KAPITEL 2
Sharpe saß in dem offenen Schuppen, in dem die Lafetten der Waffenkammer lagerten. Es hatte zu regnen begonnen, nicht der prasselnde Platzregen des Monsuns, sondern ein stetiger grauer Nieselregen, der die rötliche Erde im Hof in glitschigen Morast verwandelte.
Major Stokes, der den Nachmittag mit frischem roten Rock, weißer Seidenhalsbinde und auf Hochglanz polierten Stiefeln begonnen hatte, ging vorsichtig um eine kürzlich fertig gestellte Lafette herum.
»Es war wirklich nicht Ihre Schuld, Sharpe«, sagte er.
»Aber ich habe dieses Gefühl, Sir.«
»Das gibt sich, das gibt sich«, sagte Stokes. »Denken Sie gut darüber nach, Sharpe, dann werden Sie das bestimmt erkennen. Sie trifft in keiner Weise Schuld.«
»Ich habe alle sechs Männer verloren, Sir. Und den jungen Davi.«
»Das arme Stachelschwein.« Stokes duckte sich, um am Lafettenschwanz entlangzuspähen. »Meinen Sie, das Holz ist gerade, Sharpe? Oder ein bisschen gewellt?«
»Mir kommt es gerade vor, Sir.«
»Ist nicht richtig gemasert, diese Eiche, nicht richtig ausgereift«, sagte der Major und begann, sein Koppel abzulegen. Jeden Morgen und Nachmittag schickte ihn seine Ordonnanz in sorgfältig gewaschener und gebügelter Kleidung zur Waffenkammer, und binnen einer Stunde war Stokes nur in Hose und in Hemdsärmeln und hatte Hobel oder Sägen oder Ahlen in der Hand.
»Ich will einen schnurgeraden Lafettenschwanz sehen«, sagte er. »Da hängt ein Hobel Nummer vier an der Wand, Sharpe, seien Sie so gut.«
»Soll ich ihn schärfen, Sir?«
»Das habe ich gestern Abend getan, Sharpe. Der ist richtig scharf.« Stokes zog seinen roten Uniformrock aus und krempelte die Ärmel hoch. »Das Holz reift hier nicht richtig, das ist die Krux.« Er bückte sich zu der neuen Lafette herunter und hobelte über den Schwanz, dass weiße Späne segelten. »Ich repariere eine Uhr«, erzählte er Sharpe beim Hobeln, »ein hübsch gemachter Schatz, mit Macken in der Verzahnung. Sollten Sie sich ansehen. Sie ist in meinem Büro.«
»Das werde ich, Sir.«
»Und ich habe etwas neues Holz für die Achsen gefunden, Sharpe. Ach, ist das aufregend!«
»Sie werden immer noch brechen, Sir«, sagte Sharpe trübsinnig. Dann bückte er sich nach einer der vielen Katzen, die in der Waffenkammer hausten, nahm sie auf den Schoß und streichelte sie, bis sie zufrieden schnurrte.
»Seien sie nicht so miesepetrig, Sharpe! Wir werden das Problem mit der Achse schon lösen. Es ist nur eine Frage des guten Holzes. Nichts sonst. Hier. Das sieht schon besser aus.« Der Major trat von seinem Werk zurück und unterzog es einem kritischen Blick.
Es waren viele indische Handwerker in der Waffenkammer beschäftigt, doch Major Stokes machte die Dinge gern selbst, und außerdem waren die meisten der Inder bei der Vorbereitung des Dusshera-Festes und stellten drei riesige Figuren her, die zum Hindutempel getragen und dort verbrannt wurden. Diese Inder waren in einem anderen an den Seiten offenen Schuppen beschäftigt, wo sie Leim auf einem offenen Feuer kochten. Einige der Männer klebten Tücher auf einen Weidenkorb, der bei einem der Riesen den Kopf bilden würde. Stokes war fasziniert von ihren Aktivitäten, und Sharpe wusste, dass der Major sich bald zu ihnen gesellen würde.
»Habe ich Ihnen gesagt, dass ein Sergeant heute Morgen hier war und nach Ihnen gefragt hat?«, fragte Stokes.
»Nein, Sir.«
»Kam kurz vor dem Mittagessen«, sagte Stokes. »Ein sonderbarer Typ.« Der Major hockte sich zu dem Lafettenschwanz und hobelte weiter. »Er zuckte so komisch im Gesicht.«
»Obadiah Hakeswill«, meinte Sharpe.
»Ja, ich glaube, so stellte er sich vor«, sagte Stokes. »Schien mir nicht sehr wichtig zu sein. Er sagte, er sei nur auf Besuch in der Stadt und schaue bei alten Gefährten vorbei. Wissen Sie, was ich dachte?«
»Nein, aber ich hoffe, Sie erzählen es mir, Sir«, sagte Sharpe und fragte sich, warum, zum Teufel, Obadiah Hakeswill nach ihm gesucht hatte. Er führte nichts Gutes im Schilde, das war sicher.
»Diese Teakbalken im alten Thronsaal Tippus«, sagte Stokes, »werden gut ausgereift sein. Wir könnten ein halbes Dutzend davon herausbrechen und allerhand Achsen und Wellen daraus machen.«
»Die vergoldeten Balken, Sir?« Sharpe sah den Major fragend an.
»Die Goldschicht haben wir schnell runter, Sharpe. Die hobeln wir im Nu ab!«
»Das könnte dem Radscha missfallen, Sir«, gab Sharpe zu bedenken.
Stokes machte ein langes Gesicht. »Da ist was dran, da ist was dran. Man hat es für gewöhnlich nicht so gern, wenn einem die Deckenbalken runtergerissen werden und Lafetten oder Uhrwellen daraus gemacht werden. Trotzdem ist der Radscha für gewöhnlich sehr gefällig, wenn man erst an seinen verdammten Höflingen vorbeikommen kann. Die Uhr gehört ihm. Schlägt acht, wenn sie neun schlagen sollte, oder vielleicht ist es auch andersrum. Glauben Sie, dass dieser Richtkeil passt?«
Sharpe blickte auf den Keil, mit dem das Kanonenrohr gesenkt und gehoben wurde. »Sieht gut aus, Sir.«
»Ich könnte ihn noch ein Spur abhobeln. Ich frage mich, ob unsere Stellböcke richtig abgeschliffen sind. Das sollten wir vielleicht überprüfen. Ist dieser Regen nicht herrlich? Die Blumen waren am Verwelken! Alles wäre kaputtgegangen. Aber nach diesem feinen Regen kann ich dieses Jahr eine Blumenpracht zeigen. Sie müssen kommen und sich das ansehen.«
»Sie wollen immer noch, dass ich hier bleibe, Sir?«, fragte Sharpe.
»Hierbleiben?« Stokes, der den Richtkeil in einen Schraubstock spannte, blickte auf und sah Sharpe an. »Natürlich will ich, dass Sie hier bleiben, Sergeant. Sie sind der beste Mann, den ich habe!«
»Ich habe sechs Männer verloren, Sir.«
»Und es war nicht Ihre Schuld, überhaupt nicht Ihre. Ich werde Ihnen sechs andere besorgen.«
Sharpe wünschte, es wäre so leicht, aber er konnte die Schuldgefühle nach dem Massaker von Chasalgaon nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Nach dem Blutbad war er wie in Trance durch die Festung geirrt. Die meisten der Frauen und Kinder hatten noch gelebt, doch sie waren, noch unter Schock, furchtsam vor ihm zurückgewichen. Captain Roberts, der stellvertretende Kommandeur der Festung, war am Nachmittag von der Patrouille zurückgekehrt. Er hatte sich übergeben müssen, als er das Grauen innerhalb der Kakteenwälle gesehen hatte.
Sharpe hatte Roberts Bericht erstattet, und der Captain hatte einen Kurier nach Hurryhur, dem Hauptquartier der Armee, geschickt und Sharpe wegtreten lassen.
»Es wird eine Untersuchung dieser Sache geben, nehme ich an«, hatte Roberts gesagt. »So wird Ihre Aussage zweifellos erforderlich sein, aber Sie können ebenso gut in Seringapatam warten.« Und so war Sharpe ohne andere Befehle zurückgekehrt. Er hatte den Beutel mit Rupien Major Stokes zurückgegeben, und jetzt hatte er insgeheim mit einer Bestrafung vom Major gerechnet, doch Stokes interessierte sich mehr für den Richtkeil.
»Ich habe schon Schrauben brechen sehen, weil der Winkel des Keils zu steil war, und es ist nicht gut, wenn in der Schlacht Schrauben brechen. Ich habe Geschütze der Franzmänner mit metallischen Richtkeilen gesehen, aber die rosten nur. Man kann nicht darauf vertrauen, dass ein Franzmann sie geschmiert hält. Sie brüten schon wieder, Sharpe.«
»Ich kann es nicht ändern, Sir.«
»Es führt zu nichts, wenn man brütet. Überlassen Sie das Brüten den Poeten und Priestern. Diese Typen werden dafür bezahlt. Für Sie muss das Leben weitergehen. Was hätten Sie denn tun können?«
»Ich hätte ein paar der Bastarde killen können, Sir.«
»Und die hätten Sie gekillt, und das hätte weder Ihnen noch mir gefallen. Sehen Sie sich diesen Winkel an. Nicht zu glauben! Ich liebe rechte Winkel, das muss ich sagen. Wir sollten das mit den Stellböcken überprüfen. Wie geht es Ihrem Kopf?«
»Besser, Sir.« Sharpe betastete den Verband, der sich um seine Stirn wand. »Ich habe jetzt keine Schmerzen mehr, Sir.«
»Vorsehung, Sharpe, das ist göttliche Vorsehung. Der liebe Gott in seiner Gnade wollte, dass Sie am Leben bleiben.« Stokes nahm den Keil aus dem Schraubstock und ging damit zur Lafette. »Eine Spur von Farbe auf diesen Schwanz, und er ist fertig. Meinen Sie, der Radscha würde mir einen der Dachbalken geben?«
»Es kann nicht schaden, ihn zu fragen, Sir.«
»Das werde ich, das werde ich. Ah, ein Besucher.« Stokes richtete sich auf, als ein Reiter, eingehüllt in ein Regencape und mit ein Wachstuch über seinem Zweispitz, in den Hof der Waffenkammer ritt, ein zweites Pferd an den Zügeln. Der Besucher zog die Füße aus den Steigbügeln, schwang sich aus dem Sattel und band dann die Zügel beider Pferde an eine der Säulen des Schuppens.
Major Stokes, dessen Kleidung schmutzig und unordentlich zu werden begann, lächelte beim Anblick des großen Ankömmlings, dessen Zweispitz verriet, dass er ein Offizier war.
