KAPITEL 3

 

Colonel McCandless führte am nächsten Nachmittag seine kleine Streitmacht in Sir Arthur Wellesleys Lager. Am Vormittag waren sie von feindlichen Reitern verfolgt worden, die manchmal so nahe herangeritten waren, als wollten sie Sevajees Männer zum Kampf herausfordern, doch McCandless hatte Sevajee am kurzen Zügel gehalten, und am Mittag hatte eine Patrouille mit blauen Röcken und gelben Aufschlägen den Feind davongejagt.

Die Kavallerie von Blauröcken gehörte zu den Leichten Dragonern vom 19. Regiment, und der Captain, der den Trupp führte, winkte McCandless fröhlich zu, als er mit seiner Patrouille vorbeigaloppierte und den Feind verfolgte, der an der Straße herumgelungert und gehofft hatte, einen verspäteten Nachschubwagen zu erbeuten.

Vier Stunden später ritt McCandless über einen Hügelkamm und sah die Armeelinien des Lagers, während sich drei, vier Meilen weiter nördlich die roten Wälle von Ahmadnagar vor der Sonne im Westen abhoben. Aus diesem Winkel wirkten die Festung und die Stadt wie ein fortlaufendes Gebäude, eine weite rote Brustwehr, durchsetzt von Bastionen.

Sharpe wischte sich mit dem Ärmel Schweiß vom Gesicht.

»Ziemlich beeindruckend«, sagte er und nickte zu den Mauern hin.

»Die Mauern sind hoch genug«, sagte der Colonel, »aber es gibt keinen Graben, kein Glacis und kein Bollwerk. Wir werden nicht länger als drei Tage brauchen, um eine Bresche zu schlagen.«

»Dann tun mir die armen Seelen leid, die durch die Bresche gehen müssen«, bemerkte Sevajee.

»Dafür werden sie bezahlt«, sagte McCandless brüsk.

Im Gebiet um das Lager wimmelte es von Männern und Tieren. Jedes Kavalleriepferd in der Armee brauchte zwei lascars – ostindische Pferdeburschen –, um Futter zu sammeln, und diese Männer waren mit Sicheln beschäftigt. Näher beim Zentrum des Lagers war eine weite, schlammige Fläche, wo Zugund Packochsen angepflockt waren. Puckalees, die Männer, die Wasser für die Soldaten und Tiere trugen, füllten ihre Eimer aus einem Becken, das mit Grün überwuchert war.

Ein Kakteenzaun umgab sechs Elefanten, die den Pionieren gehörten. Neben den Dickhäutern befand sich der Artilleriepark mit seinen sechsundzwanzig Kanonen, und danach kamen die Reihen der Sepoys, wo Kinder schrien, Hunde kläfften und Frauen Fladen von Ochsendung für die abendlichen Feuer auf ihren Köpfen trugen. Als Letztes ritt McCandless’ Trupp durch die Reihen des 78., ein Highland-­Regiment mit Kilts, und die Soldaten salutierten McCandless und blickten dann auf die roten Aufschläge auf Sharpes Uniformrock und riefen die zwangsläufigen Beleidigungen.

»Kommst du, um zu sehen, wie richtige Männer kämpfen, Sergeant?«

»Hast du jemals richtig gekämpft?«, konterte Sharpe.

»Was tut ein Haferkuchen hier?«

»Ich bin bekommen, um euch Jungs eine Lektion zu erteilen.«

»Worin? Im Kochen?«

»Dort, wo ich herkomme, wird das Kochen von den Männern in den Weiberröcken erledigt«, sagte Sharpe.

»Das reicht, Sharpe«, blaffte McCandless. Der Colonel trug selbst gern einen Kilt. Er behauptete, dass der Kilt geeigneter als eine Hose für indische Hitze sei. »Wir möchten dem General unsere Aufwartung machen«, sagte McCandless und lenkte sein Pferd auf die größeren Zelte in der Mitte des Lagers zu.

Es war zwei Jahre her, seit Sharpe seinen alten Colonel zum letzten Mal gesehen hatte, und er bezweifelte, dass Major General Sir Arthur Wellesley sich jetzt als freundlicher erweisen würde, als er es jemals gewesen war. Sir Arthur war immer ein kalter Fisch gewesen, der mit Lob sparte und dessen Missbilligung Angst machte, und sein meist gleichgültiger Blick schaffte es, Sharpe das Gefühl zu geben, bedeutungslos und unzulänglich zu sein. Deshalb hielt sich Sharpe zurück, als McCandless vor dem Zelt des Generals absaß.

Der General, immer noch ein junger Mann, stand neben sechs angepflockten Pferden und war offensichtlich in heller Wut. Eine Ordonnanz mit dem blauen Rock mit gelben Aufschlägen des 19. Dragoner-Regiments hielt einen großen grauen Hengst am Zaumzeug, und Wellesley tätschelte das Pferd und fuhr dazwischen das halbe Dutzend Adjutanten an, das sich in der Nähe aufhielt. Eine Gruppe von Offizieren, Majors und Colonels stand neben dem Zelt des Generals und ließ darauf schließen, dass ein Kriegsrat wegen der Krankheit des Pferdes unterbrochen worden war. Der graue Hengst litt offensichtlich. Er zitterte, rollte mit den Augen, und Schweiß oder Speichel tropfte von seinem hängenden Kopf.

Wellesley wandte sich um, als sich McCandless und Sevajee näherten. »Können Sie ein Pferd zur Ader lassen, McCandless?«

»Ich kann es mit einem Messer versuchen, Sir, wenn das hilft«, antwortete der Schotte.

»Es hilft nicht, verdammt!«, erwiderte Wellesley wütend. »Ich will ihn nicht schlachten, ich will ihn zur Ader gelassen haben. Wo ist der Beschlagmeister?«

»Wir suchen nach ihm, Sir«, erwiderte ein Adjutant.

»Dann findet ihn, verdammt! Ruhig, Junge, ruhig!« Diese letzten Worte galten in beruhigendem Tonfall dem Hengst, der ein klägliches Wiehern ausstieß. »Er hat Fieber«, erklärte Wellesley McCandless, »und wenn er nicht zur Ader gelassen wird, wird er sterben.«

Ein Pferdepfleger eilte zum General. Er hielt Wellesley schweigend einen offenen Messingbehälter und einen Klöppel mit quadratischem Kopf hin. Im Messingbehälter befanden sich der Griff einer Aderlassfliete und eine Auswahl von verschieden großen, scharf geschliffenen Dreiecksmessern, die auf den Griff aufgesetzt werden mussten. Am unteren Ende hatte der Griff eine Verdickung, auf die der Klöppel schlagen musste, um das Messerdreieck in die Vene zu treiben.

»Was soll ich damit?«, blaffte der General. »Ich kann kein Pferd zur Ader lassen.« Er blickte zu seinen Adjutanten und dann zu den ranghohen Offizieren beim Zelt. »Jemand muss doch wissen, wie das geht!«

Sie waren allesamt Männer, die mit Pferden lebten und behaupteten, sie zu lieben, doch keiner wusste, wie ein Pferd zur Ader gelassen wurde, denn das war ein Job für Diener. Schließlich erklärte ein schottischer Major, dass er eine leise Ahnung hätte, wie man das machte. Und so gab man ihm den Messingbehälter und den Klöppel. Er zog seinen roten Rock aus, wählte aufs Geratewohl eines der dreieckigen Messer, befestigte es am Griff und trat zu dem zitternden Hengst. Er setzte die Fliete am Hals des Pferdes an und hob mit der rechten Hand den Klöppel an.

»Nicht so!«, rief Sharpe. »Sie werden das Tier töten!«

Die anwesenden Männer starrten ihn an, während der schottische Major, der noch nicht mit dem Klöppel zugeschlagen hatte, ziemlich erleichtert wirkte.

»Sie halten die Fliete falsch«, erklärte Sharpe. »Sie müssen sie senkrecht zur Vene halten, nicht waagerecht zu ihr.« Ihm schoss das Blut in die Wangen, weil er seinen Tadel vor dem General und all den ranghohen Kollegen des schottischen Offiziers ausgesprochen hatte.

Wellesley blickte Sharpe finster an. »Können Sie ein Pferd zur Ader lassen?«

»Ich kann die Gäule nicht reiten, Sir, aber ich weiß, wie man sie zur Ader lässt. Ich habe im Stall eines Gasthofs gearbeitet«, fügte Sharpe hinzu, als sei dies Erklärung genug.

»Haben Sie tatsächlich schon mal ein Pferd zur Ader gelassen?«, wollte Wellesley wissen. Er zeigte nicht die geringste Überraschung, einen Mann von seinem alten Regiment im Lager zu sehen, denn er war viel zu sehr vom Leiden seines Hengstes abgelenkt, um sich Sorgen um Soldaten zu machen.

»Ich habe Dutzende zur Ader gelassen«, sagte Sharpe, was stimmte, doch diese Pferde waren schwere Karrengäule gewesen, und dieser Hengst war offensichtlich ein Vollblut.

»Dann tun Sie es, verdammt«, sagte der General. »Stehen Sie nicht da herum, tun Sie es!«

Sharpe wählte ein Messerdreieck aus dem Messingbehälter, das ihm die richtige Größe zu haben schien, und nahm dem Major den Klöppel aus der Hand. Er überprüfte, ob das Messer scharf und sauber war, und näherte sich dann dem Hengst.

»Sie werden ihn festhalten müssen«, sagte er zu Wellingtons Ordonnanz.

»Er kann sehr lebhaft sein, Sergeant«, warnte der Dragoner mit leiser Stimme, bedacht darauf, keinen weiteren Ausbruch von Wellesley zu provozieren.

»Dann hängen Sie sich hart an ihn«, sagte Sharpe und streichelte dem Hengst den Hals, um nach der Drosselvene zu tasten.

»Wie viel werden Sie rauslassen?«, fragte Wellesley.

»So viel, wie nötig ist«, erwiderte Sharpe, der nur wusste, dass er dem Tier auf keinen Fall mehr als acht Liter abzapfen durfte, wenn er es nicht umbringen wollte.

Der Hengst war nervös und versuchte, vor der Ordonnanz zurückzuweichen.

