»Sie kommen doch, oder nicht?«

»Es ist sinnlos«, sagte er.

»Versuchen Sie nicht, sich rauszureden. Ich weiß so gut wie Sie, was hier auf dem Spiel steht.«

»Und was sollen wir dagegen tun? Was schlagen Sie vor?«

»Wir kehren zum Haus von Vance zurück und versuchen,

688

das Schisma wieder zu schließen.«

»Wie?«

»Vielleicht müssen wir den Rat eines Experten einholen.«

»Es gibt keine.«

»Es gibt Kissoon«, sagte sie. »Er schuldet uns einen

Gefallen. Er schuldet uns sogar mehrere. Aber zuerst müssen wir hier raus.«

Jaffe sah sie lange an, als wäre er nicht sicher, ob er sich fügen sollte oder nicht.

»Wenn Sie es nicht tun«, sagte sie, »enden Sie hier unten in der Dunkelheit, wo Sie - wie lange? - zwanzig Jahre verbracht haben. Die Iad werden durchbrechen, und Sie sind hier, unter der Erde, und wissen, daß der Planet übernommen worden ist.

Vielleicht finden sie Sie gar nicht. Sie essen nicht, oder? Nein, Sie haben das Essen überwunden. Sie können vielleicht hundert, vielleicht tausend Jahre überleben. Aber Sie werden allein sein. Nur Sie und die Dunkelheit und das Wissen, was Sie angerichtet haben. Klingt Ihnen das verlockend genug? Ich persönlich würde lieber bei dem Versuch sterben, die Invasion zu verhindern...«

»Sie sind nicht sehr überzeugend«, sagte er. »Ich

durchschaue Sie. Sie sind ein geschwätziges Flittchen, aber die Welt ist voll davon. Sie halten sich für schlau. Aber das sind Sie nicht. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was auf uns zukommt. Und ich? Ich kann es sehen, ich habe die Augen meines verfluchten Sohns. Er nähert sich dem Metakosm, und ich kann spüren, was vor ihm liegt. Kann es nicht sehen. Will es auch nicht. Aber ich spüre es. Und ich will Ihnen sagen, wir haben nicht die geringste Chance.«

»Ist das ein letzter Versuch, sich zu drücken?«

»Nein. Ich komme mit. Und sei es nur, um Ihren

Gesichtsausdruck zu sehen, wenn Sie scheitern; darum komme ich mit.«

»Dann gehen wir«, sagte sie. »Sie kennen einen Weg hier 689

heraus?«

»Ich kann einen finden.«

»Gut.«

»Aber vorher...«

»Ja?«

Er streckte die weniger schlimm verletzte Hand aus.

»Mein Medaillon.«

Bevor sie mit dem Aufstieg anfangen konnten, mußte sie Grillo aus einer Katatonie locken. Als sie nach ihrer Unterhaltung mit Jaffe zurückkam, saß er immer noch mit geschlossenen Augen am Ufer.

»Wir gehen hier raus«, sagte sie leise zu ihm. »Grillo, hast du mich gehört? Wir gehen hier raus.«

»Tot«, sagte er.

»Nein«, sagte sie zu ihm. »Wir werden überleben.« Sie schob den Arm unter seinen, und die Schmerzen in der Seite pieksten sie mit jeder Bewegung, die sie machte. »Steh auf, Grillo. Ich friere, und es wird bald wieder dunkel.« Tatsächlich wurde es sogar pechschwarz; das Leuchten des verfallenen Teratas wurde immer schwächer. »Oben ist die Sonne, Grillo.

Wärme. Licht.«

Als er ihre Worte hörte, machte er die Augen auf.

»Witt ist tot«, sagte er.

Die Wellen des Wasserfalls hatten den Leichnam ans Ufer gespült.

»Wir werden sein Schicksal nicht teilen«, sagte Tesla. »Wir werden überleben. Also setz deinen Arsch in Bewegung und steh auf.«

»Wir... können nicht... hinauf schwimmen...«, sagte er und sah den Wasserfall an.

»Es gibt andere Wege hinaus«, sagte Tesla. »Leichtere Wege. Aber wir müssen uns beeilen.«

Sie sah durch die Höhle, wo Jaffe die Risse in den

690

Felswänden untersuchte und, so vermutete sie, nach dem besten Ausgang suchte. Er war in ebenso schlechter

Verfassung wie sie alle, und eine anstrengende Kletterpartie kam nicht in Frage. Sie sah, wie er Hotchkiss zu sich rief und ihm befahl, Geröll wegzuschaffen. Dann machte er sich daran, andere Löcher auszuheben. Tesla ging durch den Kopf, daß der Mann ebensowenig Ahnung hatte, wie sie hier herauskommen konnten, wie sie selbst, aber sie lenkte sich von dieser Befürchtung ab, indem sie sich wieder der Aufgabe zuwandte, Grillo auf die Füße zu bekommen. Es war noch etwas gutes Zureden erforderlich, aber schließlich gelang es ihr. Er stand auf, und die Beine gaben fast unter ihm nach, bis er wieder ein wenig Leben in diese hineingerieben hatte.

»Gut«, sagte sie. »Gut. Und jetzt laß uns gehen.«

Sie sah Witts Leichnam ein letztes Mal an und hoffte, wo immer er war, es würde ein schöner Ort sein. Wenn jeder seinen eigenen Himmel bekam, dann wußte sie, wo Witt jetzt war: in einem himmlischen Palomo Grove; einer kleinen, sicheren Stadt in einem kleinen, sicheren Tal, wo die Sonne immer schien und das Grundstücksgeschäft einträglich war. Sie wünschte ihm stumm alles Gute, wandte sich wieder ab, drehte seinen sterblichen Überresten den Rücken zu und fragte sich, ob er die ganze Zeit gewußt hatte, daß er heute sterben würde, und glücklicher war, Teil des Fundaments des Grove zu sein, als im Rauch eines Krematoriums vergeudet zu werden.

Hotchkiss war von seinen Geröllarbeiten an einem Riß ab-kommandiert worden, um dieselbe Aufgabe an einem anderen durchzuführen, was Teslas unerwünschten Argwohn, daß der Jaff auch nicht wußte, wie man hier herauskam, neue Nahrung verlieh. Sie kam Hotchkiss zu Hilfe und riß Grillo aus seiner Lethargie, damit er ebenfalls mithalf. Die Luft aus dem Loch schmeckte abgestanden. Kein frischer Atem von oben kam herunter. Aber vielleicht waren sie dafür zu tief.

Die Arbeit war hart und wurde in der zunehmenden Dunkel-691

heit noch härter. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben einem völligen Zusammenbruch noch nie so nahe gefühlt. Sie hatte überhaupt keinerlei Gefühl mehr in den Händen; ihr Gesicht war taub geworden, der Körper träge. Sie war sicher, daß die meisten Leichen wärmer waren. Aber vor einem ganzen

Zeitalter, oben in der Sonne, hatte sie Hotchkiss gesagt, daß sie so gut wie jeder Mann war, und sie war verbissen entschlossen zu beweisen, daß diese Behauptung zutreffend war. Sie verlangte sich das Äußerste ab und machte sich so fest wie er über die Felsen her. Grillo tat den Großteil der Arbeit; sein Eifer wurde zweifellos von Verzweiflung genährt. Er räumte die größten Felsbrocken mit einer Kraft weg, die sie ihm überhaupt nicht zugetraut hätte.

»Gut«, sagte sie zu Jaffe. »Gehen wir?«

»Ja.«

»Ist das der Weg hinaus?«

»Er ist so gut wie jeder andere«, sagte er und übernahm die Führung.

Es begann ein Aufstieg, der auf seine Weise schrecklicher als der Abstieg war. Zunächst einmal hatten sie nur eine einzige Fackel zur Verfügung, die Hotchkiss trug, der nach Jaffe kam. Die Fackel war schmerzlich unzureichend, ihr Leuchten mehr ein Signal, dem Tesla und Grillo folgen konnten, als ein Mittel, den Pfad zu erhellen. Sie stolperten und fielen und stolperten wieder, und in gewisser Weise waren sie froh darum, daß sie nichts mehr spürten, weil dadurch die Erkenntnis, welche Verletzungen sie sich beibrachten, hinausgeschoben wurde.

Der erste Teil der Route führte sie nicht einmal nach oben, sondern wand sich durch eine Reihe kleinerer Höhlen, und rings um sie herum dröhnte Wasser in den Felsen. Sie kamen durch einen Tunnel, der eindeutig bis vor kurzem ein

Wasserlauf gewesen war. Schlamm reichte ihnen bis zu den Schenkeln und tropfte von der Decke auf ihre Köpfe herunter, 692

wofür sie nach einer Weile dankbar waren, als sie schließlich an einen Punkt kamen, wo es ihnen schwergefallen wäre, sich durch den schmalen Tunnel zu zwängen, hätte der Schlamm sie nicht schlüpfrig gemacht. Nach diesem Punkt ging es aufwärts, anfangs eine schwache Steigung, doch dann zunehmend steiler.

Jetzt war das Geräusch des Wassers zwar schwächer geworden, aber dafür war eine neue Bedrohung in den Wänden zu hören: das Knirschen von Erde auf Erde. Niemand sagte etwas. Sie waren zu erschöpft, um kostbaren Atem für das Offensichtliche zu verschwenden, nämlich daß der Boden, auf dem der Grove erbaut war, sich im Umsturz befand. Je höher sie kamen, desto lauter wurden die Geräusche, und manchmal fiel Staub von der Tunneldecke in der Dunkelheit auf sie herab.

Hotchkiss spürte die Brise als erster.

»Frischluft«, sagte er.

»Natürlich«, sagte Jaffe.

Tesla drehte sich zu Grillo um. Ihre Sinne waren so kaputt, daß sie ihnen nicht mehr traute.

»Spürst du es?« sagte sie zu ihm.

»Ich glaube«, antwortete er mit kaum hörbarer Stimme.

Die Aussicht verlieh ihnen Flügel, obwohl das

Vorankommen immer schwerer wurde und die Tunnel an

manchen Stellen buchstäblich bebten, so gewaltig waren die Erdverschiebungen um sie herum. Doch mittlerweile wurden sie von mehr als nur einem Hauch frischer Luft gelockt; jetzt sahen sie schwachen Lichtschein über sich, der nach und nach immer mehr zu Gewißheit wurde, bis sie tatsächlich den Fels sehen konnten, an dem sie hinaufkletterten. Jaffe zog sich mit einer Hand und einer beinahe schwebenden Anmut daran

empor, als würde sein Körper so gut wie nichts wiegen. Die anderen kletterten ihm hinterher und waren trotz des

Adrenalins, das durch ihre erschöpften Körper gepumpt wurde, kaum imstande, mit ihm Schritt zu halten. Das Licht wurde heller, und das trieb sie voran. Sie blinzelten in die Helligkeit.

693

Und immer noch wurde es heller und heller. Sie kletterten dem Licht, jetzt von neuem Eifer erfüllt, entgegen, und sie vergaßen jegliche Vorsicht bei der Wahl ihres Halts für Hände und Füße.

Teslas Gedanken waren ein wirres Bündel unzusammenhängender Bilder, mehr Tagträume als bewußtes Denken. Sie war so erschöpft, daß sie sie nicht auf die Reihe bringen konnte.

Aber sie kehrten immer wieder zu den fünf Minuten zurück, die sie Zeit gehabt hatte, das Rätsel des Medaillons zu lösen.

Warum, wurde ihr erst klar, als der Himmel schließlich zu sehen war: Dieser Aufstieg aus der Dunkelheit war, als würden sie aus der Vergangenheit emporklettern; und auch aus dem Tod. Vom Kaltblütigen zum Warmblütigen. Vom Blinden und Unmittelbaren zum Weitsichtigen. Sie dachte vage: Darum klettern Männer unter die Erde. Damit sie sich erinnern, warum sie an der Sonne leben.

Ganz zuletzt, als die Helligkeit von oben überwältigend wurde, trat Jaffe beiseite und überließ Hotchkiss die Führung der Gruppe.

»Haben Sie es sich anders überlegt?« fragte Tesla.

Aber sein Gesicht drückte mehr als Zweifel aus.

»Wovor haben Sie Angst?« fragte sie ihn.

»Vor der Sonne«, sagte er.

»Geht ihr beiden weiter?« sagte Grillo.

»Einen Moment noch«, sagte Tesla zu ihm. »Geh du voran.«

Er drückte sich an ihnen beiden vorbei und erklomm die letzten paar Schritte bis zur Oberfläche. Hotchkiss war schon dort.

Sie hörte, wie er vor sich hin lachte. Es fiel ihr schwer, das Vergnügen hinauszuschieben, sich zu ihnen zu gesellen, aber sie waren nicht so weit gekommen, um ihre Beute jetzt zurückzulassen.

»Ich hasse die Sonne«, sagte Jaffe.

»Warum?«

»Weil sie mich haßt.«

»Sie meinen, sie tut Ihnen weh? Sind Sie eine Art von Vam-694

pir?«

Jaffe blinzelte zum Licht hinauf.

»Fletcher hat den Himmel geliebt.«

»Nun, vielleicht sollten Sie etwas von ihm lernen.«

»Es ist zu spät.«

»Nein, das ist es nicht. Sie haben eine Menge Mist gebaut, aber Sie haben die Möglichkeit, es wieder gutzumachen. Es ist Schlimmeres auf dem Weg als Sie. Denken Sie darüber nach.«

Er antwortete nicht.

»Sehen Sie«, fuhr sie fort, »der Sonne ist es einerlei, was Sie getan haben. Sie scheint auf alle, Gute und Böse. Ich wünschte mir manchmal, es wäre anders, aber es ist so.«

Er nickte. »Habe ich Ihnen je...«, sagte er, »... von Omaha er-zählt?«

»Keine Hinhaltemanöver, Jaffe. Wir gehen hinauf.«

»Ich sterbe«, sagte er.

»Dann haben Ihre Sorgen alle ein Ende, oder nicht?« sagte sie. »Kommen Sie schon.«

Er sah sie durchdringend an, und der Glanz, den sie in der Höhle in seinen Augen gesehen hatte, war vollkommen verschwunden. Tatsächlich hatte er nichts an sich, das auf seine übernatürlichen Fähigkeiten hindeutete. Er war durch und durch unscheinbar: eine graue, kaputte Menschenhülle, die sie auf der Straße keines zweiten Blickes gewürdigt hätte, es sei denn, um sich zu fragen, was für eine Tragödie ihn derart ins Elend gestürzt hatte. Sie hatten viel Zeit, Anstrengung - und Witts Leben - geopfert, um ihn aus der Erde zu holen. Er sah nicht aus, als wäre er der Mühe wert gewesen. Er senkte den Kopf vor dem Leuchten und erklomm die letzten paar Schritte in die Sonne. Sie folgte ihm, und das Licht wurde schwindel-, beinahe übelkeiterregend. Sie machte die Augen zu, bis Gelächter sie bewegte, sie wieder zu öffnen.

Mehr als Erleichterung brachte Hotchkiss und Grillo zum Kichern. Die Route hatte sie mitten auf den Parkplatz des 695

Terrace Motel geführt.

»Willkommen in Palomo Grove«, stand auf dem Schild.

»Dem blühenden Hafen.«

696

VI

Wie Carolyn Hotchkiss ihren drei besten Freundinnen vor so vielen Jahren immer wieder ins Gedächtnis gerufen hatte - die Erdrinde war dünn, und der Grove war auf einer fehlerhaften Stelle in dieser Rinde erbaut worden, die eines Tages durchbrechen und die ganze Stadt in den Abgrund reißen würde. In den zwei Jahrzehnten, seit sie ihre Prophezeiungen mit

Schlaftabletten zum Schweigen gebracht hatte, war die Technologie, diesen Augenblick vorherzusagen, deutlich verbessert worden. Man konnte haarfeine Risse

kartographieren und ihre Aktivitäten genauestens überwachen.

Im Falle eines großen Erdbebens würden die Warnungen

hoffentlich schnell genug eintreffen, um das Leben von Millionen zu retten, und zwar nicht nur in San Francisco und Los Angeles, sondern auch in kleineren Gemeinden wie dem Grove. Aber kein Monitor oder Kartograph hätte die Schnelligkeit der Ereignisse oben in Coney Eye vorhersagen können oder das Ausmaß ihrer Konsequenzen. Die Verzerrung im Inneren des Vanceschen Hauses hatte eine subtile, aber unmißverständliche Botschaft in den Hügel gesandt und von dort aus durch die Höhlen und Tunnel unter der Stadt, und diese Botschaft brachte ein System, das seit Jahren murmelte, schließlich, dazu, brüllend aufzuschreien. Die spektakulärsten Folgen dieses Aufstands ereigneten sich in den unteren Abschnitten des Hügels, wo sich der Boden auftat, als wäre tatsächlich das große Beben auf dem Weg, und eine der Crescent-Straßen in einen zweihundert Meter langen und zwanzig Meter breiten Riß hinabzog; auch sämtliche

umliegenden Gemeinden trugen Schaden davon. Die

Zerstörung hörte auch nicht nach der ersten Schockwelle auf, wie man bei einem konventionellen Erdbeben erwarten konnte.

Sie eskalierte; die Botschaft der Anarchie wurde verbreitet, unbedeutende Senkungen wurden so gewaltig, daß sie Häuser, 697

Garagen, Gehwege und Geschäfte verschlangen. In Deerdell mußten die nahe am Wald gelegenen Straßen als erste unter den Auswirkungen leiden. Die wenigen Einwohner, die noch geblieben waren, wurden durch einen Massenexodus von

Tieren vor der kommenden Katastrophe gewarnt, die flohen, bevor die Bäume versuchten, die Wurzeln aus dem Boden zu ziehen und ihnen zu folgen. Weil den Bäumen das nicht gelang, stürzten sie um. Die Häuser folgten kurz danach, Straße für Straße kippten sie um wie Dominosteine. Stillbrook und Laureltree trugen ähnlich gravierende Schäden davon, aber ohne Vorwarnung oder erkennbares Muster. Risse taten sich unvermittelt in Straßen und Gärten auf. Innerhalb von Sekunden floß das Wasser aus Swimmingpools ab; Einfahrten verwandelten sich in Modelle des Grand Canyon. Aber ob zufällig oder systematisch, plötzlich oder mit Vorankündigung, letztendlich lief es in jedem Ortsteil auf dasselbe hinaus. Der Grove wurde von dem Boden verschluckt, auf dem er erbaut worden war.

Es gab natürlich Tote; viele Tote. Aber sie blieben

größtenteils unbemerkt, weil es sich um Menschen handelte, die sich seit Tagen in ihren Häusern verbarrikadiert hatten und einen Argwohn gegenüber der Welt hegten, den sie nicht ans Licht zu bringen wagten. Niemand vermißte sie, weil niemand wußte, wer die Stadt verlassen hatte und wer geblieben war.

Nach der ersten Nacht im Einkaufszentrum hatten die

Bewohner des Grove Solidarität gezeigt, aber das war reine Maskerade gewesen. Keine Krisensitzungen der Gemeinde waren anberaumt worden, keine gemeinsamen Ängste wurden ausgesprochen. Je schlimmer die Lage geworden war, desto mehr Familien hatten sich einfach bei Nacht und Nebel fortgeschlichen, häufig ohne den Nachbarn Bescheid zu sagen.

Die Einsamen, die geblieben waren, wurden unter den

Trümmern ihrer Dächer begraben, ohne daß jemand wußte, daß sie überhaupt dagewesen waren. Bis den Behörden das wahre 698

Ausmaß der Schäden klar wurde, waren viele der Straßen unzugängliche Gelände geworden, und die Opfer zu finden, war eine Aufgabe für einen anderen Tag, wenn das

drängendere Problem, was sich im Haus von Buddy Vance abgespielt hatte - und noch abspielte -, nicht mehr ganz so drängend war.

Schon den ersten Ermittlern - erfahrenen Streifenbeamten, die glaubten, sie hätten schon alles gesehen - war klar geworden, daß in Coney Eye eine Macht entfesselt worden war, die man nicht so leicht definieren konnte. Eineinhalb Stunden nachdem das erste Auto vor Coney Eye vorgefahren war und die Streifenpolizisten ihren Vorgesetzten den Zustand des Hauses meldeten, waren mehrere FBI-Agenten auf der Bildfläche erschienen, und zwei Professoren - ein Physiker und ein Geologe - waren auf dem Weg von L. A.. Man betrat das Haus und kam zu dem Ergebnis, daß das Phänomen im

Inneren, das sich nicht so leicht erklären ließ, potentiell tödlich war. Eindeutig - unter zahlreichen Unklarheiten - stand fest: Die Bewohner des Grove hatten irgendwie gemerkt, daß eine nachhaltige Störung in ihrer Mitte stattfand oder kurz bevorstand. Sie hatten ihre Heimatstadt schon Stunden oder Tage vorher verlassen. Warum niemand sich die Mühe

gemacht hatte, jemanden außerhalb der Grenzen des Grove auf die bevorstehende Gefahr aufmerksam zu machen, das war nur eines von zahllosen Rätseln, die die Unglücksstelle

präsentierte.

Hätten die ermittelnden Beamten gewußt, wo sie suchen muß-

ten, hätten sie ihre Antworten von jedem der Individuen bekommen können, die sich vor dem Terrace Motel aus dem Boden kämpften. Wahrscheinlich hätten sie die Erklärungen als Ausgeburten von Wahnsinnigen abgetan, aber selbst Tesla - die sich so leidenschaftlich dafür eingesetzt hatte, daß Grillo die Geschichte nicht erzählte - hätte sie mittlerweile mit Freuden 699

geschildert, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Die Wärme der Sonne, ja allein ihr Anblick, hatte Tesla etwas

wiederbelebt; aber sie hatte auch den Schlamm und das Blut auf ihrem Gesicht getrocknet und die große Kälte in ihren Knochen versiegelt. Jaffe war der erste gewesen, der in den Schatten des Motels geflohen war. Sie folgte ihm nach wenigen Minuten. Das Motel war von Gästen und Personal

gleichermaßen verlassen worden, und das mit gutem Grund.

Der Riß im Parkplatz war nur einer von vielen, und der größte teilte die Eingangstür und zog sich an der Fassade hinauf wie ein aus der Erde geborener Blitz. Drinnen war deutlich zu sehen, wie hastig die Bewohner aufgebrochen waren, Gepäck und persönliche Habseligkeiten lagen auf den Treppen; die Tü-

ren, die das Erdbeben nicht zerstört hatte, waren weit aufgerissen. Sie ging an der Reihe der Zimmer entlang, bis sie ein paar vergessene Kleidungsstücke gefunden hatte, drehte eine Dusche auf, das Wasser, so heiß sie es aushalten konnte, zog sich aus und stellte sich darunter. Die Wärme machte sie verträumt, und es kostete sie größte Überwindung, sich von dieser Wonne loszureißen und abzutrocknen.

Unglücklicherweise waren Spiegel in dem Bad. Ihr

zerschundener, schmerzender Körper war ein erbarmenswerter Anblick. Sie bedeckte ihn so rasch wie möglich - mit

Kleidungsstücken, die weder paßten noch zusammenpaßten, was ihr gefiel: Hobo war schon immer ihr bevorzugter Stil gewesen. Beim Anziehen gönnte sie sich einen kalten Kaffee, der in dem Zimmer stehengelassen worden war. Als sie wieder herauskam, war es halb vier; fast sieben Stunden waren verstrichen, seit sie zu viert nach Deerdell gefahren waren, um den Abstieg zu bewerkstelligen.

Grillo und Hotchkiss waren im Büro. Sie hatten heißen Kaffee gemacht. Sie hatten sich auch gewaschen, freilich nicht so gründlich wie sie. Außerdem hatten sie die tropfnassen Pullover ausgezogen und sich Jacketts gesucht. Beide Männer 700

rauchten.

»Wir haben alles«, sagte Grillo im Tonfall eines Mannes, der zutiefst beschämt und entschlossen ist, alles wieder gutzumachen. »Kaffee. Zigaretten. Trockene Krapfen. Fehlen nur noch harte Drogen.«

»Wo ist Jaffe?« wollte Tesla wissen.

»Keine Ahnung«, sagte Grillo.

»Was soll das heißen, keine Ahnung?« sagte Tesla. »Um Himmels willen, Grillo, wir sollten ihn nicht aus den Augen lassen.«

»Er ist bis hierher mitgekommen, oder etwa nicht?« antwortete Grillo. »Jetzt wird er uns auch nicht mehr davonlaufen.«

»Vielleicht«, lenkte Tesla ein. Sie schenkte sich Kaffee ein.

»Zucker?«

»Nein, aber Gebäck und Käsekuchen. Abgestanden, aber genießbar. Irgend jemand war ein Süßschnabel. Möchtest du?«

»Ich möchte«, sagte Tesla. Sie trank Kaffee. »Ich glaube, du hast recht...«

»Wegen dem Süßschnabel?«

»Wegen Jaffe.«

»Dem liegt ein Scheißdreck an uns«, sagte Hotchkiss.

