CLIVE BARKER

JENSEITS DES BÖSEN

Roman

Aus dem Englischen

von Joachim Körber

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

HEYNE ALLGEMEINE REIHE

Nr. 01/8794

Titel der Originalausgabe

THE GREAT AND SECRET SHOW

Scanned by Doc Gonzo

Diese digitale

Version ist

FREEWARE

und ni

cht für den

Verkauf bestimmt

Copyright © Clive Barker 1989

Copyright © der deutschen Ausgabe 1990

by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Printed in Germany 1993

Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München

Satz: (l546) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

Druck und Bindung: Ebner Ulm

ISBN 3-453-06435-6

Erinnerungen, Prophezeiungen und Fantasiegespinste, Vergangenheit, Zukunft

und der Augenblick des Traums dazwischen

- sie alle schaffen ein Land, das einen einzigen, unsterblichen Tag lang existiert.

Das zu wissen, ist Weisheit.

Es sich nutzbar zu machen, ist die ›Kunst‹.

Inhalt

Erster Teil:

DER BOTE

Seite 5

Zweiter Teil:

DER BUND DER JUNGFRAUEN

Seite 72

Dritter Teil:

FREIE GEISTER

Seite 123

Vierter Teil:

ENTSCHEIDENDE AUGENBLICKE

Seite 199

Fünfter Teil:

SKLAVEN UND LIEBHABER

Seite 345

Sechster Teil:

IN GEHEIMNISSEN OFFENBART

Seite 447

Siebter Teil:

SEELEN AM NULLPUNKT

Seite 597

Erster Teil

Der Bote

I

Homer machte die Tür auf.

»Kommen Sie herein, Randolph.«

Jaffe haßte die Art, wie er Randolph sagte; ein leiser Hauch Verachtung klang in dem Wort mit, als würde er jedes

verfluchte Verbrechen kennen, das Jaffe jemals begangen hatte, vom ersten, dem unbedeutendsten, angefangen.

»Worauf warten Sie?« fragte Homer, der Jaffes Zaudern sah.

»Sie haben zu arbeiten. Je früher Sie anfangen, desto früher kann ich Ihnen neue Arbeit geben.«

Randolph betrat das Zimmer. Es war groß und im selben galligen Gelb und Schlachtschiffgrau wie alle anderen Büros und Flure des Hauptpostamts von Omaha gestrichen. Nicht, daß man viel von den Wänden gesehen hätte. Auf beiden Seiten war bis hoch über ihre Köpfe Post gestapelt. Säcke, Taschen, Kisten und Wägelchen voll Post, die teilweise bis auf den kalten Betonboden überquoll.

»Irrläufer«, sagte Homer. »Sachen, die nicht einmal die gute alte US-Post zustellen kann. Toller Anblick, was?«

Jaffe war fassungslos, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen.

Er bemühte sich stets, überhaupt nichts zu zeigen, besonders Klugscheißern wie Homer gegenüber.

»Das gehört alles Ihnen, Randolph«, sagte sein Vorgesetzter.

»Ihre kleine Ecke des Himmelreichs.«

»Was soll ich damit machen?« fragte Jaffe.

»Sortieren. Aufmachen und nach wichtigen Sachen suchen, damit wir nicht letztlich gutes Geld in den Ofen werfen.«

»Ist Geld darin?«

5

»In manchen«, sagte Homer grinsend. »Vielleicht. Aber größtenteils handelt es sich um Plunder. Sachen, die die Leute nicht wollen und einfach wieder ins System zurückführen. Auf manchen steht eine falsche Anschrift; die werden hin und her geschickt, bis sie schließlich in Nebraska landen. Fragen Sie mich nicht, warum, aber jedesmal, wenn sie nicht wissen, was sie mit diesem Mist anfangen sollen, schicken sie ihn nach Omaha.«

»Das ist die Mitte des Landes«, bemerkte Jaffe. »Tor zum Westen. Oder zum Osten. Je nachdem, aus welcher Richtung man kommt.«

»Dies ist nicht der Mittelpunkt«, konterte Homer. »Aber wir bekommen den Mist trotzdem. Und es muß alles sortiert werden. Von Hand. Von Ihnen.«

»Alles?« sagte Jaffe. Vor ihm lagen zwei, drei, vier Wochen Arbeit.

»Alles«, sagte Homer und bemühte sich nicht einmal, seine Genugtuung zu verbergen. »Und Sie werden es bald heraus haben. Wenn der Umschlag das Siegel der Regierung trägt, legen Sie ihn auf den Stapel zum Verbrennen. Machen Sie sich nicht die Mühe und öffnen ihn. Scheiß drauf, richtig? Aber den Rest machen Sie auf. Sie machen sich keine Vorstellung, was wir alles finden werden.« Er grinste verschwörerisch. »Und was wir finden, das teilen wir«, sagte er.

Jaffe arbeitete erst neun Tage für die US-Post, aber das war lange genug, eindeutig lange genug, um zu wissen, daß viel Post von den bezahlten Überbringern veruntreut wurde. Pakete wurden aufgeschnitten, ihr Inhalt geklaut, Schecks wurden eingelöst, über Liebesbriefe wurde gelacht.

»Ich werde in regelmäßigen Abständen herkommen«,

mahnte Homer. »Also versuchen Sie nicht, etwas vor mir zu verbergen. Ich habe einen Riecher für so etwas. Ich weiß, wann Geldscheine in einem Brief sind, und ich weiß, wann ein Dieb im Team ist. Haben Sie verstanden? Ich habe einen sechsten 6

Sinn. Also versuchen Sie keine Mätzchen, Kumpel, weil ich und die Jungs darauf ungemütlich reagieren. Und Sie wollen doch zum Team gehören, oder nicht?« Er legte Jaffe eine schwere, gespreizte Hand auf die Schulter. »Zu gleichen Teilen, verstanden?«

»Verstanden«, sagte Jaffe.

»Gut«, antwortete Homer. »Also...« Er breitete die Arme aus und deutete auf die gestapelten Säcke. »Gehört alles Ihnen.« Er schnupperte, grinste und ging.

Zum Team gehören, dachte Jaffe, nachdem die Tür ins

Schloß gefallen war, das würde er niemals. Nicht, daß er Homer das gesagt haben würde. Er würde sich herablassend von dem Mann behandeln lassen; den willigen Sklaven spielen.

Aber in seinem Herzen? In seinem Herzen hatte er andere Pläne, andere Ambitionen. Das Problem war, er war heute noch so weit davon entfernt, diese Ambitionen in die Tat

umzusetzen, wie er es mit zwanzig gewesen war. Heute war er siebenunddreißig und ging auf die Achtunddreißig zu. Er gehörte nicht zu den Männern, die Frauen mehr als einmal ansehen. Keine Persönlichkeit, die die Leute besonders charismatisch fanden. Sein Haar wurde schütter wie das seines Vaters. Wahrscheinlich mit vierzig kahl. Kahl, ohne Frau und nie mehr als Kleingeld in der Tasche, weil er eine Stelle nie länger als ein Jahr behalten hatte, höchstens einmal achtzehn Monate, und daher hatte er es im Dienstgrad auch nie weiter als bis zum Gefreiten gebracht.

Er versuchte, nicht allzu angestrengt darüber nachzudenken; denn wenn er darüber nachdachte, brannte er immer darauf, Schaden zuzufügen, und meistens sich selbst. Es wäre so einfach. Eine Pistole im Mund, die ihn im Rachen kitzelte. Aus und vorbei. Kein Abschiedsbrief. Keine Erklärung. Was hätte er auch schon schreiben sollen? Ich habe mich selbst umgebracht, weil ich nicht König der Welt sein konnte?

Lächerlich.

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Aber... das wollte er sein. Er hatte nie gewußt, wie er es bewerkstelligen sollte, aber das war eine Ambition, die von Anfang an in ihm genagt hatte. Auch andere Männer kamen vom Nichts an die Spitze, oder nicht? Erlöser, Präsidenten, Filmstars. Sie zogen sich aus dem Dreck empor wie damals die Fische, als sie beschlossen hatten, an Land zu gehen. Sie hatten sich Beine wachsen lassen, Luft geatmet, waren mehr

geworden, als sie gewesen waren. Wenn verdammte Fische das konnten, warum dann er nicht? Es mußte bald geschehen.

Bevor er vierzig wurde. Bevor er kahl wurde. Bevor er tot und begraben war und niemand sich an ihn erinnerte, es sei denn als das namenlose Arschloch, das im Winter 1969 drei Wochen in einem Zimmer mit Irrläufern der Post verbracht und verwaiste Post auf der Suche nach Dollarscheinen geöffnet hatte. Schöner Nachruf.

Er setzte sich und betrachtete den Berg, der sich vor ihm auftürmte.

»Scheiß drauf«, sagte er und meinte Homer. Meinte die Masse dummen Zeugs, die sich vor ihm stapelte. Aber in erster Linie meinte er sich selbst.

Anfangs war es trostlos. Die Hölle, Tag für Tag die Säcke durchzuwühlen.

Die Stapel schienen nicht kleiner zu werden. Tatsächlich wurden sie sogar mehrmals von einem höhnischen Homer

aufgeschichtet, der ein Heer Untergebener mit neuen

Postsäcken hereinführte, damit sie den Vorrat auffüllten.

Zuerst trennte Jaffe die interessanten Umschläge - vollgestopft, klirrend, parfümiert - von den langweiligen; dann private Korrespondenz von offizieller und Gekritzel von Getipptem. Nachdem er diese Entscheidungen getroffen hatte, fing er damit an, die Umschläge aufzumachen, in der ersten Woche mit den Händen, bis die Finger schwielig wurden, und danach mit einem kurzen Messer, das er sich eigens zu diesem 8

Zweck gekauft hatte. Er angelte den Inhalt heraus wie ein Perlenfischer auf der Suche nach Perlen, fand meistens nichts, nur manchmal, wie Homer gesagt hatte, Geld oder einen Scheck, was er pflichtschuldigst seinem Boß ablieferte.

»Sie sind gut«, sagte Homer nach der zweiten Woche. »Sie sind wirklich gut. Vielleicht sollte ich Sie ständig darauf anset-zen.«

Randolph wollte sagen, Scheiß drauf, aber das hatte er schon zu oft zu Vorgesetzten gesagt, die ihn in der nächsten Minute gefeuert hatten, und er konnte es sich nicht leisten, diesen Job zu verlieren: Die Miete war fällig, und es kostete ein verdammtes Vermögen, seine Ein-Zimmer-Wohnung zu

heizen, solange Schnee fiel. Außerdem geschah etwas mit ihm, während er einsame Stunden im Zimmer der irregeleiteten Post verbrachte, etwas, das er erst Ende der dritten Woche genoß und erst Ende der fünften begriff.

Er saß am Kreuzweg von Amerika.

Homer hatte recht gehabt. Omaha, Nebraska, war nicht der geografische Mittelpunkt der USA, aber soweit es die Post betraf, hätte er es durchaus sein können.

Die Kommunikationslinien kreuzten und überkreuzten sich und warfen schließlich ihre Waisen hier aus, weil niemand in einem anderen Staat sie haben wollte. Diese Briefe waren von einer Küste zur anderen geschickt worden und suchten jemand, der sie aufmachte, aber sie hatten keine Abnehmer gefunden.

Schließlich landeten sie bei ihm: bei Randolph Ernest Jaffe, einem kahl werdenden Niemand mit unausgesprochenen

Ambitionen und nicht ausgedrückter Wut, dessen kleines Messer sie aufschlitzte, dessen kleine Augen sie überflogen, und der - da er am Kreuzweg saß - das geheime Antlitz der Nation zu erkennen begann.

Da waren Liebesbriefe; Haßbriefe; Lösegeldbriefe; Bitt-schreiben; Zettel, auf die Männer den Umriß ihres Ständers gezeichnet hatten; Valentinsgrüße mit Schamhaarlocken, Erpres-9

serbriefe von Ehefrauen, Journalisten, Huren, Anwälten und Senatoren; Scherzbriefe und Abschiedsbriefe von

Selbstmördern; verlorengegangene Romane; Kettenbriefe; nicht zugestellte Geschenke; abgelehnte Geschenke; Briefe, die wie Flaschenpost von einer Insel in der Hoffnung losgeschickt worden waren, Hilfe zu finden; Gedichte; Drohungen und Rezepte. So viele. Aber diese Masse war das wenigste. Obwohl er manchmal bei den Liebesbriefen ins Schwitzen kam und er sich bei Lösegeldforderungen fragte, ob die Absender, wenn sie unbeantwortet blieben, ihre Geiseln ermordet hatten, berührten ihn die Geschichten von Liebe und Tod, die sie erzählten, nur am Rande. Weitaus faszinierender, weitaus bewegender war eine andere Geschichte, die nicht so leicht artikuliert werden konnte.