»Streicheln Sie ihn, Sir«, sagte Sharpe zum General. »Geben Sie ihm das Gefühl, dass dies nicht das Ende der Welt sein wird.«

Wellesley nahm den Kopf des Hengstes und rieb ihm liebevoll über die Nüstern. »Es ist alles in Ordnung, Diomed«, sagte er. »Wir sorgen dafür, dass es dir bald wieder besser geht. Machen Sie weiter, Sharpe.«

Sharpe hatte die Drosselvene gefunden und setzte jetzt die Fliete über der Ader an. Er hielt sie in der linken Hand und den Klöppel, den er benötigte, um das scharfe Messerdreieck durchs Fell in die Vene zu treiben, in der rechten.

»Alles ist gut, Junge«, murmelte er dem Pferd zu. »Nur ein Stich, nichts Schlimmes.« Dann schlug er hart mit dem Klöppel gegen das dicke Ende der Aderlassfliete.

Die Metallspitze schnitt durch Fell und Haut und Fleisch in die Vene, und das Pferd stieg auf, aber Sharpe hatte mit dieser Reaktion gerechnet und hielt die Fliete an Ort und Stelle, während warmes Blut über seinen Tschako spritzte.

»Halten Sie ihn!«, rief er Wellesley zu, und der General schien nichts dabei zu finden, dass ihm ein Sergeant einen Befehl gab. Gehorsam zerrte er Diomeds Kopf herunter. »So ist es gut«, sagte Sharpe. »Halten Sie ihn so, Sir, halten Sie ihn.« Er übte ein wenig Druck auf die Fliete aus, sodass sie schräger am Fell lag und so den Schlitz in der Ader vergrößerte. Das Blut pulsierte nun heraus, rann über die Flanke des Hengstes, tränkte Sharpes roten Rock und bildete eine Lache zu seinen Füßen.

Das Pferd zitterte, doch Sharpe spürte, dass es sich beruhigte. Indem er den Druck von der Fliete nahm, konnte er den Blutfluss verlangsamen, und nach einer Weile floss nur noch ein dünnes Rinnsal. Das Zittern des Pferdes hörte auf. Sharpe zog das Dreiecksmesser heraus. Seine rechte Hand und der Arm waren blutüberströmt.

Er spuckte auf seine saubere linke Hand und wischte dann die kleine Wunde im Fell des Hengstes ab.

»Ich nehme an, er wird es überleben, Sir«, sagte er zum General, »aber ein bisschen Ingwer im Futter könnte helfen.« Das war ein weiterer Trick, den er gelernt hatte, als er für den Gasthof gearbeitet hatte.

Wellesley streichelte Diomed die Nüstern, und das Pferd, dem plötzlich das Theater ringsum gleichgültig war, senkte den Kopf und knabberte an einem kärglichen Grasbüschel. Der General lächelte, und seine miese Laune war verflogen.

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet«, sagte Wellesley und übergab Diomed seiner Ordonnanz. »Bei meiner Seele, ich bin Ihnen äußerst dankbar«, wiederholte er begeistert. »Einer der besten Aderlässe, die ich je gesehen habe.« Er steckte seine Hand in die Tasche, zog einen haideri hervor und reichte ihn Sharpe. »Gut gemacht, Sergeant.«

»Danke, Sir«, sagte Sharpe und nahm das Goldstück. Es war eine großzügige Belohnung.

»So gut wie neu, wie?«, sagte Wellesley und blickte zu dem Hengst, der von der Ordonnanz fortgeführt wurde. »Er war ein Geschenk.«

»Ein teures«, bemerkte McCandless trocken.

»Ein wertvolles«, sagte Wellesley. »Der arme Ashton vermachte ihn mir in seinem Testament. Sie kannten Ashton, McCandless?«

»Selbstverständlich, Sir.« Henry Ashton war Colonel des 12. Regiments gewesen, ein Regiment aus Suffolk, das in Indien stationiert war, und er war an einer Kugel gestorben, die ihm während eines Duells in die Leber gedrungen war.

»Eine verdammte Schande«, sagte Wellesley, »aber ein feines Geschenk. Reines arabisches Blut, McCandless.«

Das meiste vom Araberblut Diomeds schien auf Sharpe zu sein, doch der General war begeistert von der plötzlichen Besserung des Hengstes.

Sharpe hatte Wellesley noch nie so lebhaft und freudig erlebt. Der General lächelte, als er das Pferd beobachtete. Schließlich befahl er der Ordonnanz, Diomed auf und ab zu führen, und dann grinste er noch breiter, als er die Bewegungen des Pferdes sah.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Männer ringsum amüsiertes Vergnügen aus seiner Begeisterung gewannen, und sein Gesicht wurde zu der üblichen kalten Maske.

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet«, sagte er noch einmal, bevor er kehrtmachte und auf sein Zelt zuging. »McCandless! Kommen Sie, und informieren Sie mich über die Neuigkeiten!«

McCandless und Sevajee folgten dem General und seinen Adjutanten ins Zelt und ließen Sharpe, der versuchte, das Blut von seinen Händen zu wischen, allein zurück.

Die Ordonnanz der Dragoner grinste ihn an.

»Das war ein Sechshundert-Guineen-Pferd, dass Sie soeben zur Ader gelassen haben, Sergeant«, sagte er.

»Teufel, Teufel!« Sharpe starrte die Ordonnanz ungläubig an. »Sechshundert?«

»So viel muss es wert sein. Diomed ist das beste Pferd in Indien.«

»Und Sie kümmern sich um ihn?«

Die Ordonnanz schüttelte den Kopf. »Der General hat Pfleger, die sich um seine Pferde kümmern, und den Beschlagmeister, um sie zur Ader zu lassen und zu beschlagen. Meine Aufgabe ist es, ihm in die Schlacht zu folgen, verstehen Sie? Und wenn ein Pferd müde ist, gebe ich ihm ein anderes.«

»Sie führen all diese sechs Pferde mit sich herum?«, fragte Sharpe erstaunt.

»Nicht alle sechs«, sagte der Dragoner, »nur zwei oder drei. Aber er sollte ohnehin keine sechs Pferde haben. Er will nur fünf, aber er konnte niemanden finden, der das Ersatzpferd kauft. Sie kennen auch keinen Interessenten, oder?«

»Hunderte von den Scheißern«, sagte Sharpe und wies zum Lager. »Jeder verdammte Infanterist dort zum Beispiel.«

»Er gehört Ihnen, wenn Sie vierhundert Guineen dafür zahlen können«, sagte die Ordonnanz. »Es ist der kastanienbraune Wallach dort. Sechs Jahre alt und gut wie Gold.«

»Es hat keinen Sinn, mich zu fragen«, sagte Sharpe. »Ich hasse die verdammten Gäule.«

»Tatsächlich?«

»Blöde, stinkende Viecher. Ich bin glücklicher zu Fuß.«

»Wenn man die Welt vom Pferderücken aus sieht, erreicht man die Aufmerksamkeit der Frauen«, meinte der Dragoner.

»Dann sind sie also nicht völlig nutzlos«, sagte Sharpe, und die Ordonnanz grinste. Er war ein glücklicher junger Mann mit rundlichem Gesicht und zerzaustem braunen Haar, der gern lächelte. »Wie kommt es, dass Sie die Ordonnanz des Generals sind?«, fragte Sharpe.

Der Dragoner zuckte mit den Schultern. »Er bat meinen Colonel, ihm jemanden zu geben, und so wurde ich ausgewählt.«

»Und es macht Ihnen nichts aus?«

»Er ist ganz in Ordnung.« Die Ordonnanz nickte zu Wellesleys Zelt hin. »Er schafft nicht oft ein Lächeln, jedenfalls nicht bei Soldaten wie Ihnen und mir, aber er ist ein fairer Mann.«

»Gut für Sie.« Sharpe streckte ihm seine blutbefleckte Hand hin. »Mein Name ist Dick Sharpe.«

»Daniel Fletcher«, sagte die Ordonnanz, »aus Stoke Poges.«

»Nie gehört«, sagte Sharpe. »Wo kann ich mir die Hände abschrubben?«

»Im Küchenzelt, Sergeant.«

»Und wo bekomme ich Reitstiefel?«, erkundigte sich Sharpe.

»Finden Sie einen Toten in Ahmadnagar, dem Sie welche abnehmen können«, sagte Fletcher. »Das ist billiger, als welche von mir zu kaufen.«

»Stimmt«, sagte Sharpe und humpelte zum Küchenzelt. Das Humpeln war auf die langen Stunden im Sattel zurückzuführen. Er hatte in dem Dorf, in dem sie übernachtet hatten, ein Baumwolltuch gekauft, es in Streifen gerissen und sie um seine Waden geschlungen, um sie vor dem Leder der Steigbügel zu schützen, doch sie schmerzten immer noch höllisch.

Gott, wie sehr ich verdammte Gäule hasse!, dachte er.

Er wusch sich Diomeds Blut von den Händen, säuberte seine Uniform und ging zurück, um auf McCandless zu warten.

Sevajees Männer saßen immer noch auf ihren Pferden und starrten zu der fernen Stadt, über der eine Rauchwolke hing.

Sharpe konnte Stimmengemurmel im Zelt des Generals hören, doch er widmete ihm keine Aufmerksamkeit. Es war nicht seine Sache. Sharpe fragte sich, ob er ein Zelt für seine eigene Benutzung klauen konnte, denn es hatte bereits früher am Tag geregnet, und er nahm an, dass es wieder regnen könnte, doch Colonel McCandless hielt nicht viel von Zelten. Er verspottete sie als Frauenluxus und bevorzugte es, in Dörfern einen Unterschlupf zu finden, wenn kein Bauernhof oder Viehstall zur Verfügung stand, oder glücklich unter den Sternen im Regen zu schlafen. Ein Pint Rum könnte auch nicht schaden, dachte Sharpe.

»Sergeant Sharpe!« Wellesleys vertraute Stimme riss Sharpe aus seinen Gedanken, und er wandte den Kopf und sah, dass sein alter befehlshabender Offizier aus dem großen Zelt kam.

»Sir!« Sharpe stand still.

»Colonel McCandless hat Sie also von Major Stokes ausgeliehen?«, fragte Wellesley.

»Jawohl, Sir«, sagte Sharpe.

Der General war barhäuptig, und Sharpe sah, dass seine Schläfen vorzeitig ergraut waren. Er hatte wohl vergessen, wie Sharpe sein Pferd behandelt hatte, denn sein Gesicht mit der langen Nase war so unfreundlich wie immer.