»Macht mich krank, wenn ich ihn nur ansehe.«

»Dazu haben Sie guten Grund«, sagte Grillo.

»Verdammt richtig«, sagte Hotchkiss. Er sah Tesla schnell an. »Wenn dies überstanden ist«, sagte er, »will ich ihn für mich haben. O. K.? Wir haben noch Rechnungen zu

begleichen.«

Er wartete nicht auf eine Antwort. Er nahm seinen Kaffee und ging wieder hinaus in die Sonne.

»Weswegen?« sagte Tesla.

»Carolyn«, sagte Grillo.

»Natürlich.«

»Er gibt Jaffe die Schuld daran, was mit ihr passiert ist. Und er hat recht.«

701

»Er muß die Hölle durchmachen.«

»Ich glaube nicht, daß das etwas Neues für ihn ist«, sagte Grillo.

»Wohl nicht.« Sie trank die Kaffeetasse leer. »Das hat mich wieder auf Vordermann gebracht«, sagte sie. »Jetzt gehe ich Jaffe suchen.«

»Vorher...«

»Ja?«

»Ich wollte nur sagen... was da unten mit mir los war... tut mir leid, daß ich keine Hilfe war. Ich hatte immer diese Panik davor, lebendig begraben zu sein.«

»Scheint mir nicht unvernünftig«, sagte Tesla.

»Ich will es wiedergutmachen. Will helfen, so gut ich kann.

Du mußt es nur sagen. Ich weiß, du hast den Durchblick. Ich nicht.«

»Ich eigentlich auch nicht.«

»Du hast Jaffe davon überzeugt, mit uns zu kommen. Wie hast du das gemacht?«

»Er hatte ein Rätsel. Ich habe es gelöst.«

»Hört sich so einfach an.«

»Ich glaube, die ganze Sache ist möglicherweise einfach.

Wir haben es mit etwas so Großem zu tun, Grillo, daß wir einfach unseren Instinkten vertrauen müssen.«

»Deine waren schon immer besser als meine. Ich ziehe

Fakten vor.«

»Auch die sind denkbar einfach«, sagte sie. »Wir haben ein Loch, und etwas kommt von der anderen Seite durch, das sich Menschen wie du und ich nicht vorstellen können. Wenn wir das Loch nicht zumachen können, sind wir im Arsch.«

»Und der Jaff weiß wie?«

»Was wie?«

»Wie man das Loch zumacht.«

Tesla sah ihn an.

»Willst du meine Vermutung hören? Nein.«

702

Sie fand ihn ausgerechnet auf dem Dach, und das war

buchstäblich der allerletzte Platz im Motel, wo sie nachgesehen hatte. Darüber hinaus gab er sich der letzten Tätigkeit hin, die sie bei ihm vermutet hätte. Er saß in der Sonne.

»Ich dachte schon, Sie hätten uns unserem Schicksal überlassen«, sagte sie.

»Sie hatten recht«, sagte er, sah sie aber nicht an. »Sie scheint auf alle, die Guten und die Bösen. Aber sie wärmt mich nicht. Ich habe vergessen, wie es ist, Wärme oder Kälte zu empfinden. Oder Hunger. Oder satt zu sein. Das fehlt mir so sehr.«

Das gallige Selbstbewußtsein, das er in der Höhle zur Schau gestellt hatte, war vollkommen von ihm gewichen. Er war fast demütig.

»Vielleicht bekommen Sie die menschlichen Eigenschaften zurück«, sagte sie. »Vielleicht können Sie ausmerzen, was der Nuncio getan hat.«

»Das würde mir gefallen«, sagte er. »Ich wäre gern wieder Randolph Jaffe aus Omaha, Nebraska. Ich würde gerne die Uhr zurückdrehen und das Zimmer gar nicht betreten.«

»Welches Zimmer?«

»Das Zimmer für die Postirrläufer im Postamt«, sagte er,

»wo alles angefangen hat. Ich sollte Ihnen davon erzählen.«

»Das würde ich gerne hören. Aber vorher...«

»Ich weiß. Ich weiß. Das Haus. Das Schisma.«

Jetzt sah er sie an, oder besser gesagt, an ihr vorbei zum Hügel.

»Früher oder später müssen wir dort hinauf«, erinnerte sie ihn. »Ich würde es vorziehen, wenn wir es gleich machen, solange wir noch Licht haben und meine Energie nicht

nachgelassen hat.«

»Und wenn wir dort sind?«

»Hoffen wir auf eine göttliche Eingebung.«

703

»Die muß von irgendwo kommen«, sagte er. »Und keiner

von uns hat Götter, oder? Damit habe ich all die Jahre zu tun gehabt. Mit Menschen, die gottlos sind. Und jetzt sind wir es selbst.«

Sie erinnerte sich, was D'Amour gemeint hatte, als sie ihm sagte, daß sie nicht betete. Etwas darüber, daß Beten sinnvoll war, wenn man wußte, was da draußen ist.

»Ich werde allmählich zur Gläubigen«, sagte sie.

»Langsam.«

»Und woran glauben Sie?«

»An höhere Mächte«, sagte sie mit einem leicht verlegenen Achselzucken. »Der Schwarm hatte sein höheres Streben.

Warum sollte ich es nicht haben?«

»Tatsächlich?« sagte er. »Hat der Schwarm die ›Kunst‹

gehütet, weil die Essenz erhalten werden mußte? Das glaube ich nicht. Sie hatten nur Angst vor dem, was durchbrechen könnte. Sie waren Wachhunde.«

»Vielleicht haben ihre Pflichten sie erhoben.«

»Zu was? Heiligen? Kissoon hat das wenig genützt, nicht?

Er hat nur sich selbst angebetet. Und die Iad.«

Das war ein grimmiger Gedanke. Gab es einen perfekteren Kontrapunkt zu D'Amours Gerede vom Glauben an die Geheimnisse als Kissoons Offenbarung, daß alle Religionen Masken für den Schwarm waren; Mittel, um die Hitzköpfigen vom Geheimnis aller Geheimnisse abzuhalten?

»Ich bekomme Eindrücke«, sagte Jaffe, »von dort, wo Tommy-Ray ist.«

»Wie ist es?«

»Immer dunkel«, antwortete Jaffe. »Er war lange Zeit in Bewegung, aber jetzt ist er still. Vielleicht hat sich die Flut gedreht. Ich glaube, etwas kommt aus der Dunkelheit. Oder es ist die Dunkelheit. Ich weiß nicht. Aber es kommt immer näher.«

»Lassen Sie mich den Augenblick wissen, wenn er etwas 704

sieht«, sagte Tesla. »Ich möchte Einzelheiten.«

»Ich will nicht hinsehen, weder mit seinen Augen noch mit meinen.«

»Vielleicht haben Sie keine andere Wahl. Er ist Ihr Sohn.«

»Er hat mich immer wieder enttäuscht. Ich schulde ihm überhaupt nichts. Er hat seine Phantome.«

»Perfekte Familie«, sagte Tesla. »Vater, Sohn und...«

»... Heiliger Geist«, sagte Jaffe.

»Ganz recht«, antwortete sie, und wieder fiel ihr ein Echo aus der Vergangenheit ein. »Trinitiy.«

»Was ist damit?«

»Davor hatte Kissoon solche Angst.«

»Der Trinity? Der Dreieinigkeit?«

»Ja. Als er mich zum ersten Mal in die Schleife holte, hat er diesen Namen fallenlassen. Ich glaube, es war ein Fehler. Als ich ihn damit herausgefordert habe, war er so eingeschüchtert, daß er mich gehen ließ.«

»Ich habe Kissoon nie für einen Christen gehalten«, bemerkte Jaffe.

»Ich auch nicht. Vielleicht meinte er einen anderen Gott.

Oder Götter. Eine Macht, die der Schwarm beschwören konnte. Wo ist das Medaillon?«

»In meiner Tasche. Sie müssen es selbst herausholen. Meine Hände sind sehr schwach.«

Er nahm sie aus den Taschen. Im Halbdunkel der Höhle waren die Verstümmelungen schon ekelerregend gewesen, aber hier, im hellen Sonnenlicht, waren sie noch abstoßender, das Fleisch schwarz und eitrig, die Knochen darunter verwesend.

»Ich verfalle«, sagte er. »Fletcher hat Feuer benützt, ich meine Zähne. Wir sind beide Selbstmörder. Er war nur schneller.«

Sie griff in seine Tasche und holte das Medaillon heraus.

»Es scheint Ihnen nichts auszumachen«, sagte sie.

»Was?«

705

»Daß Sie verfallen.«

»Nein, das macht mir nichts aus«, gab er zu. »Ich würde gerne sterben. Wie es geschehen wäre, wäre ich in Omaha geblieben und einfach alt geworden. Ich will nicht ewig leben.

Was hat es für einen Sinn, immer weiter zu leben, wenn man überhaupt nichts begreift?«

Die Freude, die sie empfunden hatte, als sie das Rätsel des Medaillons gelöst hatte, fiel ihr wieder ein, während sie es studierte. Aber es war auch bei Tageslicht nichts darauf zu sehen, was sie als Trinity - als Dreieinigkeit - interpretieren konnte. Quartette jede Menge. Vier Arme, vier Kreise. Aber keine Trios.

»Sinnlos«, sagte sie. »Wir könnten Tage damit vergeuden, dahinterzukommen.«

»Hinter was?« sagte Grillo, der ins Sonnenlicht heraustrat.

»Trinity«, sagte sie. »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«

»Vater, Sohn und...«

»Außer dem Offensichtlichen.«

»Dann nein. Keine Ahnung. Warum?«

»Ich hatte eben eine kleine Hoffnung.«

»Wie viele Dreieinigkeiten kann es denn geben?« fragte er.

»Das dürfte doch nicht so schwer herauszukriegen sein.«

»Aber bei wem? Abernethy?«

»Ich könnte bei ihm anfangen«, sagte Grillo. »Er ist ein gottesfürchtiger Mann. Behauptet er jedenfalls. Ist es wichtig?«

»In unserer Lage ist alles wichtig«, sagte sie.

»Ich kümmere mich darum«, sagte er, »wenn die Telefonlei-tungen noch funktionieren. Du willst einfach...«

»Alles über Trinity wissen. Alles.«

»Fakten, das mag ich«, sagte er. »Fakten.«

Er ging die Treppe hinunter. Während er das tat, hörte Tesla Jaffe murmeln: »Sieh weg, Tommy. Sieh einfach weg...«

Er hatte die Augen zugemacht. Jetzt fing er an zu zittern.

706

»Können Sie sie sehen?« fragte sie ihn.

»Es ist so dunkel.«

»Können Sie sie sehen?«

»Ich kann etwas sehen, das sich bewegt. Etwas Riesiges. So riesig. Warum bewegst du dich nicht, Junge? Verschwinde, bevor sie dich sehen. Beweg dich!«

Er riß plötzlich die Augen auf.

»Genug!« sagte er.

»Haben Sie ihn verloren?« fragte Tesla.

»Ich sagte doch: Genug!«

»Er ist doch nicht tot?«

»Nein, er... reitet die Wellen.«

»Er surft auf der Essenz?« sagte sie.

»Er gibt sich größte Mühe.«

»Und die Iad?«

»Sind hinter ihm. Die Flut hat gewechselt. Sie kommen.«

»Beschreiben Sie, was Sie gesehen haben«, sagte sie.

»Wie schon gesagt. Sie sind riesig.«

»Das ist alles?«

»Wie wandelnde Berge. Berge, die mit Heuschrecken

bedeckt sind. Oder mit Flöhen. Groß und klein. Ich weiß nicht.

Es ergibt keinen Sinn.«

»Wir müssen das Schisma schließen, so schnell wir können.

Berge kann ich ertragen. Aber lassen wir die Flöhe weg, hm?«

Als sie nach unten kamen, war Hotchkiss an der

Eingangstür. Grillo hatte schon mit ihm über Trinity - die Dreieinigkeit - gesprochen, und er hatte einen besseren Vorschlag, als Abernethy anzurufen.

»Im Einkaufszentrum ist ein Buchladen«, sagte er. »Soll ich dort die Dreieinigkeiten nachschlagen?«

»Kann nicht schaden«, sagte Tesla. »Wenn Trinity Kissoon Angst gemacht hat, dann vielleicht auch seinen Meistern. Wo ist Grillo?«

»Draußen, er sieht sich nach einem Auto um. Er fährt Sie 707

den Hügel rauf. Sie gehen beide dorthin?« Er sah mit

ekelerfülltem Gesichtsausdruck zu Jaffe.

»Dorthin gehen wir«, sagte Tesla. »Und dort bleiben wir.

Also wissen Sie, wo Sie uns finden können.«

»Bis zum Ende?« sagte Hotchkiss, ohne den Blick von Jaffe abzuwenden.

»Bis zum Ende.«

Grillo hatte ein Auto gefunden und kurzgeschlossen, das auf dem Parkplatz des Motels stehengeblieben war.

»Wo hast du das gelernt?« sagte sie zu ihm, während sie den Hügel emporfuhren. Der Jaff saß mit geschlossenen Augen zusammengesunken auf dem Rücksitz.

»Damals, während meiner Zeit als seriöser Journalist, habe ich einen Artikel geschrieben...«

»Über Autodiebe?«

»Ganz recht. Ich habe ein paar Tricks der Branche gelernt und nie wieder vergessen. Ich bin eine Fundgrube nutzloser Informationen. Grillo hat immer wieder etwas Neues auf Lager.«

»Aber nichts über Trinity?«

»Du kommst immer wieder darauf zurück.«

»Verzweiflung«, sagte sie. »Wir haben sonst keine Anhalts-punkte.«

»Vielleicht hat es etwas damit zu tun, was D'Amour über den Erlöser gesagt hat.«

»In letzter Minute ein Eingreifen von jemand ganz oben?«

sagte Tesla. »Ich werde nicht den Atem anhalten und warten.«

»Scheiße.«

»Problem?«

»Da oben.«

Auf der Kreuzung, der sie sich näherten, hatte sich ein Riß aufgetan. Er ging über Straße und Gehweg. Es führte kein Weg daran vorbei den Hügel hinauf.

708

»Wir müssen einen anderen Weg versuchen«, sagte Grillo.

Er legte den Rückwärtsgang ein, wendete und nahm nach drei Blocks eine Seitenstraße. Überall waren Anzeichen der zunehmenden Instabilität des Grove zu sehen. Laternenpfähle und Bäume waren umgestürzt, Gehwege aufgebrochen, Wasser floß aus gebrochenen Rohren.

»Alles wird hochgehen«, sagte Tesla.

»Wenn das nicht die Wahrheit ist.«

Die nächste Straße, die er versuchte, führte ohne Hindernisse bis zum Hügel hinauf. Auf dem Weg dorthin sah Tesla ein zweites Auto, das vom Freeway-Zubringer kam. Es war kein Polizeiauto, es sei denn, die Polizei wäre auf neongelb bemalte Volkswagen umgestiegen.

»Närrisch«, sagte sie.

»Was?«

»Jemand kommt in die Stadt zurück.«

»Wahrscheinlich eine Plünderungsaktion«, sagte Grillo.

»Leute, die mitnehmen, was sie können, solange sie es können.«

»Ja.«

Die Farbe des Autos, die so geschmacklos und

unangemessen war, blieb ihr eine Weile im Gedächtnis. Sie war nicht sicher, warum; möglicherweise, weil diese Farbe so typisch für West Hollywood war und sie bezweifelte, daß sie ihre Wohnung im North Huntley Drive jemals wiedersehen würde.

»Sieht aus, als hätten wir ein Begrüßungskomitee«, sagte Grillo.

»Perfektes Film-Timing«, sagte Tesla. »Drück drauf, Fahrer.«

»Beschissene Dialoge.«

»Fahr einfach nur.«

Grillo scherte aus, um einen Zusammenstoß mit dem Streifenwagen zu vermeiden, trat mit dem Fuß aufs Gaspedal und 709

war an dem Fahrzeug vorbei, bevor der Fahrer die Möglichkeit hatte, ihm den Weg zu versperren.

»Oben werden noch mehr sein«, sagte er.

Tesla drehte sich zu dem Auto um, das sie hinter sich gelassen hatten. Kein Versuch, sie zu verfolgen. Der Fahrer würde lediglich den Rest der Einheit von ihrer Anwesenheit in Kenntnis setzen.

»Tu, was du tun mußt«, sagte Tesla zu Grillo.

»Das heißt?«

»Das heißt, fahr sie über den Haufen, wenn sie sich uns in den Weg stellen. Wir haben keine Zeit für Artigkeiten.«

»In dem Haus wird es von Bullen nur so wimmeln«, warnte er sie.

»Das bezweifle ich«, sagte sie. »Ich glaube, sie werden sich davon fernhalten.«

Sie hatte recht. Als sie sich Coney Eye näherten, wurde dies deutlich; die Streifenpolizisten hatten beschlossen, daß die ganze Sache zu groß für sie war. Die Autos waren ein gutes Stück vom Tor entfernt geparkt, die Männer selbst wiederum standen weit hinter den Fahrzeugen. Die meisten sahen einfach nur zum Haus hinauf, aber ein Kontingent von vier Offizieren wartete an einer Barrikade, die errichtet worden war, um den Hügel abzusperren.

»Soll ich einfach durchfahren?« sagte Grillo.

»Verdammt richtig!«

Er trat das Gaspedal durch. Zwei des Quartetts griffen nach den Waffen; die beiden anderen warfen sich beiseite. Grillo rammte die Barrikade mit hoher Geschwindigkeit. Das Holz splitterte und brach, ein Stück zertrümmerte die Windschutzscheibe. Er glaubte, in dem Durcheinander einen Schuß zu hö-

ren, aber da er immer noch fuhr, ging er davon aus, daß er nicht getötet worden war. Das Auto rammte einen Streifenwagen, das Heck schlitterte und traf ein zweites Auto, dann hatte Grillo wieder die Herrschaft über das Fahrzeug und fuhr zum 710

offenen Tor von Buddy Vance' Haus. Sie rasten mit heulendem Motor die Einfahrt entlang.

»Niemand folgt uns«, sagte Tesla.

»Kann ich ihnen nicht verübeln«, antwortete Grillo. Als sie die Kurve der Einfahrt erreichten, trat er auf die Bremse. »Das ist nahe genug«, sagte er. »Mein Gott. Sieh dir das an.«

»Ich sehe es.«

Die Fassade des Hauses sah aus wie ein Kuchen, der die ganze Nacht bei heftigem Regen draußen stehengelassen worden war, ganz aufgeweicht und formlos. Keine geraden Linien mehr an den Türrahmen, keine rechten Winkel an den Fenstern - nicht einmal an denen des obersten Stocks. Die Macht, die Jaffe hier entfesselt hatte, hatte alles in ihren Schlund gezogen und Backsteine, Fliesen und Glasscherben verzerrt; das ganze Haus neigte sich dem Schisma entgegen.

Als Tesla und Grillo zur Tür herausgestolpert waren, war das Gebäude ein Mahlstrom gewesen, aber das entstandene Loch schien besänftigt zu sein. Von weiterer Brutalität keine Spur.

Aber an der Nähe des Schismas konnte kein Zweifel bestehen.

Als sie aus dem Auto ausstiegen, spürten sie seine Energie in der Luft. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, ihre Eingeweide bebten. Es war so still wie im Auge des Hurrikans. Eine erhabene Stille, die geradezu danach schrie, unterbrochen zu werden.

Tesla betrachtete durch das Seitenfenster ihren Passagier.

Jaffe spürte, daß er beobachtet wurde, und schlug die Augen auf. Seine Angst war deutlich zu sehen. So geschickt er seine Gefühle früher verborgen hatte - und sie vermutete, daß ihm das gut gelungen war -, jetzt war er zu solchen Vorstellungen nicht mehr fähig.

»Wollen Sie kommen und es sich ansehen?« sagte sie.

Er ging nicht auf das Angebot ein, daher ließ sie ihn, wo er war. Sie mußte eine Pflicht erfüllen, bevor sie hineingingen, und während sie die erledigte, konnte sie ihm Zeit lassen, 711

seinen Mut zusammenzunehmen. Sie ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, bis sie hinter der Reihe der Palmen an der Einfahrt herauskam. Die Polizisten waren ihnen bis ans Tor gefolgt, aber nicht weiter. Sie überlegte, daß vielleicht nicht nur Angst sie an einer Verfolgung hinderte, sondern Befehle ihrer Vorgesetzten. Sie wagte nicht gerade zu hoffen, daß die Kavallerie in den nächsten Minuten den Hügel heraufgeritten kommen würde, aber vielleicht sammelten sie sich bereits, und diese Infanteristen hatten Anweisung erhalten, auf Distanz zu bleiben, bis die Truppe eintraf. Nervös waren sie eindeutig. Sie trat mit erhobenen Händen vor eine Reihe angelegter Gewehre.

»Das Gelände ist abgesperrt«, rief jemand von unten. »Kommen Sie mit erhobenen Händen herunter. Alle.«

»Das kann ich leider nicht tun«, antwortete Tesla. »Aber sehen Sie zu, daß es abgesperrt bleibt, ja? Wir haben hier etwas zu tun. Wer ist der Befehlshaber?« sagte sie und kam sich dabei vor wie eine Besucherin aus dem All.

Ein Mann im Maßanzug trat hinter einem der Fahrzeuge hervor.

Sie vermutete, daß er kein Polizist war.

Höchstwahrscheinlich vom FBI.

»Ich bin der Befehlshaber«, sagte er.

»Bekommen Sie Verstärkung?« fragte sie.

»Wer sind Sie?« wollte er wissen.

»Bekommen Sie Verstärkung?« wiederholte sie. »Glauben Sie mir, Sie werden mehr als ein paar Streifenwagen brauchen.

Aus diesem Haus wird eine gewaltige Invasion erfolgen.«

»Wovon sprechen Sie?«

»Lassen Sie den Hügel umstellen. Und riegeln Sie den Grove ab. Wir werden keine zweite Chance bekommen.«

»Ich frage nur noch ein einziges Mal...«, sagte der

Befehlshaber, aber sie unterbrach ihn und entfernte sich wieder, ehe er seine Frage zu Ende stellen konnte.

712

»Das machst du ziemlich gut«, sagte Grillo.

»Du weißt ja, was ein bißchen Übung macht«, sagte sie.

»Sie hätten dich erschießen können«, stellte Grillo fest.

»Haben sie aber nicht«, sagte sie, ging wieder zum Auto und machte die Tür auf. »Können wir?« sagte sie zu Jaffe. Zunächst achtete er nicht auf die Einladung. »Je früher wir anfangen, desto früher sind wir fertig«, sagte sie. Er stieg seufzend aus.

»Ich möchte, daß du hierbleibst«, sagte sie zu Grillo. »Wenn sich einer von denen bewegt, schreist du.«

»Du willst mich nur nicht drinnen haben«, sagte er.

»Das auch.«

»Hast du eine Ahnung, was du da drinnen machen willst?«

»Wir werden so tun, als wären wir zwei Kritiker«, sagte sie.

»Wir machen die ›Kunst‹ zur Sau.«

Als er noch jünger war, hatte Hotchkiss viel gelesen, aber Carolyns Tod hatte seinen Appetit nach Dichtung verkümmern lassen. Weshalb sollte er sich die Mühe machen und Thriller von Leuten lesen, die noch nie Gewehrfeuer gehört hatten?

Alles nur Lügen. Nicht nur die Romane. Auch diese Bücher, dachte er, während er die Regale im Mormon Book Store durchging. Ganze Bände über Offenbarung und Gottes Wirken auf Erden. Ein paar listeten Dreieinigkeit im Index auf, aber die Hinweise waren stets nur flüchtig und enthüllten gar nichts.

Die Suche bereitete ihm nur eine einzige Freude, nämlich, daß er den Laden auseinandernehmen und die Bücher beiseite werfen konnte. Ihre selbstgefälligen Überzeugungen erbosten ihn. Hätte er Zeit gehabt, hätte er sie vielleicht alle in Brand gesteckt.

Als er sich tiefer in den Laden begab, sah er einen

neongelben Volkswagen auf den Parkplatz fahren. Zwei

Männer stiegen aus. Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Einer hatte eine staubige Lumpensammlung

schlechtsitzender Kleidungsstücke an und - selbst auf diese 713

Entfernung - ein Gesicht, das so häßlich war, daß es jede Mutter zum Weinen gebracht haben würde. Sein Gefährte war im Vergleich dazu ein braungebrannter Adonis, der

Freizeitkleidung so buntschillernd wie ein Pfau trug. Keiner der beiden, vermutete Hotchkiss, wußte, wo sie sich befanden, noch in welcher Gefahr sie schwebten. Sie sahen sich verwirrt auf dem verlassenen Parkplatz um. Hotchkiss ging zur Tür.

»Sie sollten von hier verschwinden«, rief er ihnen zu.

Der Pfau sah in seine Richtung.

»Ist das Palomo Grove?«

»Ja?«

»Was ist passiert? Ein Erdbeben?«

»Es steht eins bevor«, sagte Hochtkiss. »Hören Sie, tun Sie sich selbst einen Gefallen und verschwinden Sie von hier.«

Jetzt sprach der Häßliche, dessen Gesicht mißgestalteter aussah, je näher er kam.