»Kommen Sie, um uns zu inspizieren?«, fragte der Major heiter. »Sie werden das Chaos entdecken. Nichts an der richtigen Stelle, alle Unterlagen schmuddelig, Holzwürmer im gelagerten Holz, Schimmel in den Magazinen und die Farbe völlig verdorben.«
»Besser, die Farbe ist verdorben als der Geist«, sagte der Neuankömmling. Dann nahm er seinem Zweispitz ab und enthüllte weißes Haar.
Sharpe, der sich auf eine der fertigen Geschützlafetten gesetzt hatte, sprang auf und entließ die überraschte Katze in die Hobelspäne des Majors. »Colonel McCandless, Sir!«
»Sergeant Sharpe!«, erwiderte McCandless. Der Colonel schüttelte Regenwasser von seinem Zweispitz und wandte sich an Stokes. »Und Sie, Sir?«
»Major Stokes, Sir, zu Ihren Diensten, Sir. John Stokes, Royal Engineers, Kommandant der Waffenkammer und, wie Sie sehen, Zimmermann Seiner Majestät.«
»Werden Sie mir verzeihen, Major Stokes, wenn ich mit Sergeant Sharpe rede?« McCandless streifte das Regencape von seiner Uniform der East India Company ab. »Sergeant Sharpe und ich sind alte Freunde.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie allein zu lassen, Colonel«, sagte Stokes. »Ich habe in der Gießerei zu tun. Sie gießen zu schnell. Ich sage ihnen andauernd, dass zu schnelles Gießen Blasen im Metall gibt, was zur Katastrophe führen kann, aber sie wollen einfach nicht hören. Es ist nicht wie das Gießen von Tempelglocken, sage ich ihnen immer wieder, doch ich könnte mir den Atem sparen.« Er warf einen sehnsüchtigen Blick zu den glücklichen Männern, die den gigantischen Kopf für das Dusshera-Fest herstellten. »Und ich habe andere Dinge zu erledigen«, fügte er hinzu.
»Ich möchte, dass Sie bleiben, Major«, sagte McCandless sehr förmlich. »Ich nehme an, was ich zu sagen habe, betrifft auch Sie. Es ist schön, Sie zu sehen, Sharpe.«
»Es freut mich auch, Sie wiederzusehen, Sir«, sagte Sharpe, und das entsprach der Wahrheit. Er war mit Colonel Hector McCandless im Kerker Tippus eingesperrt gewesen, und wenn eine Freundschaft zwischen einem Sergeant und einem Colonel möglich war, dann bestand sie zwischen den beiden Männern.
McCandless, groß, kräftig und Anfang sechzig, war der Nachrichtenoffizier der East India Company für das südliche und westliche Indien, und in den vergangenen vier Jahren hatten er und Sharpe ein paar Mal miteinander geredet, wenn der Colonel durch Seringapatam gekommen war, doch diese Gespräche waren gesellschaftliche Plaudereien gewesen. Die grimmige Miene des Colonels ließ darauf schließen, dass das jetzige Treffen alles andere als gesellschaftlich war.
»Sie waren in Chasalgaon?«, fragte McCandless.
»Ja, das war ich, Sir.«
»Haben Sie Lieutenant Dodd gesehen?«
Sharpe nickte. »Den Bastard werde ich nie vergessen. Verzeihung, Sir.« Er entschuldigte sich, weil McCandless ein leidenschaftlicher Christ war, der Schimpfworte und ordinäre Ausdrücke verabscheute. Der schottische Colonel war ein strenger Mann, ehrbar wie ein Heiliger, und Sharpe fragte sich manchmal, weshalb er ihn so sehr mochte. Vielleicht, weil McCandless immer fair und stets wahrhaftig war und mit jedem, ob Radscha oder Sergeant, mit der gleichen ehrlichen Geradlinigkeit sprach.
»Ich habe Lieutenant Dodd nie kennen gelernt«, sagte McCandless. »Beschreiben Sie ihn mir.«
»Groß, Sir, und schlank wie Sie oder ich.«
»Nicht wie ich«, warf Major Stokes ein.
»Und sein Gesicht ist gelblich, als hätte er das Fieber gehabt«, fuhr Sharpe fort. »Längliches Gesicht, als hätte er etwas Bitteres gegessen.« Er überlegte kurz. Er hatte nur ein paar Blicke auf Dodd erhascht, und die von der Seite. »Er hat strähniges Haar, Sir, wenn er seinen Hut abnimmt. Braunes Haar. Lange Nase, wie die von Sir Arthur, und ein stark knochiges Kinn. Er nennt sich jetzt Major Dodd, Sir, nicht Lieutenant. Ich hörte, wie einer seiner Männer ihn mit Major ansprach.«
»Und er hat jeden Mann in der Garnison getötet?«, fragte McCandless.
»Ja, das hat er, Sir. Nur mich nicht. Ich hatte Glück.«
»Unsinn, Sharpe!«, sagte McCandless. »Die Hand Gottes war über Ihnen.«
»Amen«, warf Major Stokes ein.
McCandless starrte Sharpe grübelnd an. Der Colonel hatte ein markantes Gesicht mit sonderbar blauen Augen. Er behauptete immer, dass er sich in seiner schottischen Heimat zur Ruhe setzen wolle, aber er fand stets einen Grund, in Indien zu bleiben. Eine große Zeit seines Lebens hatte er in den Provinzen verbracht, die an das Land grenzten, das von der Company verwaltet wurde, denn es war seine Aufgabe, diese Gebiete zu erkunden und ihre Bedrohungen und Schwächen zu melden. In Indien geschah wenig, was McCandless entging, aber Dodd war ihm entgangen und jetzt seine große Sorge. »Wir haben ein Kopfgeld von fünfhundert Guineen auf ihn ausgesetzt«, sagte der Colonel.
»Allmächtiger!«, stieß Major Stokes erstaunt hervor.
»Er ist ein Mörder«, fuhr McCandless fort. »Er hat einen Goldschmied in Seedesegur ermordet und sollte vor Gericht gestellt werden, doch er flüchtete. Ich möchte, dass Sie, Sharpe, mir helfen, ihn zu schnappen. Und ich verfolge den Schuft nicht, weil ich das Kopfgeld kassieren will. Ich werde es nämlich ablehnen. Aber ich will ihn haben, und ich möchte, dass Sie mir helfen.«
Major Stokes setzte zu einem Protest an, wollte sagen, dass Sharpe sein bester Mann sei und die Waffenkammer ohne ihn vor die Hunde gehen würde, doch McCandless schoss dem liebenswürdigen Major einen scharfen Blick zu, der ausreichte, um ihn verstummen zu lassen.
»Ich will Lieutenant Dodd gefangen nehmen«, sagte McCandless unerbittlich, »und ich will, dass er verurteilt und hingerichtet wird, und dazu brauche ich jemanden, der ihn schon zu Gesicht bekommen hat und ihn wiedererkennt.«
Major Stokes sammelte allen Mut, um seinen Einwand vorzubringen. »Aber ich brauche Sergeant Sharpe! Er organisiert alles! Die Dienstpläne, die Lagerhaltung, die Kassenverwaltung, alles!«
»Ich brauche ihn mehr«, fuhr McCandless den unglücklichen Major an. »Wissen Sie, wie viele Briten in Indien sind, Major? Vielleicht zwölftausend, und weniger als die Hälfte davon sind Soldaten. Unsere Macht ruht nicht auf den Schultern von weißen Männern, Major, sondern auf den Musketen unserer Sepoys. Neun von zehn Männern, die eine Invasion in die Marathen-Provinzen machen, werden Sepoys sein, und Lieutenant Dodd hat über hundert davon überredet zu desertieren! Er hat sie zur Fahnenflucht angestiftet! Können Sie sich unser Schicksal vorstellen, wenn die anderen Sepoys ihrem Beispiel folgen? Sindhia wird Dodds Männer mit Gold überschütten, Major, mit Geld und Beute, in der Hoffnung, dass andere ihnen folgen werden. Ich muss das stoppen, und dafür brauche ich Sharpe.«
Major Stokes erkannte, dass er sich in das Unvermeidliche fügen musste. »Und Sie werden ihn zurückbringen, Sir?«
»Wenn Gott will, ja. Nun, Sergeant, werden Sie mit mir kommen?«
Sharpe blickte zu Major Stokes, der mit den Schultern zuckte, lächelte und dann sein Einverständnis nickte. »Ich komme mit, Sir«, sagte er zu dem schottischen Colonel.
»Wann können Sie zum Aufbruch bereit sein?«
»Ich bin sofort bereit, Sir.« Sharpe wies auf den neu ausgegebenen Tornister und die Muskete, die zu seinen Füßen lagen.
»Sie können ein Pferd reiten?«
Sharpe runzelte die Stirn. »Ich kann auf einem sitzen, Sir.«
»Gut genug.« Der schottische Colonel zog sein Cape an, band die Zügel der beiden Pferde los und reichte einen Sharpe. »Sie ist ein frommes Tier, und Sie werden keine Probleme mit ihr haben.«
»Wir reiten jetzt gleich, Sir?«, fragte Sharpe, überrascht, weil alles so plötzlich kam.
»Jetzt, Sharpe. Wir haben keine Zeit zu vergeuden, denn wir müssen einen Verräter und Mörder schnappen.« Er schwang sich in den Sattel und beobachtete, wie Sharpe unbeholfen auf das zweite Pferd stieg.
»Und wohin reiten Sie?«, fragte Stokes den Colonel.
»Zuerst nach Ahmadnagar, und danach wird Gott entscheiden.« Der Colonel gab seinem Pferd leicht die Sporen, und Sharpe – seinen Tornister auf dem Rücken, die Muskete umgehängt – folgte ihm.
Er würde sein Scheitern bei Chasalgaon wieder gutmachen. Nicht mit Strafe, sondern mit etwas Besserem: mit Rache.
Major William Dodd fuhr mit einem weiß behandschuhten Finger über die Speiche eines Geschützrades. Er betrachtete seine Fingerspitze, und fast neunhundert Männer – oder wenigstens diejenigen der neunhundert auf dem Exerzierplatz, die den Major sehen konnten – betrachteten ihn ihrerseits.
Kein Schlamm oder Staub auf dem Handschuh. Dodd richtete sich auf und blickte die Geschützmannschaften finster an, wie um jedem zu drohen, Freude darüber zu zeigen, dass er das nahezu Perfekte geleistet hatte. Es war zwar harte Arbeit gewesen, denn früh am Tag hatte es geregnet, und die Geschütze des Regiments waren durch die schlammigen Straßen außerhalb von Ahmadnagars südlichem Tor zum Paradeplatz gezogen worden, doch die Kanoniere hatten es trotzdem geschafft, ihre Waffen bestens zu säubern. Sie hatten jeden Dreckfleck entfernt, das Mahagoni des Lafettenschwanzes gewaschen und die Rohre poliert, bis die Legierung aus Kupfer und Zinn blitzblank glänzte.