Da er am Kreuzweg saß, wurde ihm allmählich klar, daß Amerika ein geheimes Leben hatte; ein Leben, das er vorher nicht einmal ansatzweise gesehen hatte. Von Liebe und Tod wußte er. Liebe und Tod waren die großen Klischees; die verschwisterte Besessenheit von Songs und Seifenopern. Aber es gab noch ein anderes Leben, auf das jeder vierzigste oder fünfzigste oder hundertste Brief hinwies und das jeder tausendste mit wahnsinniger Offenheit aussprach. Wenn es offen dastand, war es nicht die Wahrheit, aber es war ein Anfang, und jeder Briefeschreiber hatte seine eigene

wahnsinnige Art, etwas auszusprechen, das beinahe

unaussprechlich war.

Es lief auf folgendes hinaus: Die Welt war nicht so, wie sie zu sein schien. Nicht einmal entfernt so, wie sie zu sein schien.

Mächte - Regierung, Religion, Medizin - verschworen sich, um zu vertuschen und alle zum Schweigen zu bringen, die diese Tatsache mehr als nur ansatzweise begriffen hatten, aber sie konnten nicht jeden einzelnen knebeln oder verschwinden lassen. Es gab Männer und Frauen, die durch das Netz

schlüpften, wie weit es auch ausgeworfen wurde; die auf 10

Nebenstraßen reisten, wo ihre Verfolger sich verirrten, und sichere Unterkünfte unterwegs aufsuchten, wo sie von

ähnlichen Visionären Speise und Trank bekamen, und die auch die Spürhunde in die Irre leiteten, wenn sie kamen. Diese Leute trauten Ma Bell nicht, daher benützten sie keine Telefone. Sie riskierten es nicht, sich in größeren als Zweiergruppen zu treffen, weil sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten.

Aber sie schrieben. Manchmal war es, als müßten sie schreiben, als wären alle Geheimnisse, die sie hüteten, so heiß, daß sie sich einen Weg nach draußen brannten. Manchmal weil sie wußten, daß ihnen die Jäger auf den Fersen waren und sie keine andere Möglichkeit hatten, sich selbst die Welt zu beschreiben, bevor sie geschnappt, unter Drogen gesetzt und eingesperrt wurden. Manchmal drückte das Gekritzel eine subver-sive Wonne aus, wenn Briefe absichtlich mit falschen oder unleserlichen Adressen losgeschickt wurden - in der Hoffnung, daß sie einem Unschuldigen, der sie durch Zufall bekam, den Verstand raubten. Einige der Irrläufer waren wirr wie ein innerer Monolog geschrieben, andere waren präzise, mitunter sogar klinische Beschreibungen, wie man die Welt auf den Kopf stellen konnte - durch Sex-Magie oder den Verzehr von Pilzen. Manche benützten die albernen Vergleiche von Artikeln des National Enquirer, um eine andere Botschaft zu verschleiern. Sie sprachen von UFO-Sichtungen und Zombie-Kulturen; Nachrichten von Aposteln von der Venus und

Hellsehern, die per Fernseher mit den Toten in Verbindung traten. Aber nachdem er diese Briefe mehrere Wochen lang studiert hatte - und studieren war genau der richtige Ausdruck; er war wie ein Mann, der in der endgültigen Bibliothek eingesperrt ist -, sah Jaffe allmählich hinter dem Unsinn die wahren Geschichten. Er knackte den Kode; jedenfalls

genügend, um gefesselt zu sein. Es erboste ihn nicht mehr, wenn Homer die Tür aufmachte und wieder ein halbes Dutzend Postsäcke hereintragen ließ; er freute sich über das zusätzliche 11

Material. Je mehr Briefe, desto mehr Hinweise, und je mehr Hinweise er hatte, desto größer war die Hoffnung, daß er das Geheimnis eines Tages ergründen würde. Denn es waren, wie er mit zunehmender Gewißheit einsah, während Wochen zu Monaten wurden und der Winter seinen Abschied nahm, nicht mehrere Geheimnisse, sondern nur ein einziges. Die Briefschreiber, die vom Schleier sprachen und wie man ihn beiseite ziehen konnte, fanden ihren eigenen Weg zur

Offenbarung; jeder einzelne hatte seine bestimmte Methode oder Metapher. Aber irgendwo inmitten dieser Kakophonie wartete ein einziger Psalm darauf, gesungen zu werden.

Es ging nicht um Liebe. Jedenfalls nicht so, wie die

Sentimentalen sie verstanden. Und auch nicht um den Tod, wie ein Realist den Ausdruck verstanden haben würde. Es ging -

ohne bestimmte Reihenfolge - um Fische und das Meer -

manchmal das Meer der Meere; um drei Methoden, dort zu schwimmen; um Träume - jede Menge über Träume; um eine Insel, die Plato ›Atlantis‹ genannt hatte, obwohl er wußte, daß es sich um einen völlig anderen Ort handelte. Es ging um das Ende der Welt und damit wiederum um ihren Anfang. Und es ging um Kunst.

Besser gesagt, die ›Kunst‹.

Von allen Kodes war das derjenige, über den er sich am meisten den Kopf zerbrach und doch zu keinem Ergebnis kam.

Von der ›Kunst‹ wurde auf mannigfaltige Weise gesprochen.

Sie hieß Das letzte große Werk. Oder Die verbotene Frucht.

Oder Da Vincis Verzweiflung oder Der Pfahl im Fleische oder Totengräbers Wonne. Es gab viele Wege, sie zu beschreiben, aber nur eine ›Kunst‹. Und - das war ein Rätsel - keinen Künstler.

»Sie sind also glücklich hier?« sagte Homer eines Tages im Mai zu ihm.

Jaffe sah von seiner Arbeit auf. Rings um ihn herum waren Briefe verstreut. Seine Haut, die nie völlig gesund gewesen 12

war, war so blaß und geätzt wie die Seiten in seiner Hand.

»Gewiß«, sagte er zu Homer, machte sich aber kaum die Mühe, von dem Mann Notiz zu nehmen. »Haben Sie noch

mehr für mich?«

Homer antwortete zunächst nicht. Dann sagte er: »Was verheimlichen Sie, Jaffe?«

»Verheimlichen? Ich verheimliche nichts.«

»Sie verstecken Sachen, die Sie mit uns anderen teilen sollten.«

»Das tue ich nicht«, sagte Jaffe. Er hatte sich peinlich genau an Homers Erstes Gebot gehalten, daß alles aufgeteilt wurde, was in den Irrläufern zutage kam. Geld, Pornohefte, billiger Schmuck, den er ab und zu fand; alles ging an Homer, der es aufteilte. »Sie bekommen alles«, sagte er. »Ich schwöre es.«

Homer sah ihn voll unverhohlener Zweifel an. »Sie

verbringen jede verdammte Stunde des Tages hier unten«, sagte er. »Sie sprechen nicht mit den anderen Jungs. Sie trinken nicht mit ihnen. Können Sie uns nicht riechen, Randolph? Ist das der Grund?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Oder sind Sie nur ein Dieb?«

»Ich bin kein Dieb«, sagte Jaffe. »Sie können sich selbst überzeugen.« Er stand auf und hob beide Hände, in denen er je einen Brief hielt. »Durchsuchen Sie mich.«

»Ich will Sie verdammt noch mal nicht anfassen«, lautete Homers Antwort. »Wofür halten Sie mich, eine elende

Schwuchtel?« Er sah Jaffe unverwandt an. Nach einer Pause sagte er: »Ich lasse jemand anderen hierher versetzen, der Sie ablöst. Sie haben fünf Monate abgesessen. Das reicht. Ich werde Sie versetzen.«

»Ich will nicht...«

»Was?«

»Ich meine... ich wollte nur sagen, mir gefällt es hier unten.

Wirklich. Meine Arbeit macht mir Spaß.«

»Ja«, sagte Homer, der eindeutig immer noch argwöhnisch 13

war. »Ab Montag sind Sie weg vom Fenster.«

»Warum?«

»Weil ich es sage! Wenn Ihnen das nicht paßt, können Sie sich einen andern Job suchen.«

»Ich leiste gute Arbeit, oder etwa nicht?« sagte Jaffe.

Homer drehte ihm bereits den Rücken zu.

»Etwas stinkt hier«, sagte er, als er hinausging. »Etwas stinkt wirklich schlimm.«

Bei seiner Lektüre lernte Randolph ein Wort, das er bisher nicht gekannt hatte: Synchronizität. Er mußte sich ein Wörterbuch kaufen und nachschlagen, und er fand heraus, es bedeutete, daß manchmal Ereignisse zusammentrafen. Den Zusammenhängen, in denen die Briefschreiber es gebrauchten, konnte man entnehmen, es bedeute für gewöhnlich, daß die Art und Weise, wie Ereignisse aufeinander einwirkten, etwas Bedeutsames, Geheimnisvolles, vielleicht sogar Wunderbares hatte, als würde ein Muster existieren, das sich dem

menschlichen Verständnis entzog.

Ein solches Zusammenwirken fand an dem Tag statt, als Homer seine Bombe platzen ließ, eine Abfolge von Ereignissen, die alles verändern sollten. Kaum eine Stunde nachdem Homer gegangen war, legte Jaffe sein kurzes Messer, das allmählich stumpf wurde, an einen Umschlag an, der schwerer als die meisten war. Er schlitzte ihn auf, und ein kleines Medaillon fiel heraus. Es fiel auf den Betonboden, ein lieblich klirrender Laut.

Er hob es mit Fingern auf, die zitterten, seit Homer gegangen war. Es war keine Kette an dem Medaillon, und es hatte auch keine Öse zu diesem Zwecke. Es war nicht hübsch genug, den Hals einer schönen Frau als Schmuck zu zieren, und obwohl es die Form eines Kreuzes hatte, ergab näheres Hinsehen, daß es kein christliches Symbol war. Die vier Balken waren gleich lang, die gesamte Länge kaum mehr als drei Zentimeter. Auf dem Kreuz war eine menschliche Gestalt, weder männlich 14

noch weiblich, die die Arme wie der Gekreuzigte ausgestreckt hatte, aber nicht festgenagelt war. Auf den Balken befanden sich abstrakte Muster, die allesamt in einem Kreis endeten. Das Gesicht war sehr einfach gestaltet. Es zeigte, fand er, die leise Andeutung eines Lächelns.

Er war kein Fachmann der Metallkunde, aber es war

deutlich, daß das Ding weder aus Gold noch aus Silber bestand.

Er bezweifelte, daß es je glänzen würde, selbst wenn man den Schmutz entfernte. Aber es hatte dennoch etwas ungeheuer Anziehendes an sich. Wenn er es ansah, verspürte er dasselbe wie manchmal am Morgen nach einem tiefempfundenen

Traum, an dessen Einzelheiten er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Dies war ein bedeutender Gegenstand, aber er wußte nicht warum. Kamen ihm die Symbole möglicherweise deshalb bekannt vor, weil er sie einmal in einem Brief gelesen hatte? Er hatte in den vergangenen Wochen Tausende und Abertausende gelesen, viele hatten knappe Skizzen enthalten, manchmal obszön, häufig unentwirrbar. Diejenigen, die ihm am

interessantesten erschienen waren, hatte er aus dem Postamt herausgeschmuggelt, damit er sie nachts studieren konnte. Sie lagen gebündelt unter dem Bett in seinem Zimmer. Vielleicht konnte er den Traum-Kode des Medaillons entschlüsseln, wenn er besagte Briefe eingehend studierte.

Er beschloß, an diesem Tag zusammen mit den anderen

Arbeitern essen zu gehen, weil er dachte, es wäre besser, wenn er Homer nicht noch weiter erboste. Das war ein Fehler. Unter den guten alten Jungs, die sich über Nachrichten unterhielten, die er seit Wochen nicht mehr gehört hatte, über die Qualität des Steaks von gestern abend, über den Fick, den sie nach dem Steak gehabt oder auch nicht gehabt hatten, und darüber, was der Sommer bringen würde, kam er sich wie ein vollkommen Fremder vor. Auch sie wußten es. Sie kehrten ihm halb die Rücken zu, während sie sich unterhielten, sprachen manchmal flüsternd darüber, wie unheimlich er aussah und wie wild seine 15

Augen blickten. Je mehr sie ihn mieden, desto glücklicher war er, daß sie ihn mieden, denn sie wußten - sogar Dummköpfe wie sie wußten -, er war anders als sie. Vielleicht hatten sie sogar ein wenig Angst.