»Tesla Bombeck«, sagte er.

»Was ist mit ihr?« fragte Hotchkiss.

»Ich muß sie sprechen. Mein Name ist Raul.«

»Sie ist oben auf dem Hügel«, sagte Hotchkiss. Er hatte ge-hört, wie Tesla den Namen Raul erwähnte, aber nicht in welchem Zusammenhang.

»Ich bin gekommen, um ihr zu helfen«, sagte Raul.

»Und Sie?« fragte Hotchkiss den Adonis.

»Ron«, lautete die Antwort. »Ich bin nur der Chauffeur.« Er zuckte die Achseln. »He, wenn Sie wollen, daß ich von hier verschwinde, mit Vergnügen.«

»Das liegt bei Ihnen«, sagte Hotchkiss und ging wieder in den Laden. »Hier ist es nicht sicher. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Wir nehmen es zur Kenntnis«, sagte Ron.

Raul hatte das Interesse an der Unterhaltung verloren und betrachtete die Geschäfte. Er schien dabei zu schnuppern.

»Was soll ich machen?« rief Ron ihm zu.

714

»Geh nach Hause«, sagte er.

»Soll ich dich nicht den Hügel hinauffahren und Tesla suchen?« antwortete Ron.

»Ich finde sie schon.«

»Es ist ein weiter Weg, Mann.«

Raul warf Hotchkiss einen Blick zu. »Wir einigen uns«, sagte er.

Hotchkiss meldete sich nicht freiwillig für die Aufgabe, sondern machte sich wieder an die Suche und hörte der Unterhaltung auf dem Parkplatz nur mit halbem Ohr zu.

»Bist du sicher, daß wir Tesla nicht gemeinsam suchen sollen? Ich dachte, es wäre wichtig.«

»War es. Ist es. Aber... ich muß zuerst ein wenig Zeit hier verbringen.«

»Ich kann warten. Das macht mir nichts aus.«

»Ich habe nein gesagt.«

»Soll ich dich nicht zurückfahren? Ich habe mir gedacht, wir könnten heute nacht einen draufmachen. Du weißt schon, ein paar Bars besuchen...«

»Vielleicht ein andermal.«

»Morgen?«

»Eben ein andermal.«

»Ich verstehe. Nein danke, richtig?«

»Wenn du das sagst.«

»Mann, du bist echt unheimlich. Erst machst du mich an.

Jetzt willst du nichts mehr mit mir zu tun haben. Der Teufel soll dich holen. Ich kann mir den Schwanz überall lutschen lassen.«

Hotchkiss drehte sich um und sah, wie der Adonis zum Auto zurückkehrte. Der andere Mann war nicht mehr zu sehen. Er war zufrieden, daß die Störung vorüber war, und wandte sich wieder seiner Suche in den Regalen zu. Die Abteilung der Bücher über Mutterschaft schien nicht sehr vielversprechend zu sein, aber er ging sie trotzdem durch. Wie er erwartet hatte, 715

nur Gefasel und Plattheiten. Kein Hinweis, nicht einmal der entfernteste, auf eine Dreieinigkeit. Nur Geschwätz über Mutterschaft, die ein göttlicher Ruf war, Frauen, die in Partnerschaft mit Gott neues Leben in die Welt brachten, ihre größte und edelste Aufgabe. Und für die Nachkommen ein abgedroschener Rat: »Kinder, gehorcht euren Eltern und dem Herrn, denn so ist es recht!«

Er überflog pflichtschuldigst jeden Titel und warf die einzelnen Bände fort, wenn sie sich als nutzlos erwiesen hatten, bis er das Regal leergeräumt hatte. Blieben nur noch zwei Abteilungen, die er durchsuchen mußte. Keine schien allzu vielversprechend zu sein. Er stand auf, streckte sich und sah auf den sonnigen Parkplatz hinaus. Ein übelkeitserregendes Gefühl der Vorahnung drehte ihm den Magen um. Die Sonne schien, aber wie lange noch?

Hinter dem Parkplatz - ein gutes Stück dahinter - sah er den gelben Käfer, der aus dem Grove hinaus Richtung Freeway fuhr. Er beneidete den Adonis nicht um seine Freiheit. Er verspürte nicht den Wunsch, in ein Auto einzusteigen und wegzufahren. Was Orte zum Sterben anbelangte, da war der Grove so gut wie jeder andere: behaglich, vertraut, verlassen.

Wenn er schreiend starb, würde niemand seine Feigheit hören.

Wenn er stumm starb, würde niemand um ihn trauern. Sollte der Adonis gehen. Wahrscheinlich hatte er irgendwo sein Leben zu leben. Und es würde kurz sein. Wenn ihre Mission hier im Grove scheiterte - und die Nacht aus dem Jenseits in die Welt kam -, würde es sehr kurz sein. Und selbst wenn sie Erfolg hatten - eine geringe Hoffnung -, würde es immer noch kurz sein.

Und am Ende immer besser als am Anfang, wußte man doch, wie sich der Zeitraum dazwischen gestaltete.

Wenn das Äußere von Coney Eye das Auge eines Hurrikans war, dann war das Innere ein Funkeln in diesem Auge. Eine 716

durchdringendere Stille, die Tesla auf jedes Zucken in Wangen und Stirn und auf jede kleinste Ungleichmäßigkeit ihres Atmens aufmerksam machte. Sie trat mit Jaffe im Schlepptau ein und begab sich ins Wohnzimmer, wo er sein Verbrechen wider die Natur begangen hatte. Die Spuren dieses

Verbrechens waren rings um sie herum zu sehen, aber

mittlerweile erkaltet, die Verzerrungen erstarrt wie

geschmolzenes Wachs.

Sie betrat das Zimmer selbst. Das Schisma war noch an Ort und Stelle: Die gesamte Umgebung wurde auf ein Loch

zugezogen, das kaum zwei Meter Durchmesser hatte. Es war ruhig. Nichts deutete darauf hin, daß es sich breiter machen wollte. Wenn die Iad die Schwelle zum Kosm erreichten, würden sie einzeln durchsteigen müssen, es sei denn, sie konnten es, nachdem das Gefüge einmal aufgebrochen war, erweitern, bis es weit klaffte.

»Sieht nicht so gefährlich aus«, sagte sie zu Jaffe. »Wir haben eine Chance, wenn wir schnell genug sind.«

»Ich weiß nicht, wie ich es verschließen soll.«

»Versuchen Sie es. Sie wußten auch, wie man es aufreißt.«

»Das war Instinkt.«

»Und was sagen Ihnen Ihre Instinkte jetzt?«

»Daß ich keine Kraft mehr in mir habe«, sagte er. Er hob die verstümmelten Hände. »Ich habe sie abgebissen und ausgespuckt.«

»Sie war nur in Ihren Händen?«

»Ich glaube ja.«

Sie erinnerte sich an den Anblick im Einkaufszentrum: Der Jaff spritzte Gift in Fletchers Körper aus Fingern, die Energie zu schwitzen schienen. Jetzt waren eben diese Hände

verwesende Stümpfe. Aber sie konnte nicht glauben, daß Kraft eine Frage der Anatomie war. Kissoon war kein Halbgott, und doch war sein ausgemergelter Körper ein Reservoir der erschreckendsten Zaubersprüche. Wille war der Schlüssel zur 717

Macht, und Jaffe schien keinen mehr zu haben.

»Sie können es also nicht«, sagte sie nur.

»Nein.«

»Dann kann ich es vielleicht.«

Er kniff die Augen zusammen. »Das bezweifle ich«, sagte er mit einem leicht herablassenden Unterton in der Stimme. Sie tat so, als hätte sie es nicht bemerkt.

»Ich kann es versuchen«, sagte sie. »Der Nuncio ist auch in mir, wissen Sie noch? Sie sind nicht der einzige Gott in der Mannschaft.«

Diese Bemerkung zeitigte genau das Ergebnis, das damit be-zweckt worden war.

»Sie?« sagte er. »Sie haben nicht die geringste Chance.« Er betrachtete seine Hände, dann wieder das Schisma. »Ich habe es aufgemacht. Ich bin der einzige, der das jemals gewagt hat.

Und ich bin der einzige, der es wieder verschließen kann.«

Er ging an ihr vorbei auf das Schisma zu, und sein Schritt war wieder so leicht wie zuvor, als sie aus der Höhle geklettert waren. Das ermöglichte ihm, den unebenen Boden mit relativer Leichtigkeit zu überqueren. Erst als er noch einen oder zwei Meter von dem Loch entfernt war, wurde er langsamer. Dann blieb er stehen.

»Was ist denn?« sagte sie.

»Sehen Sie selbst.«

Sie ging durch das Zimmer auf ihn zu. Dabei stellte sie fest, daß nicht nur die sichtbare Welt verzerrt und zu dem Loch hin gekrümmt war, sondern auch die unsichtbare. Die Luft und die darin enthaltenen winzigen Staub- und Schmutzteilchen waren verzogen. Der Raum selbst war verschlungen, die Falten derart eingedickt, daß man sich nur mit Mühe hindurchbewegen konnte. Dieser Effekt war um so stärker, je näher sie dem Loch kam. Ihr Körper, der ohnedies bis aufs äußerste belastet war, war der Anforderung kaum gewachsen. Aber sie war

beharrlich. Und sie kam ihrem Ziel Schritt für Schritt näher, bis 718

sie so dicht an dem Loch war, daß sie in seinen Schlund sehen konnte. Es war kein leicht zu ertragender Anblick. Die Welt, die sie ihr ganzes Leben lang als vollständig und verständlich angesehen hatte, war dort vollkommen aus den Fugen geraten.

Ein solches Unbehagen hatte sie nicht mehr empfunden, seit jemand - wer, das wußte sie nicht mehr - ihr in ihrer Kindheit den Trick beigebracht hatte, durch zwei einander gegenüber aufgestellte Spiegel in die Unendlichkeit zu schauen. Damals war sie zwölf gewesen, höchstens dreizehn, und durch und durch verängstigt angesichts dieser Leere, die Leere wiedergab, hin und her, hin und her, bis zum Ende des Lichts. Sie hatte sich jahrelang an diesen Augenblick erinnert, als sie mit der physikalischen Repräsentanz von etwas konfrontiert worden war, wogegen ihr Verstand aufbegehrte. Hier lag derselbe Prozeß vor. Das Schisma stand in krassem Widerspruch zu ihren sämtlichen Vorstellungen von der Welt. Wirklichkeit als vergleichende Wissenschaft.

Sie sah in den Schlund. Nichts, was sie dort erblickte, war sicher. Wenn es eine Wolke war, dann eine bereits halb zu Regen gewordene Wolke. Wenn es Regen war, dann Regen, der im Begriff war, zu entflammen und zu Feuer zu werden.

Und jenseits von Wolke, Regen und Feuer ein gänzlich anderer Ort, aber ebenso zweideutig wie das Chaos der Elemente, das ihn halb verbarg: ein Meer, das ohne Horizont zum Himmel wurde. Die Essenz.

Sie wurde von dem heftigen, beinahe unwiderstehlichen Verlangen gepackt, dort zu sein, durch das Schisma zu klettern und das Geheimnis drüben zu kosten. Wie viele Suchende, die in Fieber- oder Drogenträumen der Möglichkeit gewahr wurden, hier zu sein, wo sie jetzt stand, waren aufgewacht und wollten lieber sterben als eine Stunde mit dem Wissen weiterleben, daß ihnen der Zutritt immer und ewig verwehrt war? Waren

erwacht, hatten getrauert und auf die schmerzvolle, heroische Weise, die ihrer Rasse eigen war, gehofft, daß Wunder möglich 719

waren; daß die Epiphanien von Musik und Liebe mehr als Selbsttäuschung waren, nämlich Hinweise auf ein höheres Dasein, wo Hoffnung mit Schlüsseln und Küssen belohnt wurde und sich Türen zum Immerwährenden auftaten.

Die Essenz war dieses Immerwährende. Sie war der Äther, in dem das Sein entstanden war, so wie die Menschheit aus der Suppe eines einfacheren Meeres entstanden war. Der Gedanke, daß die Essenz von den Iad befleckt wurde, war mit einem Mal unerträglicher für sie als die Vorstellung der bevorstehenden Invasion. Die Worte, die sie erstmals von Kissoon gehört hatte, fielen ihr wieder ein. Essenz muß erhalten werden. Mary Muralles hatte bestätigt, daß Kissoon nur log, wenn es unbedingt notwendig war. Das machte einen Großteil seines Genies aus; daß er sich an die Wahrheit hielt, solange sie seinem Ziel dienlich war. Und die Essenz mußte unbedingt erhalten werden. Ohne Träume war das Leben nichts.

Vielleicht wäre es ohne sie überhaupt gar nicht erst entstanden.

»Ich glaube, ich muß es versuchen«, sagte Jaffe, ging noch einen Schritt auf den Schlund zu und brachte sich damit in Reichweite davon. Seine Hände, die vor einer Minute noch völlig kraftlos ausgesehen hatten, waren vom Glanz der Kraft umgeben, die um so deutlicher zu sehen war, weil sie aus so schlimm verletztem Fleisch troff. Er streckte sie dem Schisma entgegen.

Daß es seine Anwesenheit und seine Absicht bemerkte,

wurde offenkundig, noch ehe er den Kontakt hergestellt hatte.

Ein Zucken lief über seinen Rand und über das Zimmer, das es in sich selbst verzerrt hatte. Die gefrorenen Verzerrungen erbebten und wurden wieder weicher.

»Es spürt uns«, sagte Jaffe.

»Wir müssen es trotzdem versuchen«, antwortete Tesla.

Plötzlich war der Boden unter ihren Füßen schlüpfrig; Verputz-stücke fielen von den Wänden und der Decke. Im Inneren des Schlunds erblühten die Wolken feurigen Regens in Richtung 720

Kosm.

Jaffe legte die Hände auf die tauende Verbindung, aber das Schisma hatte keine Geduld mit Gegnern. Ein weiteres Zucken lief hindurch, diesesmal so heftig, daß Jaffe in Teslas Arme geschleudert wurde.

»Sinnlos!« sagte er. »Sinnlos!«

Schlimmer als sinnlos. Falls sie einen Beweis brauchten, daß die Iad kamen, dann bekamen sie ihn jetzt, denn die Wolke wurde dunkler, ihre Bewegungen unmißverständlich. Die Flut hatte gewechselt, wie Jaffe vermutet hatte. Der Schlund des Schismas war nicht mehr bestrebt, etwas zu verschlingen, sondern auszuwürgen, was immer ihn erstickte. Um das zu

bewerkstelligen, ging er weiter auf.

Und mit dieser Bewegung begann der Anfang vom Ende.

721

VII

Das Buch, das Hotchkiss in Händen hielt, trug den Titel Vorbereitung auf Armageddon und war ein Handbuch mit Anweisungen für die Gläubigen. Ein Führer, wie man die bevorstehende Apokalypse Schritt für Schritt überstehen konnte. Es gab Kapitel über Vieh, über Wasser und Getreide, über Bekleidung und Unterkunft, Treibstoff, Wärme und Licht. Es enthielt eine fünfseitige Liste mit dem Titel Gebräuchliche Lebensmittel, die von Zuckersirup bis Wildbretdörrfleisch alles enthielt.

Zusätzlich waren, um Angst in allen Zweiflern zu erzeugen, die versucht sein mochten, ihre Vorbereitungen hinauszuschieben, Fotos von Katastrophen eingefügt, die sich überall in Amerika ereignet hatten. Bei den meisten handelte es sich um

Naturerscheinungen. Waldbrände, die uneindämmbar loderten; Hurrikane, die im Vorüberziehen ganze Städte dem Erdboden gleichmachten. Mehrere Seiten waren einer Flutkatastrophe in Salt Lake City im Mai 1983 gewidmet, mit Bildern von

Einwohnern Utahs, die Sandsäcke aufschichteten, um das Wasser aufzuhalten. Doch das Bild, das am deutlichsten über diesen endgültigen Katastrophen aufragte, war das des Atompilzes. Es waren mehrere Fotos dieser Wolke abgebildet; unter einem fand Hotchkiss folgende Legende:

Die erste Atombombe wurde am 16. Juli 1945 um 05.30 Uhr vom Erfinder der Bombe, Robert Oppenheimer, an einem Ort namens Trinity gezündet. Mit dieser Detonation begann das letzte Zeitalter der Menschheit.

Keine weitere Erklärung. Es war nicht Ziel des Buches, die Atombombe und ihre Funktionsweise zu erklären, sondern eine Anleitung, wie die Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sie und ihre Folgen überleben konnten.

Einerlei. Er brauchte keine Einzelheiten. Er brauchte nur das eine einzige Wort, Trinity - Dreieinigkeit -, in einem anderen Zusammenhang als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Hier war 722

es.

Die Drei-in-Einem auf einen einzigen Ort reduziert - sogar ein einziges Ereignis. Das war die Trinität, die alle anderen überragte. In der Fantasie des zwanzigsten Jahrhunderts war die Pilzwolke gewichtiger als Gott.

Er stand auf, Vorbereitung auf Armageddon in der Hand, und ging durch das Chaos weggeworfener Bücher zum

Eingang des Ladens. Draußen wartete ein Anblick auf ihn, bei dem er wie vom Schlag getroffen stehenblieb. Dutzende Tiere liefen frei auf dem Parkplatz herum. Welpen tollten, Mäuse liefen, von Kätzchen verfolgt, um ihr Leben; Schlangen wärmten sich auf dem heißen Asphalt. Er sah an den Fassaden der Geschäfte entlang. Ein Papagei kam durch die offene Tür von Ted Elizandos Tierhandlung geflogen. Hotchkiss kannte Ted nicht, wohl aber die Geschichten, die man sich von dem Mann erzählte. Da er selbst ein Thema des Klatschs war, hatte er immer genauestens darauf geachtet, was man sich von anderen berichtete. Elizando hatte den Verstand, seine Frau und das Baby verloren. Jetzt verlor er auch noch seine kleine Arche im Einkaufszentrum, deren Tiere er freiließ.

Die Aufgabe, die Nachricht von Tnnity zu Tesla zu bringen, war wichtiger als Worte des Trostes oder der Warnung für Elizando, selbst wenn ihm solche Worte eingefallen wären. Der Mann wußte offenbar, in welcher Gefahr er schwebte, andernfalls hätte er sein Inventar nicht freigelassen. Und was den Trost betraf: Was konnten Worte schon ausrichten? Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, ging Hotchkiss über den Parkplatz zu seinem Auto, wurde unterwegs aber wieder aufgehalten, diesesmal jedoch nicht von einem Anblick, sondern von einem Laut: dem kurzen, wütenden Schrei eines Menschen. Er kam aus der Tierhandlung.

Er war innerhalb von zehn Sekunden an der offenen Tür.

Drinnen wuselten noch mehr Tiere auf dem Boden herum, aber von ihrem Befreier war keine Spur zu sehen. Er rief den 723

Namen des Mannes.

»Elizando? Alles O. K.?«

Er bekam keine Antwort, und Hotchkiss fragte sich, ob der Mann Selbstmord begangen hatte. Die Tiere freigelassen und sich dann die Pulsadern aufgeschlitzt. Er sputete sich, schritt zwischen Schaukästen, den Käfigen und Körben dahin. Als er den Laden halb durchquert hatte, sah er Elizandos Leichnam auf der anderen Seite eines großen Käfigs. Dessen Bewohner, ein kleiner Schwarm Kanarienvögel, waren in Panik, flatterten hin und her und hatten ganz zerrupfte Flügel, weil sie dauernd gegen den Käfig prallten.

Hotchkiss ließ das Buch fallen und kam Ted zu Hilfe.

»Was haben Sie getan?« sagte er näherkommend. »Mein

Gott, Mann, was haben Sie getan?«

Als er bei dem Leichnam war, wurde ihm sein Irrtum klar.

Dies war kein Selbstmord. Die Verletzungen des Gesichts - das gegen das Gitter gedrückt war -, hatte dieser Mann sich nicht selbst zugefügt. Sie waren schlimm; ganze Fleischfetzen waren aus Wangen und Hals herausgerissen worden. Blut war durch das Drahtgitter gespritzt und bedeckte den Boden des Vogelkä-

figs, aber es strömte nicht mehr so heftig. Er war seit ein paar Minuten tot.

Hotchkiss stand ganz langsam auf. Wenn er nicht Elizandos Schrei gehört hatte, wessen dann? Er machte einen Schritt auf das Buch zu, um es wieder aufzuheben, aber da lenkte ihn eine Bewegung zwischen den Käfigen ab. Dicht hinter Elizandos Leichnam glitt eine Art schwarze Schlange über den Boden.

Sie bewegte sich rasch und hatte eindeutig die Absicht, zwischen ihn und den Ausgang zu kommen. Hätte er nicht das Buch aufheben müssen, wäre er vielleicht schneller als sie gewesen, aber als er Vorbereitung auf Armageddon wieder in Händen hielt, war sie bei der Tür. Jetzt, wo sie deutlich zu sehen war, wurden mehrere Einzelheiten deutlich. Dies war kein Flüchtling aus dem Laden; kein Haushalt im Grove hätte 724

ihm ein Heim gegeben. Es hatte ebensoviel Ähnlichkeit mit einer Moräne wie mit einer Schlange, aber selbst dieser Vergleich hinkte; in Wahrheit hatte Hotchkiss etwas Ähnliches noch nie gesehen. Und zuletzt bemerkte er, daß es eine Blutspur auf den Bodenfliesen hinterließ; und daß sein Mund ebenfalls blutverschmiert war. Dies war der Mörder von Elizando. Er wich davor zurück und beschwor den Namen des Erlösers, von dem er sich schon vor langer Zeit losgesagt hatte:

»Jesus Christus.«

Das Wort löste Gelächter irgendwo im hinteren Teil des Ladens aus. Er drehte sich um. Die Tür von Eds Büro stand weit offen. Das angrenzende Zimmer hatte zwar keine Fenster, und das Licht war nicht eingeschaltet, aber er konnte die Gestalt eines Mannes sehen, der mit überkreuzten Beinen auf dem Boden stand. Er konnte sogar erraten, um wen es sich handelte: die ungeschlachten Gesichtszüge von Tesla Bombecks Freund Raul waren selbst in der Dunkelheit nicht zu übersehen. Er war nackt. Diese Tatsache - seine Nacktheit und damit

Verwundbarkeit - verführten Hotchkiss, einen Schritt auf die offene Tür zuzugehen. Vor die Wahl gestellt, die Schlange oder ihren Beschwörer zu bekämpfen - sie steckten ganz sicher unter einer Decke -, entschied er sich für den Beschwörer. Ein kauernder nackter Mann war keine fürchterliche Bedrohung.

»Scheiße, was ist denn hier los?« wollte Hotchkiss wissen, während er näher kam.

Der Mann grinste in der Dunkelheit. Sein Lächeln war feucht und breit.

»Ich mache Lix«, antwortete er.

»Lix?«

»Hinter Ihnen.«

Hotchkiss mußte sich nicht umdrehen, um zu wissen, daß sein Fluchtweg immer noch versperrt war. Er hatte keine andere Wahl, als stehenzubleiben, obwohl ihn der Anblick vor sich in zunehmendem Maße abstieß. Der Mann war nicht nur 725

nackt, auf seinem Körper wimmelte es auch von der Brust bis zu den Oberschenkeln vor Insekten - die gesamten Vorräte an Fisch- und Echsenfutter des Ladens, die hier einem anderen Appetit dienlich waren. Ihre Bewegungen hatten das Glied des Mannes steif gemacht, und der gekrümmte Pimmel war das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Aber auf dem Boden vor ihm war ein Anblick, der ebenso ekelerregend, wenn nicht noch schlimmer war: ein kleiner Haufen Tierexkremente aus den Käfigen, in dessen Mitte eine Kreatur nistete. Nein, nicht nistete, sondern geboren wurde; sie schwoll vor Hotchkiss an und entrollte sich. Sie hob den Kopf aus der Scheiße, und er sah, daß es sich wieder um ein Exemplar der Gattung handelte, die ihr Erzeuger Lix genannt hatte. Es war bei weitem nicht die einzige. Glänzende Leiber wanden sich in allen Ecken des Zimmers, allesamt schlängelnde Muskeln, deren zuckende Bewegungen das Böse zum Ausdruck brachten. Zwei tauchten hinter ihrem Schöpfer auf. Eine weitere kroch an der Theke rechts von Hotchkiss hinauf und schlängelte sich auf ihn zu.