Beeindruckend, dachte Dodd, als er den Handschuh auszog.
Pohlmann hatte Ahmadnagar verlassen, um seine compoo Sindhias Armee anzuschließen, die sich im Norden versammelte, und Dodd hatte diese überraschende Inspektion seines neuen Kommandos befohlen. Er hatte dem Regiment nur eine Stunde Zeit bis zur Inspektion gelassen und bis jetzt nichts zu beanstanden gefunden.
Es war tatsächlich beeindruckend. Die Männer standen in vier weiß berockten Gliedern mit ihren vier Kanonen und der Haubitze an der rechten Flanke. Die Geschütze waren trotz ihres Glanzes erbärmlich. Die vier Feldgeschütze waren nur Vierpfünder, und das fünfte war eine Fünf-Zoll-Haubitze, und keines davon feuerte Kugeln von richtigem Gewicht. Keine todbringenden Kugeln.
»Pusterohre«, sagte Dodd abschätzig.
»Monsieur?«, fragte Captain Joubert, der Franzose, der inbrünstig gehofft hatte, dass man ihm das Kommando über das Regiment geben würde.
»Sie haben mich gehört, Monsieur. Pusterohre!«, sagte Dodd und hob einen Deckel der Protze, um eines der Vierpfünder-Geschosse herauszunehmen. Es war halb so groß wie ein Kricketball. »Sie könnten ebenso gut auf den Feind spucken, Monsieur!«
Joubert, ein kleiner Mann, zuckte mit den Schultern.
»Auf kurze Distanz, Monsieur ...«, begann er, die Geschütze zu verteidigen.
»Auf kurze Distanz, Monsieur, papperlapapp!« Dodd warf Joubert das Geschoss zu, das der ungeschickt auffing. »Das ist nutzlos auf kurze Distanz! Hat nicht mehr Wirkung als eine Musketenkugel, und das Geschütz ist zehnmal so schwerfällig wie eine Muskete.« Er kramte in der Protze. »Keine Kartätschen?
»Für Vierpfünder-Geschütze werden keine Kartätschen ausgegeben«, sagte Joubert. »Ist nicht mal dafür gemacht.«
»Dann machen wir unsere eigenen«, sagte Dodd. »Beutel mit Schrottmetall, Monsieur, umspannt mit einem Geschossring und eine Zündladung. Anderthalb Pfund Pulver pro Schuss. Suchen Sie in der Stadt ein Dutzend Frauen, und lassen Sie die Beutel nähen. Vielleicht kann Ihre Frau helfen, Monsieur?« Er schielte zu Joubert, der keine Reaktion zeigte.
Dodd konnte die Schwäche eines Mannes förmlich riechen, und die sonderbar attraktive Simone Joubert war zweifellos die Schwäche ihres Ehemanns, denn es war deutlich zu spüren, dass sie ihn verabscheute und er befürchtete, sie zu verlieren.
»Ich will bis morgen früh dreißig Beutel Kartätschen für jedes Geschütz haben«, befahl Dodd.
»Aber die Rohre, Major!«, protestierte Joubert.
»Sie meinen, die könnten zerkratzt werden?«, höhnte Dodd. »Was wollen Sie, Monsieur? Ein zerkratztes Rohr und ein lebendes Regiment? Oder ein sauberes Geschütz und eine Reihe toter Männer? Bis morgen dreißig Schuss Kartätschen pro Geschütz, und wenn kein Platz in den Protzen ist, werfen Sie diese verdammten Kanonenkugeln raus. Da könnten Sie genauso gut mit Kirschkernen feuern wie mit diesen Kieselsteinen.« Dodd knallte den Deckel der Protze zu.
Selbst wenn die Geschütze behelfsmäßige Kartätschen abfeuerten, war er sich nicht sicher, ob er sie behalten wollte. Jedes Bataillon in Indien hatte solche Unterstützungsartillerie, doch nach Dodds Meinung dienten die Geschütze nur dazu, die Manöver eines Regiments zu verlangsamen. Sie waren schwerfällig, und der Viehbestand, der gebraucht wurde, um sie zu ziehen, war lästig. Und wenn er je seine eigene compoo bekommen würde, dann würde er die Regimenter von Feldgeschützen befreien, denn wenn sich ein Infanteriebataillon nicht mit Musketen verteidigen konnte, welchen Nutzen hatten sie dann? Aber jetzt war er mit fünf Geschützen belastet. So würde er sie als gigantische Schrotflinten benutzen und auf dreihundert Yards das Feuer eröffnen. Die Kanoniere würden über den Schaden bei den Rohren stöhnen, aber zum Teufel mit den Kanonieren!
Dodd inspizierte die Haubitze, fand sie so sauber wie die anderen Geschütze und nickte dem eingeborenen Kompanieführer der Artilleristen zu. Er sprach kein Lob aus, denn er hielt nichts davon, Männer zu loben, nur weil sie ihre Pflicht taten. Lob gebührte denjenigen, die ihre Pflicht übertrafen, Strafe denjenigen, die sie nicht erfüllten, und für den Rest war Schweigen bestimmt.
Als die fünf Geschütze inspiziert waren, ging Dodd langsam an den weiß berockten Gliedern der Infanterie vorbei, wo er jedem Mann in die Augen sah und seine grimmige Miene behielt, obwohl die Soldaten besonders darauf geachtet hatten, einen guten Eindruck auf ihren neuen befehlshabenden Offizier zu machen.
Captain Joubert folgte Dodd mit einem Schritt Abstand, und es war etwas Spaßiges am Anblick des großen, langbeinigen Dodd und des kleinen Joubert, der sich beeilen musste, um mit dem Engländer Schritt zu halten.
Dann und wann machte der Franzose eine Bemerkung. »Er ist ein guter Mann, Sir«, sagte er, als sie einen Soldaten passierten, doch Dodd ignorierte das Lob jedes Mal, und nach einer Weile verfiel Joubert in Schweigen und blickte nur finster auf Dodds Rücken. Dodd spürte die Abneigung des Franzosen, doch er machte sich nichts daraus.
Dodd war zwar beeindruckt, zeigte jedoch keinerlei Reaktion auf das Äußere des Regiments. Diese Männer waren smart, und ihre Waffen waren so sauber wie die seiner eigenen Sepoys, die jetzt, in neu ausgegebenen weißen Uniformröcken, als zusätzliche Kompanie an der linken Flanke des Regiments angetreten waren, wie in britischen Regimenten die Plänkler antraten. Die East India Company hatte keine Plänkler, denn man hielt die Sepoys für nicht gut genug darin, aber Dodd hatte sich entschlossen, seine loyalen Sepoys zu den besten Plänklern in Indien zu machen. Sollten sie der Company beweisen, dass sie sich mit ihrem Vorurteil irrte, und dadurch konnten sie helfen, die Company zu zerstören.
Die meisten der Männer blickten Dodd in die Augen, als er an ihnen vorbeiging, jedoch nur wenige lange, die meisten blickten schnell fort. Joubert sah die Reaktionen und sympathisierte mit den Männern, denn da war etwas ausgesprochen Unangenehmes an dem länglichen, grimmigen Gesicht des Engländers, vor dem man sich fürchten konnte. Joubert sagte sich, dass dieser Engländer vermutlich ein Peitscher war. Die Engländer waren berüchtigt dafür, die Peitsche zur Züchtigung gegen ihre eigenen Männer einzusetzen und Rotröcke blutig zu schlagen, doch Joubert irrte sich in der Annahme, dass Dodd auch zu diesen Schindern zählte. Major Dodd hatte nie in seinem Leben jemanden ausgepeitscht, und das nicht nur, weil die Company die Prügelstrafe in ihrer Armee verbot, sondern weil William Dodd das Auspeitschen verabscheute und es hasste, wenn Soldaten zur Strafe ausgepeitscht wurden.
Major Dodd mochte Soldaten. Er hasste die meisten Offiziere, besonders die im Rang über ihm, aber er mochte Soldaten. Gute Soldaten gewannen Schlachten, und Siege machten Offiziere berühmt, folglich brauchte ein Offizier zum Erfolg Soldaten, die ihn mochten und ihm folgen würden. Dodds Sepoys waren der Beweis dafür. Er hatte sich um sie gekümmert, dafür gesorgt, dass sie beköstigt und bezahlt wurden, und sie hatten ihm zu Siegen verholfen. Jetzt würde er sie im Dienst der Marathen-Prinzen, die für ihre Großzügigkeit berühmt waren, wohlhabend machen.
Er marschierte vom Regiment fort wieder zu dessen Fahnen, ein paar tiefgrünen Fahnen mit gekreuzten tulwars – gekrümmten Säbeln. Die Fahnen waren die Wahl von Colonel Mathers gewesen. Der Engländer hatte das Regiment fünf Jahre lang befehligt, bevor er in den Ruhestand getreten war, statt gegen seine eigenen Landsleute zu kämpfen, und jetzt war das Regiment als Dodds Regiment bekannt. Oder vielleicht sollte er es anders nennen? Die Tiger? Die Adler? Die Krieger von Sindhia? Der Name war jetzt nicht wichtig. Jetzt mussten diese neunhundert gut ausgebildeten Männer und ihre fünf glänzenden Geschütze sicher zurück zur Marathen-Armee gebracht werden, die sich im Norden versammelte.
Dodd drehte sich unter den Fahnen zu den Soldaten um.
»Mein Name ist Dodd!«, rief er. Er legte eine Pause ein, um einen der indischen Offiziere seine Worte in Marathi übersetzen zu lassen, eine Sprache, die Dodd nicht beherrschte. Nur wenige Soldaten sprachen Marathi, denn die meisten waren Söldner aus dem Norden, aber Männer in den Reihen murmelten ihre eigene Übersetzung, sodass Dodds Worte an den Reihen entlang weitergegeben wurden.
»Ich bin ein Soldat! Nichts als ein Soldat! Immer ein Soldat!«
Er legte wieder eine Pause ein. Die Parade wurde auf dem freien Platz zwischen dem Tor und einer Menge von Bürgern abgehalten, die sich versammelt hatten, um die Soldaten anzustarren, und unter der Menge waren arabische Söldner in wallendem Gewand verstreut, die als die grimmigsten aller Marathen-Soldaten galten. Es waren wild aussehende Männer, ausgerüstet mit jeder nur denkbaren Waffe, doch Dodd bezweifelte, dass sie die Disziplin seines Regiments hatten.
