KAPITEL 28
Am nächsten Morgen wachte Mikki in ihrem Schlafzimmer unter dem Dach auf. Sie reckte sich, gähnte und lehnte sich in die Kissen zurück. Dann stand sie auf, schnappte sich ihre Gitarre und spielte einen neuen Song, an dem sie arbeitete. Dabei setzte sie die neue Technik ein, die Liam ihr beigebracht hatte. Die langen Finger ihrer linken Hand flogen mühelos über den Hals der Gitarre, während sie mit der rechten Hand die Saiten anschlug. Schließlich legte sie die Gitarre beiseite, ging zum Schreibtisch, nahm sich ein paar leere Notenblätter, schrieb die Noten auf und fügte einige Zeilen Text hinzu. Dann sang sie, während sie zur Begleitung Gitarre spielte.
Eine Minute später klopfte es an ihrer Tür.
Erschrocken verstummte Mikki. »Ja?«
»Bist du angezogen?«, rief Jack durch die Tür.
»Ja.«
Er öffnete und kam herein. In der Hand hielt er ein Tablett mit Frühstück: Schinken, Eier, englische Muffins mit Nutella und ein Glas Milch. Er stellte das Tablett vor Mikki ab, und sie legte die Gitarre weg.
»Woher weißt du, dass ich Nutella mag?«, fragte sie.
»Ich habe ein bisschen altmodische Aufklärungsarbeit geleistet.« Jack zog sich einen wackeligen Stuhl ans Bett.
»Was ist?«
»Iss, bevor es kalt wird.«
Mikki aß. »Wo sind die anderen?«, fragte sie.
»Die schlafen noch. Es ist noch früh. Hattest du gestern Abend Spaß mit Liam?«
Mikki schluckte ein Stück Schinken hinunter und rief: »O Mann! Er ist sooo toll. Weißt du noch, was er mir an der Gitarre gezeigt hat? Das mit den Kraftpunkten? Es funktioniert! Wir haben ein paar Stücke zusammen gespielt, und er mag dieselben Bands wie ich, und er ist lustig, und …«
»Das heißt dann wohl Ja.«
»Was?«
»Du hattest gestern Abend Spaß.«
Mikki grinste verlegen. »Ja, hatte ich. Wie ist es mit Jenna gelaufen?«
»Ich habe den Job angenommen, und sie hat mir einen Scheck gegeben, damit ich anfangen kann. Sammy und ich holen heute noch das Material und machen dann weiter.«
»Sie scheint ziemlich cool zu sein, findest du nicht auch?«
»Sie ist sehr nett.« Jack holte etwas aus seiner Tasche und gab es Mikki. »Das habe ich heute Morgen in einer Kiste im Leuchtturm gefunden.«
»Im Leuchtturm? Ist es nicht ein bisschen früh, um da rauszugehen?«
»Schau dir das Foto an.«
Mikki sah es sich an und runzelte die Stirn. »Ist das Mom?«
»Ja. Hinten steht ein Datum drauf. Auf dem Bild ist deine Mom genauso alt wie du jetzt. Es wurde hier am Strand aufgenommen. Das muss in dem Sommer gewesen sein, bevor sie nach Cleveland gezogen ist. Da ist der Leuchtturm im Hintergrund.« Er hielt kurz inne. »Du siehst es doch, oder?«
»Was soll ich sehen?«
»Dass du genauso aussiehst wie sie.«
Mikki schaute sich das Bild ihrer Mutter genauer an. »Echt?«
»O ja. Abgesehen von der Stachelfrisur und den Gothic-Klamotten, versteht sich. Deine Mutter stand mehr auf Pferdeschwänze und Pastellfarben.«
»Ha-ha, sehr lustig. Und meine Sachen sind nicht Goth. Das ist ohnehin aus dem letzten Jahrhundert.«
»Tut mir leid. Ich muss mich da noch einarbeiten. Iss zu Ende. Dann können wir noch ein bisschen am Strand spazieren gehen, bevor es losgeht.«
»Ist das so eine Sache von wegen du als Dad und ich als Tochter?«, fragte Mikki.
»Zum Teil, ja.«
»Und zum anderen Teil?«
»Ich habe lange Zeit allein verbracht, nachdem ihr gegangen seid, und ich habe es gehasst. Ich will das nie wieder erleben.«
Als sie den Sand erreichten, ging die Sonne auf. Der Himmel leuchtete rosa, darunter schimmerte das noch dunkle Meer. Wind hatte die Hitze der Nacht zum größten Teil vertrieben. Möwen kreisten über dem Wasser und stießen immer wieder herab, um sich ihr Frühstück in Gestalt eines zappelnden Fisches zu holen.
»Es ist wirklich ganz anders hier«, brach Mikki das Schweigen.
»Das Meer, der Sand, die Hitze.«
»Ja. Aber nicht nur das.«
»Ich nehme an, egal wo wir jetzt wären, es wäre alles anders«, erwiderte Jack.
»Manchmal wache ich auf und denke, Mom ist noch da.«
Jack blieb stehen und ließ den Blick über das Meer schweifen. »Ich auch, Mikki. Ich wache jeden Morgen auf und erwarte, sie zu sehen. Erst wenn sie nicht da ist, merke ich …« Er ging weiter. »Aber hier unten ist das anders. Ich habe das Gefühl, als wäre ich ihr hier irgendwie näher.«
Mikki schaute ihren Dad besorgt an, sagte aber nichts.
