KAPITEL 65

Jack starrte aus dem Flur des Palasts in den finsteren Himmel. Es regnete noch heftiger als zuvor. Liam war rasch nach Hause gefahren, um nachzusehen, ob Mikki vielleicht dort war, hatte aber gerade eben angerufen und berichtet, dass er keine Spur von ihr gefunden habe.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Bonnie. »Was sollen wir nur tun?« Sie klang hysterisch.

Jack drehte sich zu ihr um und sagte schroff: »Zunächst einmal dürfen wir nicht in Panik verfallen.«

Einer der Mitarbeiter des Jugendamts schlug vor: »Wir sollten die Polizei anrufen.«

Jack schüttelte den Kopf. »Es gibt hier nur den Sheriff und einen Deputy, und die werden bei dem Sturm genug zu tun haben. Wir können sie zwar anrufen, aber wir können nicht einfach hier herumsitzen und auf sie warten. Wir müssen die Gegend absuchen, und zwar möglichst schnell und gründlich. Wir werden uns aufteilen und jede Straße und den Strand abgehen.« Er deutete auf Fred. »Fred, du und Bonnie, ihr fahrt mit dem Auto Richtung Westen. Fahrt langsam, und haltet in jeder Richtung nach Mikki Ausschau.« Er wandte sich an die Mitarbeiter des Jugendamts. »Sie fahren nach Osten und machen es genauso. Lassen Sie uns die Handynummern tauschen. Wer Mikki findet, ruft die anderen an. Sammy und ich werden in entgegengesetzten Richtungen den Strand absuchen.« Er wandte sich an Cory. »Cory, du musst jetzt ein Mann sein und auf Jackie aufpassen. Schaffst du das?«

Cory schluckte und schaute seinen Dad verängstigt an. »Mikki kommt doch wieder zurück, oder?«

»Natürlich kommt sie zurück. Ich wette, sie ist jede Minute wieder hier. Und wenn sie kommt, muss jemand hier sein, okay?«

»Okay, Dad.«

Jack ging nach Süden den Strand hinunter, Sammy nach Norden. Der Regen wurde vom heulenden Sturm über das Land gepeitscht, und der Sand lag größtenteils unter Wasser. Jack schwenkte die Taschenlampe in weitem Bogen, doch das Licht durchdrang kaum die Dunkelheit. Dann aber riss es einen Gegenstand aus dem trüben Zwielicht. Als Jack sah, um was es sich handelte, schlug ihm das Herz bis zum Hals, und eine düstere Vorahnung überkam ihn.

Es war einer von Mikkis Sneakers, der im flachen Wasser trieb. Jack suchte in sämtlichen Richtungen nach seiner Tochter, entdeckte aber nichts. Er rief ihren Namen, doch außer dem Kreischen des Windes war nichts zu hören. Es wurde immer dunkler, und der Sturm nahm weiter an Heftigkeit zu.

»Ich kann nichts sehen, verdammt!«, fluchte Jack vor sich hin. Er starrte auf das wütende Meer hinaus. Aufgepeitscht von der Wucht des Sturms, wurde es von Minute zu Minute gefährlicher. Schließlich drehte Jack sich um und lief zurück in Richtung Norden, den Blick fest auf den schmalen Streifen zwischen Land und Wasser gerichtet. Er musste sich nach vorn beugen, um von den heftigen Böen nicht umgerissen zu werden. Alle zehn Sekunden rief er Mikkis Namen.

In der Nähe des Palastes traf er auf Sammy, der das Mädchen ebenfalls nicht gefunden hatte.

Jack zeigte ihm den Sneaker.

»Das ist gar nicht gut, Jack«, sagte Sammy.