»Zusammen werden wir kämpfen und siegen!«, rief Dodd seinen Männern zu. Er hielt seine Worte einfach, denn Soldaten liebten stets einfache Dinge. Beute machen war einfach, gewinnen und verlieren waren simple Begriffe, und selbst der Tod war ein einfaches Konzept, obwohl die verdammten Prediger ihn mit gläubigem Geschwätz zu komplizieren versuchten. »Es ist meine Absicht«, rief er und wartete, bis die Übersetzung in den Reihen angekommen war, »das Regiment zum besten in Sindhias Diensten zu machen! Macht eure Sache gut, und ich werde euch belohnen! Macht ihr sie schlecht, werde ich eure Soldatenkameraden über eure Bestrafung entscheiden lassen.«
Das hörten sie gern, und Dodd wusste, dass es ihnen gefiel.
»Gestern haben die Briten unser Grenzgebiet überquert!«, rief Dodd. »Morgen wird ihre Armee hier in Ahmadnagar sein, und bald werden wir in einer großen Schlacht gegen sie kämpfen!« Er hatte sich entschlossen, nicht zu sagen, dass die Schlacht weit nördlich der Stadt stattfinden würde, denn das konnte die lauschenden Zivilisten entmutigen. »Wir werden sie nach Maisur zurücktreiben. Wir werden sie lehren, dass die Armee von Sindhia besser als jede ihrer Armeen ist. Wir werden siegen!«
Die Soldaten lächelten bei seiner Zuversicht.
»Wir werden ihre Schätze, ihre Waffen, ihr Land und ihre Frauen nehmen, und diese Dinge werden eure Belohnung sein, wenn ihr gut kämpft. Aber wenn ihr schlecht kämpft, werdet ihr sterben.« Dieser Satz schickte einen Schauder durch die weiß berockten Reihen. »Und wenn einer von euch sich als Feigling erweist«, endete Dodd, »werde ich ihn persönlich töten.«
Er ließ diese Drohung einwirken und befahl dann abrupt dem Regiment, zum Dienst wegzutreten. Dann forderte er Joubert auf, ihm die rote Treppe der Stadtmauer hinauf zu folgen, wo arabische Wächter hinter den Mauerzacken längs der Wehrgänge standen. Weit im Süden war am Horizont eine dunkle Wolke so gerade sichtbar. Sie konnte für eine ferne Regenwolke gehalten werden, doch Dodd vermutete, dass es der Rauch der britischen Lagerfeuer war.
»Wie lange wird die Stadt Ihrer Meinung nach standhalten?«, fragte Dodd Joubert.
Der Franzose überlegte. »Ein Monat?«, schätzte er.
»Seien Sie kein Narr«, schnaubte Dodd. Er legte Wert auf die Loyalität seiner Männer, aber die gute Meinung ihrer beiden europäischen Offiziere war ihm schnuppe. Beide waren Franzosen, und Dodd hatte die übliche Meinung des Engländers über die Franzmänner. Gute Tanzmeister und Experten im Binden eines steifen Kragens oder Arrangieren von Spitze an einer Uniform, aber in einem Kampf ungefähr so nützlich wie lahme Schoßhündchen. Lieutenant Sillière, der Joubert auf den Wehrgang gefolgt war, war groß und sah stark aus, doch Dodd misstraute einem Mann, der so großen Aufwand mit seiner Uniform trieb, und er hätte schwören können, dass er einen Hauch von Lavendelwasser aus dem sorgfältig gebürsteten Haar des jungen Lieutenants wahrgenommen hatte.
»Wie lang sind die Stadtmauern?«, fragte Dodd Joubert.
Der Captain dachte einen Moment nach. »Zwei Meilen?«
»Mindestens, und wie viele Männer sind in der Garnison?«
»Zweitausend.«
»Dann rechnen Sie es aus, Monsieur«, sagte Dodd. »Ein Mann alle zwei Yards? Wir werden Glück haben, wenn sich die Stadt drei Tage lang hält.«
Dodd kletterte zu einer der Bastionen, von wo aus er durch die Schießscharten zu der großen Festung blicken konnte, die nahe bei der Stadt stand. Diese zweihundert Jahre alte Festung war ein größeres Bollwerk als die Stadt, obwohl sie durch ihre Kleinheit verletzlich war, denn die Garnison der Festung war wie die der Stadt zu klein. Doch die hohen Wälle der Festung waren von einem breiten Graben umgeben, ihre Schießscharten strotzten von Kanonen, und ihre Bastionen waren hoch und stark, obwohl die Festung ohne die Stadt nichts wert war.
Die Stadt war der Preis, nicht die Festung, und Dodd bezweifelte, dass General Wellesley Männer gegen die Garnison der Festung verschwenden würde. Boy Wellesley würde die Stadt angreifen, die Wälle durchbrechen und seine Männer durch die Breschen schicken, um die Verteidiger in dem Gewirr der Gassen und Höfe abzuschlachten, und wenn erst die Stadt gefallen war, würden die Rotröcke Jagd auf die Vorräte machen, die helfen würden, die britische Armee zu ernähren.
Erst dann, wenn die Stadt eingenommen war, würde Wellesley seine Geschütze auf die Festung richten, und es war möglich, dass sie dem britischen Vorrücken zwei oder drei Wochen standhalten und dies Sindhia mehr Zeit verschaffen würde, seine Armee zusammenzuziehen. Je länger sich die Festung hielt, desto besser, denn der längst fällige Monsunregen könnte einsetzen und die Briten beim Vorrücken behindern.
Dodd war ganz sicher, dass Pohlmann recht gehabt hatte, als er gesagt hatte, dass der Krieg nicht hier gewonnen werden würde und dass es das Wichtigste für William Dodd sei, seine Männer heil von hier fortzubringen, damit sie am Sieg teilhaben konnten.
»Sie werden die Geschütze des Regiments und dreihundert Mann nehmen und das Nordtor der Festung mit Garnison belegen«, befahl Dodd Joubert.
Der Franzose runzelte die Stirn. »Sie meinen, die Briten werden im Norden angreifen?«
»Ich meine, Monsieur, dass die Briten hier im Süden angreifen werden. Unsere Befehle lauten, so viele zu töten, wie wir können, und uns dann zurückzuziehen, um uns Colonel Pohlmann anzuschließen. Wir werden uns durch das Nordtor zurückziehen, doch selbst ein Idiot kann voraussehen, dass die Hälfte der Stadtbewohner ebenfalls versuchen wird, durch das Nordtor zu entkommen. Ihre Aufgabe, Joubert, ist es, zu verhindern, dass uns die Bastarde den Weg blockieren. Ich habe vor, das Regiment zu retten, es nicht mit der Stadt zu verlieren. Das bedeutet, dass Sie das Feuer auf jeden Zivilisten eröffnen werden, der versucht, die Stadt zu verlassen, haben Sie verstanden?«
Joubert wollte etwas einwenden, doch ein Blick in Dodds Gesicht brachte ihn dazu, hastig zuzustimmen.
»Ich werde in einer Stunde am Nordtor sein«, sagte Dodd, »und Gott gnade Ihnen, Monsieur, wenn Ihre dreihundert Mann nicht in Position sind.«
Joubert eilte davon. Dodd schaute ihm nach und wandte sich dann an Sillière.
»Wann bekamen die Männer zum letzten Mal Sold?«
»Vor vier Monaten, Sir.«
»Wo haben Sie Englisch gelernt, Lieutenant?«
»Colonel Mathers bestand darauf, dass wir es sprechen, Sir.«
»Und wo hat Madame Joubert es gelernt?«
Sillière bedachte Dodd mit einem misstrauischem Blick. »Woher soll ich das wissen?«
Dodd rümpfte die Nase. »Riechen Sie nach Parfüm, Monsieur?«
»Nein!« Sillière schoss das Blut in die Wangen.
»Sorgen Sie dafür, dass Sie nie so stinken, Lieutenant. Und in der Zwischenzeit nehmen Sie Ihre Kompanie, suchen den Killadar und sagen ihm, er soll die Schatzkammer der Stadt aufbrechen. Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, brechen Sie das verdammt Ding mit Ihren Waffen selbst auf. Geben Sie jedem Mann Sold für drei Monate, und lassen Sie das restliche Geld auf Packtiere laden. Wir werden es mitnehmen.«
Sillière war erstaunt über den Befehl.
»Aber der Killadar, Monsieur ...«, begann er.
»Der Killadar, Monsieur, ist ein elender kleiner Mann mit den Eiern einer Maus! Sie sind ein Soldat. Wenn wir das Geld nicht nehmen, werden die Briten es bekommen. Gehen Sie jetzt!«
Dodd schüttelte ärgerlich den Kopf, als der Lieutenant davonging. Vier Monate ohne Sold! Ein solcher Lapsus war nicht ungewöhnlich, aber Dodd missbilligte ihn. Ein Soldat setzte sein Leben für sein Land aufs Spiel, und sein Land konnte ihn dafür als Gegenleistung wenigstens pünktlich bezahlen.
Dodd ging auf dem Wehrgang ostwärts, versuchte vorauszuahnen, wo die Briten ihre Batterien platzieren und wo sie eine Bresche schlagen würden. Es bestand immer die Möglichkeit, dass Wellesley an Ahmadnagar vorbei einfach nordwärts auf Sindhias Armee zumarschierte. Doch Dodd bezweifelte, dass der Feind diesen Kurs wählen würde, denn die Stadt und die Festung würden auf den britischen Nachschublinien liegen, und die Garnison konnte ein Chaos für die Konvois verursachen, die die Munition und die Verpflegung der Rotröcke transportierten.
Eine Menschentraube hatte sich auf der südlichsten Brustwehr versammelt, um zu der fernen Wolke zu spähen, welche die Anwesenheit der feindlichen Armee verriet.
Simone Joubert war darunter, beschirmte ihr Gesicht vor der Sonne mit einem Sonnenschirm.
Dodd nahm seinen Zweispitz ab. Er fühlte sich stets sonderbar unbeholfen bei Frauen, jedenfalls bei weißen, doch sein neuer Rang gab ihm ein ungewohntes Selbstvertrauen.
»Ich sehe, Sie sind gekommen, um den Feind zu beobachten, Ma’am«, sagte er.
»Ich mag es, über die Wälle zu spazieren, Major«, antwortete Simone. »Aber heute ist der Weg von Leuten blockiert, wie Sie sehen.«
»Ich kann Ihnen den Weg frei machen, Ma’am«, bot Dodd an und berührte den goldenen Griff seines neuen Säbels.
»Es ist nicht nötig, Major«, sagte Simone.