»Und Sie haben diesen Dodd in Chasalgaon gesehen?«

»Ja, das habe ich, Sir.«

»Widerliche Sache«, sagte Wellesley. »Ekelhaft. Hat er die Verwundeten getötet?«

»Alle, Sir. Alle außer mir, Sir.«

»Und warum nicht Sie?«, frage Wellesley kühl.

»Ich war mit Blut bedeckt, Sir. Ziemlich getränkt davon.«

»Sie scheinen oft in dieser Verfassung zu sein, Sergeant«, sagte Wellesley mit der Andeutung eines Lächelns. Dann wandte er sich zu McCandless um, der aus dem Zelt trat. »Ich wünsche Ihnen Spaß bei der Jagd, Colonel. Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen, aber ich bin knapp an Männern, jämmerlich knapp.«

»Danke, Sir«, sagte der Schotte, und dann blickte er dem General nach, der wieder in sein Zelt ging, das mit Rotröcken gefüllt war. »Wir sind anscheinend nicht zum Abendessen eingeladen«, sagte McCandless, als Wellesley fort war.

»Hatten Sie es anders erwartet, Sir?«

»Nein«, gab McCandless zu, »und ich habe heute Abend auch nichts in diesem Zelt zu suchen. Sie planen für morgen früh beim ersten Tageslicht einen Angriff.«

Sharpe dachte für einen Moment, sich verhört zu haben. Er blickte nach Norden zu der hohen Stadtmauer. »Morgen, Sir? Ein Angriff? Aber sie sind erst heute angekommen, und es gibt noch gar keine Bresche!«

»Man braucht keine Bresche für eine Eskalade, Sergeant«, sagte McCandless. »Eine Eskalade ist nichts anderes als ein Sturmangriff: Leitern und Töten.«

Sharpe runzelte die Stirn. »Eskalade?« Er hatte das Wort schon gehört, war sich jedoch nicht sicher, was es genau bedeutete.

»Man marschiert geradewegs auf die Mauern zu, wirft seine Leitern daran und klettert rauf.« McCandless schüttelte den Kopf. »Keine Artillerie, die Sie unterstützt, keine Bresche, keine Schützengräben, so müssen Sie die Gefallenen hinnehmen und sich durch die Verteidiger kämpfen. Es ist nicht schön, Sharpe, aber es kann funktionieren.«

Der Schotte klang immer noch enttäuscht. Er führte Sharpe vom Zelt des Generals fort und suchte eine Stelle, um seine Decke auszubreiten. Sevajee und seine Männer folgten ihnen, und Sevajee ging nahe genug an sie heran, um McCandless’ Worte hören zu können.

»Eskaladen können gegen einen unsicheren Feind gut funktionieren«, fuhr der Colonel fort, »aber ich bin nicht überzeugt davon, dass die Marathen unsicher sind. Ich bezweifle, dass sie überhaupt unsicher sind, Sharpe. Sie sind gefährlich wie Schlangen, und für gewöhnlich haben sie arabische Söldner in ihren Reihen.«

»Araber, Sir? Aus Arabien?«

»Daher kommen sie für gewöhnlich«, bestätigte McCandless. »Gefährliche Kämpfer, Sharpe.«

»Gute Kämpfer«, warf Sevajee sein. »Wir heuern Hunderte davon jedes Jahr an. Hungrige Männer, Sergeant, die mit scharfen Säbeln und langen Musketen aus ihrem kargen Land kommen.«

»Man sollte einen Araber nicht unterschätzen«, stimmte McCandless ihm zu. »Sie kämpfen wie Dämonen, aber Wellesley ist ein ungeduldiger Mann, und er will die Sache schnell hinter sich bringen. Er besteht darauf, dass sie nicht mit einer Eskalade rechnen und deshalb nicht darauf vorbereitet sind, und ich bete zu Gott, dass er recht hat.«

»Und was werden wir tun, Sir?«, fragte Sharpe.

»Wir gehen hinter dem Angriff und bitten den Allmächtigen, dass unsere Leitertrupps in die Stadt gelangen. Und wenn wir drin sind, machen wir uns auf die Jagd nach Dodd. Das ist unsere Mission.«

»Jawohl, Sir«, sagte Sharpe.

»Und wenn wir den Verräter haben, bringen wir ihn nach Madras und sorgen dafür, dass ihm der Prozess gemacht und er aufgehängt wird«, sagte McCandless zufrieden, als sei der Job bereits erledigt. Seine düsteren Vorahnungen der vorangegangenen Nacht waren anscheinend verschwunden. Er blieb vor einer freien Fläche stehen. »Dies sieht wie ein guter Platz für das Nachtlager aus. Es zeichnet sich kein neuer Regen ab. Ich glaube, wir werden es hier bequem haben.«

Na, dann träume mal schön, du Optimist, dachte Sharpe. Harter Boden als Bett, keinen Rum. Ein Kampf am Morgen, und Gott allein wusste, welche Teufeleien jenseits der Mauern warteten, aber Sharpe schlief trotzdem.

Und er erwachte, als es noch dunkel war und schemenhafte Männer mit langen Leitern über den Schultern vorbeieilten. Die Morgendämmerung nahte, und es war die Zeit für eine Eskalade. Zeit für Leitern und Töten.

Sanjit Pandee war Killadar der Stadt, was bedeutete, dass er Ahmadnagars Garnison im Namen seines Herrn Dolut Rao Sindhia, Maharadscha von Gwalior, und im Prinzip jeden Soldaten in der Stadt befehligte, jedoch nicht in der angrenzenden Festung, die eigentlich auch unter Pandees Kommando stand.

Warum hatte Major Dodd Pandees Soldaten vom nördlichen Tor abgelöst und durch seine eigenen Männer ersetzt? Pandee hatte keine Befehle geschickt, doch es war trotzdem geschehen, und keiner konnte erklären, warum, und als Sanjit Pandee eine Botschaft an Major Dodd schickte und eine Antwort verlangte, sagte man dem Boten, er solle warten. Und er wartete, soweit es der Killadar wusste, immer noch.

Sanjit Pandee sammelte den Mut, um dem Major persönlich gegenüberzutreten. Es war die Zeit des Morgengrauens, in der sich der Killadar für gewöhnlich nicht regte, und er entdeckte Dodd und eine Gruppe seiner Offiziere im weißen Rock auf der südlichen Mauer.

Dodd beobachtete das britische Lager durch ein großes Fernrohr, das auf ein Dreibein montiert war. Der Major war gezwungen, sich gebückt vorzuneigen, weil das Fernrohr auf dem Dreibein nicht auf Augenhöhe angehoben werden konnte, und Sanjit Pandee störte den großen Major ungern. Der Killadar räusperte sich, aber das hatte keine Wirkung, und deshalb scharrte er mit einem Fuß auf dem Wehrgang, doch Dodd hatte nicht mal einen Blick für ihn übrig. Schließlich verlangte der Killadar eine Erklärung, jedoch in sehr blumiger Sprache, denn er wollte vermeiden, dass sich der Engländer beleidigt fühlte. Sanjit Pandee hatte bereits den Kampf um die Stadtkasse verloren, die Dodd einfach beschlagnahmt hatte, und der Killadar war nervös angesichts des finsteren Ausländers.

»Sag dem verdammten Mann«, wies Dodd seinen Dolmetscher an, ohne den Blick vom Fernrohr zu nehmen, »dass er verdammt meine Zeit vergeudet und mich am Arsch lecken und verschwinden soll.«

Dodds Dolmetscher, einer seiner jüngeren indischen Offiziere, sagte höflich zum Killadar, dass Major Dodds Aufmerksamkeit im Augenblick dem sich nähernden Feind gelte, aber sobald er einen Moment Zeit habe, werde er sich gern mit dem verehrten Killadar unterhalten.

Der Killadar spähte nach Süden. Reiter, britische und indische, befanden sich weit vor der nahenden Kolonne des Feindes. Nicht, dass Sanjit Pandee die Kolonne deutlich sehen konnte, er nahm nur einen dunklen Fleck zwischen dem fernen Grün wahr, den er für den Feind hielt. Die Füße der Soldaten wirbelten keinen Staub auf, doch das lag am Regen, der gestern gefallen war.

»Kommt der Feind wirklich?«, fragte er höflich.

»Natürlich kommt er nicht, verdammt«, sagte Dodd, richtete sich auf und massierte seinen Rücken. »Er läuft entsetzt fort.«

»Natürlich nähert sich der Feind wirklich, Sahib«, sagte der Dolmetscher ehrerbietig.

Der Killadar blickte an seiner Verteidigungslinie entlang und war beruhigt, die Masse von Dodds Regiment und daneben die arabischen Söldner auf dem Wehrgang zu sehen. »Die Geschütze des Regiments, sind die nicht hier?«, sagte er zum Dolmetscher.

»Sag dem störenden Scheißer, dass ich alle Kanonen an den Feind verkauft habe«, grollte Dodd.

»Die Geschütze sind dort postiert, wo sie sich am nützlichsten erweisen werden, Sahib«, versicherte der Dolmetscher dem Killadar mit einem strahlenden Lächeln, und der Killadar, der wusste, dass die fünf kleinen Geschütze am Nordtor waren, wo sie in die Stadt zielten anstatt auf die Ebene hinaus, seufzte frustriert. Europäer konnten so schwierig sein.

»Und die dreihundert Mann, die der Major am Nordtor postiert hat?«, fragte Sanjit Pandee. »Geschah dies, weil er einen Angriff von dort erwartet?«

»Frag den Idioten, warum sonst sie dort sein könnten«, wies Dodd den Dolmetscher an, doch es blieb keine Zeit, dem Killadar noch etwas zu sagen, denn Rufe von der Brustwehr kündigten das Nahen von drei feindlichen Reitern an. Die Abgesandten ritten unter einer weißen Fahne, doch einige der Araber zielten mit ihren langläufigen Luntenschlossmusketen auf die Reiter, und der Killadar schickte schnell einige Adjutanten los, um den Söldnern zu sagen, dass sie ihr Feuer zurückhalten sollten.

»Sir sind gekommen, um uns cowle anzubieten«, sagte der Killadar, als er zum Südtor eilte. Cowle war ein Angebot von Bedingungen, eine Chance für die Verteidiger, lieber zu kapitulieren, als sich dem Schrecken eines Angriffs auszusetzen, und der Killadar hoffte, die Verhandlungen lange genug hinziehen zu können, um Major Dodd zu überreden, die dreihundert Männer vom Nordtor zurückzuholen.

