Neukölln an sich
Der Name Neukölln hat durchaus einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erlangt. Das verwundert aber nicht, weil, man ja auch New York, Paris und Rom kennt. Zugegebenermaßen ist es aber so, dass dieses Neukölln erst in den letzten zehn Jahren richtig prominent geworden ist. Die Gründe hierfür sind die Diskussionen um soziale Verwerfungen in Großstadtlagen, um Integrationsprobleme, Parallelgesellschaften und das Versagen des Bildungssystems. Zu all diesen Einzelthemen gibt es widerstreitende Sichtweisen und Interessen. Und am Ende sind sich dann fast immer alle einig: Neukölln ist »Am Rande der Zivilisation«, wie die Süddeutsche Zeitung einmal titelte. Ähnlich wie Herat in Afghanistan befinde sich Neukölln so sehr am Rande der Zivilisation, dass vieles, was passiert, kaum mit unseren Maßstäben gemessen werden könne. Allerdings seien wir als düsterer Hintergrund für Leichenfunde in Krimiserien gut geeignet.
Eigentlich hat das auch schon Tradition. Denn genau vor 100 Jahren wurde die damalige stolze preußische Stadt Rixdorf in Neukölln umbenannt. Für die bürgerlichen Schichten hatte sich der Ruf der Stadt zu negativ entwickelt. Ja, es war nahezu kreditschädigend und ehrenrührig, den Namen im Briefkopf zu führen. Das alte Rixdorf war ein Arbeiterquartier, feuchte Wohnungen in dunklen Hinterhöfen beherbergten arme und kinderreiche, aber ebenso lebenslustige Familien. Getreu dem Motto des alten Gassenhauers »In Rixdorf ist Musike« herrschte, wie man heute sagen würde, ein recht folkloristisches Treiben. Die Hasenheide, eine ca. 50 Hektar große Grünanlage mit dem Vergnügungszentrum Neue Welt und vielen anderen Etablissements, bot Raum für Kurzweil und Pläsier. Freitags war Lohntütenball, und Mutter musste aufpassen, dass sie Vaddern so rechtzeitig von der Kneipe loseiste, dass vom Lohn noch etwas für die Kinder übrig blieb.
Die Namensschöpfung mit Genehmigung seiner allergnädigsten Majestät hatte durchaus einen historischen Bezug. Die im Jahr 1237 erstmalig in Erscheinung getretene Stadt Coelln mit ihrer späteren Vorstadt Neu-Coelln wurde Anfang des 18. Jahrhunderts mit Berlin verschmolzen und ging quasi unter. Die ländlichen Gebiete, die heute den Untergrund des Bezirkes Neukölln bilden, gehörten dereinst allerdings zum Refugium von Coelln. Noch heute weisen Namen wie Köllnische Wiesen und Köllnische Heide auf diesen Ursprung hin. Daran erinnerten sich die Stadtväter zur Zeit der Umbenennung und entschieden sich, den Namen der alten Schwesterstadt zu reanimieren. Sie ließen den Bindestrich weg, machten aus dem C ein K und aus dem oe ein ö. Das Doppel-l aber blieb – und schon war Neukölln geboren. Das verwirrt bis heute amerikanische Reisegruppen. Denen muss man dann erklären, dass Neukölln kein Vorort von Köln am Rhein ist. Na ja, man ist dort einfach andere Entfernungen gewohnt.
Erst 1912 umbenannt, war es schon 1920 vorbei mit der Unabhängigkeit und städtischen Herrlichkeit. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz wurden sechs selbständige kreisfreie Städte und fast 100 Landgemeinden und Gutsbezirke zu der Figur zusammengefasst, die wir heute Berlin nennen. Wir Neuköllner sagen, wir wurden okkupiert. An der Revanche arbeiten wir noch. Warten wir weitere Seiten im Geschichtsbuch ab.