»Sie sprechen gut Englisch, Ma’am.«
»Das habe ich als Kind gelernt. Wir hatten eine walisische Gouvernante.«
»In Frankreich, Ma’am?«
»Auf der Iˆle de France, Monsieur«, sagte Simone. Sie sah dabei Dodd nicht an, sondern starrte in den hitzeflimmernden Süden.
»Mauritius«, sagte Dodd und gab der Insel den Namen, der von den Briten benutzt wurde.
»Die Île de France, Monsieur, wie ich gesagt habe.«
»Das ist sehr weit entfernt, Ma’am.«
Simone zuckte mit den Schultern. Insgeheim stimmte sie Dodd zu. Mauritius war weit entfernt, eine Insel vierhundert Meilen östlich von Afrika und der einzige anständige Marinestützpunkt im Indischen Ozean. Dort war sie als Tochter des Hafenkommandanten aufgewachsen, und als sie sechzehn gewesen war, hatte ihr dort Captain Joubert, der auf der Reise nach Indien gewesen war, wo er als Berater von Sindhia fungieren sollte, den Hof gemacht. Joubert hatte Simone mit Geschichten, zu welchem Reichtum man es in Indien bringen konnte, berauscht. Simone, gelangweilt von der kleinbürgerlichen Gesellschaft auf ihrer Insel, hatte sich von diesem Rausch hinwegtragen lassen. Dann hatte sie die Wirklichkeit erkannt: Captain Joubert war ein zaghafter, furchtsamer Mann, dessen verarmte Familie in Lyon seinen Verdienst beanspruchte, und das wenige, das übrig blieb, wurde eifrig gespart, damit der Captain sich in Frankreich behaglich zur Ruhe setzen konnte. Simone hatte ein Leben mit Partys und Juwelen, Tanzen und Seide erwartet, doch stattdessen wurde sie knapp gehalten und litt.
Colonel Pohlmann hatte ihr einen Weg aus der Armut aufgezeigt, und jetzt spürte sie, dass der schlaksige Engländer unbeholfen versuchte, ihr das gleiche Angebot zu machen, doch Simone hatte nicht vor, nur aus Langeweile die Mätresse eines Mannes zu werden. Da musste für sie schon Liebe im Spiel sein, und weil es ihr an jeder Liebe im Leben mangelte, kämpfte sie um Lieutenant Sillière, obwohl sie wusste, dass der Lieutenant fast wo wertlos wie ihr Ehemann war. Bei diesem Dilemma glaubte sie, wahnsinnig zu werden. Sie weinte darüber, und die Tränen bestärkten nur ihre Selbstdiagnose von Wahnsinn.
»Wann werden die Briten kommen, Major?«, fragte sie Dodd.
»Morgen, Ma’am. Übermorgen werden sie Batterien einrichten, dann zwei oder drei Tage anklopfen, ihre Bresche schlagen und dann reinkommen.«
Sie schaute Dodd unter dem Rand ihres Sonnenschirms an. Er war ein großer Mann, doch Simone konnte ihm in die Augen sehen.
»Sie werden die Stadt so schnell einnehmen?«, fragte sie und zeigte eine Spur von Besorgnis.
»Es gibt nichts, was sie aufhalten könnte, Ma’am, nicht genug Männer, nicht genügend Geschütze.«
»Und wie werden wir entkommen?«
»Indem Sie mir vertrauen, Ma’am«, sagte Dodd und grinste Simone anzüglich an. »Sie müssen nur Ihre Sachen packen, so viel wie auf den Packpferden, die Ihr Mann vielleicht besitzt, transportiert werden kann, und zum Aufbruch bereit sein, meine Liebe. Ich werde Ihnen vor dem Angriff eine Warnung schicken, und wenn Sie zum Nordtor gehen, werden sie Ihren Mann finden. Es würde natürlich helfen, Ma’am, wenn ich wüsste, wo Sie einquartiert sind.«
»Das weiß mein Mann, Monsieur«, erwiderte Simone kühl. »Wenn also die rosbifs eintreffen, brauche ich drei Tage nichts anderes zu tun, als zu packen?«
Dodd entging nicht, dass sie die verächtliche Bezeichnung der Franzosen für die Engländer benutzt hatte, entschloss sich aber, darüber hinwegzugehen. »Genau, Ma’am.«
»Danke, Major«, sagte Simone und machte eine Geste, sodass zwei Bedienstete, die Dodd in der Menschentraube nicht bemerkt hatte, zu ihr kamen, um sie zurück nach Hause zu begleiten.
»Kaltes Weibsstück«, murmelte Dodd vor sich hin, als sie fort war. »Aber sie wird auftauen, darauf wette ich.«
Die Dunkelheit brach schnell herein. Fackeln flackerten auf den Wehrgängen der Stadt und erhellten die geisterhaften Gewänder der arabischen Söldner, die auf den Bastionen patrouillierten. Kleine Opfergaben von Nahrungsmitteln und Blumen wurden vor die Statuen der Göttinnen und Götter in den vom Kerzenschein erhellten Tempeln gelegt. Die Stadtbewohner beteten darum, verschont zu werden, während im Süden ein schwaches Glühen am Himmel verriet, dass eine rot berockte Armee gekommen war, um Ahmadnagar Tod und Verderben zu bringen.
Lieutenant Colonel Albert Gore hatte nach Sir Arthur Wellesley das Kommando über das 33. Bataillon des Königs übernommen, und es war kein glückliches Bataillon gewesen, als Gore eintraf. Das war nicht Sir Arthurs Schuld, denn er hatte längst das Bataillon verlassen gehabt, um höhere Aufgaben zu übernehmen, doch in seiner Abwesenheit war das 33. von Major John Shee befehligt worden, der ein unfähiger Trunkenbold gewesen war. Shee war gestorben, Gore hatte das Kommando erhalten, und jetzt besserte er langsam den Schaden aus.
Diese Besserung hätte viel schneller gehen können, wenn Gore in der Lage gewesen wäre, einige der Offiziere des Bataillons loszuwerden. Einer dieser Offiziere war der faule und unehrenhafte Captain Morris von der Leichten Kompanie, doch Gore war in dieser Sache hilflos. Morris hatte sein Offizierspatent gekauft, aber er hatte sich keine Vergehen gegen die Vorschriften des Königs zuschulden kommen lassen, und deshalb musste er bleiben. Und mit ihm blieb der böswillige, geistig gestörte, feige Sergeant Obadiah Hakeswill, in dessen Gesicht es ständig zuckte.
»Sharpe war immer schon ein übler Kerl, Sir. Eine Schande für die Armee, Sir«, sagte Hakeswill zum Colonel. »Er hätte niemals zum Sergeant gemacht werden dürfen, Sir, denn er hat nicht das Zeug, aus dem Sergeants gemacht sind, Sir. Er ist nichts als ein Stück Dreck, der nicht mal Corporal sein sollte, geschweige denn Sergeant. So steht es in der Bibel, Sir.«
Der Sergeant stand kerzengerade still, den rechten Fuß hinter dem linken, die Hände an den Seiten. Seine Stimme dröhnte in dem kleinen Raum und übertönte das Prasseln des Regens.
Gore fragte sich, ob der Regen der verspätete Anfang des Monsuns war. Er hoffte es, denn wenn der Monsun ausblieb, würde es im folgenden Jahr viel Hunger in Indien geben.
Gore beobachtete eine Spinne, die über den Tisch kroch. Das Haus gehörte einem Lederhändler, der es dem 33. Bataillon vermietet hatte, solange es in Arrakerry stationiert war, und hier wimmelte es von Insekten, die krochen, flogen, schlichen und stachen, und Gore, ein anspruchsvoller und eleganter Mann, hätte lieber seine Zelte benutzt.
»Erzählen Sie mir, was geschehen ist«, sagte Gore zu Morris. »Noch einmal in aller Ruhe, wenn Sie so freundlich wären.«
Morris, der in nachlässiger Haltung auf einem Stuhl vor Gores Tisch saß und einen dicken Verband um seinen Kopf trug, schien von der Aufforderung überrascht zu sein, doch er richtete sich auf und zuckte leicht mit den Schultern.
»Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, Sir. Es war vor zwei Nächten, in Seringapatam, und ich wurde geschlagen, Sir.«
Gore wischte die Spinne beiseite und machte eine Notiz. »Geschlagen«, sagte er, als er das Wort mit seiner gestochenen Handschrift notierte. »Wo genau?«
»Auf den Kopf, Sir«, antwortete Morris.
Gore seufzte. »Das sehe ich, Captain. Ich meinte, wo in Seringapatam?«
»Bei der Waffenkammer, Sir.«
»Und es war Nacht?«
Morris nickte.
»Stockfinstere Nacht, Sir«, warf Hakeswill hilfreich ein. »So schwarz wie der Hintern eines Mohren, Sir.«
Der Colonel runzelte die Stirn bei der Geschmacklosigkeit des Sergeants. Gore widerstand dem Drang, eine Hand unter seinen Uniformrock zu schieben und sich am Bauch zu kratzen. Er befürchtete, dass er sich die Malabar-Krätze eingefangen hatte, eine üble Beschwerde, die ihn dazu verdammen würde, wochenlang eine Salbe aus Schweineschmalz auf seine Haut aufzutragen, und wenn das nicht half, würde er Bäder mit einer Lösung aus Salpetersäure nehmen müssen.
»Wenn es dunkel war«, sagte er geduldig, »dann haben Sie den Angreifer gewiss nicht sehen können?«
»Ich habe nichts sehen können«, erwiderte Morris wahrheitsgemäß.
»Aber ich habe ihn gesehen«, sagte Hakeswill, »und es war Sharpie. Habe ihn klar und deutlich wie bei Tageslicht gesehen, Sir.«
»Des Nachts?«, fragte Gore skeptisch.
»Er arbeitete spät, Sir, weil er nicht sein Tagewerk im Hellen gemacht hat, wie ein Christ es tun sollte«, sagte Hakeswill. »Und so öffnete er die Tür, Sir, und die Laterne war an, und er kam heraus und schlug den Captain, Sir.«
»Und Sie haben das gesehen?«
»So klar, wie ich Sie jetzt sehen kann, Sir«, sagte Hakeswill, und in seinem Gesicht zuckte es heftig.
Gore strich mit der Hand über die Knöpfe seiner Uniformjacke, weil es darunter juckte. »Wenn Sie es gesehen haben, Sergeant, warum haben Sie dann Sharpe nicht festgenommen? Da waren doch sicher Posten anwesend?«
»Es war wichtiger, dem Captain das Leben zu retten, Sir. Das dachte ich jedenfalls. Ihn hierher zu bringen, in Mister Micklewhites Obhut. Ich traue keinem anderen Chirurgen, Sir. Und ich musste Mister Morris säubern, Sir, das habe ich getan.«
»Säubern? Vom Blut, meinen Sie?«
Hakeswill schüttelte den Kopf. »Von den Substanzen, Sir.« Während er sprach, starrte er ausdruckslos über Colonel Gores Kopf hinweg.