Er brachte es nicht fertig, um halb zwei wieder in das Zimmer mit den Postirrläufern zurückzugehen. Das Medaillon und seine geheimnisvollen Zeichen brannten ein Loch in seine Tasche. Er mußte sofort in seine Unterkunft zurück und dort anfangen, seine private Briefbibliothek zu durchforschen. Und genau das machte er auch, ohne sich erst die Mühe zu machen, Homer davon zu erzählen.

Es war ein strahlender, sonniger Tag. Er zog wegen des glei-

ßenden Lichts die Vorhänge zu, schaltete die Lampe mit dem gelben Schirm ein und begann sein Studium in einer Art Fieber; er klebte Briefe mit Andeutungen von Illustrationen mit Klebeband an die kahlen Wände, und als die Wände voll waren, breitete er sie auf Tisch, Bett, Stuhl und Fußboden aus.

Dann ging er von Blatt zu Blatt, von Zeichen zu Zeichen, und suchte nach etwas, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Medaillon in seiner Hand hatte. Während er das tat, hatte er immer wieder denselben Gedanken: Er wußte, es gab eine Kunst, aber keinen Künstler, eine Praxis, aber keinen Praktizierenden, und daß er vielleicht dieser Mann war.

Der Gedanke mußte sich nicht besonders anstrengen. Binnen einer Stunde, während der er Briefe durchlas, nahm er in seinem Denken den ersten Rang ein. Das Medaillon war ihm nicht zufällig in die Hände gefallen. Er hatte es als Belohnung für seine geduldigen Studien erhalten und als Hilfsmittel, um die Fäden seiner Ermittlungen zu verknüpfen und allmählich einen Sinn darin zu erkennen. Die meisten Symbole und Skizzen auf den Seiten waren irrelevant, aber es gab viele - zu viele für einen Zufall -, die Ähnlichkeit mit den Symbolen auf dem Kreuz hatten. Es fanden sich aber nie mehr als zwei auf ein und demselben Blatt, und die meisten waren linkisch 16

gezeichnet, weil keiner der Verfasser die vollständige Lösung in Händen hielt, so wie er; aber sie begriffen alle einen Teil des Puzzles, und ihre Beobachtungen über ihre eigene Rolle, ob in Haiku, obszöner Sprache oder alchimistischen Formeln, halfen ihm, das System hinter den Symbolen besser zu verstehen.

Ein Ausdruck, der wiederholt in den einfühlsamsten Briefen auftauchte, war der Schwarm. Er hatte ihn einige Male gelesen und nicht weiter darüber nachgedacht. In den Briefen fanden sich zahlreiche biologische Fachausdrücke; er hatte angenommen, daß das Wort dazu gehörte. Jetzt wurde ihm sein Irrtum klar. Der Schwarm war ein Kult oder eine Art Kirche, und deren Symbol war der Gegenstand, den er auf der Handfläche liegen hatte. Es war damit keinesfalls klar, was dieser Gegenstand und die ›Kunst‹ gemeinsam hatten, aber sein lange gehegter Verdacht, daß es sich um ein Geheimnis handelte, um eine Reise, wurde hiermit bestätigt; und er wußte, mit dem Medaillon als Karte würde es ihm schließlich gelingen, den Weg vom Schwarm zur ›Kunst‹ zu finden.

Derweil hatte er dringendere Sorgen. Wenn er an die Meute seiner Mitarbeiter dachte, an deren Spitze Homer stand, erschauerte er bei dem Gedanken, daß einer von ihnen das Geheimnis teilen könnte, das er entdeckt hatte. Nicht, daß sie eine Chance gehabt hätten, echte Fortschritte beim

Entschlüsseln zu machen; dazu waren sie zu dumm. Aber Homer war immerhin so argwöhnisch, daß er vielleicht in dieser Richtung herumschnüffelte; und die Vorstellung, daß irgend jemand - ganz besonders aber dieser Kotzbrocken Homer - seinen heiligen Boden entweihte, war unerträglich. Es gab nur einen Weg, diese Katastrophe zu vermeiden. Er mußte rasch handeln und sämtliche Beweise vernichten, die Homer auf die richtige Spur bringen konnten. Das Medaillon würde er selbstverständlich behalten; es war ihm von höheren Mächten, deren Gesichter er dereinst sehen würde, anvertraut worden.

Außerdem würde er die zwanzig oder dreißig Briefe behalten, 17

in denen die besten Informationen über den Schwarm standen; der Rest - ungefähr dreihundert - mußte verbrannt werden. Und die Sammlung im Zimmer der Postirrläufer, auch die mußte verbrannt werden. Komplett. Es würde Zeit erfordern, aber es ließ sich nicht vermeiden, je früher, desto besser. Er sortierte die Briefe in seinem Zimmer aus, bündelte die, die er nicht behalten mußte, und ging wieder zurück zum Postamt.

Es war mittlerweile Spätnachmittag, und er mußte gegen den Strom der Menschen gehen; er betrat das Postamt durch die Hintertür, um Homer nicht in die Arme zu laufen, obwohl er die Gewohnheiten des Mannes hinreichend kannte, um zu vermuten, daß er auf die Sekunde genau um halb sechs die Stechuhr gedrückt hatte und bereits irgendwo ein Bier kippte.

Der Ofen war eine schwitzende, klappernde Antiquität, die von einer anderen schwitzenden, klappernden Antiquität, namens Miller, mit dem Jaffe kein einziges Wort gewechselt hatte, weil Miller stocktaub war, bedient wurde. Jaffe brauchte eine gewisse Zeit, bis er erklärt hatte, daß er den Ofen eine Weile anheizen würde, angefangen mit dem Päckchen, das er von daheim mitgebracht hatte und das er unverzüglich in die Flammen warf. Dann ging er hinauf ins Zimmer der

Postirrläufer.

Homer war kein Bier kippen gegangen. Er wartete; er saß auf Jaffes Stuhl unter einer schmucklosen Glühbirne und ging die Stapel um ihn herum durch.

»Also, was ist los?« sagte er, sobald Jaffe durch die Tür eingetreten war.

Es war sinnlos, unschuldig tun zu wollen, das wußte Jaffe.

Seine monatelangen Studien hatten das Wissen in sein Gesicht eingegraben. Er kam nicht mehr auf die naive Tour durch. Aber das wollte er auch nicht mehr, wenn er darüber nachdachte.

»Nichts ist los«, sagte er und verlieh der Verachtung, die er für die Kinderei des Mannes empfand, unverhohlen Ausdruck.

»Ich habe nichts genommen, das Sie haben wollten. Oder 18

brauchen könnten.«

»Das werde ich entscheiden, Arschloch«, sagte Homer und warf die Briefe, die er gelesen hatte, zu den anderen auf den Haufen. »Ich will wissen, was Sie hier unten getrieben haben.

Außer wichsen.«

Jaffe machte die Tür zu. Es war ihm bisher noch nie

aufgefallen, aber das Dröhnen des Ofens drang durch die Wände bis in dieses Zimmer. Alles bebte unmerklich. Säcke, Umschläge, die Worte auf den darin gefalteten Seiten. Und der Stuhl, auf dem Homer saß. Und das Messer, das Messer mit der kurzen Schneide, das auf dem Boden neben dem Stuhl lag, auf dem Homer saß. Das gesamte Zimmer bewegte sich ein wenig, als würde der Boden erzittern. Als würde die Welt gleich umgekippt werden.

Vielleicht wurde sie das. Warum nicht? Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als wäre der Status immer noch quo. Er war ein Mann auf dem Weg zum einen oder anderen Thron. Er wußte nicht, zu welchem, und er wußte nicht, wo er sich befand, aber er mußte jeden Konkurrenten schnellstmöglich zum Schweigen bringen. Niemand würde ihn finden. Niemand würde ihm die Schuld geben, über ihn richten, ihn in die Todeszelle sperren.

Er war jetzt sein eigenes Gesetz.

»Ich sollte erklären...«, sagte er mit einem beinahe schnippi-schen Tonfall zu Homer, »... worum es wirklich geht.«

»Ja«, sagte Homer und schürzte die Lippen. »Das sollten Sie tun.«

»Nun, es ist ganz einfach...«

Er ging zu Homer und dem Stuhl und dem Messer neben

dem Stuhl. Seine Schnelligkeit machte Homer nervös, aber er blieb sitzen.

»... ich habe ein Geheimnis entdeckt«, fuhr Jaffe fort.

»Hm?«

»Möchten Sie wissen, was für eins?«

Jetzt stand Homer auf, und sein Blick zitterte wie alles 19

andere ringsum. Alles, außer Jaffe. Das Zittern war aus seinen Händen, seinen Eingeweiden und seinem Kopf verschwunden.

Er war stabil inmitten einer instabilen Welt.

»Ich habe keine Ahnung, was Sie hier treiben«, sagte Homer.

»Aber es gefällt mir nicht.«

»Kann ich Ihnen nicht verdenken«, sagte Jaffe. Er sah nicht zu dem Messer. Das mußte er nicht. Er konnte es spüren.

»Aber es ist doch Ihre Aufgabe«, fuhr Jaffe fort, »zu wissen, was hier unten los ist, oder nicht?«

Homer entfernte sich ein paar Schritte von dem Stuhl. Dahin war der naßforsche Gang, den er sonst anschlug. Er stolperte, als würde sich der Boden neigen.

»Ich war im Zentrum der Welt«, sagte Jaffe. »Dieses kleine Zimmer... hier spielt sich alles ab.«

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich.«

Homer grinste kurz nervös. Er warf einen Blick zur Tür.

»Wollen Sie gehen?« fragte Jaffe.

»Ja.« Er sah auf die Uhr, ohne sie zu sehen. »Muß mich sputen. Bin eigentlich nur heruntergekommen, um...«

»Sie haben Angst vor mir«, sagte Jaffe. »Und das mit Recht.

Ich bin nicht mehr der Mann, der ich einmal war.«

»Tatsächlich?«

»Sie wiederholen sich.«

Homer sah wieder zur Tür. Sie war fünf Schritte entfernt; vier, wenn er lief. Er hatte die halbe Strecke zurückgelegt, als Jaffe das Messer aufhob. Er hatte den Türgriff in der Hand, als er hörte, wie der Mann hinter ihm näher kam.

Er sah sich um, und das Messer zielte direkt auf sein Auge.

Es war kein zufälliger Hieb. Es war Synchronizität. Das Auge leuchtete, das Messer leuchtete. Das Leuchten verschmolz, und im nächsten Augenblick schrie er, während er gegen die Tür stürzte und Randolph ihm folgte, um den Brieföffner aus dem Kopf des Mannes herauszuziehen.

20

Das Dröhnen des Ofens wurde lauter. Da er mit dem Rücken zu den Postsäcken stand, konnte Jaffe spüren, wie sich die Briefcouverts aneinander rieben, wie die Worte auf den Blättern durchgeschüttelt wurden, bis sie vorzüglichste Poesie waren. Blut, sagten sie; wie ein Meer; seine Gedanken wie Klumpen in diesem Meer, dunkel, geronnen, heißer als heiß.

Er streckte die Hand nach dem Griff des Messers aus und packte ihn. Er hatte in seinem Leben noch kein Blut vergossen, nicht einmal ein Insekt getötet, jedenfalls nicht vorsätzlich.

Aber jetzt erzeugte seine Faust um den feuchten, heißen Griff ein wunderbares Gefühl. Eine Prophezeiung; ein Beweis.

Er zog das Messer grinsend aus Homers Augapfel und stieß es, bevor sein Opfer an der Tür hinabrutschen konnte, bis zum Heft in Homers Hals. Dieses Mal ließ er es nicht stecken. Er zog es heraus, sobald Homers Schreie aufgehört hatten, und stieß es dem Mann mitten in die Brust. Er stieß auf Knochen und mußte fest drücken, aber er war plötzlich sehr stark.

Homer keuchte, und Blut quoll ihm aus dem Mund und der Verletzung am Hals. Jaffe zog das Messer heraus. Er stieß nicht noch einmal zu. Statt dessen rieb er das Messer mit seinem Taschentuch ab und drehte sich um, damit er seinen nächsten Zug überlegen konnte. Wenn er die Postsäcke zum Ofen schleppte, lief er Gefahr, entdeckt zu werden. Und obschon er sich in Hochstimmung befand und vom Tod des Kotzbrockens Homer angetörnt war, war er sich der Gefahr, entdeckt zu werden, bewußt. Es wäre besser, den Ofen hierher zu bringen. Schließlich war Feuer ein bewegliches Element. Es war nur ein Streichholz erforderlich, und das besaß Homer. Er wandte sich wieder dem zusammengesunkenen Leichnam zu und suchte in den Taschen nach einem Päckchen Streichhölzer.

Nachdem er eins gefunden hatte, nahm er es und ging zu den Postsäcken hinüber.