Zu jener Zeit waren Standards, wie sie in den späteren 1960er Jahren zur Normalität wurden, noch ein Traum. Die Toilette befand sich auf dem Hof, in Häusern mit etwas gehobenerem Komfort bereits im Treppenhaus eine halbe Etage tiefer. Natürlich immer für mehrere Parteien. An ein eigenes Bad oder eine eigene Dusche (die man damals so ohnehin nicht kannte) war gar nicht zu denken. Ziel für einen sozialen Aufstieg war der Umzug vom Hinter- in das Vorderhaus. Wer es dort dann auch noch in die »Beletage«, also in den ersten Stock, schaffte, der war zumindest in Gedanken dem Himmel sehr nahe. Realität war aber eher die Schwindsucht, unter der ganze Familien aufgrund der Wohnungsfeuchte litten. Denn viele Familien waren sogenannte Trockenwohner. Das heißt, sie zogen in gerade errichtete Häuser, die noch voller Baunässe waren, und wohnten sie trocken. Dafür war die Miete billig. Trotzdem waren oft noch sogenannte Schlafburschen vonnöten, um sie zusammenzukratzen. Das waren alleinstehende Männer, die am Tage in den Betten der Familie schliefen und abends die Wohnung wieder verließen. Sie bezahlten dafür etwa zehn Pfennig pro Tag.
Es war also das, wofür später der Begriff »Zilles Milieu« geprägt werden sollte. Noch im Jahr 1990 gab es in Neukölln rund 15 000 Wohnungen ohne eigenes Bad und WC. Ich würde nicht gegenhalten, wenn jemand behauptete, auch heute noch solche Zustände entdeckt zu haben. Wie dramatisch die Lebensverhältnisse damals waren, kann man daran erkennen, dass das bis heute in Betrieb befindliche Stadtbad in der Ganghofer Straße als Einrichtung der Stadthygiene und der Seuchenprävention gebaut wurde. Das Problem war nur, dass die arme Stadt Rixdorf die Wasserrechnung nicht bezahlen konnte. Und so konnte der Bau erst freigegeben werden, nachdem sich die Charlottenburger Wasserwerke bereit erklärt hatten, das Wasser an die Städtische Badeanstalt unentgeltlich zu liefern.
Seine Funktion behielt das Stadtbad bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch im Jahr 1990 wurden dort 80 000 Reinigungsbäder in der Wanne oder unter der Dusche verabreicht. Bis heute dient das Bad immer wieder als beeindruckende Kulisse für Filme, die das Feeling einer antiken Thermenanlage benötigen. Es ist auch ein ausgesprochen imposantes Schmuckstück. Heute würde man sagen, eine völlig abgefahrene Event-Location. Wenn es Sie einmal zu uns verschlägt, sollten Sie nicht versäumen, eine Eintrittskarte zu kaufen und sich das Bad von innen anzusehen. Erfahrungsgemäß gibt das Personal auch gern den Stadtbilderklärer.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschoben sich die Gewichte in den Süden des Bezirks. Die Einfamilienhausbebauung nahm deutlich zu, und auf den Feldern von Rudow und Buckow entstand die Gropiusstadt, eine Neubausiedlung mit 19 000 Wohnungen für 50 000 Menschen. Wohnraum war knapp. So wurden die Pläne des Architekten Walter Gropius einfach verdichtet. Dies geschah in einem Umfang, der Gropius so verärgerte, dass er sich von der Siedlung distanzierte. In jahrelangem Bemühen wurden die Wogen wieder geglättet, und so war der Architekt dann doch einverstanden, dass die Siedlung den Namen ihres ursprünglichen geistigen Vaters erhielt.
Mit dem voranschreitenden Bau der Gropiusstadt vollzog sich eine Wanderungsbewegung aus dem Norden. Jede Wohnung war mit eigenem Bad und eigenem WC, teilweise sogar mit Gästetoilette ausgestattet, hell und verfügte über einen Balkon nach Süden oder Südwesten. Für die Bewohner der Hinterhöfe war das der Durchbruch zum modernen Wohnkomfort. In der Altstadt erfreuten die Bevölkerungsverschiebungen Hauseigentümer und Verwalter nur dezent. Viele Wohnungen standen leer, weil niemand mehr in den Altbauten leben wollte. Da kamen die Wünsche der Gastarbeiter nach eigenem Wohnraum gerade recht. Gern wurden die Fremden aufgenommen. Für diese war wiederum eine eigene Wohnung – auch mit Sanitäreinrichtungen eine halbe Treppe tiefer – gegenüber dem Lager auf dem Firmengelände oder den heimatlichen Wohnformen eine erhebliche Weiterentwicklung. So sortierte sich der Bezirk in den 1960ern bis in die Mitte der 1970er Jahre komplett neu.
Aber zurück zur historischen Entwicklung und den Beiträgen Neuköllns zum Weltgeschehen.