Um ihr auszuweichen, wich er einen Schritt zurück und bemerkte zu spät, daß diese Bewegung ihn in Reichweite einer anderen Bestie gebracht hatte. Diese war in zwei Herzschlägen an seinen Füßen und wand sich beim drittenmal an den Beinen hinauf. Er ließ Armageddon zum zweiten Mal fallen und bückte sich, um nach der Kreatur zu schlagen, aber der klaffende Mund biß zuerst zu; beide Bewegungen zusammen brachten Hotchkiss aus dem Gleichgewicht. Er taumelte gegen eine Reihe von Käfigen zurück und riß mit den rudernden Armen ein paar davon herunter. Sein zweiter Griff, diesesmal nach dem Regal selbst, war ebenso wirkungslos. Da es nur für Kätzchen und deren Käfige gedacht war, hielt es nicht stand; er fiel auf den Boden, und das Regal hinterher. Wären die Käfige nicht gewesen, wäre er vielleicht auf der Stelle getötet worden; aber sie hielten die Lix auf, die von allen Seiten auf ihn losstürmten. Zehn Sekunden wurden ihm gegönnt, während sie 726

versuchten, sich zwischen den Käfigen durchzuschlängeln, und in dieser Zeitspanne gelang es ihm, sich umzudrehen und Anstalten zu treffen, auf die Beine zu kommen, aber die Kreatur, die sich in seinem Bein festgebissen hatte, machte diesen Hoffnungen ein Ende, indem sie losließ und ihn in die Hüfte biß. Die Schmerzen machten ihn einen Augenblick blind, und als er wieder sehen konnte, waren auch die anderen Bestien zu ihm vorgedrungen. Er spürte eine im Nacken; eine weitere wickelte sich um seinen Oberkörper. Er wollte um Hilfe rufen, aber die Luft wurde ihm aus den Lungen

gequetscht.

»Außer mir ist keiner hier«, lautete die Antwort.

Er sah zu dem Mann namens Raul auf, der nicht mehr im Schneidersitz kauerte, sondern aufgestanden war - immer noch steif, immer noch von Insekten übersät - und eine Lix um den Hals geschlungen hatte. Er hatte die beiden ersten Finger der Hand in ihrem Maul und streichelte ihr den Rachen.

»Sie sind nicht Raul«, keuchte Hotchkiss.

»Nein.«

»Wer...?«

Das letzte Wort, das er hörte, bevor die Lix, die sich um seine Brust geschlungen hatte, den Druck verstärkte, war die Antwort auf diese Frage. Ein aus zwei sanften Silben

bestehender Name. Kiss und soon. An diese Worte dachte er zuletzt, wie an eine Prophezeiung. Kiss soon - küsse bald.

Carolyn wartete auf der anderen Seite des Todes und hatte die Lippen gespitzt, um ihn auf die Wangen zu küssen. Das machte die letzten Augenblicke nach all den Schrecken erträglich.

»Ich glaube, wir stehen hier auf verlorenem Posten«, sagte Tesla zu Grillo, als sie aus dem Haus kam.

Sie zitterte von Kopf bis Fuß, die Stunden der Entbehrungen und Schmerzen forderten ihren Tribut. Sie sehnte sich nach Schlaf, aber sie hatte Angst, sie könnte denselben Traum haben 727

wie Witt in der Nacht zuvor: die Reise zur Essenz, die bedeutete, daß ihr Tod sehr nahe war. Vielleicht war es so, aber sie wollte es nicht wissen.

Grillo nahm ihren Arm, aber sie winkte ihn fort.

»Du kannst mich ebensowenig stützen wie ich dich...«

»Was geht da drinnen vor sich?«

»Das Loch öffnet sich wieder. Es ist wie kurz vor einem Dammbruch.«

»Scheiße.«

Mittlerweile ächzte das ganze Haus; die Palmen entlang der Einfahrt schüttelten abgestorbene Blätter ab, und die Einfahrt bekam Sprünge, als würde von unten mit Preßlufthämmern da-gegengehämmert werden.

»Ich sollte die Bullen warnen«, sagte Grillo. »Sie darauf aufmerksam machen, was bevorsteht.«

»Ich glaube, wir haben verloren, Grillo. Weißt du, was aus Hotchkiss geworden ist?«

»Nein.«

»Ich hoffe, er kann weg, bevor sie durchbrechen.«

»Er wird nicht gehen.«

»Sollte er aber. Keine Stadt ist es wert, für sie zu sterben.«

»Ich glaube, es wird Zeit für meinen Anruf, findest du nicht?«

»Was für einen Anruf?« sagte sie.

»Abernethy? Ihm die schlechte Nachricht überbringen.«

Tesla seufzte leise. »Ja, warum eigentlich nicht? Die letzte Reportage.«

»Ich komme wieder«, sagte er. »Glaub nicht, du könntest alleine von hier verschwinden. Nein. Wir gehen gemeinsam.«

»Ich gehe nicht.«

Er stieg ins Auto ein und merkte erst, als er versuchte, mit der Hand die Zündung in Gang zu bringen, wie stark das Beben im Boden geworden war. Als es ihm schließlich gelungen war, das Auto anzulassen und die Einfahrt entlang zum Tor zu 728

fahren, stellte er fest, daß es überflüssig war, die Polizisten zu warnen. Die Mehrzahl hatte sich ein gutes Stück den Hügel hinunter zurückgezogen, nur ein Fahrzeug mit zwei Männern als Beobachtungsposten stand noch vor dem Tor. Sie

beachteten Grillo kaum. Ihre einzigen Sorgen - eine beruflich, eine persönlich - galten der Beobachtung des Hauses und einer raschen Flucht, sollten sich die Risse in ihre Richtung ausbreiten. Grillo fuhr an ihnen vorbei den Hügel hinunter.

Einer der Beamten weiter unten am Hügel unternahm einen halbherzigen Versuch, ihn aufzuhalten, aber er fuhr einfach an ihm vorbei Richtung Einkaufszentrum. Er hoffte, daß er dort eine öffentliche Telefonzelle finden würde, um Abernethy anzurufen. Dort würde er auch Hotchkiss finden und warnen, sollte er nicht bereits wissen, was die Stunde geschlagen hatte.

Während er durch das Rattenlabyrinth von versperrten, aufgerissenen und in Schluchten verwandelten Straßen

manövrierte, experimentierte er mit Schlagzeilen für seine letzte Reportage. Das Ende der Welt ist nahe war zu gewöhnlich. Er wollte nicht einer in einer langen Reihe von Propheten sein, die die Apokalypse versprochen hatten, auch wenn sie diesesmal - endlich - eintraf. Als er ins

Einkaufszentrum einbog, kurz bevor er das Tohuwabohu der Tiere zu sehen bekam, hatte er eine Inspiration. Die Erinnerung an Buddy Vance' Sammlung hatte sie ausgelöst. Er wußte, es würde ihn teuflische Mühe kosten, Abernethy die Schlagzeile zu verkaufen, aber es gab keine angemessenere für die Story als Die Fahrt ist vorbei. Die Rasse hatte Spaß an ihrem Abenteuer gehabt, aber jetzt ging es zu Ende.

Er stellte das Auto am Rand des Parkplatzes ab, stieg aus und betrachtete das bizarre Schauspiel des Tierkarnevals. Er konnte nicht anders, er mußte lächeln. Wie wonniglich war ihr Leben; sie wußten nichts. Sie spielten in der Sonne und hatten keine Ahnung, wie knapp ihre Lebensspanne noch bemessen war. Er ging über den Parkplatz zur Buchhandlung, aber 729

Hotchkiss war nicht dort. Das Inventar lag auf dem Boden verstreut, Beweis für eine Suche, die wahrscheinlich vergeblich gewesen war. Er ging weiter zur Tierhandlung, weil er hoffte, dort auf menschliche Gesellschaft zu treffen und ein Telefon zu finden. Von drinnen ertönte Lärm von Vögeln: die letzten Gefangenen des Geschäfts. Wenn er Zeit gehabt hätte, hätte er sie selbst freigelassen. Kein Grund, warum sie nicht auch einmal die Sonne sehen sollten.

»Jemand zu Hause?« sagte er und steckte den Kopf durch die Tür.

Ein Gecko lief zwischen seinen Beinen durch. Er sah ihm nach und hatte dieselbe Frage auf den Lippen. Aber er sprach sie nicht mehr aus. Der Gecko war auf dem Weg heraus durch Blut gelaufen; überall, wo er hinsah, war Blut verschmiert. Er sah Elizandos Leichnam zuerst, dann den anderen, der halb unter Käfigen begraben war.

»Hotchkiss?« sagte er.

Er zerrte die Käfige von dem Mann herunter. Nicht nur der Geruch von Blut lag in der Luft, auch der Gestank von Scheiße. Dieser färbte auf seine Hände ab, aber Grillo hörte trotzdem nicht auf, bis er sich vergewissert hatte, daß Hotchkiss tatsächlich tot war. Die Bestätigung dafür bekam Grillo, als er den Kopf freigelegt hatte. Der Schädel war zertrümmert worden, Knochenbruchstücke waren in die

Gallertmasse seines Verstandes und seiner Sinne eingedrungen und ragten wie Scherben heraus. Kein Tier in einem Laden dieser Größe hätte derartige Verletzungen zufügen können. Es war auch nicht ersichtlich, was für eine Waffe benützt worden war. Er hielt sich nicht lange damit auf, über dieses Problem nachzudenken, zumal die Möglichkeit bestand, daß die

Verantwortlichen sich noch in der Nähe aufhielten. Er sah sich um und suchte nach einer Waffe. Eine Peitsche, ein

Stachelhalsband, irgend etwas, mit dem er einen Attentäter abwehren konnte. Dabei sah er ein Buch, das ein Stück von 730

Hotchkiss' Leichnam entfernt auf dem Boden lag.

Er las den Titel laut.

»Vorbereitung auf Armageddon.«

Dann hob er es auf und blätterte hastig die Seiten durch. Es schien sich um einen Ratgeber zu handeln, wie man die Apokalypse überleben konnte. Es waren Worte der Weisheit von gläubigen Mormonen an Mitglieder der Kirche, die ihnen sagten, daß alles gut werden würde; daß sie Gottes lebende Orakel, den Ersten Präsidenten und den Rat der zwölf Apostel, auf ihrer Seite hatten, damit sie sie beraten und über sie wachen konnten. Sie mußten nur die Ratschläge, die seelischen und praktischen, befolgen, dann konnten sie alles überleben, was die Zukunft brachte.

»Seid ihr vorbereitet, so müsset ihr nichts fürchten«, war die Hoffnung - nein, Gewißheit - dieser Seiten. »Seid reinen Herzens, liebt eure Nächsten, seid rechtschaffen und haltet euch an heiligen Orten auf. Und hortet euren Jahresvorrat.«

Er blätterte weiter. Warum hatte Hotchkiss gerade dieses Buch mitgenommen? Hurrikane, Waldbrände und Sturmfluten?

Was hatten sie mit der Dreieinigkeit zu tun?

Und dann sah er es: das körnige Foto einer Atompilzwolke und darunter Worte, die den Ort nannten, wo sie zur

Detonation gebracht worden war.

Trinity, New Mexico.

Er las nicht weiter. Er lief mit dem Buch in der Hand über den Parkplatz, wobei Tiere vor ihm herstoben, und stieg ins Auto ein. Der Anruf bei Abernethy würde warten müssen. Er wußte nicht, wie sich die Tatsache ins Gesamtbild fügte, daß Trinity der Geburtsort der Atombombe war, aber vielleicht wußte es Tesla. Und selbst wenn nicht, hatte er die

Befriedigung, daß er ihr die Nachricht überbrachte. Er wußte, es war absurd, daß er plötzlich so zufrieden mit sich war, als würde diese Information etwas Entscheidendes verändern. Die Welt ging ihrem Ende entgegen - Die Fahrt ist vorbei -, aber 731

die Tatsache, daß er dieses winzige Bruchstück einer

Information in Händen hielt, nahm diesem Sachverhalt

vorübergehend seinen Schrecken. Er kannte keine größere Freude, als Überbringer von Neuigkeiten zu sein, ein Bote, ein Nuncio. Näher war er dem Glück noch niemals gewesen.

In der kurzen Zeit - nicht mehr als vier oder fünf Minuten -, die er im Einkaufszentrum verbracht hatte, hatte sich die Stabilität des Grove deutlich verschlechtert. Zwei Straßen, die auf dem Weg vom Hügel herunter noch befahrbar gewesen waren, waren es jetzt nicht mehr. Eine war buchstäblich ganz verschwunden - die Erde hatte sich einfach aufgetan und sie verschlungen -, auf der anderen lagen die Trümmer von zwei eingestürzten Häusern. Er fand eine dritte Route, die noch passierbar war, und raste bergauf, doch die Erdstöße wurden manchmal so heftig, daß er beinahe die Herrschaft über das Fahrzeug verlor. Während seiner Abwesenheit waren ein paar Schaulustige auf der Bildfläche erschienen, drei Helikopter ohne Kennzeichen, von denen einer unmittelbar über dem Haus von Vance schwebte, während seine Passagiere sich zweifellos um eine Einschätzung der Lage bemühten. Mittlerweile mußten sie erkannt haben, daß es sich hier nicht um ein Naturereignis handelte. Vielleicht kannten sie sogar die Ursache. D'Amour hatte Tesla gesagt, daß die Existenz der Iad den Höchsten der Hohen bekannt war. Wenn dem so war, dann hätten eigentlich schon vor Stunden Artilleristen das Haus umstellen müssen, und nicht eine Handvoll verängstigter Polizisten. Hatten die Politiker und Generäle den Beweisen in ihren Händen nicht getraut? Waren sie so pragmatisch, daß sie sich nicht vorstellen konnten, ihr Reich könnte von etwas bedroht werden, das von jenseits der Träume kam? Er konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Vor zweiundsiebzig Stunden hätte er diese Tatsache selbst noch nicht geglaubt. Er hätte sie als Unsinn abgetan, wie das Geschwafel von Gottes lebenden Orakeln in dem Buch, das neben ihm auf dem Sitz lag, als Ausgeburt einer überhitzten 732

Fantasie. Wenn die Beobachter blieben, wo sie waren, direkt über dem Schisma, dann würden sie die Möglichkeit bekommen, ihre Meinung zu ändern. Sehen hieß glauben. Und sie würden sehen.

Die Pforten von Coney Eye waren umgestürzt, ebenso die Mauer. Er ließ das Auto vor dem Geröll stehen, packte das Buch und kletterte auf das Haus zu, auf dem etwas, das er für den Schatten einer Wolke hielt, zu ruhen schien. Die Beben hatten die Risse in der Einfahrt vergrößert, und er mußte aufpassen, wohin er trat, obwohl eine beunruhigende Eigenart der Atmosphäre um das Haus herum seine Konzentration

erschwerte. Je näher er der Tür kam, desto dunkler schien der Schatten zu werden. Die Sonne schien ihm immer noch auf den Hinterkopf, und auch auf die Kuchen-im-Regen-Fassade von Coney Eye, trotzdem war die Szene rußig verfärbt, als wäre eine Schicht schmutziger Tünche über alle gestrichen worden.

Er bekam Kopfschmerzen vom Hinsehen; seine Stirnhöhlen kribbelten, in den Ohren heulte es. Noch beunruhigender als diese kleinen Unbehaglichkeiten war das greifbare Gefühl des Grauens, das mit jedem Schritt stärker wurde. Ekelerregende Bilder kamen ihm ins Gedächtnis zurück, die aus seiner jahrelangen Erfahrung in Redaktionen von einem Dutzend Zeitungen stammten, wo er Fotos gesehen hatte, die kein Redakteur, und wäre er noch so dickfellig gewesen, für den Druck freigegeben hätte. Selbstverständlich Autounfälle und Flugzeugabstürze - Leichen in Stücken, die nie wieder zusammengesetzt werden konnten. Unweigerlich auch

Mordszenen. Doch sie alle waren nicht die Spitze des Eisbergs.

Das waren Bilder von Unschuldigen und dem Leid, das ihnen zugefügt worden war. Babys und Kinder, geschlagen,

verstümmelt, auf den Müll geworfen; Gewalt gegen Alte und Kranke; Demütigung von Zurückgebliebenen. So viele

Grausamkeiten, und alle in seinem Kopf.

»Die Iad«, hörte er Tesla sagen und drehte sich in die Rich-733

tung ihrer Stimme um. Die Luft zwischen ihnen schien dick geworden zu sein, ihr Gesicht war grobkörnig, wie auf einem schlechten Foto. Nicht echt. Nichts war echt. Bilder auf einer Leinwand.

»Die Iad kommen«, sagte sie. »Das spürst du. Du solltest von hier weg. Es hat keinen Zweck, wenn du bleibst...«

»Nein«, sagte er. »Ich habe... eine Nachricht.«

Es fiel ihm schwer, sich an diesen Gedanken zu klammern.

Die Flut der Unschuldigen nahm kein Ende, einer nach dem anderen, und sie hatten alle Arten von Verletzungen.

»Was für eine Botschaft?«

»Trinity.«

»Was ist damit?«

Sie schrie, wurde ihm klar, und trotzdem war ihre Stimme kaum zu hören.

»Du hast Trinity gesagt, Grillo.«

»Ja?«

»Was ist damit?«

So viele Augen sahen ihn an. Er konnte an nichts anderes mehr denken; ihr Leid und ihre Ohnmacht.

»Grillo!«

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit, so gut er konnte, auf die Frau, die flüsternd seinen Namen brüllte.

»Trinity«, sagte sie wieder.

Er wußte, in dem Buch, das er in der Hand hielt, stand die Antwort auf ihre Fragen, aber die Augen, und das Elend in diesen Augen, lenkten ihn ab. Trinity. Was war Trinity? Er hob das Buch und gab es ihr, aber als sie es entgegennahm, fiel es ihm wieder ein.

»Die Bombe«, sagte er.

»Was?«

»Trinity ist der Ort, wo sie die erste Atombombe gezündet haben.«

Sie sah, wie ein Ausdruck des Verstehens über ihr Gesicht 734

huschte.

»Verstehst du es?« sagte er.

»Ja. Mein Gott! Ja!«

Sie machte sich nicht die Mühe, das Buch aufzuschlagen, das er mitgebracht hatte, sondern sagte ihm nur, er solle wieder zurückgehen, zur Straße. Er hörte zu, so gut es ging, wußte aber, er mußte ihr noch eine Information weitergeben. Etwas, das fast ebenso wichtig war wie Trinity; auch etwas über den Tod. Aber so sehr er sich auch bemühte, es fiel ihm nicht mehr ein.

»Kehr um«, sagte sie noch einmal zu ihm. »Verschwinde aus diesem Dreck.«

Er nickte, weil er wußte, er war ihr nicht mehr von Nutzen, und stolperte durch die verschmutzte Luft davon. Mit jedem Schritt, den er sich vom Haus entfernte, wurde der

Sonnenschein heller, und die Bilder toter Unschuldiger beherrschten sein Denken nicht mehr. Als er um die Ecke der Einfahrt bog und den Hügel sehen konnte, fiel ihm die Information wieder ein, die er nicht weitergegeben hatte.

Hotchkiss war tot; ermordet; Schädel zertrümmert. Jemand oder etwas hatte diesen Mord begangen und war immer noch auf freiem Fuß im Grove. Er mußte umkehren und es ihr sagen; sie warnen. Er wartete einen Augenblick, um die Bilder aus dem Kopf zu bekommen, die die Nähe der Iad erzeugt hatte.

Sie verschwanden nicht völlig, und er wußte, in dem

Augenblick, wo er zum Haus zurückging, würden sie mit erneuter Heftigkeit über ihn herfallen. Die verpestete Luft, die sie hervorgebracht hatte, breitete sich aus und hatte ihn bereits eingeholt. Bevor sie ihn wieder verwirren konnte, holte er einen Kugelschreiber heraus, den er aus dem Motel

mitgebracht hatte für den Fall, daß er sich Notizen machen mußte. Er hatte auch Papier vom Empfang mitgebracht, doch die Parade der Scheußlichkeiten bedrängte ihn wieder, und er hatte Angst, den Gedanken zu verlieren, während er nach dem 735

Block kramte, daher kritzelte er das Wort einfach auf den Handrücken.

»Hotchk...«, weiter kam er nicht. Dann konnten seine Finger nicht mehr schreiben, und in seinem Denken waren nur noch Trauer um die toten Unschuldigen und das Wissen, daß er Tesla noch einmal sehen mußte. Er drehte sich um und

stolperte wieder in den Einflußbereich der Iad. Aber als er die Stelle erreichte, wo die Frau, die flüsternd brüllte, gestanden hatte, war diese noch weiter zur Quelle der Grausamkeiten vorgedrungen, und er fürchtete um seine geistige Gesundheit, wenn er ihr weiter folgte.

Plötzlich begriff Tesla so viel, nicht zuletzt das Gefühl der Vorahnung, das sie immer in der Schleife gespürt hatte, besonders wenn sie durch die Stadt gekommen war. Sie hatte Filme von der Detonation der Bombe und der Vernichtung der Stadt in Dokumentarfilmen über Oppenheimer gesehen. Die Häuser und Geschäfte, die sie gesehen hatte, waren nur erbaut worden, damit sie zu Asche verbrannt wurden und die Erfinder der Bombe den Zorn ihres Babys am lebenden Objekt studieren konnten. Sie selbst hatte versucht, einen Dinosaurierfilm dort anzusiedeln. Ihr dramaturgisches Gespür hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Es war eine Stadt, die auf den Jüngsten Tag wartete. Nur bei dem Monster hatte sie sich geirrt. Gab es einen besseren Platz für Kissoon, die Beweise für seine Verbrechen zu verstecken? Wenn die Bombe hochging,

würden die Leichen völlig vernichtet werden. Sie konnte sich gut vorstellen, was für ein perverses Vergnügen es ihm bereitet haben mußte, eine derart weitreichende Schöpfung zu

verwirklichen; denn er wußte, die Wolke, die den Schwarm vernichtete, war eines der beständigsten Symbole des

zwanzigsten Jahrhunderts.

Aber er war überlistet worden. Mary Muralles hatte ihn in der Schleife eingesperrt, und bis er einen neuen Körper finden 736

konnte, um zu entkommen, hielt er den Augenblick der

Detonation ewig auf Distanz. Er hatte wie ein Mann gelebt, der den Finger auf den Riß eines Damms drückt und weiß, in dem Augenblick, wenn er seine Pflicht vernachlässigt, bricht der Damm und begräbt ihn unter sich. Deshalb hatte ihn das Wort Trinity in solche Panik gestürzt. Es war der Name seines Schreckens.

Gab es einen Weg, dieses Wissen gegen die Iad einzusetzen?

Während sie ins Haus zurückging, kam ihr ein bizarrer Einfall, aber dazu brauchte sie die Unterstützung von Jaffe.

In der Schlammgrube, die aus dem Schisma herausquoll, fiel es schwer, sich an zusammenhängende Gedanken zu

klammern, aber sie hatte schon früher gegen Beeinflussungen gekämpft, von Filmproduzenten und Schamanen, und daher gelang es ihr, das Allerschlimmste von sich abzuwenden. Aber es wurde immer schwerer, je näher die Iad der Schwelle kamen. Sie wagte nicht, an das ganze Ausmaß ihrer

Verderbtheit zu denken, wenn schon allein die ersten Vorboten ihres Erscheinens solche Auswirkungen auf die Psyche hatten.

Bei allen Überlegungen, wie die Invasion wohl aussehen würde, war sie nie auf die Idee gekommen, daß Wahnsinn ihre Waffe sein könnte. Aber vielleicht war es so. Es gelang ihr zwar, die Einflüsse des Bösen eine Zeitlang von sich

abzuhalten, sie wußte aber, früher oder später würde sie davor kapitulieren. Kein menschliches Gehirn konnte das alles ewig von sich fernhalten und hatte angesichts solcher Schrecken gar keine andere Wahl, als sich in den Wahnsinn zu flüchten. Die Iad Uroboros würden über einen Planeten voller Irrer

herrschen.

Jaffe war selbstverständlich bereits auf halbem Weg zum geistigen Zusammenbruch. Sie fand ihn an der Tür des

Zimmers, wo er die ›Kunst‹ angewendet hatte. Der Raum hinter ihm wurde inzwischen völlig vom Schisma

eingenommen. Als sie durch die Tür sah, begriff sie zum ersten 737

Mal richtig, wieso die Essenz ein Meer genannt wurde. Wogen dunkler Energie brandeten gegen das Ufer des Kosm, ihre Gischt spritzte durch das Schisma. Dahinter sah sie eine weitere Bewegung, die nur flüchtig zu erkennen war. Jaffe hatte von wandelnden Bergen gesprochen, und von Flöhen.

Doch Teslas Verstand beschwor ein anderes Bild, um die Invasoren zu charakterisieren. Sie waren Riesen. Die zum Leben erwachten Schrecken ihrer frühesten Alpträume. Bei diesen Begegnungen in der Kindheit hatten sie häufig die Gesichter ihrer Eltern gehabt, eine Tatsache, aus der ihr Analytiker eine Menge machte. Aber dies waren Riesen einer anderen Prägung. Wenn sie überhaupt Gesichter hatten, was sie bezweifelte, so waren diese nicht als solche zu identifizieren.

Nur eines war ganz sicher: fürsorgliche Eltern waren sie nicht.

»Sehen Sie?« sagte Jaffe.

»O ja«, sagte sie.

Er stellte die Frage noch einmal, und seine Stimme war gelö-

ster, als er sie jemals gehört hatte.

