KAPITEL 3

Spät am nächsten Tag erwachte Jack von einem Nickerchen und sah, wie seine Tochter Mikki die Flurtür öffnete. Sie trug einen Gitarrenkoffer bei sich. Jack winkte sie zu sich. Sie schloss die Tür und kam pflichtbewusst in sein Zimmer geschlurft.

Mikki hatte dunkles Haar wie Jack, hatte es aber so bunt gefärbt, dass Jack nicht wusste, wie man es jetzt nennen sollte. Und sie schoss förmlich in die Höhe. Ihre Beine waren lang und schlank, und an Hüfte und Brust legte sie allmählich zu. Doch auch wenn sie so tat, als wäre sie jetzt erwachsen, war ihr Gesicht noch immer halb Kind, halb Frau. Nächstes Jahr würde sie auf die Highschool wechseln. Wo war nur die Zeit geblieben?

»Ja, Dad?«, sagte sie, ohne Jack anzuschauen.

Jack hatte darüber nachgedacht, was er ihr sagen wollte, aber da gab es nicht viel. Selbst als er noch gesund gewesen war, hatten er und Mikki sich auseinandergelebt.

Das war meine Schuld, überlegte er, nicht ihre.

»Deine Eins …« Er atmete tief ein und versuchte ein Lächeln.

Mikki grinste. »Toll, nicht? Leider meine einzige. Mom hat dir davon erzählt, was?«

»Ja.«

»Schön, dass du dich freust.« Verlegen schaute sie zu Boden. »Tut mir leid, Dad, aber ich muss jetzt los. Da warten ein paar Leute auf mich. Wir müssen üben.«

Sie spielte in einer Band, das wusste Jack, auch wenn er sich nicht an den Namen erinnern konnte.

»Okay. Pass auf dich auf.«

Mikki wandte sich zum Gehen, zögerte dann aber. Nervös spielte sie mit den Fingern am Griff des Gitarrenkoffers. Dann drehte sie sich wieder um, blickte ihrem Vater aber immer noch nicht in die Augen. »Ich wollte dir nur sagen, ich hab den Sauerstoffschlauch mit Klebeband an der Pumpe festgemacht, damit er nicht mehr so einfach rausgerissen werden kann. Jackie hat nicht gewusst, was er getan hat. Mom hätte ihn nicht so hart rannehmen sollen.«

Jack atmete mehr Sauerstoff. »Danke«, sagte er mühsam.

Ein Teil von ihm wünschte sich, dass er Mikki anschaute, ein anderer wollte es nicht. Er wollte nicht das Mitleid in ihren Augen sehen, weil ihr großer, starker Vater zu diesem hilflosen Bündel geworden war. Jack fragte sich, wie Mikkis Mann wohl sein würde. Und wo würden sie leben? Weit weg von Cleveland?

Ob sie wohl mein Grab besuchen wird?

»Mikki …«

»Dad, ich muss jetzt wirklich gehen. Ich bin spät dran.«

»Ich hoffe, du hast einen … schönen Tag, Süße.«

Jack glaubte, ihre Lippen kurz zittern zu sehen, doch dann drehte sie sich um und ging. Ein paar Augenblicke später schloss sich die Haustür hinter ihr. Jack schaute zum Fenster hinaus. Mikki hüpfte durch den Schnee und stieg in einen Wagen, den einer ihrer Freunde fuhr. Nie zuvor hatte Jack sich so losgelöst vom Leben gefühlt.

Nach dem Abendessen spielte Cory – voll kostümiert – den Grinch für seinen Vater. Cory war ein braungelockter, stämmiger Zwölfjähriger, dessen schlaksige Gliedmaßen jedoch darauf hindeuteten, dass er noch in die Höhe schießen würde. Jack hatte in dem Alter genauso ausgesehen. Lizzies Eltern waren zum Abendessen gekommen und wollten sich bei der Gelegenheit Corys »Show« ansehen. Sie hatten Cecilia mitgebracht, Lizzies Großmutter. Cecilia war eine elegante Dame in den Achtzigern, die eine Gehhilfe und ein tragbares Sauerstoffgerät brauchte. Sie war in South Carolina geboren, wo sie auch den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte. Nach dem Tod ihres Mannes – und aufgrund zunehmender gesundheitlicher Probleme – war sie zu ihrer Tochter gezogen.