Als er die Flamme an die Irrläufer hielt, empfand er überraschenderweise Traurigkeit. Er hatte so viele Wochen hier ver-21

bracht - in einer Art Delirium versunken und trunken von Geheimnissen. Dies war das Lebewohl zu alledem. Danach - Homer tot, die Briefe verbrannt - war er ein Flüchtling, ein Mann ohne Vergangenheit, von einer ›Kunst‹ angezogen, über die er nichts wußte, die er aber sehnlicher als alles andere ausüben wollte.

Er knüllte ein paar Seiten zusammen, damit die Flammen erste Nahrung hatten. War es erst einmal in Gang, würde sich das Feuer selbst erhalten können, daran zweifelte er nicht: Im ganzen Zimmer befand sich nichts, das nicht brennbar gewesen wäre - Papier, Stoff, Fleisch. Nachdem er drei Papierhäufchen aufgeschichtet hatte, zündete er das Streichholz an. Die Flamme war hell; als er sie sah, wurde ihm erstmals bewußt, wie sehr er die Helligkeit haßte. Die Dunkelheit war soviel interessanter; voller Geheimnisse, voller Drohungen. Er hielt die Flamme an die Papierstapel und sah zu, wie das Feuer zu lodern anfing. Dann ging er zur Tür.

Dort lag selbstverständlich Homer, der aus drei

verschiedenen Stellen blutete, und seine Masse war nicht leicht zu bewegen. Aber Jaffe, dessen Schatten von dem gewaltigen Freudenfeuer hinter ihm an die Wand geworfen wurde, legte sich mächtig ins Zeug. In der halben Minute, die er brauchte, um den Leichnam wegzuschaffen, stieg die Hitze exponentiell an, und als er wieder in das Zimmer sah, brannte es lichterloh von einer Seite zur anderen; die Hitze erzeugte ihren eigenen Wind, der seinerseits die Flammen wieder entfachte.

Erst als er sämtliche Spuren seiner selbst in dem Zimmer vernichtet hatte - und damit jeden Beweis auf Randolph Ernest Jaffe getilgt hatte -, bedauerte er, was er getan hatte. Nicht das Verbrennen - das war durchaus klug gewesen -, aber die Tatsache, daß er Homers Leichnam in dem Zimmer gelassen hatte, damit er zusammen mit den Irrläufern verbrannte. Ihm wurde klar, daß er eine weitreichendere Rache hätte üben sollen. Er hätte den Leichnam in Stücke hacken und verpacken 22

sollen, Zunge, Augen, Hoden, Eingeweide, Haut, Schädel, er hätte alle Stücke abtrennen sollen - und sie dann Stück für Stück mit unleserlichen, sinnlosen Adressen in das System hinausschicken, damit der Zufall - oder die Synchronizität - die Schwelle bestimmen konnte, auf der Homers Fleisch landete.

Der verschickte Postbeamte. Er nahm sich vor, derart ironische Möglichkeiten künftig nicht mehr zu übersehen.

Er brauchte nicht lange, um sein Zimmer auszuräumen. Er besaß wenig, und das meiste bedeutete ihm gar nichts. Aufs Wesentliche reduziert, existierte er so gut wie überhaupt nicht.

Es war die Summe von ein paar Dollars, ein paar Fotos, ein paar Kleidungsstücken. Alles zusammen hätte man in einem kleinen Koffer untergebracht und immer noch Platz für mehrere Nachschlagewerke gehabt.

Um Mitternacht kehrte er, mit besagtem kleinen Koffer in der Hand, Omaha den Rücken und war bereit für eine Reise, die ihn in jede beliebige Richtung führen konnte. Tor zum Osten, Tor zum Westen. Ihm war es einerlei, welchen Weg er einschlug, so lange er nur zur ›Kunst‹ führte.

23

II

Jaffe hatte ein hausbackenes Leben hinter sich. Er war fünfzig Meilen von Omaha entfernt geboren worden, hatte seine Ausbildung dort erhalten, hatte seine Eltern dort begraben und hatte um zwei Frauen aus dieser Stadt geworben, aber keine war mit ihm vor den Traualtar getreten. Er hatte den

Bundesstaat ein paarmal verlassen und sogar einmal daran gedacht, nach Orlando zu gehen, wo seine Schwester wohnte, aber sie hatte ihm das ausgeredet und gesagt, er würde nicht mit den Menschen oder der sengenden Sonne klarkommen.

Und so war er in Omaha geblieben, hatte Jobs verloren und andere bekommen, hatte sich nie für lange etwas oder

jemandem gewidmet, und deshalb hatte sich auch ihm niemand gewidmet.

Aber in der einsamen Abgeschiedenheit des Zimmers der Postirrläufer hatte er Horizonte gekostet, von deren Existenz er nie etwas gewußt hatte, und das hatte die Wanderlust in ihm geweckt. Als da draußen nur Sonne, Vororte und Micky Maus gewartet hatten, war es ihm einerlei gewesen. Weshalb sollte er sich die Mühe machen und nach so banalen Dingen suchen?

Jetzt war er gescheiter. Es gab Geheimnisse zu entschleiern und Mächte beim Schopf zu packen, und wenn er König der Welt war, würde er die Vororte niederreißen - und die Sonne, wenn er konnte - und die Welt in einer heißen Dunkelheit neu erschaffen, in der ein Mann letztlich die Geheimnisse seiner eigenen Seele ergründen konnte.

Von Kreuzwegen war in den Briefen häufig die Rede gewesen, und diesen Ausdruck hatte er lange Zeit im engsten Sinne des Wortes verstanden und geglaubt, daß Omaha

möglicherweise an diesen Kreuzwegen lag und er das Wissen um die ›Kunst‹ dort finden würde. Aber als er die Stadt hinter sich gelassen hatte und unterwegs war, wurde ihm der Irrtum dieser Denkweise bewußt. Als die Briefschreiber von

24

Kreuzwegen gesprochen hatten, da hatten sie nicht gemeint, daß sich ein Highway mit dem anderen kreuzte; sie hatten Orte gemeint, wo sich Daseinsformen kreuzten, wo das menschliche System auf das fremde traf und beide sich verändert

weitererstreckten. Im Strom und Strudel solcher Orte konnte er hoffen, die Offenbarung zu finden.

Er hatte selbstverständlich kaum Geld, aber irgendwie schien das nicht wichtig zu sein. In den Wochen nach der Flucht vom Schauplatz seines Verbrechens schien ihm alles, was er haben wollte, einfach zuzufallen. Er mußte nur den Daumen hochhal-ten, und ein Auto bremste mit quietschenden Reifen. Wenn ein Autofahrer ihn fragte, wohin er, Jaffe, denn wollte, brachte ihn der Fahrer genau dorthin. Es war, als wäre er gesegnet worden.

Wenn er stolperte, war stets jemand zur Stelle, der ihn stützte.

Wenn er hungrig war, gab ihm jemand Nahrung.

Eine Frau aus Illinois, die ihn mitgenommen und

anschließend gefragt hatte, ob er die Nacht mit ihr verbringen wollte, bestätigte ihm seinen gesegneten Zustand.

»Du hast etwas Außergewöhnliches gesehen, nicht wahr?«

flüsterte sie ihm mitten in der Nacht zu. »Man sieht es in deinen Augen. Nur wegen deiner Augen habe ich dich

mitgenommen.«

»Und mir das angeboten?« sagte er und spielte zwischen ihren Beinen.

»Ja. Auch das«, sagte sie. »Was hast du gesehen?«

»Nicht genug«, antwortete er.

»Schläfst du noch einmal mit mir?«

»Nein.«

Auf seiner Reise von Bundesstaat zu Bundesstaat erhaschte er von Zeit zu Zeit einen Blick auf das, was ihn die Briefe gelehrt hatten. Er sah Geheimnisse herausragen, die es nur deshalb wagten, sich zu zeigen, weil er auf der Durchreise war und sie in ihm einen kommenden Mann der Macht erkannten. In

25

Kentucky wurde er durch Zufall Zeuge, wie der Leichnam eines Heranwachsenden aus einem Fluß gezogen wurde; der Leichnam lag auf dem Gras, Arme ausgebreitet, Finger

gespreizt, während eine Frau an seiner Seite heulte und schluchzte. Die Augen des Jungen waren offen, ebenso die Knöpfe seiner Hose. Er beobachtete alles aus kurzer

Entfernung, der einzige Zeuge, der nicht von der Polizei weggescheucht wurde - wieder die Augen - und genoß es, wie der Junge ausgerichtet war - wie die Gestalt auf dem Medaillon nämlich -, und er wollte sich beinahe selbst in den Fluß stürzen, nur um den Kitzel des Ertrinkens zu erleben.

In Idaho begegnete er einem Mann, der bei einem Autounfall einen Arm verloren hatte; als sie beisammensaßen und sich unterhielten, sagte er, daß er immer noch Empfindungen in dem verlorenen Glied hatte, was die Ärzte als Phantomschmerz bezeichneten; aber er wußte, das war sein Astralkörper, der auf einer anderen Daseinsebene noch unversehrt war. Er sagte, daß er sich mit der verlorenen Hand immer noch regelmäßig einen abwichste, und bot sich an, das vorzuführen. Es stimmte.

Später sagte der Mann: »Du kannst im Dunkeln sehen, nicht wahr?«

Darüber hatte Jaffe noch gar nicht nachgedacht, aber jetzt, wo seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt worden war, schien es tatsächlich so zu sein, als könnte er es.

»Wie hast du das gelernt?«

»Gar nicht.«

»Vielleicht Astralaugen.«

»Vielleicht.«

»Soll ich dir noch einmal den Schwanz lutschen?«

»Nein.«

Er sammelte Erfahrungen, stets nur eine, wenn er auf der einen Seite ins Leben von Menschen trat und es auf der anderen wieder verließ, so daß sie besessen oder weinend oder tot 26

zurückblieben. Er folgte jeder Laune, folgte seinem Instinkt, und das geheime Leben wurde ihm in dem Augenblick

offenbar, wenn er eine Stadt betrat.

Nichts deutete darauf hin, daß er von den Mächten des Gesetzes verfolgt wurde. Vielleicht war Homers Leichnam nicht in dem niedergebrannten Gebäude gefunden worden, und falls doch, hatte ihn die Polizei vielleicht nur als Opfer der Flammen betrachtet. Aus welchen Gründen auch immer,

niemand war hinter ihm her. Er ging, wohin er wollte, und er tat, was sein Herz begehrte, bis er ein Übermaß an Begierden befriedigt und Bedürfnisse gestillt hatte und es Zeit wurde, die Grenze zu überschreiten. Er mietete sich ein Zimmer in einem verlausten Motel in Los Alamos, New Mexico, schloß sich mit zwei Flaschen Wodka ein, zog sich aus, zog die Vorhänge vor und ließ seinen Verstand wandern. Er hatte seit achtundvierzig Stunden nichts mehr gegessen, nicht weil er kein Geld gehabt hätte, denn das hatte er, sondern weil ihm das unbeschwerte Gefühl im Kopf gefiel. Nach Nahrung hungernd und vom

Wodka aufgepeitscht, liefen seine Gedanken Amok,

verschlangen einander gegenseitig und schissen einander aus und waren wechselweise barbarisch und barock. In der

Dunkelheit kamen Küchenschaben aus ihren Löchern und

wuselten über seinem am Boden liegenden Körper. Er ließ sie kommen und gehen, goß sich Wodka über die Lenden, wenn sie dort zu emsig waren und er steif wurde, weil das eine Ablenkung war. Er wollte nur denken. Schweben und denken.

Er hatte alle körperlichen Empfindungen erlebt, die er erleben mußte; heiß und kalt, triebhaft und geschlechtslos; war Ficker und Gefickter gewesen. Nichts davon wollte er noch einmal; jedenfalls nicht als Randolph Jaffe. Es gab eine andere Art zu sein, einen anderen Ort, wo man empfinden konnte, wo Sex und Mord und Kummer und Gier und alles wieder

interessant sein mochten, aber erst dann, wenn er sein momentanes Dasein überwunden hatte; wenn er zum Künstler 27

geworden war und die Welt neu erschaffen hatte.

Kurz vor der Dämmerung, als selbst die Küchenschaben

träge wurden, spürte er die Einladung.

Er war von einer großen Ruhe erfüllt. Sein Herz schlug langsam und gleichmäßig. Seine Blase leerte sich aus eigenem Antrieb, wie die eines Babys. Ihm war weder zu kalt noch zu warm. Er war weder zu müde noch zu wach. Und an diesem Kreuzweg - der nicht der erste und nicht der letzte war - zog etwas tief in seinem Innersten und rief ihn.