»Uns läuft die Zeit davon. Nicht mehr lange, und der Sturm bricht richtig los.«

»Was willst du jetzt tun?«

»Wir müssen eine Möglichkeit finden, eine größere Fläche Land und Wasser auf einmal abzusuchen.«

»Dafür bräuchten wir einen Hubschrauber mit Suchscheinwerfer, aber der kann bei dem Wetter unmöglich starten.«

Bei dieser Bemerkung schaute Jack zum Leuchtturm. Dann drehte er sich um und rannte darauf zu, Sammy dicht auf den Fersen. Jack trat die Tür auf und stürmte die Treppe hinauf. Oben angekommen, zog er sich durch die Zugangsluke. Ein paar Sekunden später steckte auch Sammy schwer atmend den Kopf durch die Luke.

»Puh … Was zum Teufel machst du?«

»Ich besorge uns einen Scheinwerfer!«

»Jack, das verdammte Ding funktioniert doch nicht …«

»Heute Nacht wird es funktionieren. Denn ich werde meine Tochter finden!«, rief Jack zu ihm zurück. Er riss die Werkzeugkiste auf, die er in der Ecke stehen gelassen hatte, und schnappte sich ein paar Schraubenschlüssel und den alten Schaltplan. Sein Blick huschte über die komplizierten Zeichnungen.

»Halt mir den Plan hin, während ich arbeite«, sagte Jack und drückte ihn Sammy in die Hand.

Während Sammy den Schaltplan hielt, ging Jack einen Teil des Mechanismus nach dem anderen durch.

Sammy, der ihm besorgt zusah, meinte: »Aber wir brauchen einen Suchscheinwerfer, Jack, nicht etwas, das …«

»Das Ding hat eine manuelle Kontrolle«, unterbrach Jack seinen Freund und zwängte sich in einen Spalt, um dort ein paar Drähte anzuschließen. »Das Licht kann per Hand eingestellt werden.«

Er kroch wieder hinaus und legte den Hauptschalter um. Nichts tat sich.

»Verdammt!« Wütend schleuderte Jack den Schraubenschlüssel auf den Boden und spähte hinaus in die Dunkelheit. Dort war sein kleines Mädchen … irgendwo.

Jack schauderte.

Nein! Ich werde meine Tochter nicht verlieren.

Ein Blitz schlug ins Wasser ein, gefolgt von krachendem Donner. Der Sturm näherte sich seinem Höhepunkt.

Unten im Turm waren Schritte zu vernehmen. Dann erschien zuerst Jennas, dann Liams Gesicht in der Öffnung zum Raum mit dem Leuchtfeuer. Beide waren völlig durchnässt.

»Wir haben auf unserer Seite die Straße und den Strand abgesucht, aber keine Spur von Mikki gefunden. Auch Bonnie und die anderen haben nichts entdeckt«, sagte Jenna zu Sammy und schaute auf Jacks Rücken.

»Wir versuchen, die Lichtanlage in Betrieb zu nehmen«, erklärte Sammy. »Aber bis jetzt hatten wir kein Glück. Wir haben nur das hier.«

Er hielt Mikkis durchnässten Schuh in die Höhe. Jenna und Liam wurden kreidebleich. Unwillkürlich schauten sie auf das kochende Meer hinaus.

Jack stand mutlos an der Lichtanlage und blickte verzweifelt in die Dunkelheit. Er wusste nicht mehr weiter. Die Stromleitung zum Leuchtturm wurde immer wieder unterbrochen, sodass das Licht im Raum ständig flackerte.

Jack starrte noch immer in die Finsternis, als er es plötzlich sah. Zuerst hielt er es für einen weiteren Blitz, der auf das Wasser traf, doch es folgte kein Donner. Mit einem Mal wurde Jack klar, dass es mit dem flackernden Licht zusammenhing: Im Augenblick der Dunkelheit hatte sich ein elektrischer Funke auf dem Fensterglas gespiegelt und war in dem Moment erloschen, als der Strom wieder geflossen und das Licht erneut aufgeflackert war.

Aufgeregt sprang Jack zu der Lichtanlage. »Schalt die Lampe aus, Sammy!«, rief er.