Der Killadar konnte sehen, dass die drei Reiter zum Südtor ritten, über dem ein quadratischer Turm aufragte, an dem Sindhias grüne und scharlachrote Fahne flatterte. Um den Turm zu erreichen, musste der Killadar eine Steintreppe hinunterrennen, weil die Mauer westlich des Tors keinen Wehrgang hatte, sondern einfach eine hohe, kahle Wand aus rotem Stein war. Er eilte am Fuß der Mauer entlang und kletterte dann wieder mehrere Stufen hinauf. Er erreichte den Turm des Tors gerade, als die drei Reiter darunter ihre Pferde zügelten.

Zwei der Reiter waren Inder, während der Dritte ein britischer Offizier war, und die drei Männer waren tatsächlich gekommen, um der Stadt einen cowle anzubieten. Wenn der Killadar kapitulierte, rief einer der Inder, würde den Verteidigern der Stadt erlaubt werden, mit all ihren Handwaffen und jedem persönlichen Besitz, den sie tragen konnten, von Ahmadnagar wegzumarschieren. General Wellesley würde der Garnison bis zum Fluss Godavari, hinter den sich Pohlmanns campoo zurückgezogen hatte, einen sicheren Abzug garantieren. Der Offizier verlangte eine sofortige Antwort auf das Angebot.

Sanjit Pandee zögerte. Der cowle war überraschend großzügig, und er spielte mit dem Gedanken zu akzeptieren, denn niemand würde sterben, wenn er die Bedingungen annahm. Die sich nähernde Kolonne konnte er jetzt deutlich in der Ebene sehen. Dort würden Geschütze sein, und Gott allein wusste, wie viele Musketen.

Dann blickte er nach links und rechts und sah die beruhigende Höhe der Mauer und die weißen Gewänder seiner Furcht erregenden Araber, und er überlegte, was Dowlut Rao Sindhia sagen würde, wenn er in Ahmadnagar unterwürfig kapitulieren würde. Sindhia würde ärgerlich sein, und ein ärgerlicher Sindhia war dazu fähig, denjenigen, der ihn verärgerte, unter die Füße der Elefanten zu legen. Die Aufgabe des Killadars bestand darin, die Briten hinzuhalten, wenn sie vor Ahmadnagar waren, während Sindhia seine Verbündeten sammelte und so die große Armee darauf vorbereitete, dass sie den Invasor vernichtete.

Sanjit Pandee seufzte. »Es kann keinen cowle geben«, rief er Wellesleys Boten zu. Die drei Reiter machten keinen Versuch, ihn umzustimmen. Sie nahmen nur die Zügel auf, gaben ihren Pferden die Sporen und ritten davon. »Sie wollen den Kampf«, sagte der Killadar betrübt. »Sie wollen Beute.«

»Deshalb sind sie hergekommen«, meinte einer der Adjutanten. »Ihr Land ist unfruchtbar.«

»Ich habe gehört, es soll grün sein«, sagte Sanjit Pandee.

»Nein, Sahib, unfruchtbar und trocken. Warum wären sie sonst hier?«

Die Nachricht, dass der cowle abgelehnt worden war, breitete sich längs der Mauern aus. Niemand hatte etwas anderes erwartet, doch der widerwillige Trotz des Killadars ermunterte die Verteidiger, deren Reihen sich verstärkten, als Leute aus der Stadt zum Wehrgang hinaufkletterten, um den nahenden Feind zu sehen.

Dodds Miene verfinsterte sich, als er sah, dass sich Frauen und Kinder hinter den Brustwehren drängten, um den Feind zu sehen.

»Sie sollen verschwinden«, befahl er seinem Dolmetscher. »Ich will nur die diensthabenden Kompanien hier oben haben.« Er beobachtete, wie seine Befehle befolgt wurden. »Jetzt wird drei Tage lang nichts geschehen«, versicherte er seinen Offizieren. »Sie werden Plänkler schicken, um uns zu stören, aber Plänkler können nichts gegen uns ausrichten, wenn wir nicht unseren Kopf über die Brustwehr heben. Sagen sie also den Männern, dass sie den Kopf einziehen sollen. Und niemand feuert auf die Plänkler, ist das verstanden? Es hat keinen Sinn, Munition auf Plänkler zu verschwenden. Wir werden das Feuer nach drei Tagen eröffnen.«

»In drei Tagen, Sahib?«, fragte ein junger indischer Offizier.

»Die Bastarde werden einen Tag brauchen, um Batterien einzurichten, und zwei Tage, um eine Bresche zu schlagen«, sagte Dodd zuversichtlich voraus. »Und am vierten Tag wer den die Scheißer kommen, es gibt also nichts, weswegen wir uns jetzt aufregen müssten.« Der Major entschied sich, ein Beispiel an Gleichgültigkeit gegenüber dem Feind zu geben. »Ich gehe frühstücken«, kündigte er seinen Offizieren an. »Ich werde zurück sein, wenn die Bastarde anfangen, ihre Batterien einzugraben, um die Bresche zu schlagen.«

Der große Major rannte die Treppe hinunter und verschwand in den Gassen der Stadt. Der Dolmetscher blickte zu der nahenden Kolonne und spähte dann durch das Fernrohr. Er hielt nach Geschützen Ausschau, doch zuerst konnte er nur eine Masse von Männern mit roten Röcken und den sonderbaren Reitern zwischen ihren Reihen sehen, und dann sah er etwas Merkwürdiges, das er nicht verstand.

Einige der Männer in den ersten Reihen trugen Leitern. Er runzelte die Stirn, und dann sah er etwas Vertrauteres jenseits der roten Reihen und neigte das Fernohr so, dass er die Kanonen des Feindes sehen konnte. Es waren nur fünf Geschütze, eins von Männern gezogen und vier von Elefanten, und hinter der Artillerie marschierten mehr Rotröcke. Diese trugen gemusterte Röcke und hohe schwarze Mützen. Der Dolmetscher war froh, dass er hinter der Mauer war, denn irgendwie sahen die Männer in Röcken Furcht erregend aus.

Er blickte wieder zu den Leitern und konnte nicht wirklich begreifen, was er sah. Es waren nur vier Leitern, so schlichte, dass sie wohl nicht gegen die Mauern gelehnt werden konnten. Vielleicht, dachte er, planten die Briten, einen Beobachtungsturm zu errichten, sodass sie über die Verteidigungsanlage hinwegblicken konnten. Diese Erklärung machte Sinn, und so wurde ihm nicht klar, dass es gar keine Belagerung geben würde, sondern eine Eskalade. Der Feind plante nicht, ein Loch in die Mauer zu schlagen, sondern, sie einfach zu über steigen. Es würde kein Warten geben, kein Graben, keine Sappen, keine Batterien und keine Bresche.

Es würde nur einen Angriff geben, Schreie und einen Kugelhagel – und dann den Tod in der Morgensonne.

 

»Das Entscheidende ist, Sharpe, sich nicht töten zu lassen«, sagte McCandless.

»Das hatte ich auch nicht vor, Sir.«

»Keine Heldentaten, Sharpe. Es ist nicht unser Job. Wir folgen einfach den Helden in die Stadt, suchen nach Mister Dodd und kehren dann heim.«

»Jawohl, Sir.«

»Bleiben Sie also nahe bei mir, und ich bleibe nahe bei Colonel Wallaces Trupp. Wenn Sie mich also verlieren, suchen Sie nach ihm. Das dort drüben ist Wallace, sehen Sie ihn?« McCandless wies auf einen großen, barhäuptigen Offizier, der an der Spitze des 74. Regiments ritt.

»Ich sehe ihn, Sir.« Sharpe saß auf McCandless’ Ersatzpferd, und das erlaubte ihm, über die Köpfe der Männer des 74. zu blicken, das vor ihm marschierte. Jenseits der Highlander schimmerte die Stadtmauer dunkelrot in der frühen Sonne, und auf seiner Krone konnte er zwischen den Zacken der Mauer gelegentlich eine Muskete schimmern sehen. Große, runde Bastionen standen alle hundert Yards. Sie hatten schwarze Schießscharten. Sharpe vermutete, dass dahinter die Kanonen der Verteidiger verborgen waren. Die grellbunten Statuen eines Tempelturms waren über der Brustwehr zu sehen, während über dem Tor viele Fahnen schlaff herabhingen.

Niemand feuerte bis jetzt. Die Briten waren nun auf Kanonenschussweite, doch die Verteidiger ließen ihre Geschütze schweigen.

Die meisten der britischen Soldaten verharrten eine halbe Meile vom Wall entfernt, während sich drei Angriffstrupps formierten. Zwei davon würden die Mauer mit Leitern ersteigen, eine links vom Tor, die andere rechts, und beide würden von schottischen Soldaten mit Sepoys als Unterstützung geführt werden. Das 78. Regiment des Königs, das Kilt-Regiment, würde die Mauer links ersteigen, während die Highlander vom 74. von rechts angreifen würden. Der dritte Angriff würde von der Mitte aus erfolgen und vom Colonel des 74., William Wallace, geführt werden, der ebenfalls Kommandeur einer der Infanteriebrigaden und offensichtlich ein alter Freund von McCandless war, denn als er seinen schottischen Landsmann sah, ritt er an den Reihen seines Regiments zurück, um ihn mit herzlicher Vertrautheit zu begrüßen.

Wallace würde Männer des 74. bei einem Angriff gegen das Tor selbst führen, und sein Plan sah vor, mit einer Sechspfünder-Kanone dicht an die dicken Holztore zu fahren und den Eingang unter Beschuss zu nehmen und aufzusprengen.

»Keiner unserer Kanoniere hat so was je getan«, erzählte Wallace McCandless, »und sie haben darauf bestanden, eine Kanonenkugel zu laden, doch ich schwöre, dass mir meine Mutter gesagt hat, man soll nie eine Kanonenkugel laden, um Tore zu öffnen. Eine doppelte Pulverladung, hat sie mich gelehrt, und nichts sonst.«

»Ihre Mutter hat Ihnen das gesagt, Wallace?«, fragte McCandless.

