KAPITEL 10
Jack lag ein paar Stunden lang einfach nur da, bis der Tag in die Nacht überging. Die Uhr tickte, und er rührte sich nicht. Sein Atem ging regelmäßig, angetrieben von der Maschine, die ihn am Leben hielt, indem sie seine Lunge mit Sauerstoff füllte. Doch irgendetwas brannte in seiner Brust, das er weder genau identifizieren noch lokalisieren konnte. Seine Gedanken waren auf die letzte Umarmung seiner Tochter gerichtet, auf ihr Flehen, sie nicht zu verlassen. Mit dem Ende seines Lebens, mit seinem letzten Atemzug würden die Armstrong-Kinder ohne Eltern sein.
Jacks Finger hatten den ganzen Tag immer wieder über dem Rufknopf geschwebt, um den Arzt zu bitten, ihn gehen zu lassen. Doch er hatte den Knopf nie gedrückt.
Die Uhr tickte, und das Brennen in Jacks Brust schwoll an. Es war nicht schmerzhaft. Tatsächlich wärmte es sogar seinen Hals, seine Arme, seine Beine, seine Füße und seine Hände. Seine Augen tränten und trockneten dann aus. Ein Schluchzen kam und ging. Und noch immer war er in Gedanken bei seiner Tochter. Die letzte Umarmung, das letzte Flehen.
Die Krankenschwestern kamen und gingen. Jack wurde mit einer Flüssigkeit ernährt, die man ihm wie eine Kugel in den Körper schoss. Die Uhr tickte, und die Luft wurde in seine Lunge gepumpt. Genau um Mitternacht fühlte Jack sich mit einem Mal seltsam. Seine Lunge zog sich zusammen wie damals, als Jackie den Schlauch aus der Pumpe gezogen hatte.
Vielleicht war es das jetzt, dachte Jack, Rufknopf hin oder her.
Nicht einmal die Maschinen konnten ihn noch am Leben erhalten. Er hatte sich oft gefragt, wie dieser Augenblick sich anfühlen würde, der Augenblick des Todes. Als er im Irak im brennenden Wrack seines Humvee eingeklemmt gewesen war, hatte er sich die gleiche Frage gestellt: Würde er seine letzten Augenblicke auf Erden weit weg von Lizzie und den Kindern verbringen? Wie würde es sich anfühlen? Und was erwartete ihn?
Er hatte Angst, aber wer würde sich nicht davor fürchten? Die letzte Reise. Die eine Reise, die jeder allein antreten musste. Ohne den Trost eines Gefährten. Und wenn man keinen Glauben hatte, dann auch ohne Hoffnung auf das, was einen erwartete.
Jack atmete tief ein, dann noch einmal. Seine Lunge wurde tatsächlich schwächer. Er bekam nicht mehr genügend Sauerstoff hinein, um sein Leben zu erhalten. Er griff nach dem Schlauch in seiner Nase. Und da erkannte er das Problem: Die Sauerstoffzufuhr war unterbrochen.
Jack knipste die Nachttischlampe an und drehte sich zur Wand um. Er sah, dass der Schlauch sich aus dem Ventil gelöst hatte. Allerdings musste das Ventil geschlossen sein, sonst hätte er ein Zischen gehört. Er wollte gerade den Rufknopf drücken, beschloss dann aber, selbst zu versuchen, den Schlauch wieder anzubringen.
In diesem Augenblick fiel es ihm auf.
Wie lange atme ich jetzt schon ohne Hilfe?
Er schaute auf den Monitor, der seine Körperfunktionen überwachte. Der Alarm war nicht ausgelöst worden, obwohl es schon längst hätte der Fall sein müssen. Und als Jack sah, wie hoch der Sauerstoffgehalt in seinem Blut war, wusste er warum. Der Wert war nicht gesunken.
Wie ist das möglich?
Es gelang Jack, den Schlauch wieder anzuschließen, und er atmete mehrmals tief ein. Dann zog er den Schlauch aus seiner Nase und atmete, so lange er konnte. Zehn Minuten später spürte er die Anstrengung in seiner Lunge und steckte den Schlauch wieder hinein.
Was ist hier los?