Er stand sofort auf, zog sich an, nahm die verbleibende volle Flasche Wodka und ging hinaus. Der Ruf in seinem Inneren verstummte nicht. Er wurde weitergezogen, während sich die kalte Nacht hinforthob und die Sonne aufging. Er war barfuß gegangen. Seine Füße bluteten, aber sein Körper interessierte ihn nicht weiter, und er hielt die Schmerzen mit weiterem Wodka auf Distanz. Am Nachmittag, als er den letzten Rest getrunken hatte, war er mitten in einer Wüste und ging in die Richtung, in die er gerufen wurde, ohne richtig zu bemerken, wie er einen Fuß vor den anderen setzte. Er hatte keinen Gedanken mehr im Kopf, außer der ›Kunst‹ und wie sie zu erringen sei, und selbst diese Ambition kam und ging.

Wie schließlich die Wüste selbst. Irgendwann gegen Abend kam er an einen Ort, wo selbst die einfachsten Tatsachen - der Boden unter ihm, der dunkelnde Himmel über seinem Kopf - in Zweifel standen. Er war nicht einmal mehr sicher, ob er noch ging. Daß alles fehlte, das war angenehm, aber es dauerte nicht lange. Der Ruf mußte ihn weitergelockt haben, ohne daß er selbst den Sog bemerkte, denn die Nacht wurde plötzlich zum Tage, und er befand sich - wieder am Leben; wieder Randolph Ernest Jaffe - in einer Wüste, welche noch kahler als diejenige war, die er hinter sich gelassen hatte. Hier war es früher Morgen. Die Sonne stand noch nicht hoch, erwärmte die Luft aber bereits, der Himmel war makellos klar.

Nun empfand er Schmerzen und Übelkeit, aber der Sog in 28

seinem Inneren war unwiderstehlich. Er mußte weiterstolpern, obwohl sein ganzer Körper ein Trümmerfeld war. Später erinnerte er sich, daß er durch eine Stadt gekommen war und einen Turm aus Stahl mitten in der Wüste stehen gesehen hatte.

Aber erst, als seine Reise zu Ende war, vor einer schlichten Steinhütte, deren Tür sich vor ihm öffnete, als seine letzten Kraftreserven aufgebraucht waren und er über ihre Schwelle fiel.

29

III

Als er zu sich kam, war die Tür geschlossen, aber sein Verstand weit offen. Auf der anderen Seite eines prasselnden Feuers saß ein alter Mann mit leutseligen, etwas albernen Gesichtszügen, denen eines Clowns gleich, der fünfzig Jahre gegrinst und nun damit aufgehört hatte; seine Poren waren groß und fettig, das Haar war lang und grau. Er hatte die Beine über Kreuz. Während Jaffe versuchte, die Energie zum Sprechen aufzubringen, hob der Mann ab und zu eine Gesäßbacke und ließ lautstark einen fahren.

»Du hast den Weg hierher gefunden«, sagte er nach einer gewissen Zeit. »Ich dachte, du würdest vorher sterben. Viele sind gestorben. Es erfordert große Willenskraft.«

»Wo bin ich?« brachte Jaffe heraus.

»Wir sind in einer Schleife. Einer Schleife in der Zeit, die ein paar Minuten umfaßt. Ich habe sie als Zuflucht gefunden.

Nur hier bin ich sicher.«

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Kissoon.«

»Gehören Sie zum Schwarm?«

Das Gesicht jenseits des Feuers drückte Überraschung aus.

»Du weißt eine Menge.«

»Nein. Eigentlich nicht. Nur Bruchstücke.«

»Nur sehr wenige Menschen wissen vom Schwarm.«

»Ich weiß von einigen«, sagte Jaffe.

»Tatsächlich?« sagte Kissoon nachdenklich. »Ich wüßte gerne ihre Namen.«

»Ich besaß Briefe von ihnen...«, sagte Jaffe, verstummte aber, als ihm klar wurde, daß er nicht mehr wußte, wo er sie hatte, diese wertvollen Hinweise, die ihn durch Himmel und Hölle geführt hatten.

»Briefe von wem?« sagte Kissoon.

»Von Menschen, die... von der ›Kunst‹ wissen... oder etwas 30

ahnen. «

»Wirklich? Und was schreiben sie darüber?«

Jaffe schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht

dahintergekommen«, sagte er. »Aber ich glaube, es existiert ein Meer...«

»Das existiert«, sagte Kissoon. »Und du wüßtest gerne, wo man es finden kann, wie man dorthin gelangt und wie man Kraft aus ihm schöpft.«

»Ja. Das wüßte ich gerne.«

»Und als Gegenleistung für dieses Wissen?« sagte Kissoon.

»Was hast du zu bieten?«

»Ich habe nichts.«

»Laß mich das entscheiden«, sagte Kissoon und wandte den Blick zum Dach der Hütte, als würde er etwas in dem Rauch sehen, der sich dort staute.

»Okay«, sagte Jaffe. »Was immer ich habe, das Sie haben wollen. Sie können es nehmen.«

»Klingt fair.«

»Ich muß es wissen. Ich will die ›Kunst‹ beherrschen.«

»Natürlich. Natürlich.«

»Ich habe genug vom Leben«, sagte Jaffe.

Kissoon sah ihn wieder an.

»Wirklich? Das bezweifle ich.«

»Ich möchte... ich möchte...« (Was? dachte er. Was möchtest du?) »Erklärungen«, sagte er.

»Gut, wo soll ich anfangen?«

»Mit dem Meer«, sagte Jaffe.

»Ah, das Meer.«

»Wo ist es?«

»Warst du jemals verliebt?« antwortete Kissoon.

»Ja. Ich glaube schon.«

»Dann warst du schon zweimal in der Essenz. Zum ersten Mal in der ersten Nacht, in der du außerhalb der Gebärmutter geschlafen hast. Zum zweiten Mal in der Nacht, als du neben 31

der Frau lagst, die du liebtest. Oder war es ein Mann?« Er lachte. »Wie auch immer.«

»Essenz ist das Meer.«

»Essenz ist das Meer. Und in diesem Meer sind Inseln, die Ephemeriden heißen.«

»Ich möchte dorthin«, hauchte Jaffe.

»Wirst du. Noch ein einziges Mal.«

»Wann?«

»In der letzten Nacht deines Lebens. Mehr wird uns nicht ge-währt. Drei Ausflüge zum Meer der Träume. Weniger, und wir würden verrückt werden. Mehr...«

»Und?«

»Und wir wären keine Menschen mehr.«

»Und die ›Kunst‹?«

»Ah, ja... da gehen die Meinungen auseinander.«

»Beherrschen Sie sie?«

»Beherrschen?«

»Diese ›Kunst‹. Beherrschen Sie sie? Können Sie sie

vollbringen? Können Sie sie mir beibringen?«

»Vielleicht.«

»Sie sind einer vom Schwarm«, sagte Jaffe. »Sie müssen sie beherrschen, richtig?«

»Einer?« lautete die Antwort. »Ich bin der letzte. Ich bin der einzige.«

»Dann weihen Sie mich ein. Ich möchte die Welt verändern können.«

»Welch bescheidenes Ziel.«

»Verarschen Sie mich nicht!« sagte Jaffe, der zur

Überzeugung kam, daß er zum Narren gehalten wurde. »Ich werde nicht mit leeren Händen gehen, Kissoon. Wenn ich die Kunst beherrsche, kann ich in die Essenz eintauchen, richtig?

So läuft das.«

»Woher hast du diese Informationen?«

»Ist es nicht so?«

32

»Ja. Und ich wiederhole: Woher hast du diese Informationen?«

»Ich kann die Hinweise zusammenzählen. Das mache ich

immer noch.« Er grinste, während sich in seinem Kopf die Teile zusammenfügten. »Die Essenz liegt irgendwo jenseits dieser Welt, nicht wahr? Und mit der ›Kunst‹ kann man überwechseln, so daß man jederzeit dorthin gelangen kann. Der Finger im Kuchen.«

»Hm?«

»So hat sie jemand genannt. Der Finger im Kuchen.«

»Warum sich mit einem Finger begnügen?« bemerkte Kis-

soon.

»Richtig! Warum nicht meinen ganzen verdammten Arm?«

Kissoons Gesichtsausdruck war beinahe bewundernd.

»Welch ein Jammer«, sagte er. »Du könntest noch weiter entwickelt sein. In diesem Fall hätte ich dich in alles einweihen können.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß du zuviel von einem Affen hast.

Ich kann dir die Geheimnisse in meinem Kopf nicht verraten.

Sie sind zu mächtig, zu gefährlich. Du weißt nicht, was du mit ihnen anfangen solltest. Letztendlich würdest du die Essenz mit deinen infantilen Ambitionen verunreinigen. Und die Essenz muß erhalten bleiben.«

»Ich habe Ihnen gesagt... ich werde nicht mit leeren Händen von hier weggehen. Sie können von mir haben, was Sie wollen.

Was immer ich habe. Aber unterrichten Sie mich.«

»Würdest du mir deinen Körper geben?« sagte Kissoon.

»Würdest du das tun?«

»Was?«

»Mehr hast du nicht zum Handeln. Möchtest du mir das geben?«

Diese Antwort verblüffte Jaffe.

»Sie wollen Sex?«

33

»Gütiger Himmel, nein.«

»Was dann? Ich verstehe nicht.«

»Fleisch und Blut. Das Behältnis. Ich möchte deinen Körper bewohnen.«

Jaffe betrachtete Kissoon, der wiederum ihn betrachtete.

»Nun?« sagte der alte Mann.

»Sie können nicht einfach in meine Haut steigen«, sagte Jaffe.

»Doch, das kann ich. Sobald sie freigemacht worden ist.«

»Das glaube ich nicht.«

»Jaffe, Sie sollten niemals sagen: Das glaube ich nicht. Das Außergewöhnliche ist die Norm. Es gibt Schleifen in der Zeit.

Wir sind gerade in einer. In unseren Köpfen sind Armeen, die nur darauf warten, zu marschieren. Und Sonnen in unseren Lenden und Fotzen am Himmel. In jedem Staat werden

Sprüche gewoben...«

»Sprüche?«

»Eingaben! Beschwörungen! Magie, Magie! Sie ist überall.

Und du hast natürlich recht, Essenz ist der Ursprung, und die

›Kunst‹ ist der Schlüssel dazu. Da findest du, es könnte mir schwerfallen, in deine Haut zu schlüpfen. Hast du denn nichts gelernt?«

»Nehmen wir an, ich willige ein.«

»Nehmen wir es an.«

»Was passiert mit mir, wenn ich meinen Körper verlasse?«

»Du würdest hierbleiben. Als Seele. Es ist nicht viel, aber es ist ein Zuhause. Ich komme nach einer Weile zurück. Und dein Fleisch und Blut würden wieder dir gehören.«

»Warum wollen Sie meinen Körper überhaupt?« sagte Jaffe.

»Der ist doch völlig im Eimer.«

»Das ist meine Sache«, antwortete Kissoon.

»Ich muß es wissen.«

»Und ich habe beschlossen, es dir nicht zu sagen. Wenn du die ›Kunst‹ willst, solltest du tun, was ich sage. Du hast keine 34

andere Wahl.«

Das Benehmen des alten Mannes - sein arrogantes, schmales Lächeln, das Achselzucken, wie er die Lider stets halb gesenkt hatte, als wäre es Verschwendung von Augenlicht, seinen Gast ganz anzusehen - das alles ließ Jaffe an Homer denken. Sie hätten zwei Seiten einer Medaille sein können; der erbärmliche Kotzbrocken und dieser überhebliche alte Bock hier. Als er an Homer dachte, dachte er unweigerlich an das Messer in seiner Tasche. Wie oft würde er Kissoons abgemagerten Kadaver schneiden müssen, bis der Schmerz ihn davon überzeugte, endlich zu reden? Würde er dem alten Mann sämtliche Finger abschneiden müssen, Stück für Stück? Wenn ja, er war dazu bereit. Vielleicht mußte er ihm die Ohren abschneiden.

Vielleicht die Augen ausstechen. Was immer erforderlich war, er würde es tun. Es war zu spät, zimperlich zu sein; viel zu spät.

Er glitt mit der Hand in die Tasche und ergriff das Messer.

Kissoon sah die Bewegung.

»Du begreifst nichts, oder?« sagte er, und seine Augen schnellten plötzlich hektisch hin und her, als würde er mit größter Geschwindigkeit in der Luft zwischen ihm und Jaffe lesen.

»Ich begreife mehr, als Sie denken«, sagte Jaffe. »Mir ist klar, daß ich nicht rein genug für Sie bin. Ich bin nicht - wie haben Sie sich ausgedrückt? - entwickelt. Ja, entwickelt.«

»Ich sagte, du bist ein Affe.«

»Richtig.«

»Ich habe den Affen beleidigt.«

Jaffe umklammerte das Messer fester. Er wollte aufstehen.