»Ihr Vater war Artillerist, wissen Sie, und er hat sie in seinem Sinn aufgezogen. Aber ich kann unsere Kanoniere nicht überzeugen, die Kanonenkugel wegzulassen. Das sind sture Burschen. Natürlich typisch englisch. Kann ihnen nichts beibringen.« Wallace bot McCandless seine Feldflasche an. »Es ist kalter Tee, McCandless, nichts, was Ihre Seele zur Hölle schicken wird.«

McCandless nahm einen Schluck vom Tee. Dann stellte er Sharpe vor. »Er war der Mann, der die Mine Tippus in Seringapatam in die Luft gejagt hat«, erklärte er Wallace.

»Von Ihnen habe ich schon gehört, Sharpe«, sagte Wallace. Das haben Sie verdammt gut gemacht, Sergeant!« Der Schotte neigte sich vor und reichte Sharpe die Hand. Wallace war in mittlerem Alter mit freundlichem Gesicht, ein Mann, der gern und oft lächelte. »Kann ich Sie zu etwas kaltem Tee verführen, Sharpe?«

»Ich habe Wasser, Sir, danke«, erwiderte Sharpe und klopfte auf seine Feldflasche, die mit Rum gefüllt war, ein Geschenk von Daniel Fletcher, der Ordonnanz des Generals.

»Sie werden mir verzeihen, dass ich zu tun habe«, sagte Wallace zu McCandless und nahm seine Feldflasche zurück. »Ich werde Sie in der Stadt sehen, McCandless. Einen schönen Tag Ihnen beiden.« Wallace trieb sein Pferd an und ritt zur Spitze seiner Kolonne.

»Ein sehr guter Mann«, sagte McCandless herzlich. »Wirklich ein sehr guter Mann.«

Sevajee und sein Dutzend Männer ritten in kurzem Galopp zu McCandless. Sie alle trugen rote Uniformröcke, denn sie wollten mit McCandless in die Stadt reiten, und keiner wollte für den Feind gehalten werden. Irgendwie wirkten sie mit den nicht zugeknöpften Röcken jedoch räuberischer denn je. Sie alle waren mit tulwars – gekrümmten Säbeln – bewaffnet, die sie im Morgengrauen rasiermesserscharf geschliffen hatten. Sevajee nahm an, dass keine Zeit bleiben würde, mit Musketen zu zielen, wenn sie erst in Ahmadnagar waren. Hineinreiten, diejenigen angreifen, die immer noch kämpfen wollten, und hart mit dem Säbel zuschlagen.

Die beiden Sturmtruppen setzten sich in Bewegung. Jeder hatte ein Paar Leitern und wurde von denjenigen Männern geführt, die sich freiwillig gemeldet hatten, um als Erste auf den Sprossen zu sein. Die Sonne stand jetzt ganz über dem Horizont, und Sharpe konnte die Mauer deutlicher sehen. Er schätzte, dass sie zwanzig Fuß hoch war, und das Schimmern von Waffen in jeder Schießscharte zeigte, dass sie entschlossen verteidigt werden würde.

»Haben Sie jemals eine Eskalade gesehen, Sharpe?«, fragte McCandless.

»Nein, Sir.«

»Riskante Sache. Leitern sind zerbrechlich. Eklig, als Erster hochzuklettern.«

»Sehr eklig, Sir.«

»Und wenn die Eskalade scheitert, gibt das dem Feind Zuversicht.«

»Und warum macht man dann eine, Sir?«

»Wenn sie Erfolg hat, Sharpe, verliert der Feind die Moral. Er hält uns dann für unbesiegbar. Veni, vidi, vici

»Ich spreche nicht Hindi, Sir, jedenfalls nicht richtig.«

»Das ist Latein, Sharpe. ›Ich kam, sah und siegte.‹ Wie steht es inzwischen mit Ihrem Lesen?«

»Es geht gut, Sir, sehr gut«, antwortete Sharpe begeistert, doch in Wirklichkeit hatte er in den vergangenen vier Jahren außer den Lagerlisten und Dienstplänen und Major Stokes Reparaturanweisungen nicht viel gelesen. Es waren Colonel McCandless und sein Neffe, Lieutenant Lawford, gewesen, die Sharpe das Lesen beigebracht hatten, als sie die Gefängniszelle Tippus geteilt hatten. Das war vier Jahre her.

»Ich werde Ihnen eine Bibel geben, Sharpe«, sagte McCandless und beobachtete die Eskalade-Trupps, die stetig voranmarschierten. »Es ist das einzige lesenswerte Buch.«

»Das würde mir gefallen, Sir«, sagte Sharpe mit ausdruckslosem Gesicht. Dann sah er, dass die Feldwachen vorausrannten, um eine Plänkler-Linie zu bilden, die die Mauer mit Musketenfeuer belegen würde. Immer noch schoss niemand von den Mauern der Stadt, obwohl jetzt sowohl die Feldwache als auch die beiden Leitertrupps auf Musketenschussweite heran waren.

»Wenn Sie mir die Frage erlauben, Sir«, sagte Sharpe zu McCandless, »was hindert diesen Scheißer – Verzeihung, Sir –, was hindert Mister Dodd daran, auf der anderen Seite der Stadt zu fliehen, Sir?«

»Sie verhindern das, Sharpe.« McCandless wies auf die Kavallerie, die jetzt auf beiden Seiten der Stadt davongaloppierte. Die Briten des 19. Dragoner-Regiments ritten in dichter Formation, doch die anderen Reiter waren verbündete Marathen oder silladars aus Haidarabad oder Maisur, und sie ritten in einem lockeren Haufen. »Ihre Aufgabe ist es, jeden am Verlassen der Stadt zu hindern«, fuhr McCandless fort. »Natürlich nicht die Zivilisten, sondern alle Soldaten.«

»Aber Dodd hat ein ganzes Regiment, Sir.«

McCandless ging über das Problem hinweg. »Ich bezweifle, dass ihm zwei ganze Regimenter nützen werden. In ein, zwei Minuten wird pure Panik in Ahmadnagar herrschen, und wie soll Dodd entkommen? Er wird sich einen Weg durch eine Menge entsetzter Zivilisten kämpfen müssen. Wir werden ihn in der Stadt finden, wenn er noch da ist.«

»Das ist er«, warf Sevajee ein. Er starrte durch ein kleines Fernrohr auf die Mauer. »Ich kann die Uniformen seiner Männer auf dem Wehrgang sehen. Weiße Uniformröcke.« Er wies nach Westen, jenseits der Strecke der Mauer, die vom 78. Regiment angegriffen werden würde.

Die Plänkler eröffneten plötzlich das Feuer. Sie waren längs des südlichen Randes der Stadt verstreut, und ihr Musketenfeuer war sporadisch – und sinnlos, wie Sharpe fand. Männer, die auf eine Stadt feuerten? Die Musketenkugeln schlugen gegen die rötlichen Steine der Mauer, und das Echo des Kugelhagels hallte von ihnen wider, doch die Verteidiger ignorierten die Bedrohung. Keine Muskete antwortete auf die Schüsse, keine Kanone feuerte. Auf den Wehrgängen blieb es stumm. Rauchwolken zogen von der Linie der Plänkler, die weiterhin die roten Quadern beschossen.

Colonel Wallaces Angriffstrupp war spät dran, während die Männer mit Kilts vom 78. Regiment, die die Mauer links des Tors erklettern sollten, den anderen Angreifern weit voraus waren. Sie rannten über eine freie Fläche, ihre beiden Leitern in voller Sicht des Feindes, doch immer noch wurden sie von den Verteidigern ignoriert. Ein Regiment von Sepoys schwenkte nach links ab, um die Linie der Plänkler mit ihrem Musketenfeuer zu verstärken. Ein Dudelsackpfeifer spielte im Laufen, und sein Instrument klang, als hätte es den Schluckauf. Das alles kam Sharpe schändlich vor. Die Schlacht – wenn sie überhaupt so genannt werden konnte – hatte fast zwanglos begonnen, und der Feind schien sie nicht mal als Bedrohung zu betrachten. Das Feuer der Plänkler war verstreut, die Angriffstrupps waren in voller Stärke. Doch es gab kein Drängeln und keine Zeremonie. Es sollte eine geben, dachte Sharpe. Eine Kapelle sollte spielen, Fahnen flattern, der Feind sichtbar und bedrohlich sein, doch stattdessen war alles halbherzig und unwirklich.

»Hier entlang, Sharpe«, sagte McCandless und bog ab zu Colonel Wallace, der seine Männer in Formation brachte. Ein Dutzend blau berockte Kanoniere drängten sich um die Sechspfünder-Kanone, offenbar das Geschütz, das gegen das Stadttor eingesetzt werden würde. Jenseits davon befand sich eine Batterie von vier Zwölfpfünder-Kanonen, gezogen von Elefanten.

Als Sharpe und McCandless ihre Pferde zu Wallace trieben, hielten die Elefantenführer die Dickhäuter an, und die Kanoniere beeilten sich, die vier Geschütze auszuschirren. Sharpe nahm an, die Batterie würde die Mauern mit Kartätschenfeuer bestreichen, doch die Stille und Tatenlosigkeit der Verteidiger ließ darauf schließen, dass diese von den unverschämten Angreifern nichts befürchteten.

Sir Arthur Wellesley, im Sattel von Diomed, dem es nach dem Aderlass anscheinend wieder gut ging, ritt zu den Geschützen und rief Befehle zum Batteriekommandanten, der die Hand hob, um sie zu bestätigen. Der General wurde von drei Adjutanten in scharlachrotem Rock und zwei Indern begleitet, die wohl – nach der Pracht ihrer Gewänder zu schließen – Kommandanten der alliierten Reiter waren, die losgeritten waren, um eine Flucht aus dem Nordtor der Stadt zu verhindern.

Die Angreifer vom 78. waren jetzt nur noch hundert Schritte von der Mauer entfernt. Sie hatten kein Marschgepäck, nur ihre Waffen. Und immer noch behandelte sie der Feind mit Verachtung. Kein Geschütz feuerte, keine Muskete krachte, keine einzige Rakete wurde von den Wehrgängen abgeschossen.

»Anscheinend wird es leicht werden, McCandless!«, rief Wallace.

»Ich bete darum!«, erwiderte McCandless.

»Der Feind hat ebenfalls gebetet«, sagte Sevajee, doch McCandless ignorierte die Bemerkung.

Und dann, abrupt und beängstigend, endete die Stille.