»Siehst du, Papa?«

»Papa?« sagte sie.

»Ich habe keine Angst, Papa«, fuhr die Stimme, die aus dem Jaff kam, fort. »Sie werden mir nicht weh tun. Ich bin der Todesjunge.«

Jetzt begriff sie. Jaffe sah nicht nur mit Tommy-Rays Augen, er sprach auch mit der Stimme des Jungen. Sie hatte den Vater an den Sohn verloren.

»Jaffe!« sagte sie. »Hören Sie mir zu. Ich brauche Ihre Hilfe!

Jaffe?« Er antwortete nicht. Sie vermied es, so gut sie konnte, in das Schisma hineinzusehen, ging zu ihm, packte ihn an seinem zerfetzten Hemd und zerrte ihn zur Eingangstür.

»Randolph!« sagte sie. »Sie müssen mit mir reden!«

Der Mann grinste. Das war kein Ausdruck, der jemals zu diesem Gesicht gehört hatte. Es war das breite, zähneflet-schende Grinsen eines kalifornischen Prinzen. Sie ließ ihn los.

738

»Sie sind mir eine große Hilfe«, sagte sie.

Sie durfte keine Zeit mehr mit dem Versuch vergeuden, ihn aus dem Abenteuer zu locken, das er mit Tommy-Ray teilte.

Sie mußte alleine durchführen, was sie vorhatte. Es war ein Unterfangen, das leicht zu planen und, vermutete sie, verdammt schwer - wenn nicht gar unmöglich - auszuführen war.

Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie war keine große Schamanin. Sie konnte das Schisma nicht verschließen. Aber sie konnte es vielleicht versetzen. Sie hatte schon zweimal bewiesen, daß sie die Macht hatte, in die Schleife und wieder heraus zu gehen. Sich selbst - und andere - in Gedanken aufzulö-

sen und nach Trinity zu bringen. Konnte sie auch leblose Materie transportieren? Holz und Mörtel? Zum Beispiel den Teil eines Hauses? Diesen Teil dieses Hauses? Konnte sie das Scheibchen des Kosm, das sie und das Schisma ausfüllten, auflösen und zum Punkt Null bringen, wo eine Kraft tickte, welche die Riesen zu Fall bringen konnte, bevor sie ihren Wahnsinn verbreiten konnten?

Sie würde keine Antworten auf diese Fragen bekommen,

wenn sie den Zauber nicht versuchte. Gelang es ihr nicht, lautete die Antwort nein. So einfach war das. Sie würde nur ein paar Augenblicke Zeit zur Erkenntnis haben, bevor Weisheit, ihr Scheitern und ihr Anspruch, eine Schamanin zu sein, rein akademisch wurden.

Tommy-Ray hatte wieder angefangen zu sprechen, und sein Monolog wurde zu einem zusammenhanglosen Stammeln.

»... hoch wie Andy...«, sagte er, »... nur noch höher... siehst du mich, Papa? ... hoch wie Andy... ich kann das Ufer sehen!

Ich kann das Ufer sehen!«

Immerhin ergab das einen Sinn. Er war in Sichtweite des Kosm, was bedeutete, die Iad waren beinahe ebenso nahe.

»... Todesjunge...«, fing er wieder an. »... ich bin der Todesjunge...«

»Können Sie ihn nicht abschalten?« sagte sie zu Jaffe, wußte 739

aber schon vorher, daß ihre Worte auf taube Ohren stoßen würden.

»Juuuu-huuu!« brüllte der Junge. »Wir kommen. Wir - kom-

men!«

Sie drehte sich nicht zu dem Schisma um, um festzustellen, ob die Riesen zu sehen waren, obwohl sie sich ernsthaft versucht fühlte. Der Augenblick würde kommen, da würde sie ihm ins Auge sehen müssen, aber sie war noch nicht bereit; sie war nicht ruhig, sie war nicht gewappnet. Sie ging einen Schritt zur Eingangstür zurück und hielt sich im Türrahmen fest. Er fühlte sich so verdammt solide an. Ihr gesunder

Menschenverstand wehrte sich gegen die Vorstellung, daß sie etwas derart Solides durch Gedankenkraft an einen anderen Ort und in eine andere Zeit versetzen konnte. Sie sagte ihrem gesunden Menschenverstand, er solle sie am Arsch lecken. Ihr gesunder Menschenverstand und der Wahnsinn, der aus dem Schisma drang, waren keine Gegensätze. Vernunft konnte grausam sein, Logik Wahnsinn. Es gab einen anderen

Geisteszustand, der derart naive Zweiteilungen beiseite fegte; der Energie dadurch erzeugte, daß er zwischen Daseinsformen war.

Alles für alle Menschen.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie D'Amour gesagt hatte, man würde von einem Erlöser in der Gegend munkeln. Sie hatte gedacht, er würde Jaffe meinen, aber sie hatte den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Sie war dieser Erlöser. Tesla Bombeck, die wilde Frau von West Hollywood,

spiegelverkehrt und wiederauferstanden.

Diese Erkenntnis verlieh ihr neuen Glauben; und mit diesem Glauben begriff sie auf einmal mühelos, wie sie den Zauber in die Tat umsetzen konnte. Sie versuchte nicht, Tommy-Rays idotische Juhu-Rufe zu verdrängen, oder den Anblick des schlaffen und besiegten Jaffe oder den ganzen Unsinn, daß das Solide zu Gedanken wurde und Gedanken das Solide

740

bewegten. Alles war ein Teil von ihr, auch die Zweifel. Die vielleicht ganz besonders.

Sie durfte die Verwirrung und die Widersprüche nicht

leugnen, um Macht zu bekommen; sie mußte sie akzeptieren.

Sie mußte sie mit dem Mund ihres Verstandes verschlingen, kauen, schlucken. Sie waren alle genießbar. Stoffliches und Nichtstoffliches, diese und jene Welt, alles war ein genießbarer und beweglicher Schmaus, und nichts konnte sie von dieser Tafel fernhalten.

Sie sah direkt in das Schisma hinein.

»Nicht einmal du«, sagte sie und fing an zu essen.

Als Grillo noch zwei Schritte von der Eingangstür entfernt war, waren die Unschuldigen zurückgekehrt und beanspruchten ihn, und so nahe am Schisma war ihr Angriff unbarmherziger denn je. Er konnte sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen, als Grausamkeiten um ihn herum emporstiegen. Er schien auf kleinen, blutigen Leibern zu gehen. Sie wandten ihm die schluchzenden Gesichter zu, aber er wußte, es gab keine Hilfe für sie.

Nicht mehr. Der Schatten, der sich über die Essenz bewegte, brachte das Ende der Barmherzigkeit mit sich. Und seine Herrschaft würde nie zu Ende gehen. Er würde niemals gerichtet, niemals zur Rechenschaft gezogen werden.

Jemand ging an ihm vorbei zur Tür, eine Gestalt, die in einer vom Leiden eingedickten Atmosphäre kaum zu erkennen war.

Grillo bemühte sich sehr, den Mann genauer anzusehen, doch wurde ihm lediglich ein kurzer Blick in ein wulstiges Gesicht mit derben Knochen und kantigem Kiefer gewährt. Dann ging der Fremde ins Haus. Bewegung auf dem Boden unter seinen Füßen lenkte den Blick von der Eingangstür weg. Die

Gesichter der Kinder waren immer noch zu sehen, aber jetzt hatte das Grauen eine neue Variante. Schwarze Schlangen, so dick wie sein Unterarm, krochen über die Gesichter hinweg, während sie dem Mann nach drinnen folgten. Er ging

741

angewidert einen Schritt weiter und gab sich der vergeblichen Hoffnung hin, er könnte eine oder alle zertreten. Der Schritt brachte ihn näher an den Rand des Wahnsinns, was seinem Kreuzzug paradoxerweise mehr Nachdruck verlieh. Er machte einen zweiten Schritt, dann einen dritten und versuchte, die schwarzen Bestien mit dem Absatz zu zertreten. Der vierte Schritt führte ihn über die Schwelle des Hauses und in einen völlig andersartigen Wahnsinn hinein.

»Raul?«

Ausgerechnet Raul.

Gerade als sie sich auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentriert hatte, kam er durch die Tür, und sein Auftauchen war so ein Schock, daß sie es einer Fehlfunktion ihres Denkens zuge-schrieben haben würde, wäre sie sich der Funktion ihres Verstandes jetzt nicht so sicher gewesen wie noch niemals vorher in ihrem Leben. Dies war keine Halluzination. Er stand leibhaftig vor ihr, hatte ihren Namen auf den Lippen und einen freundlichen Gesichtsausdruck zur Begrüßung.

»Was machst du denn hier?« sagte sie und spürte, wie sie die Macht über den Zauber verlor.

»Ich bin deinetwegen gekommen«, lautete seine Antwort.

Dann folgte die grimmige Erkenntnis, was er damit meinte. Lix schlängelten sich über die Schwelle ins Haus.

»Was hast du getan?« sagte sie.

»Wie schon gesagt«, antwortete er, »ich bin deinetwegen gekommen. Wir alle.«

Sie wich einen Schritt vor ihm zurück, aber da das Schisma das halbe Haus einnahm und die Lix die Eingangstür

bewachten, war der einzige Fluchtweg die Treppe hinauf. Das war bestenfalls eine vorübergehende Zuflucht. Sie würde da oben festsitzen und darauf warten, daß sie sie holten, wenn es ihnen paßte, aber die Mühe konnten sie sich sparen. In wenigen Minuten würden die Iad im Kosm sein. Und danach war der 742

Tod vielleicht erstrebenswert. Sie mußte bleiben, mit oder ohne Lix. Ihre Aufgabe lag hier, und sie mußte sie rasch erledigen.

»Bleib mir vom Leibe«, sagte sie zu Raul. »Ich weiß nicht, warum du hier bist, aber bleib mir vom Leibe!«

»Ich bin gekommen, um die Ankunft zu sehen«, antwortete Raul. »Wir können gemeinsam hier warten, wenn du magst.«

Raul hatte das Hemd aufgeknöpft; sie sah, daß er einen vertrauten Gegenstand an einer Kette um den Hals trug: das Medaillon des Schwarms. Dieser Anblick weckte einen

Verdacht in ihr: Das war überhaupt nicht Raul. Er benahm sich auch nicht wie der ängstliche Nunciat, den sie in der Misión de Santa Catrina kennengelernt hatte. Hinter seinem

Halbaffengesicht versteckte sich jemand anders: der Mann, der ihr das rätselhafte Symbol des Schwarms zum erstenmal gezeigt hatte.

»Kissoon«, sagte sie.

»Jetzt hast du mir meine Überraschung verdorben«, sagte er.

»Was hast du mit Raul gemacht?«

»Enteignet. Aus dem Körper vertrieben. Das war nicht

schwer. Er hatte eine Menge Nuncio in sich. Das machte ihn verfügbar. Ich habe ihn in die Schleife gezogen, so wie dich.

Nur war er eben nicht schlau genug, mir Widerstand zu leisten, so wie du oder Randolph. Er hat sich ziemlich schnell ergeben.«

»Du hast ihn ermordet.«

»O nein«, antwortete Kissoon unbekümmert. »Seine Seele ist am Leben und bei bester Gesundheit. Bewahrt mein Fleisch vor dem Feuer, bis ich zurückkomme. Ich werde meinen

Körper wieder bewohnen, sobald er aus der Schleife ist. Darin will ich ganz sicher nicht bleiben. Das ist widerlich.«

Plötzlich stürmte er ihr entgegen, so behende, wie nur Raul es sein konnte, und packte sie am Arm. Sie schrie, so fest war sein Griff. Er lächelte ihr wieder zu, kam mit zwei schnellen Schritten dicht an sie heran, und binnen eines Herzschlags war 743

sein Gesicht ganz dicht an ihrem.

»Ich hab' dich«, sagte er.

Sie sah an ihm vorbei zur Tür, wo Grillo stand und in das Schisma starrte; die Wellen der Essenz brandeten mit

zunehmender Häufigkeit und Heftigkeit. Sie schrie seinen Namen, aber er reagierte nicht. Schweiß lief ihm übers Gesicht; Speichel troff ihm aus dem offenen Mund. Wo immer er sein und wandern mochte, zu Hause war er jedenfalls nicht.

Wäre sie imstande gewesen, in Grillos Kopf zu sehen, hätte sie seine Faszination verstanden. Als er über die Schwelle getreten war, waren die Unschuldigen vor seinem geistigen Auge verschwunden und einem beißenderen Unwohlsein

gewichen. Sein Blick wurde zur Brandung gezogen, und dort erblickte er das Grauen. Zwei Menschen waren ganz dicht am Ufer, sie wurden angespült und von der Brandung, die sie zu ertränken drohte, wieder fortgerissen. Er kannte sie, obwohl ihre Gesichter stark verändert waren. Eine war Jo-Beth McGuire. Der andere Howie Katz. Weiter draußen glaubte er eine dritte Gestalt zwischen den Wellen zu sehen, blaß vor dunklem Himmel. Den kannte er nicht. Er schien kein Fleisch mehr am Schädel zu haben. Er war ein wellenreitender

Totenschädel.

Aber der wahre Schrecken fing erst noch weiter draußen an.

Gewaltige, verwesende Formen, die Luft um sie herum vor Aktivität knisternd, als würden sich Fliegen so groß wie Vögel an ihrer Fäulnis laben. DieIad Uroboros. Selbst jetzt, in seiner Faszination, suchte sein Verstand - von Swift inspiriert - nach Worten, um den Anblick zu beschreiben; aber wenn es um das Böse ging, war das Vokabular unzureichend. Verderbtheit, Niedertracht, Gottlosigkeit: was waren so simple Zustände im Angesicht von derart heillosem Grauen? Hobbys und

Unterhaltungen. Appetitanreger zwischen garstigeren

Hauptgängen. Er beneidete diejenigen, die den Verirrungen näher waren, beinahe um das Verständnis, das diese Nähe 744

bringen mußte...

Der in den Tumult der Wellen geworfene Howie hätte ihm das eine oder andere erzählen können. Als sich dieIad ihnen genähert hatten, war ihm wieder eingefallen, wo er dieses Entsetzen schon einmal gespürt hatte: im Schlachthof von Chicago, wo er vor zwei Jahren gearbeitet hatte. Erinnerungen an diesen Monat gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Der Schlachthof im Sommer, in den Rinnsteinen gerinnendes Blut, Tiere, die die Blasen und Därme leerten, wenn sie die Todesschreie derjenigen vor ihnen in der Reihe hörten. Leben, das mit einem einzigen Schuß in Fleisch verwandelt wurde. Er versuchte, durch diese gräßlichen Bilder hindurch zu Jo-Beth zu sehen, mit der er so weit gekommen war, auf dieser Flut, die sich verschworen hatte, sie vereint zu lassen, sie aber nicht schnell genug ans Ufer bringen konnte, damit sie den

Schlächtern entkommen konnten, die ihnen im Nacken saßen.

Ihr Anblick, der ihm die letzten verzweifelten Augenblicke versüßt haben könnte, wurde ihm nicht gewährt. Er konnte nur das Vieh sehen, das zu den Rampen getrieben wurde, und die Scheiße und das Blut, die mit Schläuchen weggespritzt wurden, und zuckende Kadaver, die an einem gebrochenen Bein in die Höhe gezogen und zum Ausweiden über das Fließband

geschickt wurden. Dasselbe Grauen erfüllte seinen Kopf für ewig und alle Zeiten.

Den Ort jenseits der Brandung konnte er ebensowenig sehen wie Jo-Beth, daher hatte er keine Ahnung, wie fern - oder wie nahe - sie dem Ufer waren. Hätte er sehen können, hätte er Jo-Beths Vater erblickt, der besessen war und mit Tommy-Rays Stimme sprach:

»... wir kommen! ... wir kommen...«

Und Grillo, der die Iad anstarrte; und Tesla, deren Leben von einem Mann bedroht wurde, einem Mann namens -

»Kissoon! Bei der Barmherzigkeit! Sieh sie doch an! Sieh sie an!«

745

Kissoon sah zum Schisma und der Fracht, die die Flut

brachte.

»Ich sehe sie«, sagte er.

»Glaubst du, die kümmern sich einen Scheißdreck um dich?

Wenn sie durchkommen, dann bist du tot, wie wir alle!«

»Nein«, sagte er. »Sie bringen eine neue Welt, und ich habe meinen Platz darin verdient. Einen hohen Platz. Weißt du, wie viele Jahre ich darauf gewartet habe? Geplant habe? Gemordet habe? Sie werden mich belohnen.«

»Du hast einen Vertrag unterschrieben, ja? Hast du es schriftlich?«

»Ich bin ihr Befreier. Ich habe das möglich gemacht. Du hättest damals in der Schleife zum Team stoßen sollen. Hättest mir eine Weile deinen Körper leihen sollen. Ich hätte dich beschützt. Aber nein. Du hattest deine eigenen Ambitionen. So wie er.« Er sah Jaffe an. »Genau dasselbe. Ihr mußtet unbedingt euer Stück vom Kuchen haben. Und ihr seid beide daran erstickt.« Er wußte, Tesla würde nicht fliehen, da sie keinen Ausweg mehr hatte, daher ließ er sie los und ging Jaffe einen Schritt entgegen. »Er war näher dran als du, aber dann fehlte ihm der Mumm.«

Jaffe gab nicht mehr Tommy-Rays ausgelassene Schreie von sich. Nur ein leises Stöhnen, das vom Vater kommen konnte oder vom Sohn oder von beiden.

»Du solltest sehen«, sagte Kissoon zu dem gequälten Gesicht. »Jaffe. Sieh mich an. Ich möchte, daß du siehst!«

Tesla sah zu dem Schisma. Wie viele Wellen konnten noch brechen, bis die Iad das Ufer erreichten? Ein Dutzend? Ein halbes Dutzend?

Kissoon wurde immer wütender auf Jaffe. Er fing an, den Mann zu schütteln.

»Sieh mich an, verdammt!«

Tesla ließ ihn toben. Dadurch bekam sie einen Augenblick Zeit; einen Augenblick, den sie nutzen und versuchen konnte, 746

die Versetzung in die Schleife erneut zu bewerkstelligen.

»Wach auf und sieh mich an, Pisser. Ich bin Kissoon. Ich bin draußen! Ich bin draußen!«

Sie machte sein Wüten zu einem Teil der Szene, die sie sich vorstellte. Sie konnte nichts ausklammern. Jaffe, Grillo, die Tür zum Kosm und natürlich die Tür zur Essenz - das alles mußte verschlungen werden. Auch sie, die Verschlingerin, mußte Teil der Versetzung sein. Zerkaut und in eine andere Zeit gespuckt.

Plötzlich hörte Kissoon auf zu schreien.

»Was machst du?« sagte er und drehte sich zu ihr um. Seine gestohlenen Gesichtszüge, die nicht daran gewöhnt waren, Wut auszudrücken, waren auf groteske Weise verzerrt. Sie ließ sich nicht von dem Anblick ablenken. Auch das war Teil der Szene, die sie verschlingen mußte. Sie war ihm ebenbürtig.

»Wage es nicht!« sagte Kissoon. »Hast du mich verstanden?«

Sie hörte ihn und aß weiter.

»Ich warne dich«, sagte er und kam wieder auf sie zu.

»Wage es nicht!«

Irgendwo im hintersten Winkel von Randolph Jaffes Erinnerungen lösten diese drei Worte und der Tonfall, in dem sie ausgesprochen wurden, ein Echo aus. Er war einmal in einer Hütte gewesen, mit einem Mann, der sie genauso

ausgesprochen hatte. Er erinnerte sich an die abgestandene Hitze in der Hütte und an den Geruch seines eigenen

Schweißes. Er erinnerte sich an den dürren alten Mann, der auf der anderen Seite des Feuers saß. Aber am allerdeutlichsten erinnerte er sich an den Wortwechsel, der ihm jetzt aus der Vergangenheit wieder ins Gedächtnis kam:

»Wage es nicht!«

»Es ist, als würde man ein rotes Tuch vor einem Stier wedeln, wenn man ›Wage es nicht!‹ zu mir sagt. Ich habe Dinge gesehen... getan...«

Nach den Worten erinnerte er sich an eine Bewegung. Seine 747

Hand griff zur Jackentasche, wo er ein Messer mit stumpfer Klinge fand, das dort wartete. Ein Messer mit Appetit darauf, versiegelte und geheime Dinge zu öffnen. Wie Briefe; wie Schädel.

Er hörte die Worte noch einmal -

»Wage es nicht!«

- und öffnete seine Wahrnehmung für die Szene, die sich vor ihm abspielte. Sein Arm, eine Parodie der kräftigen

Gliedmaßen, die er einmal gehabt hatte, griff in die Tasche. Er hatte das Messer all die Jahre über nie aus seinem Besitz gegeben. Es war immer noch stumpf. Es war immer noch

hungrig. Er schloß die verwesten Stümpfe um den Griff. Er sah den Hinterkopf des Mannes an, der aus seinen Erinnerungen gesprochen hatte. Dieser war ein leichtes Ziel.

Tesla sah die Bewegung von Jaffes Kopf aus den Augenwin-keln; sah, wie er sich von der Wand abstieß und die rechte Hand von der Jackentasche hob. Sie sah nicht, was er hielt, erst im letzten Augenblick, als Kissoon die Finger schon fest um ihren Hals gelegt hatte und die Lix sich um ihre Beine schlangen. Sie hatte die Versetzung nicht durch seinen Angriff aufhalten lassen. Auch er wurde zu einem Teil des Bildes, das sie verschlang. Und jetzt Jaffe. Der die Hand hob. Und das Messer, das sie endlich in der erhobenen Hand funkeln sah.

Und wie es heruntersauste und sich in Kissoons Nacken bohrte.

Der Schamane schrie, ließ die Hände von ihrem Hals sinken und streckte sie hinter den Kopf, um sich zu schützen. Sein Schrei gefiel ihr. Er war der Schmerz ihres Feindes, und ihre Macht schien mit seinem Bogen zu steigen; plötzlich war die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, leichter denn je, als würde ein Teil von Kissoons Stärke mit dem Schrei zu ihr

herübergetragen werden. Sie schmeckte den ganzen Raum, in dem sie sich befanden, im Mund ihres Geistes und kaute darauf. Das Haus erbebte, als ein großes Stück davon

abgebrochen und in die geschlossenen Augenblicke der

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Schleife transportiert wurde.

Sofort: Licht.

Das Licht der ewigen Dämmerung in der Schleife, das zur Tür hereinfiel. Und damit auch derselbe Wind, der ihr jedesmal, wenn sie hier gewesen war, ins Gesicht geweht hatte.

Er wehte durch die Diele und riß einen Teil des Einflusses der Iad mit sich fort und über die Wüste davon. Als der Einfluß schwächer wurde, sah sie, wie Grillo den starren

Gesichtsausdruck verlor. Er hielt sich am Türrahmen fest, blinzelte ins Licht und schüttelte den Kopf wie ein Hund, den Flöhe zum Wahnsinn treiben.

Da ihr Meister verwundet war, hatten die Lix ihren Angriff eingestellt, aber sie wagte nicht zu hoffen, daß sie sie lange in Ruhe lassen würden. Bevor er ihnen neue Anweisungen geben konnte, hastete sie zur Tür und hielt nur einmal an, um Grillo vor sich herzuschubsen.

»Was, in Gottes Namen, hast du getan?« sagte er, als sie auf den ausgebleichten Wüstenboden traten.

Sie drängte ihn von den versetzen Zimmern weg, die kein Gebäude mehr um sich herum hatten, das die Brecher der Essenz dämpfen konnte, und bereits langsam an jeder Ecke auseinanderbrachen.

»Möchtest du die gute oder die schlechte Nachricht hören?«

sagte sie.

»Die gute.«

»Dies ist die Schleife. Ich habe einen Teil des Hauses hierher versetzt...«

Jetzt, nachdem sie es getan hatte, konnte sie kaum glauben, daß es ihr gelungen war.

»Ich habe es getan«, sagte sie, als hätte Grillo ihr widerspro-chen. »Teufel noch mal, ich hab's geschafft!«

»Einschließlich der Iad?« sagte Grillo.

»Das Schisma und alles, was auf der anderen Seite ist, sind auch mitgekommen.«

749

»Und was ist die schlechte Nachricht?«

»Das ist Trinity, weiß du nicht mehr? Punkt Null.«

»Mein Gott.«

»Und das...« Sie deutete auf den Stahlturm, der nicht mehr als eine Viertelmeile von ihnen entfernt war. »... ist die Bombe.«

»Wann geht sie hoch? Haben wir Zeit...«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vielleicht detoniert sie nicht, so lange Kissoon noch am Leben ist. Immerhin hat er diesen Augenblick all die Jahre über festgehalten.«

»Gibt es einen Weg hinaus?«

»Ja.«

»In welche Richtung? Gehen wir.«

»Verschwende keine Zeit mit Wunschdenken, Grillo. Wir kommen hier nicht lebend raus.«

»Du kannst uns hinausdenken. Du hast uns ja auch hereinge-dacht.«

»Nein. Ich bleibe. Ich muß alles bis zum Ende sehen.«

»Das ist das Ende«, sagte er und deutete auf das Bruchstück des Hauses. »Sieh doch.«

Die Wände brachen zusammen und wurden zu Staub, als die Wellen der Essenz dagegenschlugen. »Wieviel Ende willst du denn noch? Sehen wir zu, daß wir abhauen.«

Tesla sah nach einer Spur von Kissoon oder Jaffe in dem Durcheinander, aber der Äther des Meers der Träume ergoß sich jetzt in alle Richtungen und war inzwischen so dick, daß er nicht mehr vom Wind verweht werden konnte. Sie waren

irgendwo da drinnen, aber nicht zu sehen.