»Substanzen?«
In Hakeswills Gesicht zuckte es. »Verzeihen Sie, Sir, da Sie ein Gentleman sind, werden Sie es nicht hören wollen, Sir. Ein voller Nachttopf, Sir, mit flüssigen und festen Substanzen.«
»O Gott«, sagte Gore, legte seine Schreibfeder hin und versuchte, das heftige Jucken an seinem Bauch zu ignorieren. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie nichts in Seringapatam unternommen haben«, sagte der Colonel. »Sie hätten es sicherlich dem diensthabenden Major der Stadt sagen sollen, oder?«
»Das ist der springende Punkt, Sir«, sagte Hakeswill, »weil es keinen Major der Stadt gibt, Sir, keinen richtigen. Major Stokes erfüllt die Pflichten, Sir, und den Rest erledigt der Killadar des Radschas. Und ich mag nicht sehen, wie ein Rotrock von einem Nigger verhaftet wird, nicht einmal Sharpe. Das wäre nicht richtig. Und Major Stokes würde nicht helfen, Sir. Er mag Sharpe, verstehen Sie? Er lässt ihn bequem leben, aus dem Fett des Landes, Sir, wie es in der Bibel steht. Er hat eine Zimmerflucht und eine bibbi und auch einen Diener. Das ist nicht richtig, Sir. Zu luxuriös, Sir, während wir anderen schwitzen wie die Soldaten.«
Die Erklärung machte in gewisser Weise Sinn. Gore nahm jedenfalls an, dass sie für Sergeant Hakeswill überzeugend war. Doch da war immer noch etwas Merkwürdiges an der ganzen Geschichte.
»Was haben Sie in der Dunkelheit bei der Waffenkammer gesucht, Captain?«
»Ich habe mich vergewissern wollen, ob die volle Anzahl Wagen dort ist, Sir«, antwortete Morris. »Sergeant Hakeswill informierte mich, dass einer fehlt.«
»Und? Hat er gefehlt?«
»Nein, Sir«, sagte Morris.
»Ich muss mich verzählt haben, weil es so dunkel war, Sir«, sagte Hakeswill.
Der Sergeant hatte Morris tatsächlich nach Einbruch der Dunkelheit zu der Waffenkammer gerufen, und dort hatte er den Captain mit einem Holzknüppel niedergeschlagen und anschließend dem Bewusstlosen den Inhalt eines Nachttopfs, den Major Stokes außerhalb seines Büros zurückgelassen hatte, über den Kopf geschüttet. Die Posten hatten im Wachlokal Schutz vor dem Regen gesucht, und niemand hatte Fragen gestellt, als Hakeswill den bewusstlosen Morris zu seinem Quartier geschleppt hatte, denn es kam öfter vor, dass betrunkene Offiziere von Sergeants oder Privates zum Schlafen gebracht wurden. Das Wichtigste war, dass Morris nicht gesehen hatte, von wem er niedergeschlagen worden war. Deshalb glaubte er Hakeswills Version der Ereignisse, denn er verließ sich ohnehin bei allem auf Hakeswill.
»Ich mache mir selbst Vorwürfe, Sir«, fuhr Hakeswill fort, »weil ich Sharpie nicht gejagt habe, aber ich hielt es für meine Pflicht, mich um den Captain zu kümmern, Sir, weil er vom Inhalt des Nachttopfes besudelt war, und ich dachte, als der Captain stank wie ...«
»Das reicht, Sergeant!«, sagte Gore.
»Es war nicht christlich, was Sharpe da getan hat, Sir«, murmelte Hakeswill angewidert. »Man schlägt keinen Captain mit einem Nachttopf nieder. Das steht schon in der Bibel.«
Gore rieb sich übers Gesicht. Der Regen hatte die feuchte Hitze gemildert, aber nicht viel, und er empfand die Atmosphäre schrecklich bedrückend. Vielleicht war das Jucken nur eine Reaktion auf die Schwüle. Er rieb sich über den Bauch, aber es half nichts.
»Weshalb sollte Sharpe Sie ohne Vorwarnung angreifen, Captain?«, fragte er.
Morris zuckte mit den Schultern. »Er ist ein übler Kerl, Sir.«
»Sharpie hat den Captain nie gemocht, Sir«, sagte Hakeswill, »und ich glaube, er hat befürchtet, der Captain befielt ihn wieder zurück zum Bataillon, wo er Soldat sein müsste, anstatt auf der Butterseite zu leben. Das will er nicht, er lebt lieber in Saus und Braus, und dazu hat er kein Recht, Sir. Sharpe hat noch nie gewusst, wohin er gehört. Hat sich immer überschätzt, das Großmaul, und er hat Geld in den Taschen, geklautes und ergaunertes.«
Gore ignorierte die letzte Beschuldigung.
»Wie schlimm sind Sie verletzt?«, fragte er Morris.
»Nur Schrammen und Platzwunden, Sir.« Morris richtete sich auf dem Stuhl auf. »Aber es war immer noch ein tätlicher Angriff auf einen Offizier, der vom Kriegsgericht bestraft wird, Sir.«
»Ein Kapitalverbrechen, Sir«, bekräftigte Hakeswill. »Dafür gehört er an die Wand gestellt, und Gott gnade seiner schwarzen Seele, aber ich bezweifle, dass Gott dafür Zeit hat, denn er hat Besseres zu tun, als sich um elenden Abschaum wie Sharpie zu kümmern.«
Gore seufzte. Er argwöhnte, dass viel mehr an der Geschichte war, die er gehört hatte, doch trotz der wahren Fakten hatte Captain Morris immer noch recht. Alles, was zählte, war der Umstand, dass Sharpe beschuldigt wurde, einen Offizier niedergeschlagen zu haben, und keine Ausrede der Welt würde solch eine Straftat entschuldigen können. Was bedeutete, dass Sergeant Sharpe verurteilt und vermutlich erschossen werden würde. Und Gore würde das bedauern, denn er hatte einiges sehr Gutes über den jungen Sergeant Sharpe gehört.
»Ich hatte große Hoffnungen in Sergeant Sharpe«, sagte der Colonel betrübt.
»Er ist endgültig durchgedreht, Sir«, behauptete Hakeswill. »Nur weil er die Mine in Seringapatam in die Luft gejagt hat, glaubt er, er hätte Flügel und könne fliegen. Seine Federn müssen unbedingt beschnitten werden, Sir, so steht es schon in der Bibel.«
Gore blickte geringschätzig zu dem Sergeant, in dessen Gesicht es heftig zuckte.
»Und was haben Sie bei dem Angriff in der Stadt getan, Sergeant?«, fragte er.
»Meine Pflicht, Sir, meine Pflicht«, antwortete Hakeswill, »was alles ist, was ich stets von jedem anderen Mann erwarte, Sir.«
Gore schüttelte unwillkürlich den Kopf. Es gab wirklich keinen Weg aus dem Dilemma. Wenn Sharpe einen Offizier geschlagen hatte, dann musste er bestraft werden.
»Ich nehme an, er muss hierher geholt werden«, sagte er.
»Selbstverständlich«, stimmte Morris zu.
Gore runzelte ärgerlich die Stirn. Dies alles war ein verdammtes Ärgernis. Gore hatte inbrünstig gehofft, dass das 33. Bataillon Wellesleys Armee zugeteilt werden würde, die im Begriff war, ins Marathen-Gebiet vorzustoßen. Stattdessen hatte das Bataillon den Befehl erhalten, zurückzubleiben und Maisur vor den Banditen zu schützen, die immer noch in den Straßen und Hügeln ihr Unwesen trieben. Gore würde einen Trupp abkommandieren müssen, um Sergeant Sharpe festzunehmen.
»Captain Lawford könnte ihn festnehmen«, überlegte er laut.
»Das ist kaum ein Job für einen Offizier, Sir«, sagte Morris. »Ein Sergeant könnte das ebenso gut tun.«
Gore dachte darüber nach. Wenn er einen Sergeant schickte, würde das gewiss weniger störend für das Bataillon sein, als einen Offizier zu entbehren, und ein Sergeant konnte die Aufgabe bestimmt so gut wie jeder andere erledigen.
»Wie viele Männer würde er brauchen?«, fragte Gore.
»Sechs Mann«, antwortete Hakeswill wie aus der Pistole geschossen. »Ich könnte die Aufgabe mit sechs Männern erledigen.«
»Und Sergeant Hakeswill ist der beste Mann für diese Mission«, drängte Morris. Er bedauerte, die paar Tage, die es dauern würde, Sharpe zu holen, auf Hakeswill Dienste verzichten zu müssen, doch der Sergeant hatte angedeutet, dass bei dieser Sache Geld zu machen war. Morris war sich nicht sicher, wie viel Geld, doch er hatte Schulden, und Hakeswill war sehr überzeugend gewesen. »Bei Weitem der beste Mann«, fügte er hinzu.
»Weil ich die durchtriebenen Tricks dieses verdammten Scheißers kenne, Sir, wenn sie mein Hindi verzeihen«, sagte Hakeswill.
Gore nickte. Nichts war ihm lieber, als Hakeswill eine Weile loszuwerden, denn der Mann hatte einen schlechten Einfluss auf das Bataillon. Hakeswill war verhasst, so viel hatte Gore erfahren, doch er wurde auch gefürchtet, denn der Sergeant behauptete, dass er unsterblich sei. Er hatte einmal am Galgen gehangen und überlebt, und die Narbe des Henkersstricks war jetzt unter dem steifen Lederkragen verborgen. Die Männer glaubten, Hakeswill stehe unter dem Schutz eines teuflischen Engels. Der Colonel wusste, dass dies Blödsinn war, dennoch fühlte er sich in der Anwesenheit des Sergeants unbehaglich.
»Ich werde von meinem Schreiber die Marschbefehle für Sie ausstellen lassen, Sergeant«, sagte der Colonel.
»Danke, Sir«, erwiderte Hakeswill. »Sie werden es nicht bereuen, Sir. Obadiah Hakeswill hat noch niemals seine Pflicht versäumt, nicht wie jemand, den ich benennen könnte.«
Gore ließ den Sergeant wegtreten.
Hakeswill wartete auf der Veranda des Hauses auf Morris und beobachtete, wie der Regen vom Dach auf die Straße prasselte. Im Gesicht des Sergeants zuckte es, und in seinen Augen funkelte es so bösartig, dass der Posten an der Haustür unwillkürlich zurückwich. Aber in Wirklichkeit war Obadiah Hakeswill in diesem Augenblick ein glücklicher Mann. Gott hatte ihm Richard Sharpe in die Hände gespielt, und er würde Sharpe alles heimzahlen, was er ihm in den letzten paar Jahren angetan hatte, besonders den entsetzlichen Moment, in dem ihn Sharpe unter die Tiger Tippu Sultans gestoßen hatte.