Der Feind ignorierte den Angriff nicht mehr. Stattdessen explodierte aus den Mauerschlitzen und aus den hohen Schießscharten der Bastionen und von den Mauerzacken längs der Brustwehr ein Sturm von Geschützfeuer. Vor Sekunden war die Mauer klar in der Morgensonne zu sehen gewesen, und jetzt war sie von einer dichten Pulverrauchwolke umgeben. Die ganze Stadt war von Rauch eingehüllt, und der Boden rings um die angreifenden Soldaten wurde vom Einschlag der Kugeln aufgewühlt.

»Zehn Minuten vor sieben«, schrie McCandless gegen den Lärm an, als ob die Zeit wichtig sei.

Raketen, wie Sharpe sie in Seringapatam gesehen hatte, schossen von der Mauer, um ihre Rauchspur in verrückten Winkeln über den Köpfen der Angriffstrupps zu hinterlassen, doch trotz der Wucht der Eröffnungssalve der Verteidiger schien sie wenig Schaden anzurichten. Ein Rotrock taumelte, doch die Angrifftrupps rannten immer noch, und dann hörte Sharpe einen schmerzerfüllten Schrei. Sein Kopf fuhr nach rechts herum, und er sah, dass ein Elefant von einer Kanonenkugel getroffen worden war.

Der Elefantenführer des Dickhäuters riss an dem Haltestrick, doch der Elefant riss sich los, von seiner Wunde wie rasend gemacht, und stürmte geradewegs auf Wallaces Männer zu. Die Highlander verstreuten sich. Die Kanoniere hatten begonnen, ihre geladene Sechspfünder-Kanone vorwärts zu ziehen. Als sie erkannten, dass sie im Weg des verletzten Dickhäuters waren, gaben Sie das Geschütz auf und flüchteten vor dem verrückten Elefanten. Die gerunzelte Haut an der linken Flanke war rot vom Blut. Wallace schrie etwas Unverständliches, gab seinem Pferd die Sporen und preschte aus dem Weg. Der Elefant, den Rüssel erhoben und die Augen weiß, donnerte an McCandless und Sharpe vorbei.

»Armes Mädchen«, sagte McCandless.

»Ist es eine sie?«, fragte Sharpe.

»Alle Zugtiere sind weiblich, Sharpe. Gefügiger.«

»Sie ist nicht gefügig, Sir«, sagte Sharpe. Er beobachtete, wie der Elefant an der Nachhut der Armee vorbeidonnerte und durch ein Stoppelfeld trampelte, verfolgt vom Elefantenführer und einer aufgeregten Schar kleiner Kinder, die den angreifenden Soldaten von ihrem Lager aus gefolgt waren und jetzt mit schrillen Schreien die Jagd nach dem Elefanten genossen. Sharpe beobachtete das Treiben, und dann duckte er sich unwillkürlich, als eine Musketenkugel dicht über seinen Tschako pfiff und eine andere vom Lauf der Sechspfünder-Kanone abprallte.

»Jetzt nicht zu nahe ran, Sharpe«, mahnte McCandless.

Sharpe zügelte gehorsam seine Stute.

Colonel Wallace rief seine Männer wieder in Formation. »Verdammte Tiere«, schnarrte er zu McCandless.

»Ihre Mutter hatte keinen Rat bezüglich Elefanten, Wallace?«

»Nein, keinen, den ich einem frommen Mann weitergeben könnte, McCandless«, sagte Wallace und ritt zu den in Unordnung geratenen Kanonieren der Sechspfünder-Kanone. »Nehmt die Ziehstricke, ihr Lahmärsche! Beeilung!«

Das 78. Regiment hatte die Mauer links vom Tor erreicht. Die Männer rammten die Füße der beiden Leitern ins Erdreich und schwangen die Spitzen bis zur Brustwehr an der Mauer empor.

»Gut, Jungs!«, rief McCandless herzlich und halblaut, obwohl er viel zu weit von den Angreifern entfernt war und sie seine Ermunterung nicht hören konnten.

Die ersten Highlander im Kilt stiegen bereits die Sprossen hinauf, doch dann wurde ein Mann von einer Kugel aus der flankierenden Bastion getroffen. Er verharrte abrupt, klammerte sich an die Leiter und stürzte dann langsam seitwärts ab. Eine Traube von Männern drängelte sich am Fuß der Leiter, um als Nächste emporzusteigen.

Arme Bastarde, dachte Sharpe, so begierig darauf, in den Tod zu klettern, und er sah, dass die führenden Männer auf beiden Leitern Offiziere mit Breitschwertern waren. Die Männer trugen die Musketen mit aufgepflanztem Bajonett am Riemen über der Schulter, und die Offiziere kletterten mit dem Schwert in der Hand. Einer davon wurde getroffen, und der Mann hinter ihm schob ihn grob von der Leiter und stieg eilig hinauf zur Brustwehr. Dort stoppte er unerklärlicherweise.

Seine Kameraden riefen ihm zu, über die Mauer zu klettern, doch der Mann nahm nur seine Muskete von der Schulter, und im nächsten Augenblick wurde er in aufspritzendem Blut zurückgeschleudert. Ein anderer Mann nahm seine Stelle ein, und ihm passierte das Gleiche. Der Offizier oben auf der zweiten Leiter duckte sich auf der obersten Sprosse und spähte über die Krönung der Mauer zwischen zwei der Mauerzacken, versuchte jedoch nicht, über die Brustwehr zu steigen.

»Sie sollten mehr als zwei Leitern haben, Sir«, grollte Sharpe.

»Dazu war keine Zeit, Junge«, sage McCandless. »Was hält sie auf?« Er starrte mit gequälter Miene zu den verharrenden Männern. Die arabischen Verteidiger in der nächsten Bastion hatten eine feine Zielscheibe, und ihr Musketenfeuer hatte eine schreckliche Wirkung auf die Männer auf der Leiter. Der Lärm der Verteidiger war ununterbrochen, ein Stakkato von Musketenfeuer, das Zischen von Raketen und das Donnern von Kanonen. Männer wurden von den Leitern gefegt, und ihr Platz wurde sofort von anderen eingenommen. Immer noch verharrten Männer auf den obersten Sprossen, statt über die Brustwehr zu klettern, und immer noch feuerten die Verteidiger, und die Toten und Verwundeten häuften sich am Fuß der Leitern.

Die Lebenden schoben sie zur Seite, um die Sprossen zu erreichen und selbst Ziel des unablässigen Musketenfeuers zu werden. Schließlich stemmte sich ein Mann an der Mauer hoch und setzte sich rittlings auf die Mauerkrönung, wo er seine Muskete von der Schulter nahm und hinab in die Stadt schoss. Fast im selben Augenblick wurde er von einer Musketensalve getroffen. Er schwankte einen Moment, seine Muskete rutschte klappernd an der Mauer hinab, und dann folgte er ihr in die Tiefe und klatschte auf den Boden. Der neue Mann auf der obersten Leitersprosse stemmte sich hoch, verharrte dann wie die anderen zuvor und duckte sich zurück.

»Was hält sie auf?«, stieß McCandless frustriert hervor. »In Gottes Namen! Geht!«

»Da gibt es verdammt keinen Wehrgang«, sagte Sharpe grimmig.

McCandless starrte ihn an. »Was?«

»Verzeihung, Sir. Ich vergaß, dass ich nicht fluchen soll, Sir.«

McCandless war jedoch nicht wegen Sharpes Sprache besorgt. »Was haben Sie gesagt, Mann?«, fragte er.

»Da ist kein Wehrgang, Sir.« Sharpe wies zur Mauer, wo die Schotten starben. »Es gibt keinen Musketenrauch hinter der Brustwehr, Sir.«

McCandless schaute hin. »Bei Gott, Sie haben recht!«

Die Mauer hatte Zacken und Schießscharten, doch kein einziges Rauchwölkchen zeigte sich darin, was bedeutete, dass die Fassade falsch war und es auf der anderen Seite der Mauer keinen Wehrgang gab, auf dem die Verteidiger stehen konnten. Von der Außenseite sah die Mauer aus wie jeder andere Teil der Verteidigungsanlage der Stadt, doch Sharpe nahm an, dass die Highlander, wenn sie den Gipfel der Mauer überwanden und auf der anderen Seite in die Tiefe blickten, am Fuß der Mauer die Feinde sahen, die nur darauf warteten, jeden Mann zu massakrieren, der den Sturz in die Tiefe überlebte. Die Männer des 78. griffen ins Nichts an und wurden gnadenlos von den jubelnden Verteidigern getötet.

Die beiden Leitern leerten sich, als die Offiziere schließlich ihre missliche Lage erkannten und ihren Männern befahlen herunterzukommen. Die Verteidiger johlten begeistert bei dem Rückzug und feuerten weiter, als die Leitern von der Mauer fortgetragen wurden.

»O Gott«, sagte McCandless. »O Gott.«

»Ich hatte Sie gewarnt«, sagte Sevajee, der seinen Stolz auf die Kampfqualitäten der Marathen-Verteidiger nicht verbergen konnte.

»Sie stehen auf unserer Seite!«, schnarrte McCandless. Der Inder zuckte nur mit den Schultern.

»Es ist noch nicht vorüber, Sir«, versuchte Sharpe, den Schotten aufzumuntern.

»Eskaladen funktionieren durch Schnelligkeit, Sharpe«, sagte McCandless. »Und jetzt haben wir das Überraschungsmoment verloren.«

»Es muss richtig gemacht werden«, bemerkte Sevajee selbstgefällig. »Mit Geschützen und einer Bresche.«

Doch die Eskalade war noch nicht völlig gescheitert. Der Angriffstrupp des 74. Regiments hatte jetzt die Mauer rechts vom Tor erreicht, und seine Leitern wurden gegen die hohe rote Steinmauer gelehnt. Dieser Teil der Mauer hatte einen Wehrgang, und er war besetzt mit Verteidigern, die jetzt wild auf die Angreifer hinabfeuerten.

Die britischen Zwölfpfünder hatten das Feuer eröffnet, und ihr Kartätschenfeuer wütete unter den Verteidigern, doch die Toten und Verwundeten wurden beiseite geschoben und durch Verstärkung ersetzt. Die Verstärkung lernte schnell. Die Kanonen stellten das Feuer ein, wenn die Angreifer die Leiter hinaufkletterten, und so ließen sie die Schotten die Sprossen hinaufsteigen und warfen dann Holzbalken herunter, durch die die Leiter binnen Sekunden leer gefegt wurden. Dann hämmerte eine Kanone in einer der flankierenden Bastionen eine Ladung Steine und Schrott in die Männer, die sich am Fuß der Leitern drängten.