»Was?«

»Das Licht! Schalt es aus. Sofort!«

Sammy legte den Schalter um und tauchte alles in Dunkelheit.

Jack, dessen Herz vor Angst immer schneller schlug, weil er wusste, dass er nur noch eine Chance hatte, starrte verzweifelt auf das Leuchtfeuer. Er hörte nichts: nicht den Sturm, nicht Sammys und Jennas schnelles Atmen, nicht einmal seine eigenen Atemgeräusche. In diesen Sekunden gab es nichts anderes mehr auf der Welt als ihn und diese alte metallene Bestie, die ihn den ganzen Sommer zur Verzweiflung getrieben hatte. Wenn er jetzt nicht herausfand, wie das Leuchtfeuer funktionierte, hatte er seine Tochter verloren.

»Schalt das Licht wieder an.«

Sammy tat wie geheißen.

In diesem Moment sah Jack den Strom zwischen zwei Metallplatten überspringen – in einem Spalt, der so klein war, dass er bis jetzt nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn überhaupt gab. Das also hatte er als Spiegelbild im Fenster gesehen.

Jack kniete sich auf den Boden, rutschte an die Lichtanlage heran und leuchtete mit der Taschenlampe in den Spalt. Zwei Drähte waren dort zu sehen. Sie waren weniger als einen Zentimeter voneinander entfernt, berührten sich aber nicht.

»Schalt die Hauptsicherung aus, Sammy, und hol mir Isolierband und eine Kabelzange.«

Sammy legte den Hauptschalter um, schnappte sich das Isolierband aus der Werkzeugkiste und warf Jack die Rolle sowie eine rote Kabelzange zu. Während Jenna die Taschenlampe für ihn hielt, schob Jack die Hände in den Spalt, verband die beiden Drähte mit der Kabelzange und isolierte sie. Dann stand er auf und rief: »Schalt den Strom wieder ein, Sammy, und leg den Schalter um. Alle weg von der Lampe, und dreht euch um! Nicht ins Licht schauen!«

Wieder tat Sammy wie geheißen. Zuerst geschah nichts. Dann, als würde es aus jahrelangem Schlaf erwachen, sprang das Leuchtfeuer an und baute Energie auf, bis es schließlich vollends zum Leben erwachte und die Welt mit Helligkeit erfüllte. Hätte Jack den anderen nicht gesagt, sie sollten die Augen abwenden – sie wären geblendet worden. Der mächtige Strahl erhellte den Strand und das Meer mit erstaunlicher Kraft. Dann begann das Leuchtfeuer sich langsam zu drehen.

Jack lief um die Anlage herum, drückte einen Knopf und packte einen Hebel. Sofort endete die Drehbewegung. Anstatt über die umliegende Landschaft zu wandern, wurde das Licht zu einem hellen, gebündelten Strahl, der sich steuern ließ.

»Sammy, übernimm das hier. Fang im Norden an, und beweg es dann im Dreisekundentakt langsam nach Süden.«

Während Sammy das Licht lenkte, standen Liam, Jack und Jenna wie gebannt am Fenster und schauten auf die plötzlich helle Landschaft hinaus.

Jenna entdeckte sie als Erste. »Da!«, rief sie. »Da!«

»Halt den Strahl genau in Position, Sammy!«, schrie Jack. »Keine Bewegung mehr!«

Jack sprang durch die Luke nach unten und stürmte die Treppe hinunter. Beinahe hätte er dabei Bonnie über den Haufen gerannt, die ihm entgegenkam.

»Was ist …?«

Jack machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten.

Er rannte weiter.

Das Licht des Leuchtturms hatte Mikkis Aufenthaltsort enthüllt. Sie war im tiefen Wasser und klammerte sich an ein Stück Treibholz, während drei Meter hohe Wellen auf sie eindroschen. Der Sturm schien sie fest im Griff zu haben, und vielleicht hatte sie nur noch wenige Minuten zu leben.

Und ich dann auch, dachte Jack.