin meines Lieblings-Chinesen ist Buddhistin. Wenn mich das Hungergefühl ausgerechnet zur Gebetszeit zu ihr führt, ist eine Warteschleife angesagt. Bis sie ihre Zwiesprache beendet hat und die Räucherstäbchen ausgemacht sind, ist nichts mit Ente kross oder scharfen Nudeln. Ich weiß nicht, ob es Sie überrascht, aber es stört mich nicht im Mindesten. Als ich vor einiger Zeit die Anfrage erhielt, ob es möglich sei, in Neukölln einen buddhistischen Gebetsschrein zu errichten, habe ich spontan zugestimmt. Leider ist er noch nicht realisiert. Ich bedaure das ein wenig, denn die Zusammenarbeit und das Miteinander gestalteten sich außerordentlich angenehm und fruchtbringend für den Bezirk. Die Gemeinschaft der Buddhisten führt ein sehr stilles, zurückgezogenes Leben unter uns. In Neukölln war ihr Wirken für die Allgemeinheit dezent und nachhaltig.
Von der Weltöffentlichkeit außerhalb Neuköllns völlig unbeachtet blieb meine Ernennung zum Maharadscha im September 2007. Anlässlich der Unterzeichnung des Pachtvertrages für das Grundstück zum Bau des Tempels für Sri Ganesha wurde mir diese Ehre zuteil. Es war ein wunderbares Ritual in dem sonst eher etwas spröden Rathaus. Der Einzug der Gemeinde mit Musik, Blumen und Früchten in traditionellen Gewändern – das hatte schon etwas. Multikulti kann durchaus schön sein. Leider hatte ich nicht mit der Mentalität der Hindus gerechnet. Als ich ihnen im Jahr 2004 das Angebot unterbreitete, einen Tempel in Neukölln zu bauen und ihnen hierfür ein Grundstück des Bezirks zu verpachten, war ich von der kindlichen Hoffnung ausgegangen, die Einweihung noch während meiner Amtszeit als Bürgermeister zu erleben. Nun, acht Jahre später, weiß ich viel mehr über die rituellen Schritte beim Bau eines Tempels. Ich kenne die Bedeutung der Sternen- und Sonnenkonstellation für die Weihung des Bodens, für die Grundsteinlegung oder auch andere spirituelle Handlungen. Wenn nicht durch ein kurzfristiges Wunder noch ein Tempel in Schnellbauweise in der Neuköllner Hasenheide entstehen sollte, werde ich wohl damit leben müssen, dass ich Sri Ganesha meine Ehrerbietung bei der Eröffnungsfeier nicht mit Amtswürden werde darbringen können.
Doch befinden sich inzwischen zwei hinduistische Tempel bei uns im Entstehen. Neben demjenigen für die indischen Tamilen, über den ich gerade berichtet habe, ein weiterer für die Gemeinde aus Sri Lanka. Beide sind eine willkommene Bereicherung in unserem Neukölln. Sie sind in keinster Weise belastet mit Aufgeregtheiten oder unschönen Emotionen. Mit dem tamilischen Kulturzentrum verbindet uns seit vielen Jahren eine freundschaftliche Beziehung. Die tamilischen Kinder sind häufig die Referenzschüler in ihren Schulen. Für mich steht das Pongalfest (Erntedank) auf Augenhöhe mit zum Beispiel dem Zuckerfest. Wie harmonisch das Zusammenleben mit diesen für uns doch eher exotisch anmutenden Glaubensrichtungen sein kann, zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der eine evangelische Pfarrerin bei der Grundsteinlegung für einen der Hindutempel teilnahm und ihre Glück- und Segenswünsche überreichte.
Die Gemeinsamkeiten mit den Tamilen, ob bei Festen, traditionellen Daten oder in den Schulen, sind geprägt von schlichter Natürlichkeit. Nur die Namen sind für eine europäische Zunge eine echte Herausforderung. Außer der Ausbildung ihrer Kinder geht nichts preußisch zu. Bei der Wahrung der Zukunftschancen ihrer Kinder verstehen sie keinen Spaß. Aber ansonsten ist die tamilische Lebenssicht eher eine mediterrane. Dies ist ein Beweis dafür, dass auch völlig unterschiedliche Kulturen und Religionen friedlich und harmonisch miteinander leben können, ohne dass es andauernd Stress gibt. Es kommt wohl doch auf den Grundkonsens an, dass nicht die eigene Würde und der Respekt vor ihr ständig im Mittelpunkt stehen und eingefordert werden, sondern dass man sie zuallererst dem anderen entgegenbringt.