»O mein Gott«, betete McCandless wieder. »O Gott!«

Weitere Männer begannen, die Leitern zu erklettern, während die Verwundeten von der Mauer zurückkrochen und -humpelten, verfolgt vom Musketenfeuer der Verteidiger.

Ein schottischer Offizier, das Breitschwert in der Hand, stieg mit der Geschicklichkeit eines Matrosen in der Takelage die Leiter hinauf. Er parierte einen Bajonettstoß mit dem Breitschwert, überlebte eine Musketensalve, legte eine Hand auf die Mauerkrönung, um sich darüber zu ziehen, doch dann traf ihn ein Speer in die Kehle, und er zitterte wie ein aufgespießter Fisch, bevor er zurücktaumelte und beim Absturz zwei Mann mit in die Tiefe riss.

Das Musketenfeuer der Verteidiger wurde vom tieferen Krachen der kleinen Kanonen übertönt, die in den verborgenen Galerien der Bastionen in Stellung gebracht waren. Eine dieser Kanonen schoss jetzt einer Leiter in die Seite, und Sharpe beobachtete entsetzt, wie sie wackelte und brach. Die Bruchstücke rissen sieben Männer mit zu Boden.

Das 78. war zurückgeschlagen, und das 74. hatte eine der beiden Leitern verloren.

»Das ist schlecht«, sagte McCandless grimmig, »äußerst schlecht.«

»Gegen Marathen zu kämpfen, ist nicht, wie gegen Männer von Maisur zu kämpfen«, sagte Sevajee selbstgefällig.

Colonel Wallaces Trupp war noch gut hundert Yards vom Tor entfernt, verlangsamt durch das Gewicht seiner Sechspfünder-Kanone. Sharpe hatte den Eindruck, dass Wallace mehr Männer für den Umgang mit dem schwerfälligen Geschütz brauchte und dass das feindliche Musketenfeuer bei den wenigen Männern, die an den Rädern schoben oder an den Haltestricken zogen, ihren Tribut forderte. Wellesley war nicht weit hinter Wallace, und dicht hinter dem General ritt Daniel Fletcher auf einem seiner Ersatzpferde und mit einem zweiten Pferd am Führstrick. Das Musketenfeuer riss getrockneten Schlamm rings um Wellesley und seine Adjutanten aus dem Boden, doch der General wurde wie durch Zauberei von einem Treffer verschont.

Das 78. kehrte zu dem Angriff auf der linken Seite des Tors zurück. Diesmal lehnten die Männer ihre zwei Leitern direkt an die Bastion. Die Verteidiger bei der bedrängten Bastion reagierten mit ärgerlichem Musketenfeuer. Eine der Leitern fiel, und ihre Träger wurden hart von der Salve getroffen, doch die anderen stellten sie auf, und sobald ihre Spitze die Höhe der Bastion erreicht hatte, kletterte ein Offizier mit Kilt die Sprossen hinauf.

»Nein!«, schrie McCandless, als der Offizier getroffen wurde und fiel.

Andere Männer nahmen seinen Platz ein, doch die Verteidiger kippten einen Korb mit Steinen über die Brustwehr, und die herunterkullernden Steine fegten die Leiter leer. Eine Musketensalve zwang die Verteidiger, sich zu ducken, und als sich der Rauch lichtete, sah Sharpe, dass der Offizier mit dem Kilt abermals die Leiter hinaufstieg, diesmal ohne seine Federmütze. Er hielt sein Breitschwert in der rechten Hand, und es behinderte ihn. Für einen Moment tauchte oben auf der Leiter ein Araber auf und schleuderte einen Holzklotz auf den Angreifer hinab, und der Offizier wurde ein zweites Mal zurückgeworfen.

»Nein!«, lamentierte McCandless von Neuem. Doch dann erschien derselbe Offizier ein drittes Mal. Er war entschlossen, die Ehre zu haben, der Erste in der Stadt zu sein, und diesmal hatte er seine rote Schärpe an sein Handgelenk gebunden und ließ sein Breitschwert mit dem Griff in einer Schlaufe der Seide hängen, um beide Hände frei zu haben und schneller zu klettern. Er stieg weiter die Sprossen hinauf, und seine Männer mit ihren Federmützen drängten sich hinter ihm. Aus den Schießscharten in den Galerien der Bastion fauchten Flammen und Rauch. Wie durch Zauberei überlebte der Offizier die Salve, und Sharpe stockte der Atem, als der Mann näher und näher zur Spitze gelangte. Er rechnete damit, dass jeden Augenblick ein Verteidiger auftauchen würde, doch die Angreifer, die sich nicht am Fuß der Leiter drängten, beschossen jetzt mit ihren Musketen die Bastion, und unter dem Feuerschutz kletterte der barhäuptige Offizier die letzten paar Sprossen hinauf, verharrte kurz, um den Griff seines Breitschwerts zu packen, und sprang über die Mauer. Jemand jubelte, und Sharpe erhaschte über der Brustwehr der Mauer einen Blick auf das Breitschwert des Offiziers, das sich hob und senkte. Weitere Highlander kletterten die Leiter hinauf, und obwohl einige von Musketenfeuer aus den Schießscharten der Bastion getroffen wurden, erreichten andere schließlich die hohe Brustwehr und folgten ihrem Offizier auf die Verteidigungsanlage. Die zweite Leiter wurde angelegt, und aus dem Rinnsal der Angreifer wurde ein Strom.

»Gott sei Dank!«, stieß McCandless inbrünstig hervor. »Wir haben es geschafft!«

Das 78. war in der Bastion, und das 74., das auf nur eine Leiter beschränkt war, setzte sich jetzt auch darin fest. Ein Offizier hatte zwei Kompanien organisiert, die die Brustwehr mit Musketensalven eindeckten, als ein Sergeant die Spitze der Leiter erreichte, und die Verteidiger mussten sich hinter den Schießscharten ducken, während der Sergeant die Mauer überkletterte. Er stach mit dem Bajonett zu, dann wankte er zu rück, als der Verteidiger mit einem tulwar nach ihm hieb. Doch ein Lieutenant war hinter ihm, und er hackte mit seinem Breitschwert hinab und trat dann dem Gegner ins Gesicht. Ein dritter Mann überwand die Brustwehr, der vierte wurde getötet. Und dann war ein weiterer Mann auf der Mauer, und die Schotten stießen ihre Kriegsschreie aus, als sie mit der grimmigen Aufgabe begannen, den Wehrgang von den Verteidigern zu säubern.

Sharpe konnte das Klirren der aufeinander prallenden Klingen hören und eine Pulverrauchwolke über den Zinnen sehen, wo sich die Schotten des 74. Regiments einen Weg längs der Brustwehr erkämpften, doch er sah nichts auf der Bastion, wo die Highlander des 78. kämpften. Er nahm an, dass sie die Bastion Etage um Etage räumten, über die steilen Steintreppen hinab angriffen und ihre Bajonette gegen die Kanoniere und Infanteristen einsetzten, welche die unteren Galerien bemannten.

Die Schotten erreichten schließlich das Erdgeschoss der Bastion, wo sie einen letzten Verteidiger töteten und dann aus dem inneren Torweg stürmten. Sie sahen sich plötzlich einer Horde Araber gegenüber, die eine Salve aus Luntenschlossmusketen in die Reihen der Angreifer feuerte.

»Greift die Bastarde an! Macht sie fertig!« Derselbe junge Offizier, der den Sturmangriff geführt hatte, sammelte jetzt seine Männer und führte sie gegen die Verteidiger, die ihre langläufigen Musketen luden. Die Highlander griffen mit einer Wildheit an, die aus Verzweiflung geboren war.

Die Schotten waren in der Stadt, doch bist jetzt bestand die einzige Möglichkeit, sie zu verstärken, über die drei verbliebenen Leitern, und eine davon war beschädigt, nachdem sie von einer kleinen Kanonenkugel gestreift worden war.

Wellesley rief Wallace zu, das Tor öffnen zu lassen, und Wallace bellte seine Kanoniere an, ihr verdammtes Geschütz in Position zu bringen.

Die Verteidiger über dem Tor taten ihr Bestes, um die vorrückende Kanone zu stoppen. Wallace befahl einer Infanteriekompanie, den Kanonieren zu helfen, die Kanone vorwärts zu rollen, und diese Männer schoben und zogen das schwere Geschütz mit Hochrufen gegen das Tor.

»Gebt ihnen Feuer!«, brüllte Wallace. »Gebt ihnen Feuer!« Seine verbliebenen Infanteristen schossen eine Salve zu den Verteidigern des Tors hinauf. Die Fahnen über der Brustwehr zuckten, als die Kugeln an der Seide zerrten. Die Sechspfünder-Kanone rumpelte vorwärts, holperte über den unebenen Erdboden, der von den Musketenkugeln aufgerissen wurde, die aus den Schießscharten der Pförtnerstube über dem Stadttor abgefeuert wurden. Ein Dudelsack spielte, und die wilde Musik begleitete das Stakkato der Schüsse.

»Weiterfeuern!«, brüllte Wallace seine Infanteristen an. Die Musketenkugeln seiner Männer wirbelten Staubwölkchen und Splitter aus dem Tor, das in so dichten Rauch gehüllt war, dass das Geschütz die letzten paar Yards rollte, doch dann hörte Sharpe den dumpfen Schlag, als die Kanonenmündung hart gegen das große Holztor gerammt wurde.

»Zurücktreten!«, rief der Kommandant des Geschützes. »Zurück!« Und die Männer zerrten die Kanone zurück.

»Bereit machen!«, rief Wallace. Seine Männer stellten das Feuer ein und zogen Bajonette hervor, die sie auf ihre geschwärzten Musketenmündungen pflanzten. »Feuert das Geschütz ab!«, brüllte Wallace. »Feuert, um Himmels willen!«

Eine Rakete zischte aus dem Rauch, und einen Augenblick dachte Sharpe, sie würde mitten in Wallaces wartende Männer schlagen, doch dann stieg sie im Bogen in den klaren blauen Himmel und raste fort, ohne Schaden anzurichten.

In der Stadt zogen sich jetzt die Araber, die die Bastion verteidigt hatten, vor den kampfwütigen Schotten zurück, die aus der Bastion gestürmt waren. Die Araber mochten aus einem harten kriegerischen Land kommen, doch so war es auch bei den Kiltträgern, die jetzt in die Stadt einfielen.