Da ist zuerst Friedrich Ludwig Jahn. Auch Turnvater Jahn genannt. Mit seinen vier Effs – frisch, fromm, fröhlich, frei – begründete er die neuzeitliche Sportbewegung. 1811 schuf er den ersten öffentlichen Turnplatz in der Hasenheide. Der olympische Gedanke war ihm damals nicht so nahe. Ihm ging es mehr um eine patriotische Erziehung mit körperlicher Ertüchtigung als Vorbereitung auf den Befreiungskrieg von der napoleonischen Herrschaft. Da man später staatsfeindliche Motive hinter seinem Treiben vermutete, landete er fünf Jahre im Knast. Sei es, wie es sei, ohne Turnvater Jahn keine Olympischen Spiele, keine Europameisterschaften, keine Bundesliga, keine Schiedsrichter- und Doping-Skandale und keine Sportübertragung im Fernsehen. Wir Neuköllner haben uns dafür aufgeopfert. Dank haben wir dafür nie gehört. Im Gegenteil, wenn heute das Wort Hasenheide fällt, rümpfen viele die Nase. Nur, weil dort 50 Drogerie-Einzelhändler ihr inzwischen 25-jähriges Betriebsjubiläum feiern (die Hasenheide ist als Drogenumschlagplatz bekannt). Niemand spricht von dem kleinen, aber wunderschönen Tierpark, dem im Bau befindlichen Hindu-Tempel oder eben dem Jahn-Denkmal und klopft uns auf die Schulter. Böse, grausame Welt.
Die tatsächliche Verelendung des Proletariats und die Bildungsarmut inspirierten schon immer Menschen, zu uns zu kommen und nach neuen Wegen zu suchen. Schulreformer wie Kurt Löwenstein und Fritz Karsen haben in Neukölln gewirkt. Ende der 1920er Jahre entstand die erste staatliche Gesamtschule Deutschlands. Die Arbeiterabiturkurse hatten hier ebenfalls ihren Ursprung, wie Neukölln auch insgesamt in der entstehenden Volkshochschulbewegung eine Vorreiterrolle übernahm. Die Neuköllner Musikschule trägt den Namen des bedeutenden Komponisten Paul Hindemith. Sie gehört zu den ältesten drei Musikschulen Deutschlands. Mies van der Rohe und Max Taut begründeten hier ihre Karrieren, und die Hufeisensiedlung von Bruno Taut aus den 1920er Jahren ist heute Teil des Weltkulturerbes. Es war damals eine Sensation, Wohnungen mit allen Sanitäreinrichtungen und einem dazugehörigen Garten zum Standard für die Arbeiterklasse zu machen. Noch heute fahren die Busse mit Architekturstudenten durch die Hufeisensiedlung.
Die Perinatalmedizin wurde Anfang der 1960er Jahre in Deutschlands größter Geburtsklinik von Prof. Dr. Erich Saling entwickelt. Millionen Menschen verdanken seinen Forschungen zur Behandlung des ungeborenen Lebens, zu Diagnose und Therapiemöglichkeiten bereits im Mutterleib, ihr Leben.
Nicht weit davon entfernt forschten und experimentierten Prof. Dr. Emil Sebastian Bücherl, der Physiker Prof. Dr. Max Schaldach und der Elektroingenieur Otto Franke am Kunstherz und den technischen Möglichkeiten der Kardiologie. Sie entwickelten den ersten deutschen implantierbaren Herzschrittmacher. Hieraus entstand der heute größte Neuköllner Arbeitgeber und einer der Weltmarktführer in der Kardio-Technik, die Firma Biotronik. Ich denke, nur die wenigsten Herzschrittmacher- und Defibrillatorträger ahnen, dass ihr Leben zwar nicht am seidenen Faden, aber am Prozessor aus Neukölln hängt.