Sie warfen Steine ins Wasser und ließen sich von den Ausläufern der Wellen über den Sand jagen. Mikki fand eine Muschel und steckte sie ein, um sie später ihren Brüdern zu zeigen.
»Du hast eine tolle Stimme«, sagte Jack. »Ich habe heute Morgen vor deiner Tür gelauscht.«
»Na ja, sie ist ganz okay«, erwiderte Mikki bescheiden; allerdings war offensichtlich, wie sehr ihr das Lob gefiel.
»Möchtest du mal Musik studieren?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt aufs College will. Du warst doch auch nicht da.«
»Das stimmt. Aber deine Mutter hat ihren Abschluss gemacht.«
»Ich weiß nicht, ob es auf dem Konservatorium gut ankäme, was ich spiele … oder in der Popindustrie.«
»Und was für Musik ist das?«
»Fragst du aus Höflichkeit, oder willst du es wirklich wissen?«
»Warum musst du alles immer so kompliziert machen? Ich will es einfach wissen.«
»Okay, okay. Es ist ziemlich abgefahren. Alternative Beats mit unkonventioneller Instrumentenmischung. Keine billigen Synthesizertricks. Und vor allem keine Lollipoptexte, sondern Worte, die wirklich etwas bedeuten.«
Jack war beeindruckt. »Das hört sich an, als hättest du viel darüber nachgedacht.«
»Natürlich habe ich viel darüber nachgedacht, Dad. Das ist ein großer Teil meines Lebens.«
»Schön, dass du solche Leidenschaft entwickeln kannst.«
»Hattest du je eine Leidenschaft?«
»Nicht, bis ich deine Mutter kennengelernt habe, und dann hat meine ganze Leidenschaft ihr gegolten.«
Mikki verzog das Gesicht. »So etwas seiner eigenen Tochter zu erzählen ist eklig.«
»So habe ich das nicht gemeint. Bevor ich deine Mom kennenlernte, habe ich mich einfach treiben lassen. Ich hatte meinen Sport und so, aber nicht viel mehr. Und mein Dad starb an Krebs.«
»Aber du hattest noch immer deine Mutter.«
»Ja, aber wir hatten so unsere Probleme.«
»Ihr seid nicht miteinander ausgekommen? So wie du und ich?«, sagte Mikki und stieß Jack in die Seite.
»Ich habe wesentlich mehr Zeit bei den O’Tooles verbracht als bei ihr.«
»Was war denn das Problem?«
Jacks Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. »Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen – außer mit deiner Mutter. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.«
»Schon gut. Ich war nur neugierig. Du musst es mir nicht erzählen.«
Jack blieb stehen, und Mikki tat es ihm nach.
»Okay, dann will ich mal beichten«, sagte er. »Das ging so weit, bis ich mich fragte, ob meine Mutter mich überhaupt liebt.«
Mikki blickte ihn schockiert an. »Sie muss dich geliebt haben. Sie war deine Mom.«
»Ja, das sollte man glauben.«
»Wie bist du denn auf den Gedanken gekommen, dass es anders sein könnte?«
»Wahrscheinlich, weil sie mich verlassen hat, als ich siebzehn war. Gleich nachdem mein Dad gestorben war.«
»Was? Das hat mir nie jemand erzählt. Ich wusste, dass sie vor meiner Geburt gestorben war, aber mehr auch nicht.«
»Nun ja, so etwas posaunt man nicht gerade heraus.«
»Was war denn passiert?«
»Sie hatte irgendeinen Kerl kennengelernt und ist nach Florida gezogen. Dort ist sie dann ein paar Jahre später bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Das Haus in Cleveland hat sie behalten. Ich habe da gewohnt, bis ich deine Mom geheiratet habe und zur Army gegangen bin.«
Mikki musterte ihn staunend. »Du hast da gewohnt? Ganz allein?«
»Ja. Ich hatte keine Verwandten.«
»Aber du warst doch noch auf der Highschool.«
»Aber ich war auch schon über sechzehn. Eine Pflegefamilie kam nicht infrage. Und ich habe mir einen Teilzeitjob gesucht, um meine Ausgaben zu decken.«
»Meine Güte, Dad, ich meine … du warst ganz allein.«
»Du verbringst doch auch gern Zeit allein.«
»Ja, aber ich kann auch jederzeit die Treppe runtergehen, und dann sind alle für mich da.«
»Ich hatte deine Mom. Sie war meine beste Freundin, und sie hat mir durch verdammt schwere Zeiten geholfen.«
Als sie wieder zum Palast zurückkehrten, sagte Mikki: »Danke für den Spaziergang und das Gespräch.«
»Ich hoffe, es war das erste Gespräch von vielen in diesem Sommer.«
Als Mikki vor ihrem Vater die Stufen hinaufstieg, kam Sammy um das Haus herum. »Du bist ja früh auf.« Er schaute zu Mikki, die im Haus verschwand. »Hast du ein bisschen Zeit mit deiner Tochter verbracht?«
»Sie ist ein erstaunliches Mädchen, Sammy. Ihr halbes Leben lang habe ich meinem Land mit dem Gewehr in der Hand gedient, und die andere Hälfte habe ich Nägel in Bretter geschlagen. Ich muss noch viel über sie lernen.«
»Das ist vermutlich der Grund, warum ich nie geheiratet habe«, sagte Sammy.
»Hast du es je bereut, keine Frau und keine Kinder zu haben?«
»Nein. Bis ich euch Armstrongs kennengelernt habe.«