Sepoys kletterten jetzt die Leitern hoch und schlossen sich den Highlandern an. Ihr Gefühl trieb sie über die geräumte Fläche hinter der Mauer, um die Deckung der Gassen in der Stadt zu erreichen, doch der junge Offizier, der den Angriff führte, wusste, dass die Verteidiger sich sammeln konnten, wenn er nicht das Tor öffnen ließ, um einen Strom von Angreifern einzulassen.

»Zum Tor!«, rief er und führte seine Männer an der Innenseite der Mauer zum Südtor.

Die Araber, die innerhalb des Torbogens warteten, fuhren herum und feuerten, als sich die Schotten näherten, doch der junge Offizier schien unbesiegbar zu sein. Er schrie, als er angriff, dann sauste sein blutiges Breitschwert herab, und die Bajonette seiner Männer stießen vor. Zwei Sepoys gesellten sich zu ihnen, stachen mit den Bajonetten zu und schrien, und die zahlenmäßig unterlegenen Araber starben oder flüchteten.

»Öffnet das Tor!«, schrie der junge Offizier.

Einer der Sepoys rannte hin und hob den Querbalken aus den eisernen Halterungen.

»Feuer!«, rief Colonel Wallace auf der äußeren Seite des Tors.

Der Captain beim Geschütz hielt die Lunte an das Zündloch. Es gab ein Zischen, Funken sprühten, und dann sprang die geladene Kanone zurück. Das Donnern wurde verstärkt durch den ohrenbetäubenden Widerhall im hohen, überwölbten Torweg.

Das Tor splitterte, und der Sepoy, der den Querbalken angehoben hatte, wurde von der Sechspfünder-Kugel und den Holzsplittern in Stücke gerissen. Die anderen Angreifer auf der inneren Seite des Tors taumelten vor dem Rauch und der Mündungsflamme zurück, doch der Querbalken war heraus und die Tür aufgestoßen.

»Angriff!«, brüllte Wallace, und seine Männer schrien, als sie in den vom Rauch verhüllten Torweg liefen, sich an der Kanone vorbeischoben und über die blutigen Leichenteile des Sepoys hinwegtrampelten.

»Los, Sharpe, los, kommen Sie!« McCandless zog sein Breitschwert. Das Gesicht des alten Mannes spiegelte Aufregung wider, als er seinem Pferd die Sporen gab und auf die Stadt zupreschte. Die Angreifer, die darauf gewartet hatten, die Leitern zu erklettern, schlossen sich jetzt den Männern an, die durch das aufgebrochene Tor rannten.

Denn Ahmadnagar war gefallen, und vom ersten Schuss bis zum gewaltsamen Öffnen des Tors hatte es gerade zwanzig Minuten gedauert. Jetzt liefen die Rotröcke in die Stadt, um ihre Belohnung zu kassieren, und das Leiden in Ahmadnagar begann.

 

Major William Dodd war nicht bis zu seinem Frühstückstisch gekommen. Stattdessen war er in dem Moment, in dem er das Musketenfeuer gehört hatte, zur Mauer zurückgelaufen. Auf dem Wehrgang hatte er entsetzt auf die Leitertrupps gestarrt, denn er hatte nie erwartet, dass die Briten eine Eskalade versuchen würden. Von den Methoden, eine Stadt einzunehmen, war eine Eskalade die riskanteste, doch Dodd wurde klar, dass er es hätte voraussehen müssen. Ahmadnagar hatte keinen Graben und kein Glacis. Außer den Brustwehren gab es kein Hindernis, und so war die Stadt geradezu eine Einladung für eine Eskalade, doch Dodd hatte nie geglaubt, dass Boy Wellesley solch eine Strategie wagen würde. Er hatte Wellesley für zu vorsichtig gehalten.

Keiner der Angreifer hatte das Stück Mauer zum Ziel gehabt, wo Dodds Männer in Position waren. Sie hatten nur vereinzelt ihre Musketen auf die vorrückenden Briten schießen können. Doch die Entfernung war zu groß, sodass sie wenig Wirkung erzielten, und der dichte Pulverrauch von ihren Musketen verhüllte bald ihre Sicht. So hatte Dodd befohlen, das Feuer einzustellen.

»Ich kann nur vier Leitern sehen«, sagte sein Dolmetscher.

»Es müssen mehr als vier sein«, bemerkte Dodd. »Mit nur vier Leitern kann man keine Eskalade machen.«

Eine Zeit lang schien der Major recht zu haben, dass die Verteidigung über den Angriff lachen konnte, während Dodds Männer nur ein paar Plänkler bedrohen mussten, die wirkungslos auf dieses Stück der Mauer feuerten. Er zeigte seine Verachtung für die Plänkler, indem er offen in einer Schießscharte stand, von der aus er die feindliche Kavallerie an der Seite der Stadt beobachtete, die jede Flucht vom Nordtor aus verhindern sollte. Er sagte sich, dass er gut mit ein paar Kavalleristen fertig werden konnte.

Ein Splitter wurde durch eine Musketenkugel neben ihm aus der Mauerkrönung gerissen. Der Steinsplitter schlug gegen das lederne Koppel, welches Dodd über seinen neuen weißen Rock angelegt hatte. Es gefiel ihm nicht, Weiß zu tragen. Man sah den Schmutz darauf, aber schlimmer noch, jede Wunde wirkte dadurch viel schlimmer, als sie war. Blut war auf einem Rotrock kaum zu sehen, doch selbst ein kleiner Blutspritzer auf einem weißen Rock konnte einen nervösen Mann entsetzen. Er fragte sich, ob Pohlmann oder Sindhia den Kosten neuer Uniformröcke zustimmen würden. Braune gefielen ihm besser oder vielleicht dunkelblaue.

Der Dolmetscher kam zu dem Major, der in der Schießscharte stand. »Der Killadar möchte, dass wir uns hinter dem Tor formieren, Sir.«

»Der möchte viel«, entgegnete Dodd barsch.

»Er sagt, der Feind nähert sich dem Tor mit einem Geschütz, Sahib.«

»Das ist vernünftig von ihm«, sagte Dodd, ignorierte jedoch die Bitte. Stattdessen starrte er nach Osten und sah einen schottischen Offizier auf dem Gipfel einer Bastion auftauchen. Tötet ihn, drängte er stumm die Araber in der Bastion, doch der junge Offizier sprang herab und schlug mit seinem Breitschwert um sich, und plötzlich überquerten mehr Schotten mit Kilt die Brustwehr. »Ich hasse die verdammten Schotten«, stieß Dodd hervor.

»Sahib?«, fragte der Dolmetscher.

»Das sind eingebildete Bastarde«, sagte Dodd, doch anscheinend hatten die eingebildeten Bastarde soeben die Stadt eingenommen, und Dodd wusste, dass es Wahnsinn wäre, sich in einen Kampf einzulassen, der zum Scheitern verurteilt war. Auf diese Weise würde er sein Regiment verlieren.

»Sahib«, unterbrach der Dolmetscher nervös, »der Killadar hat gedrängt, Sir.«

»Der Killadar kann mich mal.« Dodd sprang aus der Schießscharte. »Ich will die Männer von den Brustwehren runterhaben, Sie sollen sich auf dem inneren großen Platz in Kompanien aufstellen.« Er wies hinunter auf den Platz hinter der Mauer. »Sofort«, fügte er hinzu, und mit einem letzten Blick auf die Angreifer rannte er die Treppe hinab. »Jemadar!«, rief er Gopal zu, den er als Belohnung für seine Loyalität befördert hatte.

»Sahib?«

»Antreten lassen! Marschiert in Kompanien zum Nordtor. Wenn irgendwelche Zivilisten euren Weg blockieren, das Feuer eröffnen!«

»Sie töten?«, fragte der Jemadar.

»Ich will bestimmt nicht, dass ihr sie kitzelt, Gopal. Schlachtet sie ab!«

Der Dolmetscher hatte bei diesem Wortwechsel zugehört. Er starrte den großen Engländer entsetzt an.

»Aber, Sir ...«, begann er flehend.

»Die Stadt ist verloren«, grollte Dodd, »und die zweite Regel des Krieges lautet, das Scheitern nicht noch zu vergrößern.«

Der Dolmetscher fragte sich, was die erste Regel war, wusste jedoch, dass er zu diesem Zeitpunkt besser nicht fragte. »Aber der Killadar, Sir ...«

»Der ist eine feige Maus, und wir sind Männer. Unsere Befehle lauten, das Regiment zu retten, damit es wieder kämpfen kann. Und jetzt gehen Sie!«

Dodd sah die ersten Rotröcke aus der Bastion stürmen, hörte die Salve der Araber, die einige der Angreifer in den blutigen Staub warf, und wandte sich dann vom Kampf ab und folgte seinen Männern in die Straßen der Stadt.

Es ging ihm gegen den Strich, einen Kampf zu verlieren, doch Dodd kannte seine Pflicht. Die Stadt mochte sterben, doch das Regiment musste leben. Captain Joubert sollte das Nordtor, wo Dodds Geschütze warteten und wo seine eigenen Sattelpferde und Packmulis bereitstanden, halten, und so rief er nach seinem anderen französischen Offizier, dem jungen Lieutenant Sillière, und befahl ihm, sich ein Dutzend Männer zu nehmen und Simone Joubert aus der Panik zu retten, von der die Stadt gleich erfüllt sein würde. Dodd hatte gehofft, Simone selbst holen und ihr Beschützer sein zu können, doch er wusste, dass der Fall der Stadt bevorstand und keine Zeit für solche Galanterie bleiben würde. »Bringen Sie sie in Sicherheit, Lieutenant.«

»Selbstverständlich, Sir«, sagte Sillière, froh über diesen Auftrag, und befahl einem Dutzend Männern, ihm in die Gassen zu folgen.

Dodd warf einen Blick zurück nach Süden und marschierte dann vom Kampfgeschehen fort. Hier konnte er nur scheitern. Es war Zeit, nach Norden zu gehen, denn dort – dessen war sich Dodd sicher –, jenseits der breiten Flüsse in den fernen Hügeln und weit fort von ihrem Nachschub, würden die Briten in den Tod gelockt werden.

Aber Ahmadnagar und alles, was sich in der Stadt befand, war dem Untergang geweiht.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2011