Das größte und seit vielen Jahren auch wirtschaftlich erfolgreichste Kongresshotel Deutschlands steht natürlich in Neukölln. Mit rund 2000 Kongressen und 300 000 Übernachtungen jährlich ist es auch ein starker Wirtschaftsfaktor für die gesamte Stadt. Ein Drittel der Weltjahresproduktion von Marzipan stammt allen Werbespots zum Trotz aus Neukölln. Bei uns werden 200 Millionen Zigaretten täglich hergestellt, und der Cowboy bringt sie in viele Länder der Welt. Am liebsten rauchen Japaner Zigaretten aus Neukölln. Japaner haben eben Geschmack. Selbst die Bio-Industrie hat uns entdeckt. Egal, ob bei Produktion oder Vertrieb, Neuköllner Betriebe sind immer zur Stelle. In fast allen Tonproduktionsstudios der Welt stehen Präzisionslautsprecher von Adam Audio, Made in Neukölln. Wenn Sie es nahrhafter wollen, dann beliefern wir Sie auch gern mit Broten nach Feng-Shui-Art oder der gesamten Palette der löslichen Kaffeekompositionen der Deutschen Extrakt Kaffee. Die Tabs für Tassimo werden bei uns genauso exklusiv für die Welt produziert wie Dallmayr Prodomo oder das halbe Kaffeesortiment von Tchibo. Dazu garantiert die Cine Postproduktion seit 100 Jahren Kino- und zeitversetzt Fernsehvergnügen. Also, ohne Neukölln läuft auch bei Ihnen zu Hause gar nichts.
Immer wieder fallen Touristen auf die Falschinformation offenkundig bezahlter Provokateure herein, dass Berlin über drei Opernhäuser verfüge. Dahinter stecken Neid und Missgunst. Denn die beste Oper Berlins ist die Neuköllner Oper. Wer es nicht glaubt, kann sich ja bei seinem nächsten Besuch einmal selbst davon überzeugen.
Fachleute prämierten den Britzer Garten zur schönsten modernen Parkanlage Deutschlands. Die Deutsche Bundesgartenbau-Gesellschaft verlieh ihm den Ehrenpreis 2012 »für nachhaltige Parknutzung«, und zwar für die »exzellente Qualität des Volksparks« und die fortlaufende Weiterentwicklung, »ohne die ursprünglichen Gestaltungsideen aufzugeben«. Wer will schon Fachleuten widersprechen? 1,2 Millionen Besucher zahlen jährlich Eintritt, um Entspannung in der Natur oder Kurzweil bei den Veranstaltungen zu finden. Hier findet alljährlich auch das spektakulärste Berliner Open-Air-Konzert »Feuerblumen und Klassik« statt. 12 000 Menschen sitzen und liegen auf den Wiesen, lauschen der Musik und beklatschen das Feuerwerk. Im Vergleich zu »Klassik Open Air« am Gendarmenmarkt und den Philharmonikern in der Waldbühne kann man da viel Geld sparen.
Apropos Geld sparen, das gilt auch für das Flugticket in die USA. Die beste Las-Vegas-Show außerhalb der USA ist nämlich ohne jeden Zweifel in Neukölln zu sehen. »Stars in Concert« im Estrel-Hotel bringt es inzwischen auf vier Millionen Besucher. Wer noch nicht da war, hat eben etwas versäumt. Geben Sie acht, dass Sie nicht der letzte sind.
Die historischen Kerne von Britz und Rixdorf sind für Geschichtsverliebte wahre Fundgruben.
Wie es sich gehört, haben wir Neuköllner natürlich auch ein richtiges Schloss. Sonst könnten wir uns ja nicht mit London und Paris messen. Das Britzer Schloss war einst der Sitz preußischer Minister. Der berühmteste war Graf Hertzberg. Er führte die Vierfelderwirtschaft ein, begründete eine Seidenraupenzucht und war eine Schaltstelle zwischen St. Petersburg und Wien in der Aufklärung. Heute gehört das Britzer Ensemble mit Schloss, Park, Gutshof, Dorfkirche, Schulzenhaus, Dorfschule und Feuerlöschteich zu den ganz wenigen komplett erhaltenen Dorfkernen in Brandenburg. Es ist ein Publikumsmagnet. Mehr als 100 000 Menschen besuchen jährlich die Veranstaltungen oder auch nur das Gelände. Der am häufigsten gesprochene Satz lautet: »Ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas in Neukölln gibt.«
Ein ähnliches Juwel ist das Böhmische Dorf. Mitten in Alt-Rixdorf versetzt es seine Besucher unaufdringlich, aber nachhaltig in eine andere Zeit. 1737 kamen die Hussiten als Glaubensflüchtlinge nach Preußen. Sie waren tüchtige Handwerker. Deswegen erlaubte Friedrich Wilhelm I. ihnen, sich anzusiedeln. Nach den Hugenotten im 16. Jahrhundert war das unsere zweite große Einwanderergruppe. An hohen Feiertagen ziehen sie, gekleidet in ihre traditionellen böhmischen Gewänder, vom Böhmischen Dorf zum Gottesacker. Aber es gab offensichtlich schon früher Reibungspunkte mit Fremden. Als die Böhmen kamen, teilte sich der Ort sofort in Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf. Altansässige Familien benutzen diese Bezeichnungen heute noch.