»Wage es nicht«, sagte Kissoon.

»Es ist, als würde man ein rotes Tuch vor einem Stier wedeln«, sagte Jaffe, dessen Kopf kreiste, so sehr strengte ihn das Aufstehen an, »wenn man ›Wage es nicht‹ zu mir sagt. Ich habe Dinge gesehen... getan...« Er wollte das Messer aus der 35

Tasche holen. »Ich habe keine Angst vor Ihnen.«

Kissoons Augen hörten mit den schnellen Lesebewegungen auf und sahen zu der Klinge. Sein Gesicht sah nicht überrascht aus, so wie das von Homer; aber er hatte eindeutig Angst. Der Kitzel des Vergnügens raste durch Jaffe, als er diesen Gesichtsausdruck sah.

Kissoon stand auf. Er war deutlich kleiner als Jaffe, beinahe untersetzt, und sämtliche Winkel waren leicht schräg, als wären ihm einmal alle Knochen gebrochen und in aller Hast neu zusammengesetzt worden.

»Sie sollten kein Blut vergießen«, sagte er hastig. »Nicht in einer Schleife. Es gehört zu den Grundregeln des Schleifenspruchs, niemals Blut zu vergießen.«

»Schwach«, sagte Jaffe und ging um das Feuer herum auf sein Opfer zu.

»Es ist die Wahrheit«, sagte Kissoon und schenkte Jaffe das seltsamste, falscheste Lächeln. »Es gehört zu meiner Ehre, daß ich niemals lüge.«

»Ich habe ein Jahr im Schlachthof gearbeitet«, sagte Jaffe.

»In Omaha, Nebraska. Tor zum Westen. Ich habe ein Jahr lang nur Fleisch zerschnitten. Ich verstehe etwas von dem

Geschäft.«

Jetzt hatte Kissoon große Angst. Er war zur Wand der Hütte zurückgewichen und hatte beide Arme ausgestreckt, um sich zu schützen; er sah, fand Jaffe, wie die Heldin eines Stummfilms aus. Seine Augen waren nicht mehr halb offen, sondern groß und feucht. Und auch sein Mund - groß und feucht. Er brachte nicht einmal mehr Drohungen heraus, er stand nur da und schlotterte.

Jaffe streckte die Arme aus und legte dem Mann die Hand um den Truthahnhals. Er packte fest zu, Finger und Daumen gruben sich in Sehnen. Dann griff er mit der anderen Hand, in der er das stumpfe Messer hielt, an Kissoons linken

Augenwinkel. Der Atem des alten Mannes roch wie der Furz 36

eines Kranken. Jaffe wollte ihn nicht einatmen, aber er hatte keine andere Wahl; doch im selben Augenblick, als er das tat, merkte er, daß er angeschmiert worden war. Der Atem war mehr als säuerliche Luft. Er hatte etwas in sich, das aus Kissoons Körper ausgestoßen wurde und sich in seinen

hineinfraß - oder es zumindest versuchte. Jaffe ließ den dürren Hals los und wich zurück.

»Wichser!« sagte er und spie und hustete den Atem aus, bevor er ihn übernehmen konnte.

Kissoon spielte weiterhin den Arglosen.

»Willst du mich nicht umbringen?« sagte er. »Bin ich begna-digt?«

Jetzt kam er näher; Jaffe wich zurück.

»Bleiben Sie weg von mir!« sagte Jaffe.

»Ich bin nur ein alter Mann!«

»Ich habe den Atem gespürt!« schrie Jaffe und schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Sie versuchen, in mich

hineinzugelangen!«

»Nein«, protestierte Kissoon.

»Verdammt, lügen Sie mich nicht an. Ich habe es gespürt.«

Er spürte es immer noch. Ein Gewicht in seiner Lunge, wo vorher kein Gewicht gewesen war. Er wich zur Tür zurück, weil er wußte, wenn er blieb, würde ihn der Wichser

fertigmachen.

»Geh nicht«, sagte Kissoon. »Mach die Tür nicht auf.«

»Es gibt andere Wege, die zur ›Kunst‹ führen«, sagte Jaffe.

»Nein«, sagte Kissoon. »Nur ich. Die anderen sind alle tot.

Niemand kann dir helfen, außer mir.«

Er versuchte sein gepreßtes Lächeln und verbeugte den mißgestalteten Körper, aber die Unterwürfigkeit war ebenso Schauspielerei, wie es die Angst gewesen war. Nur Tricks, sein Opfer in der Nähe zu behalten, damit er dessen Fleisch und Blut haben konnte. Jaffe würde kein zweites Mal auf die Nummer hereinfallen. Er versuchte, Kissoons Verführungen 37

mit Erinnerungen zu verdrängen. Freuden, die er noch einmal erleben würde, wenn er nur lebend aus dieser Falle entkam. Die Frau in Illinois, der einarmige Mann in Kentucky, die Liebkosungen der Küchenschaben. Die Erinnerungen trugen mit dazu bei, daß Kissoon keinen Einfluß über ihn bekam. Er griff hinter sich nach der Türklinke.

»Nicht aufmachen«, sagte Kissoon.

»Ich verschwinde von hier.«

»Ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir leid. Ich habe dich unterschätzt. Wir können uns doch sicherlich einigen? Ich werde dir alles erzählen, was du wissen mußt. Ich werde dir die

›Kunst‹ beibringen. Ich selbst besitze die Fähigkeit nicht. Nicht in der Schleife. Aber du könntest sie haben. Du könntest sie mitnehmen. Dort hinaus. In die Welt zurück. Arm im Kuchen!

Nur bleib. Bleib, Jaffe. Ich war so lange alleine hier. Ich brauche Gesellschaft. Jemanden, dem ich alles erklären kann.

Mit dem ich es teilen kann.«

Jaffe drückte die Klinke. Als er das tat, spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen bebte, und einen Augenblick schien jenseits der Tür blendende Helligkeit zu herrschen. Sie schien zu grell für bloßes Tageslicht, aber genau das mußte sie gewesen sein, denn nur die Sonne erwartete ihn, als er nach draußen trat.

»Verlaß mich nicht!« hörte er Kissoon schreien, und mit diesem Schrei spürte er, wie der Mann nach seinen Eingeweiden griff, wie er ihn hergezogen hatte. Doch der Zugriff war längst nicht mehr so stark wie zuvor. Entweder hatte Kissoon zuviel Energie beim Versuch vergeudet, seine Seele in Jaffe zu hauchen, oder seine Wut schwächte ihn. Was auch immer, der Zugriff war überwindbar, und je weiter Jaffe lief, desto schwächer wurde er.

Hundert Meter von der Hütte entfernt sah er hinter sich und glaubte, einen Flecken Dunkelheit zu erkennen, der sich am Boden entlang auf ihn zu bewegte, gleich einem Seil, das 38

aufgerollt wurde. Er verweilte nicht, um herauszufinden, was der alte Dreckskerl für einen neuen Trick auf Lager hatte, sondern lief immer weiter, seiner eigenen Spur am Boden nach, bis der Stahlturm zu sehen war. Er kündete von einem Versuch, diese Einöde zu bevölkern, der längst aufgegeben worden war.

Weiter entfernt fand er, eine Stunde voller Schmerzen später, neuerliche Beweise für dieses Vorhaben. Die Stadt, durch die er auf dem Weg hierher gestolpert war, wie er sich vage erinnern konnte, deren Straßen nicht nur ohne alle Menschen oder Fahrzeuge waren, sondern die überhaupt keinerlei herausragende Merkmale aufwiesen, wie eine Filmkulisse, die noch für die Dreharbeiten dekoriert werden mußte.

Eine halbe Meile weiter deuteten Turbulenzen in der Atmosphäre darauf hin, daß er den Rand der Schleife erreicht hatte.

Er stürzte sich nur zu bereitwillig in ihre Verwirrungen und kam durch eine Region übelkeiterregender Desorientierung, in der er sich nicht sicher war, ob er überhaupt ging. Plötzlich war er auf der anderen Seite draußen und wieder in einer stillen, sternenklaren Nacht.

Achtundvierzig Stunden später, als er betrunken in einer Gasse in Santa Fe lag, traf er zwei spontane Entscheidungen.

Erstens, daß er den Bart behalten würde, der ihm in den vergangenen Wochen gewachsen war, und zwar als Erinnerung an seine Suche. Zweitens, daß er sein ganzes Streben, jegliches Wissen über das okkulte Leben Amerikas, das er erlangt hatte, jedes Jota der Macht, das ihm seine Astralaugen verliehen, dem Bemühen widmen würde, die ›Kunst‹ zu erlangen - Scheiß auf Kissoon; scheiß auf den Schwarm -, und daß er sein Gesicht erst, wenn er sie erlangt hatte, wieder unrasiert zeigen würde.

39

IV

Es fiel ihm nicht leicht, das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte, einzuhalten. Bot ihm doch die Macht, die er erlangt hatte, so viele einfache Freuden; Freuden, auf die er jahrelang verzichtet hatte, weil er fürchtete, sein bißchen Macht zu verlieren, bevor er größere erlangt hatte.

Sein oberstes Ziel war, einen anderen Suchenden zu finden; jemand, der ihn bei seiner Suche unterstützen konnte. Es dauerte zwei Monate, bis seine Ermittlungen Name und Ruf eines Mannes zutage förderten, der perfekt für diese Rolle geeignet war. Dieser Mann war Richard Wesley Fletcher, der -

bis er vor kurzem in Ungnade gefallen war - einer der gefeiertsten und revolutionärsten Köpfe auf dem Gebiet der Evolutionsforschung gewesen war; Leiter mehrerer

Forschungsprogramme in Boston und Washington; ein

Theoretiker, dessen Bemerkungen - jede einzelne - von seinen Anhängern nach Hinweisen auf seinen nächsten Durchbruch hin durchleuchtet wurden. Aber sein Genie war von Drogen beeinträchtigt. Meskalin und seine Derivate hatten ihn zu Fall gebracht, sehr zum Wohlgefallen zahlreicher seiner Kollegen, die kein Hehl mehr aus der Verachtung machten, die sie für den Mann empfanden, nachdem sein geheimes Laster ans Licht gekommen war. Jaffe entdeckte in einem Artikel nach dem anderen denselben gönnerhaften Tonfall, wenn die

akademische Gemeinschaft das gefallene Wunderkind

verurteilte, seine Theorien als lächerlich und seine Moral als widerwärtig verdammte. Fletchers Moral hätte Jaffe nicht gleichgültiger sein können. Die Theorien des Mannes fesselten ihn, deckten sie sich doch in weiten Zügen mit seinen eigenen Ambitionen. Fletchers Forschungen hatten darauf abgezielt, die Kraft in lebenden Organismen, die sie dazu trieb, sich evolutionär zu entwickeln, zu isolieren und im Labor zu synthetisieren. Er glaubte, wie Jaffe, auch daran, daß man den 40

Himmel stehlen konnte.

Es erforderte Beharrlichkeit, den Mann zu finden, aber die hatte Jaffe im Überfluß, und schließlich fand er ihn in Maine.

Das Genie befand sich infolge seiner Verzweiflung in einer üblen Verfassung, am Rande eines völligen geistigen

Zusammenbruchs. Jaffe war vorsichtig. Er kam nicht direkt auf sein Anliegen zu sprechen, sondern machte sich zuerst unentbehrlich, indem er Drogen von einer Qualität lieferte, wie Fletcher sie sich aufgrund seiner Armut schon lange nicht mehr leisten konnte. Erst als er das Vertrauen des Süchtigen gewonnen hatte, machte er Anspielungen auf Fletchers Arbeit.

Anfangs war Fletcher alles andere als willfährig, aber Jaffe entfachte langsam, aber sicher das Feuer der Besessenheit, und schließlich loderten die Flammen hell. Und nachdem sie brannten, hatte Fletcher viel zu erzählen. Er berichtete, daß er seiner Meinung nach zweimal nahe daran gewesen war, die Substanz zu isolieren, die er Nuncio, den Boten, nannte. Aber der abschließende Prozeß war ihm nie gelungen. Jaffe trug ein paar eigene Beobachtungen zu dem Thema bei, die er bei seinen Studien des Okkulten aufgeschnappt hatte. Sie beide, deutete er vorsichtig an, waren Suchende. Wenngleich er, Jaffe, das Vokabular der Altvorderen benützte - das der Alchimisten und Magier - und Fletcher die Sprache der Wissenschaft, hatten sie doch beide dasselbe Ziel, nämlich die Evolution am Ellbogen zu packen; das Fleisch, und möglicherweise die Seele, mittels künstlicher Methoden weiterzuentwickeln.