Hakeswill hatte geglaubt, die Bestien würden über ihn herfallen und ihn zerreißen, doch sein Glück hatte angehalten, und die Tiger hatten ihn ignoriert. Anscheinend hatten sie kurze Zeit zuvor gefressen, und so hatte ihn der Schutzengel wieder einmal retten können.
Und jetzt würde Obadiah Hakeswill seine Rache bekommen. Er würde sechs Männer auswählen, denen er vertrauen konnte, und sie würden Sergeant Sharpe jagen und festnehmen, und danach, auf dem Rückweg nach Seringapatam, wo es keine Zeugen gab, würden sie Sharpes Geld finden und ihn erledigen. Erschossen bei einem Fluchtversuch, das würde die Erklärung sein, so würden sie ihn perfekt los sein.
Hakeswill war glücklich, und Sharpe war zum Sterben verdammt.
Colonel McCandless führte Sharpe nach Norden durch die Wildnis, wo die Grenzen von Haidarabad, Maisur und den Marathen-Staaten aneinander stießen.
»Bis ich etwas anderes erfahre, nehme ich an, dass unser Verräter in Ahmadnagar steckt«, sagte McCandless zu Sharpe.
»Was ist das, Sir? Eine Stadt?«
»Eine Stadt und eine Festung neben der anderen«, sagte der Colonel. McCandless’ großer Wallach schien die Meilen zu fressen, während Sharpes kleinere Stute einen schwerfälligeren Ritt bot.
Binnen einer Stunde, nachdem sie Seringapatam verlassen hatten, schmerzten Sharpes Muskeln, und nach zwei Stunden hatte er das Gefühl gehabt, dass seine Oberschenkel brannten. Am späten Nachmittag hatte das Leder der Steigbügel seine Hose aufgescheuert, und seine Waden hatten Schwielen.
»Es ist eine von Sindhias Festungen im Grenzgebiet«, fuhr der Colonel fort, »doch ich bezweifle, dass er sie lange halten kann. Wellesley plant, sie einzunehmen und dann im Norden zuzuschlagen.«
»Wir ziehen also in den Krieg, Sir?«
»Selbstverständlich.« McCandless runzelte die Stirn. »Beunruhigt Sie das?«
»Nein, Sir«, sagte Sharpe, und das entsprach der Wahrheit. Er hatte in Seringapatam ein gutes Leben, vielleicht das beste, das sich jeder Soldat irgendwo wünschen konnte, doch in den vier Jahren zwischen dem Fall von Seringapatam und dem Massaker von Chasalgaon hatte Sharpe kein Pulver gerochen, und ein Teil von ihm war neidisch auf seine alten Kameraden beim 33. Bataillon, die in Scharmützeln gegen die Banditen und Schurken kämpften, die im westlichen Maisur ihr Unwesen trieben.
»Wir werden gegen die Marathen kämpfen«, sagte McCandless. »Sie wissen, wer das ist?«
»Ich habe hört, dass es verdammte Bastarde sind, Sir.«
McCandless runzelte missbilligend die Stirn bei Sharpes rüder Ausdrucksweise. »Sie sind eine Konföderation von unabhängigen Staaten, Sharpe, die einen großen Teil von Westindien beherrschen«, sagte er tadelnd. »Sie sind ebenfalls kriegerisch, räuberisch und nicht vertrauenswürdig, abgesehen natürlich von denen, die unsere Verbündeten sind, die romantisch, tapfer und heldenhaft sind.«
»Einige sind auf unserer Seite, Sir?«
»Ein paar. Der Peshwa, zum Beispiel, und er ist Titularführer, aber sie nehmen ihn wenig zur Kenntnis. Andere halten sich aus diesem Krieg fern, aber zwei der größten Prinzen haben sich zum Kampf entschlossen. Einer heißt Sindhia, und er ist der Maharadscha von Gwalior, und der andere wird Bhonsla genannt, und er ist der Radscha von Berar.«
Sharpe versuchte, sich in den Steigbügeln aufzustellen, um den Schmerz beim Sitzen zu mildern, doch es verschlimmerte nur das Wundreiben seiner Waden.
»Und was ist der Streitpunkt zwischen uns und den beiden, Sir?«
»Sir haben in letzter Zeit Haidarabad und Maisur überfallen, und es wird Zeit, dass wir das ein für alle Mal beenden.«
»Und Lieutenant Dodd hat sich ihrer Armee angeschlossen, Sir?«
»Nach dem, was ich hörte, hat er sich Sindhias Armee angeschlossen. Aber ich habe nicht viel gehört.«
Der Colonel hatte Sharpe bereits erklärt, dass er die Ohren offen gehalten hatte, um Neuigkeiten über Dodd zu erfahren, seit der Lieutenant seine Sepoys überredet hatte, zum Feind überzulaufen. Doch dann war die schreckliche Nachricht aus Chasalgaon gekommen, und McCandless, der nordwärts gereist war, um sich Wellesleys Armee anzuschließen, hatte Sharpes Namen in dem Bericht gesehen und war nach Süden, nach Seringapatam, zurückgeeilt.
Zur selben Zeit hatte er einige seiner eigenen Marathen-Agenten nach Norden geschickt, um Dodds Aufenthaltsort ausfindig zu machen.
»Wir sollten heute auf diese Typen stoßen«, sagte der Colonel. »Oder spätestens morgen.«
Der Regen hatte nicht aufgehört, war jedoch nicht mehr so stark. Schlamm spritzte an den Flanken der Pferde hoch und auf Sharpes Stiefel und die weiße Uniformhose. Er versuchte, sich seitlich hinzusetzen, versuchte, sich nach vorn oder nach hinten zu neigen. Doch der Schmerz hörte nicht auf. Er hatte noch niemals Pferde gemocht, doch jetzt hasste er sie.
»Ich möchte wieder auf Lieutenant Dodd stoßen, Sir«, sagte er, als sie unter tropfenden Bäumen ritten.
»Seien Sie vorsichtig bei ihm, Sharpe«, warnte McCandless. »Er hat einen üblen Ruf.«
»Weshalb, Sir?«
»Als Kämpfer natürlich. Er ist kein schlechter Soldat. Ich habe ihn natürlich nicht kennen gelernt, aber ich habe Geschichten über ihn gehört. Er ist oben im Norden gewesen, hauptsächlich in Kalkutta, und hat sich dort einen guten Namen gemacht. Er war als Erster über den Pettah-Wall bei Panhapur. Das ist kein besonderer Wall, Sharpe, eigentlich nur ein Dickicht aus Kakteen, aber seine Sepoys brauchten fünf Minuten, um ihm zu folgen, und als sie ihn schließlich erreichten, hatte er schon ein Dutzend Feinde getötet. Er ist ein großer Mann, der gut mit dem Säbel umgehen kann und auch ein guter Pistolenschütze ist. Er ist, kurz gesagt, ein Killer.«
»Wenn er so gut ist, Sir, warum ist er dann immer noch Lieutenant?«
Der Colonel seufzte. »Ich befürchte, das liegt an der Armee der Company, Sharpe. Ein Mann kann sich den Weg hinauf auf der Leiter nicht erkaufen wie in der Armee des Königs, und es gibt keine Beförderung für guten Dienst. Es geht alles nach dem Dienstalter. Ungeduldig erwartetes Erbe, Sharpe. Man muss in der Company warten, bis man dran ist, anders geht es nicht.«
»Und Dodd hat gewartet, Sir?«
»Lange Zeit. Er ist jetzt vierzig, und ich bezweifle, dass er weit vor fünfzig Captain werden würde.«
»Ist er deshalb desertiert, Sir?«
»Er ist wegen des Mordes desertiert. Er behauptete, ein Goldschmied hätte ihn um Geld betrogen, und seine Männer schlugen den Mann so brutal zusammen, dass der Arme starb. Dodd kam natürlich vors Kriegsgericht, erhielt als Strafe aber nur sechs Monate ohne Sold. Nur sechs Monat ohne Sold, Sharpe, das ist wie das Gutheißen von Mord! Doch Wellesley bestand darauf, dass die Company ihn entlässt, und er plante, Dodd vor ein ziviles Gericht zu bringen, das ihn zum Tode verurteilt hätte, und da beging Dodd Fahnenflucht.« Der Colonel schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Ich wünschte, ich könnte sagen, wir verfolgen ihn wegen des Mordes, Sharpe, aber das ist nicht der Fall. Wir verfolgen ihn, weil er seine Männer zum Desertieren überredet hat. Wenn das erst Schule macht, könnte es nie aufhören, und wir müssen den anderen Sepoys zeigen, dass Fahnenflucht stets bestraft wird.«
Kurz vor Einbruch der Nacht, als der Regen aufhörte und Sharpe fast seine Qual hinausgeschrien hätte, weil seine Muskeln schmerzten und seine Waden bluteten, näherte sich ein Reitertrupp. Für Sharpe sahen die Reiter wie silladars aus, wie Söldner, die ihre Dienste, Waffen und Pferde an die britische Armee verkauften, und er zog seine Stute an den linken Straßenrand, um den schwer bewaffneten Männern Platz zu machen, doch deren Führer verlangsamte und hob grüßend eine Hand.
»Colonel!«, rief er.
»Sevajee!« McCandless gab seinem Pferd die Sporen und ritt dem Inder entgegen. Er streckte die Hand aus, und Sevajee ergriff sie.
»Sie haben Neuigkeiten?«, fragte McCandless.
Sevajee nickte. »Ihr Freund ist in Ahmadnagar, Colonel. Er hat das Kommando über Mathers’ Regiment erhalten.« Er grinste breit und zeigte gelbliche Zähne. Er war ein junger Mann, bekleidet mit den Überresten einer hellblauen Uniform, die Sharpe nicht kannte. Der Uniformrock hatte europäische Epauletten, eine weiße Seidenschärpe und darunter ein Koppel mit Säbelscheide, beides fleckig von getrocknetem Blut.
»Sergeant Sharpe«, stellte McCandless vor, »dies ist Syud Sevajee.«
Sharpe nickte grüßend. »Sahib«, sagte er, denn da war etwas an Syud Sevajees Verhalten, das darauf schließen ließ, dass er ein Mann von Stand war.
»Der Sergeant hat Lieutenant Dodd gesehen«, erklärte McCandless. »Er wird sicherstellen, dass wir den richtigen Mann gefangen nehmen.«
»Killt die Europäer, und ihr werdet sicher sein«, sagte Sevajee, und Sharpe hatte den Eindruck, dass es nicht wirklich im Scherz gemeint war.
