KAPITEL 26

Mikki hatte darauf bestanden, Jack zum Haus der Fontaines zu begleiten, also blieb Sammy zurück, um auf die Jungs aufzupassen. Sie fuhren in Jacks Pick-up. Das Haus war alt, aber gut gepflegt. Jenna empfing sie an der Tür und bat sie herein. Das Innere war ungewöhnlich. Anstatt im Strandlook, wie in dieser Gegend üblich, war alles im Stil des Südwestens dekoriert. Die Wände waren braun und lachsfarben gestrichen. Ölgemälde zeigten schneebedeckte Berge und weite Wüsten, und hellbunte Teppiche mit geometrischen Mustern lagen auf dem Boden.

Jenna saß Jack gegenüber. Jack ließ den Blick über sie gleiten und schaute dann rasch weg. Sie trug eine weiße Hose, einen blassblauen Pullover und keine Schuhe.

»Hübsch hier«, bemerkte Jack.

»Danke. Wir wollten uns einfach wie zu Hause fühlen.«

»Und wo ist das?«, fragte Mikki und schaute sich um. »In Arizona? Da war ich nämlich erst vor Kurzem.«

Jenna lachte. »Ich war nie in Arizona oder überhaupt im Südwesten. Deshalb habe ich das Haus ja auch so dekoriert. Vermutlich werde ich dem Land nie näher kommen. Ursprünglich kommen wir aus Virginia. Da bin ich auch aufs College gegangen und habe Jura studiert. Schließlich sind wir in D. C. gelandet.«

»Dafür, dass Sie einen Sohn im Teenageralter haben, sehen Sie noch ziemlich jung aus«, bemerkte Mikki frech.

»Mik!«, sagte Jack verärgert, aber Jenna lachte nur.

»Das fasse ich jetzt mal als Kompliment auf. Die Wahrheit ist, als ich Liam bekommen habe, ging ich noch zur Highschool.« Sie schürzte die Lippen und lächelte dann. »Liam war das mit Abstand Beste an dieser Ehe.«

»Und wie sind Sie dann hier gelandet?«, fragte Jack.

»Ich war die Machtspielchen in D. C. irgendwann leid. Ich habe gutes Geld verdient und es klug angelegt. Eines Sommers sind wir nach Charleston gekommen, sind ein bisschen herumgefahren, haben Channing entdeckt und uns in den Ort verliebt.« Sie schaute Jack aufmerksam an. »Als ich mit Charles Pinckney gesprochen habe, hat er mir erzählt, dass seine Schwester im Palast gelebt hat. Das ist ein tolles altes Haus. Ich war zwar noch nie drin, aber den Leuchtturm habe ich immer schon geliebt.«

»Ja, es ist ziemlich cool«, sagte Mikki und blickte zu ihrem Dad.

»Meine Frau ist in dem Haus aufgewachsen«, sagte Jack.

»Das hat Charles mir auch erzählt.« Jenna hielt kurz inne und fügte dann ernst hinzu: »Ihr Verlust tut mir sehr leid.«

»Danke«, erwiderte Jack.

Jenna stand auf, und ihre Fröhlichkeit kehrte zurück. »Okay. Wollen Sie mal sehen, wo der verrückte Musiker so rumhängt?«

Mikki sprang auf. »Klar.«

Der Raum war als Aufnahmestudio eingerichtet, das sah Mikki sofort, allerdings mit wenig Geld. Ihrem geschulten Auge fiel sofort auf, dass die Mischpulte, Mikrofone und Monitore älteren Datums waren; einige Sachen schienen selbstgebaut zu sein. Mikki wusste das, weil sie und ihre Band es genauso gemacht hatten. Neues Equipment überstieg ihre finanziellen Möglichkeiten bei Weitem. Mikki sah ein Keyboard und in einer Ecke eine Bassgitarre. Ein Banjo und eine Fidel hingen an Haken an der Wand. Eines jedoch war seltsam: Nirgends waren Noten zu sehen, nicht ein einziges Blatt.

»Wo ist Liam?«, fragte Mikki. »Ich dachte, er wäre hier.«

»Oh, Liam ist unterwegs. Er hat ein paar Sachen ins Restaurant gebracht. Darf ich dich mal was fragen?«

»Klar.«

»Gehst du nächstes Jahr zur Highschool?«

»Ja.«

»Liam geht auf die Channing High. Das ist die einzige Highschool in der Stadt.«

»Er ist ein ziemlich großer Bursche«, bemerkte Jack. »Spielt er Basketball? Oder Football?«

Jenna lächelte und schüttelte den Kopf. »Er ist zwar ein guter Sportler, aber nur hier drin«, sie deutete auf den Raum, »ist er mit ganzem Herzen bei der Sache.«

Mikki ging zu der Bassgitarre. »Würde es ihm etwas ausmachen, wenn ich mal probiere?«

»Aber nein. Mach nur.«

Mikki hängte sich den Bass um und begann zu spielen.

»Wow!«, sagte Jenna. »Das ist wirklich gut.«

Mikki wollte den Bass wieder beiseitelegen, doch eine Stimme sagte: »Spiel die letzten beiden Akkorde noch einmal.«

Alle drehten sich um und sahen Liam in der Tür stehen. Er trug eine Brille mit Drahtgestell und ein T-Shirt, auf dem zu lesen stand: Save the Planet. Cuz, I Still Live Here.