Das Böhmische Dorf mit seinen Bauernhäusern, verträumten Innenhöfen und Scheunen, der Richardplatz mit dem historischen Schmiedehaus aus dem frühen 17. Jahrhundert oder der Garten des Lebens nach Jan Amos Comenius sind so bezaubernde Stätten direkt neben dem hektisch pulsierenden Leben eines multi-ethnischen Stadtteils, dass Besucher auch hier ihre Verblüffung kaum verbergen können. Im Comenius-Garten steht im Übrigen die einzige überlebensgroße Statue des Philosophen Jan Amos Comenius, die die tschechische Republik jemals ins Ausland verschenkt hat. Sie wurde 1992 von Alexander Dubček enthüllt.
Ich könnte noch viel schreiben über dieses Neukölln, das so heterogen, so widersprüchlich ist: Dorfkirchen und -anger, Wasserkaskaden in Barockparks und Jugendstil-Brunnen, Windmühlen, in denen auch heute noch Korn gemahlen wird, die erfolgreiche Rudergesellschaft Wiking mit ihren bis dato 32 deutschen Meisterschaftstiteln, die vielfachen Weltmeisterinnen der Schwimm-Gemeinschaft Neukölln Franziska van Almsick und Britta Steffen, die zusammen mehr als ein Dutzend olympische Medaillen gewonnen haben, über Stadtbaurat Kiehl, der das Gesicht der Stadt veränderte, die Freiwillige Feuerwehr, die Häuslebauer, die Neubausiedlung Gropiusstadt, den Grenzkontrollpunkt Sonnenallee oder unsere berühmten Kinder- und Jugendchöre der Gropiuslerchen, aber leider auch über Intensivtäter, notwendigen Wachschutz vor unseren Schulen und organisierte Kriminalität. Neukölln reicht von Klein-Istanbul bis zum Dorfteich des Johanniterordens. Eine Schlafstadt waren wir noch nie und wollen es auch nicht werden.
Neukölln war immer lebendig und herausfordernd. Wer hier geboren und aufgewachsen ist, sein Leben hier verbracht hat, der ist gegen alle Fährnisse des Lebens gewappnet. Das Leben war und ist einfach ein bisschen rustikaler als dort, wo das Tafelsilber tatsächlich auf dem Tisch lag und seinen Namen auch verdiente. Zwar waren die Veränderungen in den letzten 50 Jahren so massiv, dass sich nicht wenige unter dem Motto »Das muss ich nicht haben« aus dem Staub gemacht haben; verpfiffen, heißt es am Stammtisch. Etwas vornehmer ausgedrückt: Sie sind segregiert. Auf die Gründe dafür werde ich noch ausführlich zu sprechen kommen.
Aber es bleibt die Heimat von über 300 000 Menschen, und die Horrorphantasien, die in manchen Köpfen herumgeistern – dass wir mit dem Stahlhelm auf dem Kopf durch Schützengräben hasten, um unversehrt den Arbeitsplatz oder die Wohnung zu erreichen –, haben etwas Amüsantes, sind aber fern der Realität. Genauso, wenn sich Reisegruppen erkundigen, ob sie ihren Bus am Rathaus stehen lassen können, ohne dass ihm etwas passiert. Richtig süß ist auch immer wieder, dass der sogenannte »Türkenmarkt« von panischen Veranstaltern in deren Programmen nach Kreuzberg verlegt wird, obwohl er sich eindeutig in Neukölln befindet. Auf Nachfragen erhalte ich schon gelegentlich das Geständnis, dass man den Teilnehmern durch das Verschweigen des Wortes »Neukölln« eventuelle Ängste nehmen möchte. Der Name »Tempelhof Airport« für ein Hotel, das mitten im Neuköllner Kiez liegt und mit dem ehemaligen Flughafen Tempelhof so viel zu tun hat wie der Elefant mit Pulloverstricken, zeigt ebenfalls, wie hysterisch überlagert der Umgang mit uns manchmal ist.