Anfänglich schüttete Fletcher seinen Hohn über diese

Behauptungen aus, aber allmählich lernte er sie zu schätzen, und schließlich akzeptierte er, als Jaffe ihm die Einrichtung anbot, in der er seine Forschungen erneut beginnen konnte.

Diesmal, versprach Jaffe, würde Fletcher nicht in einem akademischen Treibhaus arbeiten müssen, wo ständig von ihm verlangt wurde, daß er seine Arbeiten rechtfertigte, um seinen Etat nicht zu verlieren. Er sicherte seinem vom Dämon Droge 41

besessenen Freund einen Ort zu, wo er ungestört und vor Neugierigen geschützt arbeiten konnte. Wenn der Nuncio isoliert und sein Wunder reproduziert worden war, konnte Fletcher aus der Wildnis zurückkehren und seine Widersacher in die Flucht schlagen. Das war ein Angebot, dem kein Besessener hätte widerstehen können.

Elf Monate später stand Richard Wesley Fletcher auf einem Granitfelsen an der Pazifikküste Kaliforniens und verfluchte sich selbst dafür, daß er Jaffas Verlockungen erlegen war.

Hinter ihm, in der Misión de Santa Catrina, war die Große Arbeit - wie Jaffe sie zu nennen pflegte - vollbracht worden.

Der Nuncio war Wirklichkeit geworden. Es gab sicher kaum einen weniger wahrscheinlichen Ort für Forschungen, die der größte Teil der Welt für gottlos gehalten hätte, als eine aufgegebene Jesuiten-Mission, aber das ganze Unternehmen war von Anfang an von Paradoxen geprägt gewesen.

Erstens die Liaison zwischen Jaffe und ihm. Zweitens das Zusammenspiel verschiedener Fachrichtungen, welches die Große Arbeit ermöglicht hatte. Und drittens die Tatsache, daß er jetzt, in der Stunde seines Triumphs, kurz davor war, den Nuncio zu vernichten, bevor er dem Mann in die Hände fiel, der seine Erschaffung finanziert hatte.

Wie bei der Erschaffung, so auch bei der Zerstörung:

Systematik, Besessenheit, Schmerz. Fletcher war zu versiert in den Zweideutigkeiten der Materie, um sich dem Glauben hinzugeben, daß die völlige Vernichtung von etwas möglich war. Man konnte Entdeckungen nicht entdeckt machen. Aber wenn die Veränderung des Beweises, die er und Raul

durchführten, gründlich genug war, dann würde es - dies war seine feste Überzeugung - niemandem gelingen, die

Experimente so leicht nachzustellen, die er in der Wüste von Kalifornien durchgeführt hatte. Er und der Junge - es fiel ihm immer noch schwer, Raul als Jungen zu betrachten - mußten wie perfekte Diebe sein, die ihr eigenes Haus plünderten, um 42

jede Spur ihrer selbst zu vernichten. Wenn sie sämtliche Forschungsunterlagen verbrannt und jegliches Gerät

zertrümmert hatten, mußte es so sein, als hätte der Nuncio nie existiert. Erst dann konnte er den Jungen, der immer noch emsig die Feuer in der Mission schürte, zum Rand der Klippe führen, damit sie Hand in Hand hinunterspringen konnten. Der Sturz war tief, die Felsen unten so scharfkantig, daß sie keine Überlebenschancen hatten. Die Flut würde ihre Leichen und das Blut in den Pazifik hinausspülen. Und damit würden Feuer und Wasser die Aufgabe vollbracht haben.

Was natürlich nicht verhindern konnte, daß ein künftiger Forscher den Nuncio von sich aus wiederentdeckte; aber das Zusammenwirken von wissenschaftlichen Disziplinen und Um-ständen, das die Entdeckung ermöglicht hatte, war sehr eigentümlich. Fletcher hoffte für die Menschheit, daß sie viele Jahre lang nicht wieder zusammentreffen würden. Diese Hoffnung war durchaus begründet. Ohne Jaffes seltsames, halb intuitives Wissen um okkulte Prinzipien, die seine eigene

wissenschaftliche Methodik unterstützten, wäre das Wunder nicht möglich gewesen, und wie oft setzten sich Männer der Wissenschaft schon mit Männern der Magie - den Sprüche-wirkern, wie Jaffe sie genannt hatte - zusammen, um ihre Künste zu vereinen? Es war gut, daß sie das nicht taten. Es gab soviel Gefährliches zu entdecken. Die Anhänger des Okkulten, deren Kodes Jaffe entschlüsselt hatte, wußten mehr über die Welt, als Fletcher je vermutet hätte. Unter ihren Metaphern, ihrem Gerede vom Bad der Wiedergeburt und dem von Vätern aus Blei erzeugten goldenen Nachfahren strebten sie nach denselben Zielen, die er sein ganzes Leben lang verfolgt hatte.

Künstliche Methoden, den evolutionären Impuls

voranzubringen: den Menschen über sich selbst hinauswachsen zu lassen. Obscurum per obscurius, ignotium per ignotius, sagten sie. Sollte das Obskure vom noch Obskureren erklärt werden, das Unbekannte vom Unbekannteren. Sie wußten, 43

wovon sie schrieben. Fletcher hatte das Problem mittels ihrer und seiner Wissenschaft gelöst. Er hatte eine Flüssigkeit künstlich hergestellt, die das fröhliche Wirken der Evolution durch jeden lebenden Organismus tragen und - so Fletchers Überzeugung - noch die unwichtigste Zelle in ein höheres Dasein zwingen würde. Nuncio hatte er sie genannt: der Bote.

Heute wußte er, daß der Name falsch war. Er war nicht der Bote der Götter, sondern der Gott selbst. Er hatte ein Eigenleben. Er hatte Energie und Ambitionen. Er mußte ihn vernichten, bevor er begann, die Schöpfungsgeschichte neu zu schreiben - mit Randolph Jaffe als Adam.

»Vater?«

Raul war hinter ihn getreten. Der Junge hatte wieder die Kleidung abgelegt. Da er jahrelang nackt gewesen war, konnte er sich nicht an ihre Behinderung gewöhnen. Und er hatte wieder das verdammte Wort benutzt.

»Ich bin nicht dein Vater«, erinnerte Fletcher ihn. »Das war ich nie und werde es auch nie sein. Geht das denn nicht in deinen Kopf hinein?«

Raul hörte zu, wie immer. Seine Augen hatten kein Weiß und waren schwer zu deuten, aber der gelassene Blick

erweichte Fletcher immer wieder aufs neue.

»Was willst du?« fragte er sanfter.

»Die Feuer«, antwortete der Junge.

»Was ist mit ihnen?«

»Der Wind, Vater...«, fing er an.

Der Wind hatte in den vergangenen Minuten zugenommen, er wehte direkt vom Meer herein. Als Fletcher Raul zur Vorderfront der Mission folgte, in deren Windschatten sie die Scheiterhaufen des Nuncio errichtet hatten, stellte er fest, daß die Unterlagen verweht, viele davon aber unversehrt und nicht vom Feuer berührt waren.

»Verdammt«, sagte Fletcher, der ebenso über seine eigene mangelnde Aufmerksamkeit wie die des Jungen erbost war.

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»Ich habe dir doch gesagt: Nicht zuviel Papier auf einmal nachlegen.«

Er ergriff Rauls Arm, der mit seidigem Haar bedeckt war, wie überhaupt sein ganzer Körper. Ein versengter Geruch war deutlich, wo Flammen emporgeleckt und den Jungen

überrascht hatten. Er wußte, es erforderte beachtlichen Mut von Seiten Rauls, seine Ur-Angst vor dem Feuer zu überwinden. Er tat es für seinen Vater. Er hätte es für keinen anderen getan.

Fletcher legte Raul zerknirscht einen Arm um die Schulter. Der Junge klammerte sich an ihn, wie er sich in seiner früheren Inkarnation festgeklammert hatte, und vergrub das Gesicht im Geruch des Menschen.

»Wir sollten sie einfach davonfliegen lassen«, sagte Fletcher, der zusah, wie ein Windstoß Blätter vom Feuer wirbelte und wie die Seiten eines Abreißkalenders fortwehte, Tag für Tag Schmerz und Inspiration. Selbst wenn eine oder zwei gefunden werden würden, was an diesem einsamen Strandabschnitt unwahrscheinlich war, würde niemand ihren Sinn entziffern können.

Nur seine Besessenheit war dafür verantwortlich, daß er die Unterlagen vollkommen vernichten wollte. Und sollte nicht ausgerechnet er das besser wissen, war doch gerade seine Besessenheit eine der Eigenschaften gewesen, die mit verantwortlich dafür war, daß diese Verschwendung und Tragödie überhaupt erst entstanden waren?

Der Junge löste sich von Fletcher und drehte sich wieder zu den Feuern um.

»Nein, Raul...« sagte er. »... laß sie... laß sie fortwehen...«

Der Junge hörte nicht auf ihn; ein Trick, den er schon immer beherrscht hatte, schon vor den Veränderungen, die der Nuncio mit sich gebracht hatte. Wie oft hatte Fletcher den Affen gerufen, der Raul vorher gewesen war, nur damit das elende Tier ihn absichtlich mißachtete? Zu einem Großteil war eben diese Perversion dafür verantwortlich, daß Fletcher die Große 45

Arbeit an ihm erprobt hatte: das Flüstern des Menschseins in dem Affen, aus dem der Nuncio ein Brüllen gemacht hatte.

Raul machte jedoch keinen Versuch, die verstreuten Blätter einzusammeln. Sein kurzer, untersetzter Körper war verkrampft, er hatte den Kopf geneigt. Er schnupperte in der Luft.

»Was ist?« fragte Fletcher. »Witterst du jemanden?«

»Ja.«

»Wo?«

»Er kommt vom Berg.«

Fletcher zweifelte nicht an Rauls Feststellung. Die Tatsache, daß er, Fletcher, nichts hören oder riechen konnte, war lediglich ein Beweis dafür, wie verkümmert seine Sinne waren. Er mußte auch nicht fragen, aus welcher Richtung ihr Besucher kam. Es führte nur ein Weg zur Mission. Eine Straße durch so feindseliges Gelände und dann den steilen Berg hinauf anzule-gen, mußte selbst den Masochismus der Jesuiten auf eine harte Probe gestellt haben. Sie hatten eine Straße gebaut und die Mission, und dann hatten sie die Siedlung verlassen - vielleicht, weil sie Gott hier oben nicht gefunden hatten. Wenn ihre Gespenster noch hier umgingen, dachte Fletcher, würden sie heute eine Gottheit finden, drei Phiolen voll blauer Flüssigkeit.

Ebenso wie der Mann, der jetzt den Berg heraufkam. Es konnte nur Jaffe sein. Sonst wußte niemand, daß sie hier oben waren.

»Der Teufel soll ihn holen«, sagte Fletcher. »Warum jetzt?

Warum ausgerechnet jetzt?«

Es war eine alberne Frage. Jaffe hatte beschlossen, jetzt zu kommen, weil er wußte, daß eine Verschwörung gegen seine Große Arbeit im Gange war. Er konnte selbst an Orten präsent sein, wo er nicht leibhaftig war; ein spionierendes Echo seiner selbst. Fletcher wußte nicht, wie er das machte. Zweifellos einer von Jaffes Sprüchen. Die Art unbedeutender geistiger Tricks, die Fletcher früher als Bauernfängerei abgetan hätte, wie er vieles andere ebenso abgetan hätte. Jaffe würde noch ein paar Minuten brauchen, um ganz den Berg heraufzukommen, 46

aber das würde bei weitem nicht ausreichen, daß Fletcher und der Junge ihre Aufgabe zu Ende bringen konnten. Es gab nur noch zwei Dinge, die er vollenden konnte, wenn er zielstrebig genug vorging. Beide waren lebenswichtig. Zuerst mußte er Raul töten und wegschaffen, da ein ausgebildeter Forscher in seinem Körper die Natur des Nuncio erkennen mochte. Und als zweites mußte er die drei Phiolen in der Mission vernichten.

Dorthin begab er sich nun durch das Chaos, das er mit Freuden über den Ort gebracht hatte. Raul folgte ihm, er schritt barfuß durch die zertrümmerten Instrumente und zersplitterten Möbel zum Inneren des Sanktuariums. Dies war das einzige Zimmer, in dem sich das Wirrwarr der Großen Arbeit nicht breitgemacht hatte. Eine kahle Zelle, in der sich nur ein Schreibtisch, ein Stuhl und eine veraltete Stereoanlage befanden. Der Stuhl stand vor einem Fenster mit Blick aufs Meer. Hier saßen Mann und Junge in den ersten Tagen nach Rauls Verwandlung, bevor die Erkenntnis, welche Ziele und Zwecke der Nuncio tatsächlich verfolgte, Fletchers Triumph zunichte gemacht hatte. Sie betrachteten den Himmel und hörten Mozart zusammen. Alle Geheimnisse, hatte Fletcher während einer der ersten Lektionen gesagt, waren Fußnoten der Musik. Musik kam vor allem anderen.