»Ich will ihn lebend gefangen nehmen«, sagte McCandless gereizt, »damit Gerechtigkeit geschehen kann. Oder möchten Sie lieber glauben, dass ein britischer Offizier einen Mann totschlagen kann, ohne bestraft zu werden?«
»Das glauben wir ohnehin«, sagte Sevajee leichthin, »aber wenn Sie Skrupel haben sollten, McCandless, dann werden wir Mister Dodd gefangen nehmen.« Sevajees Männer, ein Dutzend wild aussehende Krieger, bewaffnet mit allem, vom Pfeil und Bogen bis zu Lanzen, hatten hinter McCandless ihre Pferde gezügelt.
»Syud Sevajee ist ein Marathi, Sharpe«, erklärte McCandless.
»Einer der romantischen, Sir?«
»Romantisch?« Sevajee wiederholte das Wort überrascht.
»Er steht auf unserer Seite, wenn es das ist, was Sie meinen«, sagte McCandless.
»Nein«, beeilte sich Sevajee, den Colonel zu korrigieren, »ich bin ein Gegner von Beny Singh, und solange er lebt, helfe ich den Feinden meines Feindes.«
»Warum ist dieser Mann Ihr Feind, Sir, wenn Ihnen die Frage nichts ausmacht?«, fragte Sharpe.
Sevajee berührte den Griff seines tulwar, als sei es ein Fetisch. »Weil er meinen Vater umgebracht hat, Sergeant.«
»Dann hoffe ich, dass Sie den Bastard schnappen, Sir.«
»Sharpe!«, fuhr McCandless ihn tadelnd an.
Sevajee lachte. »Mein Vater«, erklärte er Sharpe, »führte eine der compoos des Radschas von Berar. Er war ein großer Krieger, Sergeant, und Beny Singh war sein Rivale. Er lud meinem Vater zu einem Fest ein und servierte ihm Gift. Das war vor drei Jahren. Meine Mutter beging Selbstmord, doch mein jüngerer Bruder dient Beny Singh, und meine Schwester ist eine seiner Konkubinen. Auch sie werden sterben.«
»Und Sie sind entkommen, Sir?«, fragte Sharpe.
»Ich diente in der Kavallerie der East India Company, Sergeant«, antwortete Sevajee. »Mein Vater glaubte, dass man seinen Feind kennen muss, und so schickte er mich nach Madras.«
»Wo wir uns kennen lernten«, sagte McCandless brüsk, »und jetzt dient Sevajee mir.«
»Weil ihr Briten als Gegenleistung Beny Singh meiner Rache ausliefern werdet«, erklärte Sevajee. »Und mit ihm natürlich die Belohnung für Dodd. Viertausendzweihundert Rupien sind es doch?«
»Solange er lebend geschnappt wird«, sagte McCandless streng, »und die Prämie könnte erhöht werden, wenn der Vorstand hört, was er in Chasalgaon getan hat.«
»Und ich hätte ihn fast geschnappt«, sagte Sevajee und schilderte, wie er und seine paar Männer Ahmadnagar besucht und sich als brindarries ausgegeben hatten, die loyal zu Sindhia waren.
»Brindarries?«, fragte Sharpe.
»Wie silladars«, antwortete McCandless. »Freischaffende Reiter.« Er wandte sich an Sevajee. »Und Sie haben Dodd gesehen?«
»Ich habe ihn gehört, Colonel, bin aber nie nahe am ihn herangekommen. Er hielt eine Ansprache vor seinem Regiment, sagte den Männern, wie er die Briten aus Indien hinausfegen wird.«
»Er kann von Glück sagen, wenn er aus Ahmadnagar entkommt«, sagte McCandless spöttisch. »Warum ist er dort gewesen?«
»Vielleicht, um Pohlmann eine Chance zum Angriff zu geben«, mutmaßte Sevajee. »Seine compoo war bis vor ein paar Tagen noch nahe bei Ahmadnagar.«
»Nur eine compoo, Sir?«, fragte Sharpe. »Eine compoo wird Wellesley nicht besiegen.«
Sevajee bedachte ihn mit einem langen, spekulativen Blick.
»Pohlmann, Sergeant, ist der beste Infanterieführer in indischen Diensten«, sagte er. »Er hat keine Schlacht verloren, und seine compoo ist vermutlich die beste Infanterie in Indien. Sie ist zahlenmäßig bereits größer als Wellesleys Armee, aber wenn Sindhia seine anderen compoos freigibt, wird das Verhältnis zu Wellesleys Armee drei zu eins sein. Und wenn Sindhia wartet, bis die Truppen des Radschas von Berar bei ihm sind, wird es zehn zu eins sein.«
»Weshalb greifen wir dennoch an, Sir?«, fragte Sharpe.
»Weil wir gewinnen werden«, sagte McCandless bestimmt. »Gottes Wille.«
»Weil ihr Briten denkt, ihr seid unbesiegbar, Sergeant«, sagte Sevajee. »Ihr glaubt, ihr könnt nicht besiegt werden, aber ihr habt noch nicht gegen die Marathen gekämpft. Eure kleine Armee marschiert voller Zuversicht nach Norden, aber ihr seid wie Mäuse, die einen Elefanten wecken.«
»Und was für Mäuse!«, schnaubte McCandless.
»Und was für ein Elefant«, entgegnete Sevajee freundlich. »Wir sind die Marathen, und wenn wir uns nicht untereinander bekämpfen würden, dann würden wir ganz Indien beherrschen.«
»Ihr habt es noch nicht mit der schottischen Infanterie zu tun bekommen«, sagte McCandless zuversichtlich, »und Wellesley hat zwei schottische Regimenter bei sich. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Stevenson ebenfalls eine Armee hat und nicht sehr weit entfernt ist.«
Zwei Armeen, beide klein, machten eine Invasion gegen die Marathen-Konföderation, und Wellesley als ranghöchster Offizier hatte die Kontrolle über beide.
»Ich nehme an, die Maus wird euch noch zu schaffen machen«, sagte McCandless.
Sie verbrachten die Nacht in der Ortschaft. Im Norden, gerade jenseits des Horizonts, glühte der Himmel rötlich vom Widerschein der Flammen von Tausenden Lagerfeuern, das Anzeichen dafür, dass die britische Armee nur einen kurzen Marsch entfernt war.
McCandless feilschte mit Sevajee um Essen und Unterkunft und runzelte die Stirn, als er einen Krug starken, örtlichen Arrak kaufte.
Sevajee ignorierte die Missbilligung des Schotten und schloss sich dann seinen Männern an, die sich in der Taverne des Ortes am Spieltisch vergnügen wollten.
McCandless schüttelte den Kopf. »Er kämpft aus Söldnermotiven, nichts anderes.«
»Das und Rache, Sir.«
»Ja, er will sich rächen, das gestehe ich ihm zu, doch wenn er seine Rache hat, wird er sich gegen uns wenden wie eine Schlange.« Der Colonel rieb sich über die Augen. »Er ist trotz dem von Nutzen, aber ich wünschte, ich hätte mehr Zuversicht bei dieser ganzen Sache.«
»Bei diesem Krieg, Sir?«
McCandless schüttelte den Kopf. »Den werden wir gewinnen. Es zählt nicht, dass sie uns zahlenmäßig überlegen sind. Sie können uns nicht niederkämpfen. Nein, Sharpe, ich mache mir Sorgen wegen Dodd.«
»Wir werden ihn schnappen, Sir«, sagte Sharpe.
Der Colonel schwieg eine Weile. Eine Öllampe flackerte auf dem Tisch und zog Motten an, und in dem trüben Licht wirkte das längliche Gesicht des Colonels noch bleicher und eingefallener als sonst. Schließlich schnitt McCandless eine Grimasse.
»Ich habe nie an Übernatürliches geglaubt, Sharpe, nur an die göttliche Vorsehung. Einige meiner Landsleute behaupten, Stimmen zu hören und Anzeichen auf das Schicksal zu sehen. Sie sagen, Füchse heulen ums Haus, wenn der Tod bevorsteht, oder Robben kommen an Land, wenn ein Mann in der See ertrinkt, aber ich habe solche Dinge immer als bloßen heidnischen Aberglauben abgetan, Sharpe. Jetzt kann ich meine Furcht vor Dodd nicht loswerden.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Vielleicht liegt es am Alter.«
»Sie sind nicht alt, Sir.«
McCandless lächelte. »Ich bin dreiundsechzig, Sharpe, und ich hätte vor zehn Jahren in den Ruhestand gehen sollen, doch der liebe Gott hielt es für besser, dass ich mich weiter nützlich machte. Die Company ist sich meines Werts jetzt nicht mehr so sicher. Sie würde mich lieber in Pension schicken, und ich kann es ihr nicht verdenken. Das volle Gehalt eines Colonels ist eine schwere Belastung für das Konto der Company.« McCandless blickte Sharpe wehmütig an. »Sie kämpfen für den König und das Land, Sharpe, aber ich kämpfe und sterbe für die Aktionäre.«
»Man könnte Sie nie ersetzen, Sir!«, sagte Sharpe loyal.
»Das haben sie bereits getan«, gab McCandless leise zu, »oder Wellesley hat es getan. Er hat jetzt einen eigenen Leiter der Nachrichtenabteilung, und die Company weiß es, und so bezeichnet sie mich als ›außerplanmäßiges Personal‹. Sie will mich aufs Abstellgleis stellen, Sharpe, aber sie hat mir diesen letzten Auftrag gegeben, und das ist die Festnahme von Lieutenant William Dodd, obwohl ich eher annehme, dass es mein Tod sein wird.«
»Das wird nicht geschehen, Sir, nicht, solange ich bei Ihnen bin.«
»Deshalb sind Sie hier, Sharpe«, sagte McCandless ernst. »Dodd ist jünger als ich, stärker und ein besserer Fechter als ich, und das ist der Grund, weshalb ich an Sie gedacht habe. Ich habe Sie in Seringapatam kämpfen gesehen, und ich bezweifle, dass Dodd Ihnen gewachsen ist.«
»Er wird Ihnen nichts antun können, Sir«, sagte Sharpe grimmig. »Und ich werde dafür sorgen, dass Sie am Leben bleiben!«
»Wenn Gott es will.«
Sharpe lächelte. »Sagt man nicht, dass Gott denen hilft, die sich selbst helfen? Wir werden den Job schaffen, Sir.«
»Ich bete, dass Sie recht haben, Sharpe«, sagte McCandless. »Ich bete darum.«
Und sie würden in Ahmadnagar anfangen, wo Dodd wartete und wo Sharpes neuer Krieg beginnen würde.