Eigentlich ist das schade. Neukölln hat so viel zu bieten und ist so spannend, dass es die Zeit eines Touristen oder eines hier lebenden Menschen durchaus ausfüllen kann. Natürlich sind auch Dinge darunter, die die Welt nicht braucht. Meist sind wir Neuköllner aber gar nicht schuld. Sondern wir baden vor Ort nur das aus, was uns Schöngeister auf anderen gesellschaftlichen Ebenen eingebrockt haben. Dazu gehören auch die Folgeprobleme einer scheinbaren Integrationspolitik. Aber das Schreckgespenst »Iss deinen Spinat auf, sonst ziehen wir nach Neukölln« ist gegen das von Canterville zahnlos. Das stellen immer mehr junge Leute fest. Neukölln ist »in«, zumindest der Innenstadtbereich. Man nennt ihn bereits Kreuzkölln. Das hören wir Neuköllner nicht allzu gern. Wir legen nämlich schon Wert auf ein ganz eigenes Flair. Sei es die ausgeprägte Kulturszene, richtig nette Bühnen von der Travestie bis zum Volkstheater, Galerien, Modelabel, Kneipen, Bars und eine echte Sprachenvielfalt, mehr als nur Türkisch und Arabisch. »48 Stunden Neukölln« ist inzwischen das größte Kulturfestival Berlins. Ein Schmaus für Liebhaber traditioneller Kunstformen, aber durchaus auch für Anhänger experimenteller wie durchgeknallter Kunstdarbietungen.
Was im Moment noch fehlt, ist eine wirklich bunte und gute Gastronomie. Die hält sich bis auf wenige Ausnahmen bisher hartnäckig in Kreuzberg und Schöneberg. Aber: Wir arbeiten daran! Die Eröffnung des neuen internationalen Flughafens Willy Brandt (auch »Neukölln International« genannt), die Veränderungen auf der Riesenfläche des ehemaligen Flughafens Tempelhof, all das wird das Neukölln von morgen anders aussehen lassen. Zu den Entsetzensschreien von Mama, Papa, Oma und Opa auf die Mitteilung, dass die hippe, billige, verkehrsgünstig gelegene und total coole Studentenbude der Tochter oder des Sohnes in Neukölln liegt, gibt es bereits heute wenig Anlass.
Also – hier tut sich etwas. Ich hoffe, dass die seit einiger Zeit nach Neukölln drängende junge Kreativszene zum Quartiermacher wird. Was wir brauchen, ist eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur im Stadtteil. Eine Mischung von starken und schwachen Familien, von anspornenden Vorbildern und motiviertem Verantwortungsgefühl, von Erfolgreichen und denen, die noch auf der Suche nach ihrem Erfolg sind. Und was wir auf jeden Fall brauchen, ist eine Überwindung des lähmenden Breis der Bildungsferne. Nur so können wir wieder ein Mehr an Kompetenzen gewinnen: kulturelle Kompetenzen, Bildungskompetenzen, soziale Kompetenzen. Das neue Feeling, die spannende Vielfalt und die offene, tolerante Lebensweise in den Erdgeschossen – sprich: in den Bars, Ateliers und Restaurants der jungen Experimentier- und Kreativwirtschaft – müssen sich in den Wohnebenen darüber verstetigen. Um 23.00 Uhr eintreffende und gegen 3.00 Uhr nach einigen Caipis mit dem Taxi nach Hause fahrende Yuppies bringen uns nicht wirklich weiter. Wir bleiben dann ein Durchlauferhitzer. Eine Art Abenteuer-Episode beim Erwachsenwerden. Wie früher die Kerbe im Revolvergriff, so sind wir dann allenfalls ein Herausstellungsmerkmal im Bewerbergespräch: »Wissen Sie, dass ich drei Jahre in Neukölln gelebt habe? Ich habe es (gut) überstanden, vor Ihnen sitzt ein harter Hund.«
Die höhere Nachfrage führt unweigerlich zu mehr Begehrlichkeiten bei den Hauseigentümern. Und so kann es schon sein, dass Sie heute für eine Wohnung, die vor drei Jahren noch 3,50 Euro kalt pro Quadratmeter gekostet hat, so um die 7,50 Euro pro Quadratmeter berappen müssen. Da dies im Vergleich mit den in Stuttgart, München oder Hamburg üblichen Mieten immer noch preiswert ist, werden die Forderungen anstandslos erfüllt. Bei der nächsten Neuvermietung wird dann ausprobiert, ob sich die Schraube noch ein bisschen weiter drehen lässt. Da Mieterhöhungen im Regelfall nur bei Neuabschluss des Vertrages greifen, erhöht sich die Miete für Wohnraum so schnell, wie sich die Wohnungen am Markt drehen. Auf Deutsch bedeutet das: Diejenigen, die durch episodenhafte Wohnsitze für starke Mieterfluktuation sorgen und die Gentrifizierung durch Mietsteigerungen beklagen, sind die Gentrifizierer.