»Ich habe dich gar nicht kommen hören, Liam«, sagte seine Mutter. »Alles okay im Little Bit?«

»Alles da, wo es sein soll«, antwortete Liam und schaute wieder zu Mikki. »Also, spiel die beiden Akkorde noch mal.«

Überrascht, aber auch erfreut über die Bitte tat Mikki ihm den Gefallen.

Liam ging zu ihr und legte ihren Zeigefinger an eine andere Stelle am Gitarrenhals. »Versuch es mal so. Das gibt dem Sound mehr Tiefe.«

Mikkis Lächeln verschwand, und das Blut stieg in die Wangen. »Ich weiß, wo meine Finger hingehören. Ich spiele seit meinem achten Lebensjahr.«

Ihre Feindseligkeit schien Liam nicht zu stören. »Lass es mich jetzt mal hören.«

»Von mir aus.« Mikki prüfte die neue Position für ihren Zeigefinger und spielte den Akkord noch einmal. Staunen zeichnete sich in ihren Augen ab. Der Sound war wirklich voller. Mit neuem Respekt schaute sie zu Liam. »Wie hast du das herausgefunden?«

Liam hob die Hand. Seine Finger waren lang, die Spitzen voller Schwielen. »Das hat mit Anatomie zu tun.«

»Was?«

»Eine Fingerspitze hat verschiedene Kraftpunkte auf der Oberfläche. Wenn man erst weiß, wo die sind, und wenn man entsprechend greift, wird die Spannung der Saiten erhöht. Dadurch entsteht ein satterer Sound, weil der Hals nicht mehr so stark vibrieren kann.«

»Und das hast du ganz allein herausgefunden?«

»Nee, so klug bin ich nun auch wieder nicht. Ich habe im Rolling Stone darüber gelesen«, antwortete er. »Wie heißt du?«

»Mikki Armstrong. Das da ist mein Dad.«

Jack und Liam schüttelten sich die Hände.

»Mr. Armstrong ist hier, um mein Gehör zu retten«, erklärte Jenna.

»Nenn mich einfach Jack«, bot Jack dem Jungen an.

Liam grinste. »Und? Glauben Sie, dass Sie Mom helfen können? Ich will schließlich nicht, dass sie meinetwegen taub wird.«

Jack ließ den Blick durch den Raum schweifen und klopfte eine der Wände ab. »Eine Gipswand von Standardtiefe.« Er streckte den Arm nach oben und klopfte in regelmäßigen Abständen die Decke ab. »Hier das Gleiche. Ja, das kriege ich hin, wenn ich im Eisenwarenladen die Sachen bekomme, die ich dafür brauche.«

Jenna sah beeindruckt aus. »Wann können Sie anfangen?«

»Sobald ich das Material habe«, antwortete Jack. »Ich werde einen Kostenvoranschlag erstellen, damit Sie wissen, wie groß das Loch in Ihrer Brieftasche werden könnte.«

Mikki platzte heraus: »Mein Dad ist super in seinem Job. Er kann alles bauen.«

Jenna lächelte. »Ja, das glaube ich.«

Mikki ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Sag mal, Liam, wo sind deine Noten?«

Er tippte sich an den Kopf. »Alles hier oben.«

»Aber was ist mit neuen Stücken? Du brauchst doch Notenblätter, um sie zu lernen.«

»Ich kann keine Noten lesen. Ich spiele nach Gehör.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

Er grinste. »Möchtest du mich auf die Probe stellen?«

Mikki schaute auf die Gitarre, die sie noch immer in Händen hielt. Erst jetzt sah sie, was für ein Modell es war, und riss die Augen auf. »Das ist ja eine Gibson EB-3 aus den 60ern! Das ist eine echte Antiquität. Wie bist du da rangekommen?«

»Bei E-Bay. Ich hab zwei Sommer lang dafür gespart und einen guten Deal gemacht. Der Sound ist unheimlich klar. Das Ding ist genial. Ich glaube, es ist die beste Bassgitarre, die je gebaut wurde. Jack Bruce von Cream hat eine gespielt.«

Jenna schaute zu Jack. »Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen ist, aber ich spreche diese Sprache nicht. Möchten Sie einen Kaffee, während unsere Kinder ein bisschen fachsimpeln?«

Jack zögerte, doch nach einem flehentlichen Blick Mikkis sagte er: »Klar.«

Nachdem sie gegangen waren, sagte Mikki: »Okay, Mr. Ich-spiele-nach-Gehör. Hier ist dein Test.« Mikki spielte ein kurzes Stück von einer Minute, das sie erst vor Kurzem komponiert hatte. Dann gab sie Liam die Gibson und sagte: »Leg los.«

Liam hängte sich den Bass um und spielte den Song perfekt nach. Es gab nicht einen falschen Ton.

Mikki rief: »Hey, das ist ja der Hammer! Warst du je in einer Band?«

Liam verzog das Gesicht. »Es gibt keine Bands in Channing.«

»Wen hörst du denn gerne?«

»Jimi Hendrix, AC/DC, Led Zeppelin, Cream, Aerosmith …«

»Mann, das sind auch meine Lieblingsmusiker!«

Liam griff zu seinen Drumsticks. »Hast du Bock, ein paar Nummern zu spielen?«

Mikki hängte sich wieder den Bass um. »Klar. Mal sehen, wo die Kraftpunkte in meinen Fingerspitzen sind.«