»Tesla? Hörst du mir zu?«

»Die Bombe detoniert erst, wenn Kissoon tot ist«, sagte sie.

»Er hält den Augenblick fest...«

»Das hast du gesagt.«

»Wenn du zum Ausgang läufst, schaffst du es vielleicht. Er liegt in dieser Richtung.« Sie deutete über die Wolke zur Stadt 750

und auf der anderen Seite hinaus. »Aber du solltest dich rasch auf den Weg machen.«

»Denkst du, ich bin ein Feigling?«

»Habe ich das gesagt?«

Eine Ätherwoge kräuselte sich ihnen entgegen.

»Wenn du gehen willst, dann geh«, sagte sie, ohne einen Blick von den Trümmern der Diele und des Wohnzimmers von Coney Eye zu nehmen. Darüber, in den Fluten der Essenz gerade noch zu erkennen, war das Schisma, das in der Luft hing. Es riß immer weiter auf. Sie machte sich für den Anblick der Riesen bereit. Aber sie sah zuerst Menschen, zwei, die an diese trockene Küste geworfen wurden.

»Howie?« sagte sie.

Er war es. Und neben ihm Jo-Beth. Sie sah, daß ihnen etwas zugestoßen war. Ihre Gesichter und Körper waren eine Masse von Wucherungen, als hätte ihr Gewebe bösartige Geschwülste hervorgebracht. Sie wartete die nächste Ätherwoge ab, dann lief sie ihnen entgegen und rief dabei ihre Namen. Jo-Beth sah als erste auf. Sie nahm Howie bei der Hand und gesellte sich durch das Chaos zu Tesla.

»Hier entlang«, sagte Tesla. »Ihr müßt von dem Loch

weg...«

Der befleckte Äther induzierte Alpträume. Sie brannten darauf, gesehen zu werden. Aber Jo-Beth schien imstande zu sein, sich durch sie hindurch zu denken und eine einfache Frage zu formulieren.

»Wo sind wir?«

Darauf gab es keine einfache Antwort.

»Grillo wird es euch erzählen«, sagte sie. »Später. Grillo?«

Er war da, bekam aber denselben abwesenden Gesichtsausdruck, den sie schon unter der Tür von Coney Eye bei ihm gesehen hatte.

»Kinder«, sagte er. »Warum immer Kinder?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie zu ihm. »Hör 751

mir zu, Grillo.«

»Ich... höre«, sagte er.

»Du wolltest raus. Ich habe dir den Weg gezeigt. Erinnerst du dich?«

»Durch die Stadt.«

»Durch die Stadt.«

»Auf der anderen Seite hinaus.«

»Richtig.«

»Nimm Howie und Jo-Beth mit. Vielleicht kommt ihr immer noch davon.«

»Davon?« sagte Howie, der nur mit Mühe den Kopf heben konnte. Monströse Wucherungen drückten ihn nieder.

»Vielleicht entgeht ihr den Iad oder der Bombe«, sagte Tesla zu ihm. »Was euch lieber ist. Könnt ihr laufen?«

»Wir können es versuchen«, sagte Jo-Beth. Sie sah Howie an. »Wir können es versuchen.«

»Dann geht. Alle miteinander.«

»Ich verstehe... immer noch... nicht...«, begann Grillo, dessen Stimme den Einfluß der Iad verriet.

»Warum ich bleiben muß?«

»Ja.«

»Ganz einfach«, sagte sie. »Dies ist die letzte Prüfung. Alles für alle Menschen, erinnerst du dich?«

»Verdammt dumm«, sagte er und trotzte ihrem Blick, als würde ihr Anblick ihm helfen, den Wahnsinn fernzuhalten.

»Verdammt richtig«, sagte sie.

»So vieles...«, sagte er.

»Was?«

»Habe ich dir nicht gesagt.«

»Ebenso wie ich dir. Aber im Grunde war das auch nicht nö-

tig.«

»Du hattest recht.«

»Nur eines. Eines hätte ich dir sagen sollen.«

»Was?«

752

»Ich hätte sagen sollen...«, begann sie; dann grinste sie ein breites, beinahe ekstatisches Grinsen, das sie nicht vortäuschen mußte, weil es von einem zufriedenen Ort in ihr selbst kam.

Und damit unterbrach sie ihren Satz, wie sie so viele Telefongespräche mit ihm unterbrochen hatte, drehte sich um und lief in die nächste Woge, die aus dem Schisma

herausschwappte, wohin er ihr, wie sie genau wußte, nicht folgen konnte.

Jemand kam in ihre Richtung; ein weiterer Schwimmer im Meer der Träume, der ans Ufer geworfen wurde.

Tommy-Ray, der Todesjunge. Die Veränderungen, die mit Howie und Jo-Beth vonstatten gegangen waren, waren tiefgrei-fend, aber verglichen mit dem, was er durchgemacht hatte, waren sie barmherzig. Sein Haar war immer noch Malibugold, das Gesicht zeigte immer noch das Lächeln, das einst mit seinem Charme Palomo Grove in die Knie gezwungen hatte.

Aber nicht nur seine Zähne glänzten an ihm. Die Essenz hatte sein Fleisch gebleicht, so daß es wie Knochen aussah. Brauen und Wangen waren aufgequollen, die Augen eingesunken. Er sah wie ein lebender Totenschädel aus. Er wischte sich mit dem Handrücken einen Speichelfaden vom Kinn und richtete den Blick an Tesla vorbei zu der Stelle, wo seine Schwester stand.

»Jo-Beth...«, sagte er und schritt durch die Schwaden dunkler Luft. Tesla sah, wie Jo-Beth zu ihm blickte und sich dann einen Schritt von Howie entfernte, als wäre sie bereit, sich von ihm zu trennen. Sie hatte zwar dringende

Angelegenheiten zu erledigen, mußte aber zusehen, wie Tommy-Ray seine Schwester für sich forderte. Die Liebe zwischen Howie und Jo-Beth hatte diese ganze Geschichte in Gang gebracht, zumindest aber ihre letzten Kapitel. War es möglich, daß die Essenz diese Liebe zunichte gemacht hatte?

Einen Herzschlag später bekam sie die Antwort, als Jo-Beth noch einen Schritt von Howie wegging, bis sie auf Armeslänge 753

auseinander waren und sie mit der rechten Hand immer noch seine linke hielt. Dann sah Tesla, vom Kitzel der Erkenntnis er-füllt, was Jo-Beth ihrem Bruder zeigte. Sie und Howie Katz hielten einander nicht nur an den Händen. Sie waren zusammengewachsen.

Die Essenz hatte sie

zusammengeschweißt und ihre ineinander verschlungenen Finger zu einem Knoten gemacht, der sie verband.

Worte waren unnötig. Tommy-Ray stieß einen Aufschrei des Ekels aus und blieb unvermittelt stehen. Tesla konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Höchstwahrscheinlich hatte er keinen. Der Totenschädel konnte nur grinsen und Grimassen schneiden; Gegensätze kollidierten in einem Ausdruck. Aber sie sah Jo-Beths Miene auch durch den Dunst zwischen ihnen.

Sie drückte ein klein wenig Mitleid aus. Aber nur ein klein wenig. Der Rest war Gleichgültigkeit.

Tesla sah, wie Grillo Worte sprach, um die Liebenden zum Aufbruch zu bewegen. Sie gingen auf der Stelle, alle drei.

Tommy-Ray traf keinerlei Anstalten, ihnen zu folgen.

»Todesjunge?« sagte sie.

Er drehte sich zu ihr um. Der Totenschädel war noch fähig zu weinen. Tränen rannen über die Krümmung seiner

Augenhöhlen.

»Wie weit sind sie hinter dir her?« fragte sie. »Die Iad?«

»Iad?«

»Die Riesen.«

»Da sind keine Riesen. Nur Dunkelheit.«

»Wie weit?«

»Ganz nahe.«

Als sie wieder zum Schisma sah, begriff sie, was er mit Dunkelheit meinte. Klumpen von Dunkelheit kamen durch das Loch; sie wurden von den Wellen herausgespült wie

Teerklumpen, so groß wie Boote, die dann über der Wüste in die Luft stiegen. Sie besaßen eine Art Leben und trieben sich mit rhythmischen Bewegungen Dutzender von Gliedmaßen

754

vorwärts, die an ihren Flanken abstanden. Fasern der Materie, die ebenso dunkel waren wie ihre Körper, hingen wie

Schlingen verwesender Eingeweide unter ihnen herab. Sie wußte, das waren nicht die Iad selbst; aber diese konnten nicht mehr weit entfernt sein.

Sie wandte sich von dem Anblick ab und sah zu dem

Stahlturm und der Plattform darauf. Die Bombe war die allerletzte Dummheit ihrer Rasse, aber sie rechtfertigte ihre Existenz vielleicht, wenn sie schnell genug detonierte. Aber kein Flackern war auf der Plattform zu sehen. Die Bombe hing in ihrer Wiege wie ein gewickeltes Baby und weigerte sich zu erwachen.

Kissoon lebte immer noch und hielt den Augenblick immer noch fest. Sie ging zu den Trümmern in der Hoffnung, ihn zu finden, und in der noch vergeblicheren Hoffnung, seinem Leben mit ihren eigenen Händen ein Ende zu bereiten. Je näher sie kam, desto deutlicher wurde ihr bewußt, daß die

Aufwärtsbewegung der Klumpen zielstrebig war. Sie ordneten sich zu Schichten und schlangen die Auswüchse so ineinander, daß sie einen riesigen Vorhang bildeten. Er stand bereits neun Meter hoch in der Luft, und mit jeder Welle, die

herüberschwappte, kamen mehr Klumpen - ihre Zahl wuchs exponential zum Durchmesser des Schismas.

Sie suchte in dem Mahlstrom nach einer Spur von Kissoon und fand ihn und Jaffe auf der anderen Seite der Trümmer, die die Zimmer gewesen waren. Sie standen einander von

Angesicht zu Angesicht gegenüber und hatten die Hände um den Hals des jeweils anderen gelegt. Jaffe hielt immer noch das Messer in der Faust, wurde aber von Kissoon daran gehindert, es zum Einsatz zu bringen. Dennoch war es schon emsig gewesen. Rauls ehemaliger Körper war mit Stichwunden

übersät, aus denen Blut strömte. Die Schnitte schienen Kissoon nicht geschwächt zu haben. Während sie ihnen entgegenging, riß der Schamane an Jaffes Hals. Fleischfetzen lösten sich.

755

Kissoon hakte sofort nach und riß die Wunde weiter auf. Sie lenkte ihn mit einem Schrei von seinem Angriff ab.

»Kissoon!«

Der Schamane sah in ihre Richtung.

»Zu spät«, sagte er. »Die Iad sind fast da.«

Sie tröstete sich, so gut es ging, mit diesem fast.

»Ihr habt beide verloren«, sagte er und versetzte Jaffe einen Schlag mit der Rückhand, der diesen von ihm weg und zu Boden schleuderte. Der zerbrechliche, knochige Körper landete nicht schwer; dazu wog er nicht genug. Aber er rollte ein Stück weg, und das Messer fiel Jaffe aus der Hand. Kissoon warf seinem Gegner einen verächtlichen Blick zu, dann lachte er.

»Armes Flittchen«, sagte er zu Tesla. »Was hast du erwartet?

Eine Atempause? Einen grellen Blitz, der sie alle vernichtet?

Vergiß es. Das wird nicht geschehen. Der Augenblick ist festgehalten.«

Er kam auf sie zu, während er sprach, aber er kam, bedingt durch die zahlreichen Wunden, langsamer als gewohnt.

»Du hast eine Offenbarung gewollt«, sagte er. »Und jetzt hast du sie. Sie ist fast da. Ich finde, du solltest deine Unterwürfigkeit zeigen. Das wäre nur recht und billig. Laß sie deine Haut sehen.«

Er hob die Hände, die blutig waren, wie damals in der Hütte, als sie zum ersten Mal das Wort Trinity gehört und ihn mit dem Blut von Mary Muralles befleckt gesehen hatte.

»Die Brüste«, sagte er. »Zeig ihnen die Brüste.«

Tesla sah, wie Jaffe ein gutes Stück hinter ihm aufstand.

Kissoon entging die Bewegung. Er hatte nur Augen für

Tesla.

»Ich glaube, ich sollte sie für dich entblößen«, sagte er. »Gestatte mir, daß ich dir diesen Gefallen tue.«

Sie wich nicht zurück, leistete keinen Widerstand. Statt dessen machte sie ihr Gesicht vollkommen ausdruckslos, wußte sie doch, wie sehr ihm das Fügsame gefiel. Seine blutigen 756

Hände waren ekelerregend, der Ständer, der gegen den nassen Stoff seiner Hose drückte, war noch ekelerregender, aber es gelang ihr, den Ekel zu verbergen.

»Gutes Mädchen«, sagte er. »Gutes Mädchen.«

Er legte die Hände auf ihre Brüste.

»Was würdest du sagen, wenn wir aus gegebenem Anlaß

ficken?« sagte er.

Es gelang ihr nicht ganz, das Zittern zu unterdrücken, das sie bei seiner Berührung und dem Gedanken überkam.

»Gefällt es dir nicht?« sagte er plötzlich argwöhnisch. Er sah nach links und begriff die Verschwörung. Eine Andeutung von Angst stand ihm in den Augen. Er wollte sich umdrehen. Jaffe war zwei Meter von ihm entfernt und kam näher; er hatte die Klinge über den Kopf gehoben, und ihr Glanz war ein Echo von Kissoons glänzenden Augen. Zwei Lichter, die zusammengehörten.

»Nicht...«, begann Kissoon, aber das Messer sauste herunter, bevor er es verhindern konnte, und stieß in sein aufgerissenes rechtes Auge. Diesmal schrie Kissoon nicht, sondern stieß Atem in Form eines langgezogenen Stoßseufzers aus. Jaffe zog das Messer heraus und stach noch einmal zu; der zweite Stich war so akkurat wie der erste und drang ins linke Auge ein. Er stieß das Messer bis zum Heft hinein und zog es wieder heraus.

Kissoon schlug um sich, sein Stöhnen wurde zum Schluchzen, er fiel auf die Knie. Jaffe umklammerte das Messer mit beiden Händen und richtete einen dritten Hieb auf den Kopf des Schamanen; dann stieß er immer wieder zu und riß durch die Wucht seiner Stöße eine Wunde nach der anderen. Kissoon hörte so plötzlich zu schluchzen auf, wie er angefangen hatte.

Seine Hand, die er zum Kopf gehoben hatte, um weitere Hiebe abzuwehren, sank herunter. Der Körper blieb noch zwei Herzschläge aufrecht. Dann kippte er um.

Ein Beben der Freude lief durch Tesla, das nicht von größter Lust zu unterscheiden war. Sie wollte, daß die Bombe in 757

diesem Augenblick detonierte und die Erfüllung gleichzeitig mit der ihren fand. Kissoon war tot, und es wäre nicht schlecht, jetzt auch zu sterben, mit der Gewißheit, daß die Iad im selben Augenblick hinweggefegt werden würden.

»Los doch«, sagte sie zu der Bombe und versuchte, die Lust, die sie empfand, zu erhalten, bis ihr das Fleisch von den Knochen gebrannt wurde. »Los doch, ja? Warum gehst du nicht hoch?«

Aber es gab keine Explosion. Sie spürte, wie die Lust aus ihr wich und von der Erkenntnis verdrängt wurde, daß sie einen entscheidenden Faktor in alledem übersehen hatte. Da Kissoon tot war, mußte doch sicher das Ereignis eintreten, das er all die Jahre lang mit soviel Schweiß verhindert hatte? Jetzt; ohne Verzögerung. Aber es geschah nichts. Der Stahlturm stand immer noch.

»Was habe ich übersehen?« fragte sie sich. »Was in Gottes Namen habe ich übersehen?«

Sie sah zu Jaffe, der immer noch auf Kissoons Leichnam hinuntersah.

»Synchronizität«, sagte er.

»Was?«

»Das hat ihn umgebracht.«

»Das scheint das Problem aber nicht gelöst zu haben.«

»Welches Problem?«

»Dies ist Punkt Null. Dort ist eine Bombe, die nur darauf wartet zu detonieren. Er hat diesen Augenblick aufgehalten.«

»Wer?«

»Kissoon! Ist das nicht offensichtlich?«

Nein, Baby - sagte sie zu sich - das ist es nicht.

Selbstverständlich nicht. Plötzlich dachte sie daran, daß Kissoon die Schleife in Rauls Körper verlassen hatte und zurückkommen wollte, um seinen eigenen zurückzufordern.

Draußen im Kosm konnte er diesen Augenblick nicht

aufgehalten haben. Jemand anders mußte es an seiner Statt 758

getan haben. Und dieser jemand, diese Seele, tat es immer noch.

»Wohin gehen Sie?« wollte Jaffe wissen, als sie sich in Richtung der Wüste jenseits des Turms in Bewegung setzte.

Konnte sie die Hütte überhaupt finden? Er folgte ihr und stellte unablässig Fragen.

»Wie haben Sie uns hierher gebracht?«

»Ich habe alles verschlungen und wieder ausgespuckt.«

»Wie meine Hände?«

»Nein, nicht wie Ihre Hände. Ganz und gar nicht.«

Die Sonne wurde vom Schirm der Klumpen verdeckt, nur an manchen Stellen schien ihr Licht durch.

»Wohin gehen wir?« wiederholte er.

»Zur Hütte. Kissoons Hütte.«

»Warum?«

»Kommen Sie einfach mit. Ich brauche Hilfe.«

Ein Schrei in der Dunkelheit bremste ihr Vorankommen.

»Papa? «

Sie drehte sich um und sah Tommy-Ray, der aus dem

Schatten auf eine beleuchtete Stelle trat. Die Sonne war seltsam gnädig mit ihm und überstrahlte mit ihrem Schein die

schlimmsten Details seines verwandelten Zustands.

»Papa?«

Jaffe folgte Tesla nicht mehr.

»Kommen Sie«, drängte sie ihn, aber sie wußte bereits, daß sie ihn zum zweiten Mal an Tommy-Ray verloren hatte. Das erste Mal an seine Gedanken. Nun an seine Präsenz.

Der Todesjunge stolperte auf seinen Vater zu.

»Hilf mir, Papa«, sagte er.

Der Mann breitete die Arme aus und sagte nichts, was auch nicht erforderlich war. Tommy-Ray fiel in die Umarmung und hielt seinerseits Jaffe umklammert.

Tesla bot ihm eine letzte Gelegenheit, ihr zu helfen.

»Kommen Sie jetzt mit oder nicht?«

759

Die Antwort war einfach. -

»Nein«, sagte er.

Sie vergeudete keine Atemluft mehr für das Thema. Der Junge hatte ältere Rechte, Ur-Rechte. Sie sah, wie sie einander fester drückten, als wollten sie einander die Luft aus den Lungen pressen, dann drehte sie sich wieder zu dem Turm um und fing an zu laufen.

Sie verbot sich zwar Blicke zurück, doch als sie an den Turm kam - ihre Lungen schmerzten bereits, und es war immer noch weit bis zur Hütte -, sah sie trotzdem hin. Vater und Sohn hatten sich nicht bewegt. Sie standen auf einem hellen Fleck und hielten einander umarmt, und hinter ihnen versammelten sich die Klumpen immer noch. Aus dieser Entfernung sah ihre Konstruktion wie die Arbeit eines gewaltigen

Leichentuchmachers aus. Sie studierte den Vorhang einen Augenblick und überlegte fieberhaft, bis sie schließlich einen Grund für seine Existenz gefunden hatte, der lächerlich und plausibel zugleich war: dies war der Vorhang, hinter dem die Iad Uroboros erscheinen würden. Tatsächlich schien bereits Bewegung hinter den Falten zu herrschen; eine gewaltigere Dunkelheit, die sich versammelte.

Sie riß sich von dem Anblick los, sah kurz zu dem Turm und seiner tödlichen Last hinauf und ging dann wieder weiter in Richtung Hütte.

Die Reise in die Gegenrichtung, durch die Stadt und zur Grenze der Schleife, war nicht leichter als die von Tesla. Sie hatten alle zu viele Reisen hinter sich: in die Erde, ins Meer, zu Inseln und Höhlen und an die Grenzen ihrer geistigen

Gesundheit. Diese letzte Reise verlangte ihnen Energien ab, über die sie kaum noch verfügten. Mit jedem Schritt wollten ihre Körper aufgeben, und der harte Wüstenboden sah

behaglich aus, verglichen mit der Mühsal, sich weiter dahinzuschleppen. Aber die älteste Angst der Menschheit trieb 760

sie voran: die vor der verfolgenden Bestie. Diese hatte selbstverständlich weder Krallen noch Fangzähne, doch war sie um so tödlicher. Eine Bestie des Feuers. Erst als sie die Stadt selbst erreicht hatten, gingen sie langsamer und wechselten ein paar keuchende Worte.

»Wie weit noch?« wollte Jo-Beth wissen.

»Auf der anderen Seite der Stadt.«

Howie sah zum Vorhang der Iad zurück, der mittlerweile dreißig Meter und höher war.

»Glauben Sie, daß sie uns sehen?«

»Wer?« sagte Grillo. »Die Iad? Wenn ja, zu folgen scheinen sie uns jedenfalls nicht.«

»Das sind sie nicht«, sagte Jo-Beth. »Das ist nur ihr Vorhang.«

»Also haben wir noch eine Chance«, sagte Howie.

»Nutzen wir sie«, sagte Grillo und ging ihnen voran die Hauptstraße entlang.

Es war kein Zufall. In Teslas Verstand, so umnebelt er war, war der Weg durch die Wüste bis zur Hütte fest eingegraben.

Beim Gehen - zum Laufen war sie nicht mehr fähig - dachte sie an die Unterhaltung, die sie im Motel mit Grillo gehabt hatte, als sie ihm das Ausmaß ihrer spirituellen Ambitionen dargelegt hatte. Selbst wenn sie hier in der Schleife starb - und das war so gut wie unvermeidlich -, wußte sie, daß sie in den Tagen seit ihrer Ankunft in Palomo Grove mehr über die Wege der Welt erfahren hatte als in all den Jahren zuvor. Sie hatte Abenteuer außerhalb ihres Körpers erlebt. Sie hatte Inkarnationen von Gut und Böse kennengelernt und vieles über ihr Dasein erfahren.

Wenn sie bald aus diesem Leben scheiden mußte, entweder im Augenblick der Detonation oder bei Ankunft der Iad, hatte sie keinen Grund, sich zu beklagen.

Aber es gab so viele Seelen, die ihren Frieden mit der Auslö-

schung noch nicht gemacht hatten und es auch nicht sollten.

761

Säuglinge, Kinder, Liebende. Friedliche Menschen überall auf der Welt, deren Leben sich noch entwickelte, die, sollte sie jetzt scheitern, morgen aufwachen würden und keine Chance mehr hatten, dieselben Abenteuer der Seele zu erleben. Sklaven der Iad. Wo war dabei die Gerechtigkeit? Bevor sie nach Palomo Grove gekommen war, hatte sie die Antwort des

zwanzigsten Jahrhunderts auf diese Frage gegeben. Es gab keine Gerechtigkeit, weil Gerechtigkeit eine Erfindung der Menschen war, die im System der Materie keinen Platz hatte.

Aber der Verstand war immer in Materie. Das war die

Offenbarung der Essenz. Vor dem Leben, der Traum vom

Leben. Vor dem Soliden, das geträumte Solide. Und der Verstand, ob träumend oder wach, wußte, was Gerechtigkeit war, und demzufolge war sie so natürlich wie Materie, und wenn sie fehlte, verdiente das mehr als ein fatalistisches Achselzucken. Es verdiente einen entrüsteten Aufschrei; und eine leidenschaftliche Frage nach dem Warum. Wenn sie den bevorstehenden Holocaust überleben wollte, dann nur, um diese Frage hinauszuschreien. Um herauszufinden, welches Verbrechen ihre Rasse gegen den universellen Geist begangen hatte, daß sie nun vor der Auslöschung stand. Es lohnte sich zu überleben, um das herauszufinden.

Die Hütte war zu sehen. Ein Blick zurück bestätigte ihren Verdacht, daß die Iad hinter dem Vorhang der Klumpen emporstiegen. Die Riesen aus ihren Kindheitsalpträumen kamen aus dem Schisma und würden den Schleier bald wegreißen.