Was wir brauchen, sind junge Menschen, die nach Neukölln ziehen, um hier ihren Familiensitz zu gründen, hier zu leben und zu bleiben. Die ihre Kinder hier zur Schule anmelden und nicht den Wohnsitz der Oma nutzen, um die lieben Kleinen in einem anderen Bezirk anmelden zu können, oder auch gleich ganz wegziehen, sobald der Termin für die Einschulung naht.
Durchaus gewünschte und erwünschte Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur werden von vielen als Vertreibung und damit als politische Fehlentwicklung zu Lasten der Armen und Schwachen gegeißelt. Ich halte das für falsch. Der Begriff »Gentrifizierung« wurde von einer britischen Soziologin 1964 geprägt und beschreibt Vorgänge, bei denen die Bevölkerung eines Stadtviertels infolge einer neuen städtebaulichen und soziologischen Architektur des Viertels komplett durch eine neue, wohlhabende Bürgerschaft ersetzt wird. Eine Entwicklung, die vornehmlich in den USA um sich gegriffen hatte. Davon kann in Neukölln, aber auch in anderen Stadtteilen Berlins, überhaupt keine Rede sein. Nicht einmal im Prenzlauer Berg, der gemeinhin im Jargon als »SBZ« (schwäbisch besetzte Zone) bezeichnet wird. Worum es geht, ist eine soziale und ethnische Durchmischung, nicht eine Vertreibung. Eine Käseglocke über Hartz-IV-Milieus, Monokulturen der Bildungsferne oder ethnisch entmischte Türken- oder Araberquartiere zu stülpen, hat mit verantwortlicher Stadtpolitik und Zukunftssicherung für seine Bewohner nichts zu tun. Dort, wo derjenige, der seine Miete selbst bezahlt, automatisch im Verdacht steht, ein Gentrifizierer zu sein, ist die Entwicklung schief gelaufen. Ein solidarisches, durch Respekt und Toleranz geprägtes Miteinander setzt eine Mischung von Lebensentwürfen, Lebensphasen und Lebensperspektiven voraus. Dort, wo alles nivelliert ist, werden Aufstiegswillen und Bildungsstreben nicht mehr abverlangt. Man muss sich nur noch unter Gleichen einrichten.
Unsere Staatsministerin für Integration, Prof. Dr. Maria Böhmer, sagt stets zu mir: »Die Bundesrepublik besteht nicht nur aus Neukölln.« Ich habe diese Aussage im Atlas überprüft. Sie ist fachlich nicht zu beanstanden. Gleichwohl räumt Frau Prof. Böhmer damit indirekt ein, dass meine Darstellungen des Alltags in Großstadtlagen mit starker Einwandererbevölkerung durchaus den Tatsachen entsprechen. Trotzdem gibt es recht wenige Stadt- und Kommunalpolitiker, die einer ungeschminkten Betrachtungsweise zuneigen. Wenn wir bei der Vollversammlung des Deutschen Städtetages unter 1500 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im Smalltalk unsere Erfahrungen austauschen, so sind diese und damit auch unsere Sorgenkinder recht identisch. Allerdings werden die Probleme umso kleiner, je dichter ein Mikrophon oder ein Stenoblock kommen. Am Schluss bleiben häufig nur das wunderbar gelungene multikulturelle Straßenfest oder die genialen Tore von Mesut Özil bei Europa- oder Weltmeisterschaften übrig.
Erklären lässt sich das Phänomen leicht. Städte stehen insbesondere in Ballungsräumen in harter Konkurrenz zueinander. Ein Bürgermeister, der alle Fakten auf den Tisch legt, eventuell noch zugibt, dass sich die Probleme allenfalls schrittchenweise und im Schneckentempo lösen lassen, oder die Hilflosigkeit der Stadtpolitik gegenüber dem einen oder anderen Sachverhalt eingesteht, der hat keine lange Halbwertszeit. »Nestbeschmutzer« wird man ihn schimpfen, man wird ihn dafür verantwortlich machen, dass bei der Ansiedlung eines Unternehmens mit 200 neuen Arbeitsplätzen ein halbes Jahr zuvor eine Nachbarstadt die Nase vorn hatte. Alle Fehlentwicklungen der jüngsten Vergangenheit vor dem anstehenden Wahltermin wird man ihm und seinem Alarmismus ankreiden, denn so schlimm ist doch alles gar nicht. Selbstredend wird der Gegenkandidat oder die Gegenkandidatin verkünden, mit der Miesmacherei sei jetzt endlich Schluss, und ab sofort gehe es wieder bergauf.