Cecilia scherzte, sie und Jack sollten ihr eigenes Sauerstoffgeschäft aufbauen, schließlich hätten sie ja genug von dem Zeug. Die alte Dame würde ebenfalls sterben, wenn auch nicht ganz so schnell wie Jack. Auch für sie würde es das letzte Weihnachtsfest sein, doch sie hatte ein langes und erfülltes Leben gehabt und ihren Frieden mit dem Schicksal gemacht. Sie war immer gut drauf, erzählte vom Leben in den Südstaaten, von den Teepartys und Debütantinnenbällen und wie sie nachts hinter der Kirche heimlich geraucht und getrunken hatte. Dann und wann aber ertappte Jack sie dabei, wie sie ihn verstohlen anschaute, und er fühlte ihre Trauer über sein Leid.

Als Cory seine Vorstellung beendet hatte, beugte Cecilia sich vor und flüsterte Jack ins Ohr: »Es ist Weihnachten. Die Zeit der Wunder.« Sie sagte das nicht zum ersten Mal, trotzdem keimte auch diesmal Hoffnung in Jack auf.

Dann aber dachte er an die Aussagen des Arztes, und der Hoffnungsfunke erlosch so schnell, wie er gekommen war.

Sechs Monate. Acht, wenn Sie Glück haben.

Die Wissenschaft, schien es, übertrumpfte die Hoffnung.

Um elf Uhr hörte Jack, wie die Haustür sich öffnete, und Mikki schlich herein. Jack glaubte, sie in seine Richtung schauen zu sehen, doch sie kam nicht in sein Zimmer. Als er noch gesund gewesen war, hatten er und Lizzie streng über das Kommen und Gehen ihrer Tochter gewacht. Lizzie hatte diese Überwachung noch monatelang aufrechterhalten, nachdem Jack krank geworden war. Nun aber hatte sie kaum noch Zeit, sich zu duschen oder etwas zu essen, geschweige denn, ein Auge auf ihre Tochter zu halten, und das nutzte Mikki weidlich aus.

Als alle schliefen, griff Jack unter sein Kopfkissen und zog den Stift darunter hervor. Diesmal strich er keine Daten im Kalender durch. Er nahm sich ein Blatt Papier, entfaltete es vorsichtig und breitete es auf einem Buch aus, das er vom Nachttisch nahm. Dann begann er zu schreiben. Er brauchte lange, mindestens eine Stunde, um eine Seite zu schreiben. Seine Handschrift war krakelig, weil er so schwach war, doch seine Gedanken waren klar. Es würde sieben dieser Briefe geben, einen für jeden Tag in der letzten Woche seines Lebens; das Datum war so sauber auf den Briefkopf geschrieben, wie Jack es mit seiner zitternden Hand konnte. Jeder Brief begann mit »Liebe Lizzie« und endete mit »In Liebe, Jack«. Im eigentlichen Text versuchte Jack, alles, was er für seine Frau empfand, in Worte zu fassen, so gut er es vermochte. Auch wenn er nicht mehr lebte, schrieb er, würde er immer für sie da sein.

Diese letzten Briefe, hatte Jack inzwischen erkannt, waren das Wichtigste, was er in seinem ganzen Leben tun würde. Mühsam erarbeitete er sich jedes einzelne Wort, damit es auch ja das richtige war. Als er fertig war, steckte er den Brief in einen Umschlag, markierte ihn mit einer Zahl und legte ihn in den Nachttisch neben seinem Bett.

Den letzten Brief würde er Heiligabend schreiben, nachdem alle zu Bett gegangen waren.

Jack drehte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, dass es heftig schneite.

Jetzt wusste er, wie sich ein zum Tode Verurteilter fühlte, der sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatte. Die Zeit, die ihm noch blieb, war kostbar, und er hatte nicht die Absicht, auch nur eine Sekunde davon zu verschwenden.