Im Laufe der nächsten zwei Stunden zog er immer wieder den Schlauch heraus und atmete allein, bis er schließlich bei fünfzehn Minuten war. Normalerweise fühlte seine Lunge sich an wie ein Sack nasser Zement. Jetzt aber war sie halbwegs normal.
Um drei Uhr morgens setzte Jack sich im Bett auf und tat das Undenkbare. Er klappte das Seitengitter hinunter und schwang die Beine herum, sodass seine Füße aus dem Bett baumelten. Stück für Stück rückte er vor, bis seine Zehen den kalten Fliesenboden berührten. Jeder Teil seines Körpers war vor Anstrengung aufs Äußerste angespannt, doch nach und nach stemmte er sich in die Höhe, bis seine Beine sein Gewicht trugen. Doch er konnte nur ein paar Sekunden so stehen, ehe er wieder aufs Bett sank. Keuchend vor Erschöpfung und mit vor Anstrengung brennender Lunge versuchte er es noch zweimal. Jeder Muskel in seinem Körper zitterte unter der Last. Doch als der Schweiß auf seiner Stirn abkühlte, lächelte Jack, und das aus gutem Grund.
Er war gerade zum ersten Mal seit Monaten aus eigener Kraft aufgestanden.
Am nächsten Morgen, nachdem die Krankenschwester ihre Runde gemacht hatte, rutschte er wieder zur Bettkante, und seine Zehen berührten abermals den Boden. Dann aber geschah es: Er rutschte mit den Händen am Laken ab und brach auf dem Boden zusammen. Zuerst überfiel ihn Panik, und er versuchte verzweifelt, den Rufknopf zu erreichen, doch der war zu weit weg. Dann beruhigte er sich wieder und ging mit der gleichen methodischen, pragmatischen Art zu Werke, die ihn im Irak und in Afghanistan hatte überleben lassen.
Jack packte die Bettkante. Er verstärkte seinen Griff und zog. Sein ausgezehrter Körper bebte, zitterte und verkrampfte sich, bis er endlich wieder oben war. Triumphierend lag er da, und hart verdienter Schweiß tränkte seinen Kittel.
In dieser Nacht schaffte er es bis ins Badezimmer und schaute sich zum ersten Mal seit Monaten im Spiegel an. Es war kein schöner Anblick. Er sah nicht aus wie vierunddreißig, eher wie vierundachtzig. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam ihn. Er machte sich nur etwas vor. Doch als er sich im Spiegel betrachtete, hörte er eine vertraute Stimme in seinem Kopf.
Du schaffst das, Jack.
Die Stimme gehörte Lizzie. Natürlich konnte es nicht sein, und doch war es so.
Jack schloss die Augen.
»Wirklich?«, fragte er.
Ja, antwortete sie. Du musst, Jack. Für die Kinder.
Jack stolperte zum Bett zurück und legte sich hin. Hatte Lizzie wirklich zu ihm gesprochen? Er wusste es nicht. Natürlich war das unmöglich. Aber was zurzeit mit ihm geschah, war genauso unmöglich.
Er schloss die Augen, beschwor Lizzies Bild herauf und lächelte.
In der nächsten Nacht hörte er das Quietschen der Bahre. Der Patient nebenan musste nicht mehr leiden. Er war jetzt an einem besseren Ort. Jack hatte den Mann, einen Prediger, mit der Bibel in der Hand durch den Flur gehen sehen. Ein besserer Ort. Doch Jack dachte nicht mehr ans Sterben. Zum ersten Mal seit Verkündung seines Todesurteils konzentrierte er sich auf das Leben.
Als die Uhr am nächsten Tag Mitternacht anzeigte, stemmte Jack sich aus dem Bett und ging durchs Zimmer, wobei er sich mit einer Hand an der Wand abstützte. Er fühlte sich schon kräftiger, und seine Lunge arbeitete wieder einigermaßen normal. Es war, als würde sein Körper sich von Minute zu Minute selbst heilen. Jack hörte ein Grummeln im Bauch. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er Hunger hatte. Er wollte keine Flüssigkeit mehr eingespritzt bekommen. Er wollte richtiges Essen. Essen, das man riechen und schmecken konnte.
Immer wieder kniff er sich in den Arm, um sich zu überzeugen, dass er nicht träumte. Aber es war kein Traum. Es war nicht bloß Einbildung. Es war real.
Nein, nicht einfach nur real.
Es war ein Wunder.