Die beschriebenen Mechanismen und dazu noch die sogenannte Political Correctness, parteiinterne Programmatik und gegebenenfalls auch persönliches Selbstverständnis oder Konfliktscheue führen im Endeffekt dazu, dass das Thema Integration in Verbindung mit Fehlentwicklungen in der Öffentlichkeit nur unterbelichtet und wenn, dann immer mit Bezug auf andere diskutiert wird. Entlädt sich die wahre Stimmungslage durch ein auftauchendes Ventil wie zum Beispiel ein Buch oder Sammlungsversuche meist älterer Männer zu einer politisch stets scheiternden Bewegung, dann regieren nur noch organisierte aufgeregte Empörung und hysterische Pseudobetroffenheit.
So kam Neukölln zu seinem Mythos als Alleinstellungsmerkmal. Dabei sind wir völlig normal. Jedenfalls unterscheiden wir uns nicht groß von anderen Städten mit gleichen oder ähnlichen Bevölkerungsstrukturen. Dessen ungeachtet wollen viele Buspauschalreisen oder politische Exkursionsgruppen einen Besuch des Bezirks Neukölln als Art Gruselfaktor im Programm nicht missen. Aber es gibt auch die, die Neukölln toll finden. Der Papst zum Beispiel. Er hat seine Nuntiatur nach Neukölln gelegt. Es ist die einzige Botschaft innerhalb unserer symbolischen Stadtmauern. Päpste haben eben Weitblick. Oder die niederländische Königin Beatrix. Sie bestand bei ihrem Staatsbesuch darauf, Neukölln kennenzulernen. Königin Silvia von Schweden und Kronprinzessin Viktoria konnte man in Neuköllner Jugendeinrichtungen ebenfalls bewundern, genauso wie die gesamte erste Reihe der deutschen Politik. Kanzler und Kanzlerin, Minister und Ministerinnen, Partei- und Fraktionschefs, sie alle waren und sind uns offiziell wie inoffiziell immer herzlich willkommen. Bundespräsident Köhler hielt in Neukölln seine berühmte Rede zur Bildungspolitik, Bundespräsident Rau nahm hier ein Bad in der Menge, und den Bundespräsidenten a. d. von Weizsäcker kann man heute noch im Theater Heimathafen treffen.
Der Spiegel bezeichnete Neukölln schon 1997 als Endstation. Andere Publikationen fanden, dass wir den Untergang der Zivilisation verkörperten oder die europäische Bronx seien. Na ja, viel herumgekommen scheinen diese Schreiberlinge nicht zu sein. Der Europarat zeichnete uns 1987 für »außergewöhnlichen Leistungen zur Förderung des europäischen Einigungsgedankens« mit dem Europapreis aus und berief uns 2008 als einzige deutsche Stadt in den Kreis der »Intercultural Cities«.
Größer kann die Bandbreite nicht sein. Vom Weltkulturerbe über ein Labor von Wissenschaft, Pädagogik und Architektur bis hin zur modernen Großstadt, in der manifeste Milieus der Bildungsferne eine Renaissance erleben. Vielleicht verstehen Sie jetzt unseren fast scheuen Wahlspruch: »Wo Neukölln ist, ist vorne. Sollten wir einmal hinten sein, ist eben hinten vorne.«
Neukölln ist mehr als die einzige Stadt Deutschlands, die über Integrationsprobleme klagt und eine Hauptschule mit Disziplinproblemen unter den Schülern hat, in der Christiane F. gelebt hat und Filme über den stillgelegten Grenzübergang Sonnenallee gedreht werden. Wenn Sie tapfer dieses Buch weiterlesen, werden Sie zwangsläufig auf Stellen treffen, die geeignet sind, Sie in das alte Klischee Neuköllns zurückfallen zu lassen. Wenn diese Situation eintrifft, lesen Sie dieses Kapitel einfach noch einmal von vorne. Oder noch besser, kommen Sie her und helfen Sie mit.