Wenn sie das taten, würden sie sie ganz bestimmt sehen und mit wenigen donnernden Schritten herkommen, um sie zu zertreten. Aber sie sputeten sich nicht. Ihre hünenhaften Gliedmaßen brauchten Zeit, um sich aus der Essenz

herauszuziehen; ihre Köpfe - so groß wie Häuser mit

erleuchteten Fenstern - waren gewaltig und brauchten die gesamte Maschinerie der Körper, bevor sie sich erheben konnten. Als sie sich wieder der Hütte zuwandte, löste sich der 762

Anblick der Invasoren vor ihrem geistigen Auge auf, und ihr Verstand versuchte, einen Zusammenhang in ihr titanisches Geheimnis zu bringen.

Die Tür der Hütte war selbstverständlich geschlossen. Aber nicht verschlossen. Sie machte sie auf.

Kissoon wartete auf sie. Sie bekam keine Luft mehr, so schlimm war der Schock seines Anblicks, und sie wollte gerade wieder in die Sonne zurückweichen, als ihr klar wurde, daß der Körper, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte, keine Seele mehr in sich hatte und nur noch der Stoffwechsel darin tickte, um ihn vor dem Verfall zu bewahren. Hinter den glasigen Augen war niemand. Die Tür schlug zu, und sie vergeudete keine Zeit mehr, sondern wandte sich unverzüglich an die einzig mögliche Seele, die den Augenblick anstelle von Kissoon festhalten konnte.

»Raul?«

Eine unsichtbare Präsenz wimmerte in der abgestandenen Luft der Hütte.

»Raul? Um Gottes willen, ich weiß, daß du hier bist. Ich weiß, daß du Angst hast. Aber wenn du mich hören kannst, dann zeig es mir irgendwie, ja?«

Das Wimmern wurde intensiver. Sie hatte den Eindruck, als würde er in der Hütte kreisen wie eine im Glas gefangene Fliege.

»Raul, du mußt loslassen. Vertraue mir und laß los.«

Das Wimmern fing an, ihr Schmerzen zu bereiten.

»Ich weiß nicht, was er dir angetan hat, damit du deinen Körper aufgibst, aber ich weiß, es war nicht deine Schuld. Er hat dich überlistet. Er hat dich belogen. Dasselbe hat er mit mir gemacht. Verstehst du? Dich trifft keine Schuld.«

Die Luft wurde ein wenig ruhiger. Sie holte tief Luft und begann erneut mit ihren Beschwörungen; sie erinnerte sich daran, wie sie ihn damals dazu gebracht hatte, mit ihr zusammen die Mission zu verlassen.

763

»Wenn jemand Schuld hat, dann ich«, sagte sie. »Verzeih mir, Raul. Wir sind beide am Ende angelangt. Aber wenn es ein Trost für dich ist - Kissoon auch. Er ist tot. Er kommt nicht mehr zurück. Dein Körper... kommt nicht mehr zurück. Er wurde zerstört. Es gab keine andere Möglichkeit, Kissoon zu töten.«

Der Schmerz des Winselns war einem anderen, tiefer empfundenen Leid gewichen: dem Wissen, wie sehr seine Seele leiden mußte, losgelöst und ängstlich und außerstande, den Augenblick loszulassen. Kissoons Opfer, das waren sie alle beide.

In gewisser Weise waren sie einander so ähnlich. Beide Nunciaten, die lernten, ihre Grenzen zu überwinden. Seltsame Bettgenossen, aber nichtsdestotrotz eben doch Bettgenossen.

Dieser Gedanke führte zu einem anderen.

Sie sprach ihn aus.

»Können zwei Seelen im selben Körper wohnen?« sagte sie.

»Wenn du Angst hast... komm in mich hinein.«

Sie ließ diesen Vorschlag wirken und bedrängte ihn nicht weiter, weil sie befürchtete, seine Panik könnte eskalieren. Sie wartete neben der kalten Asche des Feuers und wußte, jede Sekunde, die ungenutzt verstrich, verbesserte die Position der Iad, aber sie hatte keine Argumente oder Angebote mehr. Sie hatte ihm mehr geboten als jedem anderen in ihrem Leben: den uneingeschränkten Besitz ihres Körpers. Wenn er darauf nicht einging, hatte sie keine Argumente mehr.

Nach ein paar atemlosen Sekunden schien etwas über ihren Nacken zu streichen, wie die Finger eines Liebhabers, doch aus der Zärtlichkeit wurden unvermittelt Nadelstiche.

»Bist du es?« sagte sie.

Im selben Augenblick, als sie die Frage stellte, richtete sie sie auch schon an sich selbst, da seine Seele in ihren Kopf eindrang.

Keine Worte wurden gewechselt, und es war auch nicht

nötig, Worte zu wechseln. Sie waren Zwillingsgeister in 764

derselben Maschine, und im Augenblick seines Eindringens in völliger Übereinstimmung miteinander. Sie las in seinen Erinnerungen, wie Kissoon ihn überlistet hatte, wie er ihn aus dem Badezimmer im North Huntley Drive in die Schleife gezogen und seine Verwirrung dazu benützt hatte, ihn zu überwältigen. Er war leichte Beute gewesen. Bleischwerer Rauch hatte ihn niedergedrückt, und er war hypnotisiert worden, eine, und nur eine einzige, Pflicht zu erfüllen, nämlich den Augenblick festzuhalten, und danach war er aus seinem Körper gerissen worden und erledigte diese Pflicht in blindem Entsetzen, bis sie die Tür aufgemacht hatte. Sie mußte ihm ebensowenig sagen, welche Tat sie als nächstes gemeinsam begehen mußten, wie er ihr seine Geschichte erzählen mußte.

Er verstand alles, wie sie.

Sie ging zur Tür zurück und machte sie auf.

Der Vorhang der Iad war mittlerweile so hoch, daß sein Schatten über die Hütte fiel. Immer noch fielen ein paar Sonnenstrahlen hindurch, aber keiner in der Nähe der

Schwelle, auf der Tesla stand. Hier herrschte nur Dunkelheit.

Sie sah zu dem Schleier und erkannte die Iad, die sich dahinter versammelten. Ihre Umrisse glichen Gewitterwolken, ihre Gliedmaßen waren wie Peitschen, die gedacht waren, Berge damit zu prügeln.

Jetzt, dachte sie. Oder nie. Laß den Augenblick los.

Laß - ihn - los.

Sie spürte, wie Raul gehorchte, seine Willenskraft gab den Halt frei und streifte die Last ab, die Kissoon ihm auferlegt hatte. Eine Woge schien von ihnen zu dem Turm zu verlaufen, hinter dem die Iad aufragten. Nach jahrelangem Aufhalten wurde die Zeit freigesetzt. Fünf Uhr dreißig am sechzehnten Juli war nur noch Augenblicke entfernt, ebenso das Ereignis, welches diesen unschuldigen Augenblick als Anfang des letzten Wahnsinns der Menschheit kennzeichnete.

Sie mußte an Grillo, Jo-Beth und Howie denken und drängte 765

sie förmlich durch den Ausgang und in die Sicherheit des Kosm, aber ihr Gedankengang wurde unterbrochen, als

Helligkeit im Herzen der Schatten aufleuchtete. Sie konnte den Turm nicht sehen, wohl aber die Schockwelle, die von seiner Plattform ausging, den Feuerball, der sichtbar wurde, und den zweiten Blitz, der einen Sekundenbruchteil später aufleuchtete, das grellste Licht, das sie je gesehen hatte, binnen eines Augenblicks von Gelb zu Weiß...

Wir können nichts mehr tun, dachte sie, während das Feuer obszön anschwoll. Ich könnte nach Hause gehen.

Sie stellte sich vor, wie sie - Frau, Mann und Affe in einer Person - auf der Schwelle der Hütte stand und das Licht der Bombe ihr ins Gesicht schien. Dann stellte sie sich dasselbe Gesicht und den Körper an einem anderen Ort vor. Sie hatte nur Sekunden Zeit. Aber Gedanken waren schnell.

Jenseits der Wüste sah sie, wie die Handlanger der Iad den Schleier beiseite zogen, doch die grelle Wolke dehnte sich aus und verdeckte sie. Ihre Gesichter waren wie Blumen, so groß wie Berge, deren Kelche und Schlünde sich öffneten, öffneten, immer weiter öffneten. Es war ein erschreckender Anblick, ihre Unermeßlichkeit schien Labyrinthe zu enthalten, deren Innerstes nach außen gekehrt wurde, während sie sich enthüllten.

Tunnel wurden zu Türmen aus Fleisch, wenn sie Fleisch hatten, und veränderten sich wieder und wieder, so daß jeder Teil von ihnen konstanter Verwandlung unterlag. Wenn ihre Gier tatsächlich Einmaligkeit war, dann als Erlösung von diesem unablässigen Strom.

Berge und Flöhe, hatte Jaffe gesagt, und jetzt sah sie, was er damit gemeint hatte. Die Iad waren entweder eine Rasse von Leviathans, auf denen eine Unzahl Parasiten hausten,

weswegen sie immerzu ihre Eingeweide öffneten und sich der vergeblichen Hoffnung hingaben, sie könnten sie loswerden, oder aber sie waren die Parasiten selbst - so zahlreich, daß sie Berge nachahmten. Was von beidem zutraf, würde sie diesseits 766

des Lebens oder Trinity nicht mehr erfahren. Bevor sie die zahlreichen Gestalten interpretieren konnte, die sie annahmen, verbarg die Explosion sie und brannte ihr Geheimnis aus.

Im selben Augenblick verschwand Kissoons Schleife, die ihre Aufgabe in einer Weise erfüllt hatte, die ihr Schöpfer niemals vorhersehen konnte. Wenn die Errungenschaft auf dem Turm die Iad nicht völlig vernichtete, so waren sie dennoch dahin, ihr Wahnsinn und ihre Gier in einem einzigen

Augenblick verlorener Zeit eingeschlossen.

767

VIII

Als Howie, Jo-Beth und Grillo die Region an der Grenze der Schleife erreicht hatten, die winzige Zeitspanne diesseits oder jenseits von 5.30 Uhr am 16. Juli 1945, die Kissoon erschaffen und beherrscht hatte und deren Gefangener er gewesen war, er-blühte hinter ihnen ein Licht. Nein, nicht erblühte. Pilze hatten keine Blüten. Keiner drehte sich um, aber sie verlangten ihren erschöpften Körpern eine letzte übermenschliche Anstrengung ab, die sie, mit dem Feuer im Rücken, in die Sicherheit der Echtzeit brachte. Sie lagen auf dem Wüstenboden und konnten sich lange Zeit nicht bewegen; und sie rappelten sich erst auf die Füße, als sie das Risiko nicht mehr auf sich nehmen konnten, in der Sonne gebraten zu werden.

Es war ein langer und schwieriger Rückweg nach

Kalifornien. Nachdem sie eine Stunde herumgeirrt waren, fanden sie einen Highway, und wieder eine Stunde später eine verlassene Garage an diesem Highway. Dort ließ Grillo die Liebenden zurück, weil er wußte, es war unmöglich, mit solchen Freaks im Schlepptau eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen. Er selbst wurde nach geraumer Zeit mitgenommen und kaufte mit seiner gesamten Barschaft aus der Brieftasche und sämtlichen Kreditkarten einen alten, verbeulten

Lieferwagen, dann fuhr er zu der Garage zurück, holte Jo-Beth und Howie ab und fuhr mit ihnen ins Ventura County zurück.

Sie lagen tief schlafend auf der Pritsche des Lieferwagens und waren so erschöpft, daß nichts sie aufwecken konnte. Kurz vor der Dämmerung des nächsten Tages waren sie wieder in

Palomo Grove, aber es war unmöglich hineinzugelangen.

Dieselben Mächtigen, die so langsam oder gar nicht reagiert hatten und den Grove - wegen Komplizenschaft, vermutete Grillo - nicht gegen die Mächte verteidigten, die in seiner Mitte durchbrechen wollten, wurden nun geradezu besessen vorsichtig. Die Stadt war abgesperrt. Grillo widersprach der 768

Anordnung nicht. Er wendete einfach, als er die Absperrungen sah, und fuhr den Highway zurück, bis er eine Stelle gefunden hatte, wo er den Wagen parken und schlafen konnte. Ihr Schlaf wurde nicht gestört. Stunden später, als er wieder zu sich kam, war er allein. Er stand mit schmerzenden Gliedmaßen auf, ging pissen und machte sich dann auf die Suche nach den

Liebenden. Er fand sie an einem Hügel, wo sie saßen und in die Sonne sahen. Die Veränderungen, die die Essenz an ihnen beiden bewirkt hatte, bildeten sich bereits zurück. Ihre Hände waren nicht mehr zusammengewachsen, die bizarren

Wucherungen, die ihre Gesichter entstellt hatten, waren weggebrannt, bis sie kaum mehr als Narben auf vormals makelloser Haut waren. Mit der Zeit würden wahrscheinlich auch sie verschwinden. Er bezweifelte jedoch, daß der Ausdruck in ihren Augen jemals verschwinden würde, den er wahrnahm, als sie ihn ansahen: die Blicke von zwei Menschen, die etwas erlebt hatten, was niemand sonst auf der Welt erlebt hatte, und die durch dieses gemeinsame Erlebnis untrennbar aneinandergekettet waren. Kaum hatte er mehr als eine Minute in ihrer Gegenwart verbracht, fühlte er sich wie ein

Eindringling. Die drei unterhielten sich kurz darüber, wie man am besten weiter verfahren sollte, und kamen zu dem Ergebnis, daß es am besten wäre, in der Gegend des Grove zu bleiben.

Sie erwähnten mit keinem Wort die Ereignisse in der Schleife oder der Essenz, obwohl Grillo darauf brannte zu erfahren, wie es gewesen war, im Meer der Träume zu schwimmen.

Nachdem sie einen vorläufigen Plan gemacht hatten, ging Grillo zum Lieferwagen zurück und wartete auf sie. Sie kamen ein paar Minuten später Hand in Hand.

Es mangelte keineswegs an Zeugen, die miterlebt hatten, wie Tesla einen Teil von Coney Eye versetzte. Beobachter und Fotografen auf dem Hügel und in den Hubschraubern darüber sahen, wie die Fassade dunstig wurde, dann durchsichtig, und 769

schließlich völlig verschwand. Nachdem ein großer Teil seiner Struktur nicht mehr existierte, ergab sich das gesamte Haus der Schwerkraft. Wären nur zwei oder drei Zeugen anwesend gewesen, hätte man den Wahrheitsgehalt der Aussagen

wahrscheinlich in Zweifel gezogen. Nur auf den Seiten des National Enquirer mit ihrer fantasievollen Druckerschwärze wurden Holz und Mörtel in eine andere Existenzebene

gezogen. Aber es waren alles in allem zweiundzwanzig

Zuschauer. Alle hatten ihr eigenes Vokabular, um zu

beschreiben, was sie gesehen hatten - manche derb, manche blumig -, aber die essentiellen Fakten waren stets dieselben.

Ein großer Teil von Buddy Vance' Museum der wahren Kunst Amerikas war in eine andere Wirklichkeit gerissen worden.

Einige der Zeugen - die aufmerksamsten der Gruppe - behaupteten sogar, sie hätten diese andere Wirklichkeit ganz kurz sehen können. Ein weißer Horizont und ein strahlender Himmel; Staub, der verweht wurde. Vielleicht Nevada, oder Utah.

Einer von vielen tausend möglichen weiten, offenen Orten. Davon besaß Amerika nicht wenige. Das Land war riesig und dennoch voller Leere. Orte, wo ein Haus wieder auftauchen konnte und dennoch nie gefunden wurde; wo jeden Tag der Woche Geheimnisse geschehen konnten, ohne daß es jemand mitbekam. Ein paar Zeugen, die den Anblick gesehen hatten, überlegten sich zum ersten Mal, daß ein Land möglicherweise zu groß sein konnte, mit zuviel offenem Raum. Jetzt war ihnen der Gedanke gekommen, und er sollte sie fortan quälen.

Ein solcher Raum würde, zumindest in absehbarer Zeit, das Gelände sein, auf dem Palomo Grove erbaut worden war.

Die schleichende Zerstörung hörte nicht auf, als ein Teil von Coney Eye in die Schleife versetzt wurde. Im Gegenteil. Die Erde hatte nur auf das Signal gewartet, und sie bekam es. Risse wurden zu Sprüngen, Sprünge zu Spalten, die ganze Straßen verschlangen. Windbluff und Deerdell wurden am meisten in 770

Mitleidenschaft gezogen, letzteres wurde von den

Schockwellen aus dem Wald buchstäblich dem Erdboden

gleichgemacht; der Wald selbst verschwand völlig von der Erdoberfläche und ließ nur aufgewühlte, rauchende Erde zurück. Der Hügel und seine stattlichen Anwesen mußten ähnlich schwere Schläge einstecken. Aber nicht die Häuser, die direkt an Coney Eye angrenzten, bekamen die Hauptlast der Verwüstung zu spüren - was auch weiter keine Rolle gespielt haben würde; ihre Besitzer waren als erste weggezogen und hatten sich geschworen, sie würden nie wieder zurückkommen.

Es waren die Crescents. Emerson rutschte zweihundert Meter nach Süden, die Häuser dort wurden dabei wie Ziehharmonikas zusammengedrückt. Whitman rutschte nach Westen ab, und durch eine Laune der Geographie kippten die Häuser dort in ihre eigenen Pools. Die anderen drei Crescents wurden einfach in Trümmer gelegt, und der größte Teil der Trümmer rutschte am Hügel herunter und verwüstete die angrenzenden Häuser.

Das alles war völlig unwichtig. Niemand würde kommen und etwas aus den Häusern retten; die gesamte Gegend galt sechs Tage lang als instabil, und in dieser Zeit wüteten

unkontrollierte Feuer und vernichteten einen Großteil der Anwesen, die nicht eingestürzt oder verschluckt worden waren.

Diesbezüglich war Stillbrook der unglücklichste Ortsteil; dort hätten die einstigen Bewohner mit der Zeit vielleicht ihre Habseligkeiten geborgen, wäre nicht in einer Nacht, in der der Wind wehte - welcher die Bewohner des Grove manchmal auf die Straße gelockt hatte, damit sie die Luft riechen konnten, die vom Meer hereinwehte -, in einem Haus in der Fellowship Street ein Feuer ausgebrochen, das die Böen mit vernichtender Geschwindigkeit durch das ganze Viertel wehten. Am Morgen bestand der halbe Ortsteil nur noch aus Asche. Am Abend desselben Tages auch die andere Hälfte.

In dieser Nacht, der Nacht, in der Stillbrook niederbrannte, 771

sechs Tage nach den Ereignissen auf dem Hügel, kehrte Grillo in den Grove zurück. Er hatte die Hälfte der verstrichenen Zeit verschlafen, fühlte sich aber kaum erfrischter. Schlaf war nicht mehr die Erleichterung, die er einmal gewesen war. Er wurde nicht mehr von ihm besänftigt, getröstet und wiederbelebt.

Wenn er die Augen zumachte, spulte sein Kopf eine Szene aus der Vergangenheit nach der anderen ab. Den größten Teil der Vorführungen nahmen jüngste Ereignisse ein. Ellen Nguyen spielte eine Hauptrolle; sie bat ihn immer wieder, mit dem Küssen aufzuhören und die Zähne zu gebrauchen; ebenso ihr Sohn, der von Ballon-Männern umgeben im Bett saß. In einer Nebenrolle trat mehrmals Rochelle Vance auf, die nichts tat und nichts sagte, aber der Parade ihre Schönheit darbot. Da war der gute Mann Fletcher, unten im Einkaufszentrum. Da war der Jaff im oberen Zimmer von Coney Eye, der Energie

ausschwitzte. Und Witt lebend; und Witt tot, mit dem Gesicht nach unten im Wasser.

Aber der Star der Geschichte war Tesla, die ihm den letzten Streich gespielt und gelächelt und nicht Lebewohl gesagt hatte, obwohl sie wußte, daß es eines war. Sie waren keine Liebenden gewesen; nicht einmal annähernd. In gewisser Weise hatte er nie richtig begriffen, was er für sie empfand. Ganz sicher Liebe, aber eine Art Liebe, die schwer zum Ausdruck zu bringen war; möglicherweise unmöglich. Was es ebenso

problematisch machte, um sie zu trauern.

Dieses Gefühl, daß zwischen ihm und Tesla noch etwas

unerledigt war, brachte ihn dazu, keinen der Anrufe zu beantworten, die Abernethy auf seinen Anrufbeantworter zu Hause sprach, obwohl die Geschichte ihm, weiß Gott, in den Fingern juckte. Sie hatte immer Zweifel daran ausgedrückt, wenn er sie der Öffentlichkeit bekanntgeben wollte, auch wenn sie es am Ende genehmigt hatte. Aber das war nur gewesen, weil sie das Thema ohnedies als akademisch einstufte, da die Welt fast am Ende war und so gut wie keine Aussicht bestand, 772

sie zu retten. Aber das Ende war nicht gekommen, und sie war gestorben, weil sie die Welt gerettet hatte. Er fühlte sich bei seiner Ehre verpflichtet zu schweigen. Doch so diskret er war, er mußte zum Grove zurückkehren und herausfinden, wie sein Untergang vonstatten ging.

Als er eintraf, war die Stadt immer noch unzugängliches Ge-lände und von Polizeiabsperrungen umgeben. Doch diese waren nicht schwer zu umgehen. Seit der Grove abgeriegelt worden war, waren die Bewacher nachlässig geworden, zumal nur wenige Menschen - Schaulustige, Plünderer oder

Einwohner - närrisch genug gewesen waren, zu den instabilen Straßen zurückkehren zu wollen. Er schlüpfte mühelos durch den Kordon und begann, die Stadt zu erkunden. Der Wind, der gestern noch das Feuer durch Stillbrook getrieben hatte, hatte sich völlig gelegt. Der Rauch des Großfeuers war

heruntergesunken, sein Geruch war beinahe süß wie Holz, wie der Rauch von feinem Feuerholz. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht elegisch gewesen, aber er wußte zuviel über den Grove und seine Tragödie, sich derlei Gefühlsduselei hinzugeben. Es war unmöglich, die Verwüstungen zu

betrachten, ohne das Ende des Grove zu bedauern. Seine größte Sünde war die Scheinheiligkeit gewesen - daß er sein heiteres, sonniges Leben geführt und absichtlich sein geheimes Selbst verborgen hatte. Dieses Selbst hatte Ängste ausgeschwitzt und eine Zeitlang Träume Wirklichkeit werden lassen, und diese Träume und Ängste, nicht Jaffe und Fletcher, hatten den Untergang des Grove schließlich besiegelt. Die Nunciaten hatten die Stadt zu ihrer Arena erkoren, aber sie hatten in ihrem Krieg nichts erfunden, was der Grove nicht ohnehin schon in seinem Herzen gehegt und genährt hatte.

Während er sich umsah, fragte er sich, ob es vielleicht nicht eine andere Möglichkeit gab, die Geschichte des Grove zu erzählen, ohne sich über Teslas Gebot hinwegzusetzen. Wenn er Swift vergaß und vielleicht nach einer poetischen, 773

dichterischen Weise suchte, alles Erlebte in Worte zu kleiden.

Das war ein Vorgehen, über das er schon einmal nachgedacht hatte, aber er wußte heute wie damals, daß er scheitern würde.

Er war als Buchstabengetreuer in den Grove gekommen, und nichts, was ihm der Grove gezeigt hatte, würde ihn jemals vom Kult nüchtern wiederzugebender Fakten abbringen.

Er machte einen Rundgang durch die Stadt und vermied

lediglich die Gegenden, wo ein Spaziergang auf Selbstmord hinausgelaufen wäre; er machte sich im Geiste Notizen über die Verwüstungen, obwohl er wußte, er würde sie nicht gebrauchen können. Dann schlich er sich wieder unerkannt davon und kehrte nach L. A. zurück, zu weiteren Nächten voller Erinnerungen.

Bei Jo-Beth und Howie war es anders. Sie hatten ihre dunkle Nacht der Seele in den Fluten der Essenz erlebt, und die anschließenden Nächte im Kosm waren ohne Träume.

Jedenfalls konnten sie sich an keine erinnern, wenn sie erwachten.

Howie wollte Jo-Beth davon überzeugen, daß sie am besten nach Chicago zurückkehrten, aber sie bestand darauf, daß derartige Pläne verfrüht waren. Sie wollte die Gegend nicht verlassen, solange der Grove noch zur Gefahrenzone erklärt und die Leichen nicht geborgen worden waren. Sie zweifelte nicht daran, daß Mama tot war. Aber bevor sie aus dem Grove gebracht worden war und ein christliches Begräbnis bekommen hatte, war an ein gemeinsames Leben jenseits dieser Tragödie überhaupt nicht zu denken.

Derweil mußten sie ihre Verletzungen heilen lassen, und das taten sie hinter den verschlossenen Türen eines Motels in Thousand Oaks, das so nahe am Grove lag, daß Jo-Beth unter den ersten sein konnte, die dorthin zurückkehrten, wenn der Ort wieder als sicher galt. Die Male, die die Essenz ihnen zugefügt hatte, wurden bald zu Erinnerungen, und die beiden 774

lebten in einem seltsamen Limbo. Alles war beendet, aber nichts Neues konnte anfangen. Und während sie warteten, wuchs eine Distanz zwischen ihnen, die keiner befürwortete oder ermutigte, die aber auch keiner verhindern konnte. Die Liebe, die in Butrick's Steak House angefangen hatte, hatte eine Reihe Katastrophen ausgelöst, für die man sie, wie sie wußten, nicht verantwortlich machen konnte, die sie aber dennoch quälten. Während sie in Thousand Oaks warteten, lag die Schuld schwer auf ihnen, und je mehr ihre Wunden heilten, desto schwerer wurde die Last, weil ihnen bewußt wurde, daß sie, anders als viele Bewohner des Grove, ohne körperliche Schäden aus der Sache herausgekommen waren.

Am siebenten Tag nach den Ereignissen in Kissoons Schleife erfuhren sie aus den Nachrichten, daß Suchtrupps in die Stadt vordrangen. Die Vernichtung des Grove war selbstverständlich eine aufsehenerregende Geschichte gewesen, und es wurden die verschiedensten Theorien aufgestellt, weshalb nur diese Stadt für derlei Verwüstungen ausgesucht worden war,

wogegen der ganze Rest des Tals mit einigen schwachen Erdstößen und ein paar Rissen in den Straßen davongekommen war. Kein Bericht brachte etwas über die Ereignisse in Coney Eye; Druck von seiten der Regierung hatte alle zum Schweigen gebracht, die das Unmögliche mit eigenen Augen gesehen hatten.

Anfangs kehrten die Leute nur zögernd in den Grove zurück, aber am Ende dieses Tages war eine große Zahl Überlebender in der Stadt und versuchte, Andenken und Souvenirs aus den Trümmern zu retten. Manche hatten Glück. Die meisten nicht.

Auf jeden Einwohner des Grove, der zurückkehrte und sein Haus unversehrt fand, kamen sechs, die völlige Verwüstung vorfanden. Alles eingestürzt, zertrümmert oder schlicht und einfach im Erdboden verschwunden. Das Viertel mit den wenigsten Schäden war paradoxerweise das mit den wenigsten Einwohnern: das Einkaufszentrum und seine unmittelbare 775

Umgebung. Das polierte Schild Einkaufszentrum Palomo Grove neben der Einfahrt des Parkplatzes war in ein Loch gestürzt, ebenso ein Teil des Parkplatzes selbst, aber die Geschäfte waren weitgehend unbeschädigt, was natürlich zur Folge hatte, daß Ermittlungen wegen zweier Mordfälle

aufgenommen wurden - die nie aufgeklärt werden sollten -, als man die Leichen in der Tierhandlung fand. Abgesehen von den Leichen jedoch, hätte das Einkaufszentrum an diesem Tag nach etwas Abstauben aufmachen können, wären noch Bewohner dagewesen, um einzukaufen. Marvin jr. von Marvin's Food and Drug war der erste, der für den Abtransport der unverdorbenen Ware sorgte. Sein Bruder besaß einen Laden in Pasadena, und der Kundschaft war es egal, woher die Ware kam. Er

entschuldigte sich nicht dafür, mit welcher Hast er sich an die Plünderung machte; Geschäft war schließlich Geschäft.

Was sonst noch aus dem Grove weggeschafft wurde, und das war eine grimmigere Aufgabe, waren natürlich die Leichen.

Hunde und schallempfindliche Ausrüstung wurden gebracht, um nach möglichen Überlebenden zu suchen, aber sämtliche Bemühungen blieben ergebnislos. Danach kam das grausige Unternehmen, die Toten zu bergen. Aber nicht alle Einwohner, die ums Leben gekommen waren, wurden gefunden. Als fast zwei Wochen nach Beginn der Suchaktion erste Berechnungen angestellt wurden, blieben einundvierzig Bewohner der Stadt verschollen. Die Erde hatte sie für sich beansprucht und sich über ihren Leichen geschlossen. Oder die fraglichen Personen hatten sich in der Nacht davongeschlichen und die Gelegenheit genützt, irgendwo ein neues Leben anzufangen. Zur letzteren Gruppe, munkelte man, gehörte William Witt, dessen

Leichnam nie gefunden wurde, in dessen Haus man aber eine Pornosammlung entdeckte, die ausgereicht haben würde, die Rotlichtbezirke mehrerer Großstädte wochenlang zu versorgen.

Er hatte ein geheimes Leben geführt, dieser William Witt, und es herrschte allgemeine Übereinstimmung, daß er

776

weggegangen war, um dieses Leben anderswo fortzusetzen.

Als eine der beiden Leichen in der Tierhandlung als die von Jim Hotchkiss identifiziert wurde, merkten ein oder zwei der gewissenhafteren Journalisten, daß dies ein Mann war, dessen Leben von Tragödien überschattet gewesen war. Seine Tochter, erinnerten sie ihre Leser, hatte zum sogenannten Bund der Jungfrauen gehört, und als sie darüber berichteten, schrieben sie auch einen Absatz darüber, wieviel Kummer der Grove in seiner kurzen Existenz erlebt hatte. War er von Anfang an zum Untergang verurteilt gewesen, fragten die fantasievollen Berichterstatter, da auf verfluchtem Boden erbaut? Dieser Gedanke spendete einen gewissen Trost. Wenn es nicht so war, wenn der Grove nur das Opfer des Zufalls war, wie viele Orte überall in Amerika konnten dann Opfer ähnlicher

Verwüstungen werden?

Am zweiten Tag der Suche wurde der Leichnam von Joyce McGuire in den Ruinen ihres Hauses gefunden, das deutlich schlimmere Schäden als die restlichen Bauwerke der Gegend davongetragen hatte. Sie wurde, wie die anderen Toten, zur Identifizierung in eine behelfsmäßige Leichenhalle in Thousand Oaks gebracht. Diese traurige Pflicht fiel Jo-Beth zu, deren Bruder zu den einundvierzig Vermißten gehörte. Nach der Identifizierung wurden Vorbereitungen für ein Begräbnis getroffen. Die Kirche von Jesus Christus der Heiligen der Letzten Tage kümmerte sich um die ihren. Pastor John hatte den Untergang des Grove überlebt - tatsächlich hatte er die Stadt am Morgen nach dem Angriff des Jaff gegen das Haus der McGuires verlassen und war erst zurückgekehrt, als sich der Staub gesenkt gehabt hatte -, und er war es, der Mamas Beerdigung organisierte. Er und Howie liefen sich während dieser Zeit nur einmal über den Weg, und Howie beeilte sich, ihn an die Nacht zu erinnern, als er stammelnd neben dem Kühlschrank gelegen hatte. Der Pastor bestand darauf, daß er sich nicht an dieses Ereignis erinnern konnte.

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»Zu schade, daß ich kein Foto davon habe«, sagte Howie.

»Um Ihre Erinnerung ein wenig anzuregen. Aber hier oben habe ich eines.« Er deutete auf die Schläfe, wo die letzten Spuren seiner von der Essenz verunstalteten Haut

verschwanden. »Nur für den Fall, daß ich jemals in

Versuchung geführt werde.«

»Wieso in Versuchung geführt?« fragte der Pastor.

»Zu glauben.«

Mama McGuire wurde zwei Tage nach diesem Gespräch der Obhut ihres erwählten Gottes anvertraut. Howie nahm nicht an der Zeremonie teil, wartete aber auf Jo-Beth, bis alles vorbei war. Vierundzwanzig Stunden später brachen sie nach Chicago auf.

Aber ihr Anteil an den Geschehnissen war noch längst nicht erschöpft. Den ersten Beweis dafür, daß die Abenteuer zwischen Kosm und Essenz sie zu Mitgliedern einer sehr erlesenen Gruppe Auserwählter gemacht hatten, bekamen sie vier Tage nach ihrer Ankunft in Chicago, als ein großer, ehemals hübscher, aber abgemagerter Fremder vor ihrer Tür stand, der für das Wetter zu leicht angezogen war und sich als D'Amour vorstellte.

»Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten, was in Palomo Grove geschehen ist«, sagte er zu Howie.

»Wie haben Sie uns gefunden?«

»Es ist mein Job, Leute zu finden«, erklärte Harry. »Sie haben vielleicht gehört, daß Tesla Bombeck mich erwähnt hat?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Nun, Sie können sie ja fragen.«

»Nein, das kann ich nicht«, erinnerte Howie ihn. »Sie ist tot.«

»Das ist sie«, sagte D'Amour. »Das ist sie. Mein Fehler.«

»Und selbst wenn Sie sie kennen würden, Jo-Beth und ich 778

haben nichts zu erzählen. Wir wollen den Grove einfach vergessen.«

»Die Chance ist gering«, stellte eine Stimme hinter ihm fest.

»Wer ist es, Howie?«

»Er sagt, er kannte Tesla.«

»D'Amour«, sagte der Fremde. »Harry D'Amour. Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie mir ein paar Minuten zuhören würden. Nur ein paar Minuten. Es ist sehr wichtig.«

Howie sah Jo-Beth an.

»Warum nicht?« sagte sie.

»Hier draußen ist es verdammt kalt«, stellte D'Amour fest, als er eintrat. »Was ist nur aus dem Sommer geworden?«

»Es sieht überall schlecht aus«, sagte Jo-Beth.

»Ist Ihnen das auch aufgefallen«, kommentierte D'Amour.

»Wovon sprecht ihr beiden?«

»Von den Nachrichten«, sagte sie. »Ich habe sie verfolgt, falls du es nicht getan hast.«

»Es ist, als wäre jede Nacht Vollmond«, sagte D'Amour.

»Eine Menge Menschen benehmen sich reichlich seltsam. Seit dem Durchbruch im Grove hat sich die Selbstmordrate verdoppelt. Im ganzen Land kommt es zu Aufständen in Irrenhäusern.

Und ich halte jede Wette, daß wir nur einen kleinen Teil des Gesamtbildes sehen. Eine Menge wird geheimgehalten.«

»Von wem?«

»Der Regierung. Der Kirche. Bin ich der erste, der Sie gefunden hat?«

»Ja«, sagte Howie. »Warum? Glauben Sie, es werden noch andere kommen?«

»Ganz bestimmt. Ihr beide seid der Mittelpunkt von allem...«

»Es war nicht unsere Schuld!« protestierte Howie.

»Das habe ich auch nicht gesagt«, antwortete D'Amour.

»Bitte. Ich bin nicht hergekommen, um Ihnen Vorwürfe zu machen. Und ich bin sicher, Sie haben es verdient, daß Sie Ihr Leben in Ruhe leben können. Aber es wird anders kommen.

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Das ist die Wahrheit. Sie sind zu wichtig. Sie haben zuviel gesehen. Das wissen unsere Leute, und ihre auch.«

»Ihre?« sagte Jo-Beth.

»Die Agenten der Iad. Die Infiltranten, die die Armee zurückgehalten haben, als die Iad durchbrechen wollten.«

»Woher wissen Sie soviel über das alles?« wollte Howie wissen.

»Momentan muß ich meine Quellen noch geheimhalten; aber ich hoffe, ich werde Sie Ihnen einmal enthüllen können.«

»Das hört sich ganz so an, als würden wir gemeinsam mit Ihnen in dieser Sache stecken«, sagte Howie. »Aber so ist das nicht. Sie haben recht, wir wollen unser Leben in Ruhe weiterleben. Und wir werden hingehen, wohin wir müssen, um das zu tun - Europa, Australien, wohin auch immer.«

»Man wird Sie finden«, sagte D'Amour. »Der Grove hat sie dem Erfolg so nahe gebracht, daß sie keine Ruhe mehr geben werden. Sie wissen, sie haben uns Angst gemacht. Und die Essenz ist verschmutzt. Von jetzt an wird niemand mehr angenehme Träume haben. Wir sind leichte Beute, und das wissen sie. Sie möchten vielleicht ein normales Leben führen, aber das können Sie nicht. Nicht mit Ihren Vätern.«

Jetzt war es Jo-Beth, die über seine Worte erschrocken war.

»Was wissen Sie von unseren Vätern?« sagte sie.

»Sie sind nicht im Himmel, das weiß ich«, sagte D'Amour.

»Tut mir leid. War geschmacklos. Wie ich schon sagte, ich habe meine Quellen, und ich kann Sie Ihnen hoffentlich schon bald enthüllen. Vorerst muß ich aber besser verstehen, was im Grove passiert ist, damit wir etwas daraus lernen können.«

»Das hätte ich machen sollen«, sagte Howie leise. »Ich hatte die Möglichkeit, von Fletcher zu lernen, aber ich habe die Gelegenheit nicht genutzt.«

»Sie sind Fletchers Sohn«, sagte D'Amour. »Seine Seele ist in Ihnen. Sie müssen nur auf sie hören.«

»Er war ein Genie«, sagte Howie zu Harry. »Das glaube ich 780

wirklich. Ich bin sicher, er war meistens auf Meskalin und völlig weggetreten, aber er war trotzdem ein Genie.«

»Ich will alles hören«, sagte D'Amour. »Wollen Sie es mir erzählen?«

Howie sah ihn lange an, dann seufzte er und sagte mit einem Tonfall, der Überraschung gleichkam:

»Ja. Ich glaube schon.«

Grillo saß im 50's Cafe am Van Nuys Boulevard in Sherman Oaks und versuchte sich zu erinnern, wie es war, wenn einem das Essen schmeckte, als jemand kam und ihm gegenüber in der Nische Platz nahm. Es war Nachmittag, das Cafe war fast leer. Er hob den Kopf, weil er in Ruhe gelassen werden wollte, sagte aber statt dessen: »Tesla?«

Sie war ganz auf Bombecksche Weise gekleidet: ein

Schwarm Schwäne aus Keramik auf eine mitternachtsblaue Bluse gesteckt, roter Rock, dunkle Brille. Ihr Gesicht war blaß, aber der Lippenstift, der überhaupt nicht zum Rock paßte, war lebhaft. Als sie die Brille an der Nase herunterzog, sah er, daß ihr Make-up denselben Farbenaufstand zur Schau stellte.

»Ja«, sagte sie.

»Ja was?«

»Ja Tesla.«

»Ich dachte, du wärst tot.«

»Den Fehler habe ich auch gemacht. Kommt vor.«

»Ist dies keine Illusion?«

»Nun, die ganze verdammte Sache ist eine, oder nicht? Nur eine Show. Aber wir, sind wir illusorischer als ihr? Nein.«

»Wir? «

»Darauf komme ich gleich. Zuerst zu dir? Wie ist es dir ergangen?«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war ein paarmal im Grove, um herauszufinden, wer überlebt hat.«

»Ellen Nguyen?«

781

»Sie wurde nicht gefunden. Philip auch nicht. Ich habe die Trümmer persönlich untersucht. Weiß Gott, wohin sie verschwunden ist.«

»Sollen wir nach ihr suchen? Wir haben jetzt Kontakte. Was die Heimkehr anbelangt, die war nicht spaßig. Ich hatte eine Leiche in der Wohnung. Und eine Menge Leute haben

schwierige Fragen gestellt. Aber wir haben jetzt ein wenig Einfluß, und den mache ich mir zunutze.«

»Wer ist wir?«.

»Ißt du diesen Cheeseburger?«

»Nein.«

»Gut.« Sie zog den Teller auf ihre Seite des Tischs.

»Erinnerst du dich an Raul?« sagte sie.

»Die Seele habe ich nie kennengelernt, nur den Körper.«

»Nun, dann lernst du sie jetzt kennen.«

»Pardon?«

»Ich habe ihn in der Schleife gefunden. Jedenfalls seine Seele.«

Sie lächelte mit Ketchup am Mund. »Es ist schwer, das vernünftig zu erklären, aber er ist in mir. Er und der Affe, der er gewesen ist, und ich, alle in einem Körper.«

»Dein Traum ist Wirklichkeit geworden«, sagte er. »Alles für alle Menschen.«

»Ja, dem könnte ich zustimmen. Ich meine, dem könnten wir zustimmen. Ich vergesse immer, uns alle einzuschließen. Vielleicht sollte ich es gar nicht versuchen.«

»Du hast Käse am Kinn.«

»So ist's recht. Mach uns nur fertig.«

»Versteh mich nicht falsch. Ich bin froh, dich zu sehen.

Aber... ich habe mich gerade an die Tatsache gewöhnt, daß du nicht mehr unter uns bist. Soll ich dich noch Tesla nennen?«

»Warum nicht?«

»Weil du es nicht mehr bist, oder? Du bist mehr als sie.«

»Tesla ist gut. Ein Körper wird so genannt, wie er zu sein 782

scheint, richtig?«

»Wohl schon«, sagte Grillo. »Sehe ich aus, als würde ich gleich ausflippen?«

»Nein. Flippst du aus?«

Er schüttelte den Kopf. »Mir ist komisch zumute, aber sonst bin ich die Ruhe selbst.«

»Das ist mein alter Grillo.«

»Du meinst: unser alter Grillo.«

»Nein. Ich meine: mein alter Grillo. Du kannst sämtliche Schönheiten in Los Angeles ficken und gehörst trotzdem mir.

Ich bin die große Unberechenbare in deinem Leben.«

»Das ist eine Verschwörung.«

»Gefällt es dir nicht?«

Grillo lächelte. »Ist gar nicht so schlecht«, sagte er.

»Sei nicht verdrossen«, sagte sie. Sie nahm seine Hand. »Es liegt einiges vor uns, und ich muß wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann.«

»Das weißt du.«

»Gut. Wie schon gesagt, die Fahrt ist noch nicht vorbei.«

»Gut. Woher hast du das? Das sollte meine Schlagzeile werden.«

»Synchronizität«, sagte Tesla. »Wo war ich denn

stehengeblieben? D'Amour meint, sie werden es als nächstes in New York versuchen. Sie haben Brückenköpfe dort. Schon seit Jahren. Also treibe ich die Hälfte der Mannschaft auf, und er die andere Hälfte.«

»Was kann ich tun?« sagte Grillo.

»Wie gefällt dir Omaha, Nebraska?«

»Nicht besonders.«

»Dort hat die letzte Phase angefangen, ob du es glaubst oder nicht. Im Postamt.«

»Du verarschst mich.«

»Dort hat der Jaff seine unausgegorenen Vorstellungen von der ›Kunst‹ bekommen.«

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»Was meinst du damit: unausgegoren?«

»Er hat nur einen Teil der ganzen Sache gesehen. Nicht alles.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Nicht einmal Kissoon wußte, was die ›Kunst‹ ist. Er hatte Hinweise. Aber eben nur Hinweise. Sie ist unermeßlich. Sie überwindet Zeit und Raum. Sie vereint alles. Vergangenheit, Zukunft und den Augenblick des Traums dazwischen... ein unsterblicher Tag...«

»Wunderschön«, sagte Grillo.

»Würde Swift das gefallen?«

»Swift soll ficken gehen.«

»Wenn es es nur getan hätte.«

»Also... Omaha?«

»Dort fangen wir an. Dort landen sämtliche Postirrläufer von Amerika, und dort finden wir vielleicht Hinweise. Es gibt Leute, die viel wissen, Grillo. Sie wissen es, ohne es selbst zu erkennen. Das macht uns so wunderbar.«

»Und dann schreiben sie es auf?«

»Ja. Und dann schicken sie die Briefe ab.«

»Und die landen in Omaha.«

»Manche. Bezahl den Cheeseburger. Ich warte draußen.«

Er bezahlte, sie wartete.

»Ich hätte ihn essen sollen«, sagte er. »Ich habe plötzlich Hunger.«

D'Amour ging erst am späten Abend wieder, und dann ließ er zwei erschöpfte Geschichtenerzähler zurück. Er machte sich genaue Notizen und blätterte ständig die Seiten seines Blocks um, weil er erfahren wollte, in welchem Zusammenhang

Bruchstücke von Informationen standen.

Als Howie und Jo-Beth sich alles von der Seele geredet hatten, gab er ihnen seine Karte mit einer New Yorker Adresse und Telefonnummer, und auf die Rückseite kritzelte er eine 784

private Nummer.

»Zieht um, so schnell ihr könnt«, sagte er. »Sagt keinem, wohin ihr zieht. Keinem. Und wenn ihr dort seid - wo immer das sein mag -, ändert eure Namen. Tut so, als wärt ihr verheiratet.«

Jo-Beth lachte.

»Altmodisch, aber warum nicht?« sagte D'Amour. »Die

Leute klatschen nicht über verheiratete Paare. Und sobald ihr euch niedergelassen habt, ruft mich an und sagt mir, wo ich euch finden kann. Danach werde ich mit euch in Kontakt bleiben. Ich kann euch keine Schutzengel versprechen, aber es gibt Mächte, die über euch wachen können. Ich habe eine Bekannte namens Norma, der ich euch gerne vorstellen würde.

Sie ist gut darin, Wachhunde zu finden.«

»Wir können uns selbst Hunde kaufen«, sagte Howie.

»Nicht solche wie ihre. Danke, daß ihr mir alles erzählt habt.

Ich muß los. Es ist eine lange Fahrt.«

»Sie fahren nach New York?«

»Ich hasse das Fliegen«, sagte er. »Ich hatte einmal ein schlimmes Erlebnis in der Luft, ohne Flugzeug. Erinnert mich daran, daß ich euch einmal davon erzähle. Ihr solltet von dem Dreck wissen, den ich am Stecken habe, schließlich kenne ich euren jetzt ja auch.«

Er ging zur Tür hinaus, und in der kleinen Wohnung blieb der Geruch europäischer Zigaretten zurück.

»Ich brauche frische Luft«, sagte Howie zu Jo-Beth, als D'Amour gegangen war. »Gehst du mit mir spazieren?«

Es war bereits nach Mitternacht, und die Kälte, aus der D'Amour vor fünf Stunden hereingekommen war, war schlimmer geworden, aber sie nahm ihnen die Erschöpfung. Als sich ihre Stimmung verbessert hatte, unterhielten sie sich miteinander.

»Du hast D'Amour eine Menge erzählt, was ich nicht gewußt habe«, sagte Jo-Beth.

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»Zum Beispiel?«

»Was auf der Ephemeris passiert ist.«

»Du meinst Byrne?«

»Ja. Ich frage mich, was er da oben gesehen hat.«

»Er sagte, er würde zurückkehren und mir alles erzählen, wenn wir überleben.«

»Ich will keine Schilderungen aus zweiter Hand«, sagte sie.

»Ich will es mit eigenen Augen sehen.«

»Zur Ephemeris zurückkehren?«

»Ja. Solange ich mit dir dort hinkann, würde ich es gerne tun.«

Ihr Weg hatte sie vielleicht unvermeidlich zum See geführt.

Der Wind war beißend, aber sein Atem frisch.

»Hast du keine Angst davor, was die Essenz mit uns machen könnte, wenn wir jemals dorthin zurückkehren?« fragte er.

»Eigentlich nicht. Nicht, wenn wir gemeinsam gehen.«

Sie ergriff seine Hand. Plötzlich schwitzten beide trotz der Kälte, und ihr Innerstes war in Aufruhr wie beim ersten Mal, als sie sich in Butrick's Steak House in die Augen gesehen hatten. Seither war ein kleines Zeitalter vergangen, das sie beide verändert hatte.

»Jetzt sind wir beide Desperados«, murmelte Howie.

»Das sind wir wohl«, sagte Jo-Beth. »Aber das macht nichts.

Niemand kann uns mehr trennen.«

»Ich wünschte, das wäre wahr.«

»Es ist wahr. Das weißt du.«

Sie hob die Hand, die immer noch seine umschlungen hielt, zwischen sie.

»Erinnerst du dich?« sagte sie. »Das hat uns die Essenz gezeigt. Sie hat uns vereint.«

Ihr Beben lief durch die Hand, durch den Schweiß auf den Handflächen, in seine.

»Daran müssen wir uns halten.«

»Heiratest du mich?« sagte er.

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»Zu spät«, antwortete sie. »Das habe ich schon getan.« Sie standen jetzt am Ufer des Sees, aber sie sahen selbstverständlich nicht den Lake Michigan, als sie in die Nacht hinaussahen, sondern die Essenz. Es tat weh, an diesen Ort zu denken. Derselbe Schmerz, den jedes Lebewesen empfindet, wenn ein Flüstern vom Meer der Träume an die Grenze des Bewußtseins dringt. Um so schlimmer war er für diejenigen, die das Sehnen nicht vergessen konnten, sondern wußten, daß die Essenz real war; ein Ort, wo Liebe Kontinente zeugen konnte.

Die Dämmerung war nicht mehr fern, und wenn die Sonne ihre ersten Strahlen zeigte, würden sie schlafen gehen müssen.

Doch bis das Licht kam - bis sich die Wirklichkeit über ihre Fantasie hinwegsetzte -, standen sie da, sahen in die Dunkelheit und warteten, halb in Hoffnung und halb in Angst, daß das andere Meer aus den Träumen emporsteigen und sie vom Ufer fortreißen würde.

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