Von nun an würde es keinen erhabenen Mozart mehr geben, keine Himmelsbeobachtungen, keine liebevolle Ausbildung. Es blieb nur noch Zeit für einen Schuß. Fletcher holte die Pistole, die neben dem Meskalin in der Schreibtischschublade lag.

»Müssen wir sterben?« sagte Raul.

Er hatte gewußt, daß das kommen würde. Aber nicht so

schnell.

»Ja.«

»Wir sollten hinausgehen«, sagte der Junge. »Zur Klippe.«

»Nein. Keine Zeit. Ich... ich muß noch einiges erledigen, bevor ich dir folge.«

»Aber du hast gesagt, gemeinsam.«

47

»Ich weiß.«

»Du hast es versprochen, gemeinsam.«

»Mein Gott, Raul! Ich habe doch gesagt: Ich weiß! Aber ich kann nicht anders. Er kommt. Und wenn er dich mir

wegnimmt, tot oder lebendig, wird er dich benützen. Er wird dich auseinandernehmen. Um herauszufinden, wie der Nuncio in dir funktioniert!«

Er wollte mit seinen Worten angst machen, und das gelang ihm. Raul schluchzte und verzog das Gesicht vor Entsetzen. Er wich einen Schritt zurück, als Fletcher die Pistole hob.

»Ich folge dir bald«, sagte Fletcher. »Ich schwöre es. So schnell ich kann.«

»Bitte, Vater...«

»Ich bin nicht dein Vater! Ein für allemal, ich bin niemandes Vater!«

Sein Ausbruch löste jeglichen Einfluß, den er auf den Jungen hatte. Bevor Fletcher auf ihn zielen konnte, sprang Raul zur Tür hinaus. Er schoß dennoch, aber die Kugel schlug in die Wand ein; dann setzte er zur Verfolgung an und schoß ein zweites Mal. Aber der Junge war behende wie ein Affe. Er hatte das Labor durchquert und war draußen im Freien, bevor ein dritter Schuß abgefeuert werden konnte. Im Freien, dann fort.

Fletcher warf die Pistole weg. Wenn er Raul verfolgte, würde er die wenige Zeit vergeuden, die ihm noch blieb. Diese Minuten sollte er besser nutzen, den Nuncio wegzuschaffen. Es war erbärmlich wenig von der Substanz vorhanden, aber ausreichend, die Evolution in jedem Organismus, mit dem sie in Berührung kam, zum Amoklauf anzuregen. Er schmiedete schon seit Tagen und Nächten Ränke dagegen und überlegte sich die sicherste Methode, die Substanz wegzuschaffen. Er wußte, er konnte sie nicht einfach wegschütten. Was konnte sie anrichten, wenn sie in den Boden gelangte? Seine größte Hoffnung, entschied er - sogar seine einzige Hoffnung - war es, 48

den Stoff in den Pazifik zu werfen. Diese Vorstellung hatte etwas erfreulich Abgerundetes an sich. Der lange Weg zur momentanen Evolutionssprosse der Rasse hatte im Meer

angefangen, und dort hatte er auch - in den Myriaden

Erscheinungsformen bestimmter Meerlebewesen - zum ersten Mal den Lebewesen eigenen Drang bemerkt, sich zu etwas anderem zu entwickeln. Indizien, deren Lösung die drei Phiolen mit dem Nuncio waren. Jetzt würde er die Antwort dem Element zurückgeben, welches sie inspiriert hatte. Der Nuncio würde buchstäblich zu Tropfen im Ozean werden, seine Macht so verdünnt, daß sie praktisch vernachlässigbar wurde.

Er ging zu dem Labortisch, wo die drei Phiolen noch auf ihrem Halter standen. Gott in drei Flaschen, milchig blau, wie ein Himmel von della Francesca. Es herrschte Bewegung in dem Destillat, als würde es seine eigenen internen Gezeiten erzeugen. Wenn es wußte, daß er kam, kannte es auch seine Absichten? Er wußte so wenig über seine eigene Schöpfung.

Vielleicht konnte sie seine Gedanken lesen.

Er blieb wie angewurzelt stehen, weil er immer noch so sehr Mann der Wissenschaft war, daß ihn dieses Phänomen faszinierte. Er hatte gewußt, daß die Flüssigkeit von Macht erfüllt war, aber daß sie die Gabe der Selbstfermentierung besaß, die sie jetzt zur Schau stellte - sogar eine primitive Antriebskraft, schien es; sie kroch an den Wänden der Phiole hinauf -, erstaunte ihn. Seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Hatte er wirklich das Recht, der Welt dieses Wunder vorzuenthalten?

War sein Begehr wirklich so ungesund? Schließlich wollte es nur den Ablauf der Dinge beschleunigen. Fell aus Schuppen machen. Fleisch aus Fell. Möglicherweise Seele aus Fleisch.

Ein schöner Gedanke.

Dann dachte er an Randolph Jaffe aus Omaha, Nebraska, ehemals Schlachter und Student von Postirrläufern; Sammler anderer Leute Geheimnisse. Würde so ein Mann den Nuncio 49

gut einsetzen? In den Händen eines milden und liebenden Mannes konnte die Große Arbeit ein neues Zeitalter einläuten und jedes Lebewesen in Kontakt mit dem Sinn seiner

Schöpfung bringen. Aber Jaffe liebte nicht, noch war er milde.

Er war ein Dieb, der Offenbarungen stahl, ein Magier, der sich nicht die Mühe machte, die Prinzipien seiner Kunst zu begreifen, dem es nur darum ging, durch sie Macht zu

erlangen.

Wenn man das alles bedachte, stellte sich nicht die Frage, ob er das Recht hatte, dieses Wunder zu vernichten, sondern nur, wie er es wagen konnte zu zögern.

Er ging, von neuerlicher Überzeugung erfüllt, auf die drei Phiolen zu. Der Nuncio wußte, daß Fletcher ihm ein Leid zufü-

gen wollte. Er reagierte mit hektischer Aktivität, kroch, so gut er konnte, an der Glaswand hinauf und brodelte in seinem Behältnis.

Als Fletcher nach dem Gestell griff, wurden dem Nuncio seine wahren Absichten klar. Er wollte nicht einfach nur entkommen. Er wollte seine Wunder an eben jenem Fleische erproben, das ihm schaden wollte.

Er wollte seinen Schöpfer neu erschaffen.

Diese Erkenntnis kam so spät, daß Fletcher nicht mehr entsprechend handeln konnte. Bevor er die ausgestreckten Hände zurückziehen oder sich abwenden konnte, barst eine der Phiolen. Fletcher spürte, wie Glas in seine Handfläche schnitt und der Nuncio dagegenspritzte. Er taumelte rückwärts und hob die Hände vors Gesicht. Er sah mehrere Schnitte, darunter einen besonders großen in der Mitte der Handfläche, der vor aller Welt so aussah, als hätte jemand einen Nagel

hindurchgeschlagen. Die Schmerzen erzeugten ein

Schwindelgefühl, aber das dauerte nur einen Augenblick -

Schwindelgefühl und Schmerzen. Danach kam eine

vollkommen andersartige Empfindung. Nein, keine

Empfindung. Diese Beschreibung war zu trivial. Es war, als 50

würde man sich auf Mozart konzentrieren; eine Musik, die an den Ohren vorbei direkt in die Seele drang. Nachdem er sie ge-hört hatte, würde er nie mehr der alte sein.

51

V

Randolph hatte den Rauch der Feuer vor der Mission gesehen, als er die erste Biegung der langen Straße den Berg hinauf hinter sich gebracht hatte; und dieser Anblick hatte den Verdacht bestätigt, der seit Tagen in ihm nagte: daß sein gedungenes Genie den Aufstand probte. Er überdrehte den Motor des Jeeps und verfluchte den Sand, der in Staubwolken unter den Reifen aufwirbelte und das Vorankommen zu einem mühsamen Kriechen machte. Bis heute war es sowohl ihm wie auch Fletcher recht gewesen, daß die Große Arbeit so fernab der Zivilisation durchgeführt wurde, wenngleich es jede Menge Überzeugungskraft erfordert hatte, ein Labor von dem Umfang, wie Fletcher es benötigte, an einem so abgelegenen Ort einzurichten. Aber heutzutage war Überzeugungskraft kein Problem. Der Ausflug in die Schleife hatte das Feuer in Jaffes Augen geschürt. Was die Frau in Illinois, deren Namen er nie erfahren hatte, zu ihm sagte: Du hast etwas Außergewöhnliches gesehen, nicht wahr? Das stimmte, jetzt mehr denn je. Er hatte einen Ort außerhalb der Zeit gesehen, und sich selbst dort, und seine Gier nach der ›Kunst‹ hatte ihn über die geistige Gesundheit hinausgetrieben. Das alles wußten die Menschen, obschon sie den Gedanken niemals hätten in Worte kleiden können. Sie sahen es ihm an, und sie machten entweder aus Ehrfurcht oder Angst, was er verlangte.

Fletcher jedoch war von Anfang an die Ausnahme dieser Regel gewesen. Seine Neigungen und seine Verzweiflung hatten ihn formbar gemacht, aber der Mann besaß immer noch einen eigenen Willen. Viermal hatte er Jaffes Angebot ausgeschlagen, aus seinem Versteck zu kommen und seine Forschungsarbeit wieder aufzunehmen, obwohl Jaffe ihm jedesmal klargemacht hatte, wie schwierig es gewesen war, das verschollene Genie aufzuspüren, und wie sehr er sich eine Zusammenarbeit zwischen ihnen wünschte. Er hatte jedes der 52

vier Angebote damit versüßt, daß er bescheidene Mengen Meskalin mitgebracht und mehr versprochen hatte; und er hatte versprochen, daß er jedwede Gerätschaften bereitstellen würde, die Fletcher benötigte, wenn er ihn nur dazu bringen konnte, seine Forschungen wieder aufzunehmen. Schon als er Fletchers radikale Theorien zum ersten Mal gelesen hatte, hatte Jaffe gewußt, daß sich hier die Möglichkeit bot, das System zu überlisten, das zwischen ihm und der ›Kunst‹ stand. Er zweifelte nicht daran, daß der Weg zum Meer der Essenz mit Prüfungen und Tests übersät sein würde, die von

hochgestochenen Gurus oder irren Schamanen wie Kissoon geschaffen worden waren, um Leute, die sie für minderwertig hielten, daran zu hindern, ins Allerheiligste vorzudringen. Das war nichts Neues. Aber mit Fletchers Hilfe konnte er die Gurus austricksen und die Macht hinterrücks erlangen. Die Große Arbeit würde seine eigene Evolution über das Dasein der selbsternannten weisen Männer hinaus vorantreiben, und dann würde die ›Kunst‹ in seinen Fingern singen.

Nachdem er das Labor gemäß Fletchers Weisungen

eingerichtet und dem Mann seine Gedanken zum Problem

mitgeteilt hatte, die er den Postirrläufern entnommen hatte, ließ Jaffe den Maestro allein und lieferte Waren - Seesterne, Seepferdchen; Meskalin, einen Affen -, wenn sie angefordert wurden, besuchte ihn aber nur einmal im Monat. Jedesmal verbrachte er vierundzwanzig Stunden mit Fletcher, trank und erzählte ihm Klatsch, den Jaffe aus der akademischen

Gerüchteküche aufgeschnappt hatte, um Fletchers Neugier zu befriedigen. Nach elf solchen Besuchen spürte er, daß sich die Ereignisse in der Mission ihrem Ende näherten, und unternahm die Reise in regelmäßigeren Abständen. Er war jedesmal weniger willkommen. Einmal hatte Fletcher sogar versucht, Jaffe den Zutritt zur Mission völlig zu verwehren, und es war zu einem kurzen, ungleichen Kampf gekommen. Fletcher war kein Kämpfer. Sein gebückter, unterernährter Körper war der 53

eines Mannes, der seit frühester Jugend über einen Schreibtisch gebeugt gewesen war. Nachdem er geschlagen war, hatte er Jaffe Zutritt gewähren müssen. Drinnen hatte er den Affen gefunden, den Fletchers Destillat, der Nuncio, in einen häßlichen, aber ohne jeden Zweifel menschlichen Jungen verwandelt hatte. Schon damals, im größten Triumph, hatte er Hinweise auf den Zusammenbruch gespürt, dem sich Fletcher, daran bestand für Jaffe kein Zweifel, ergeben hatte. Der Mann stand seiner Errungenschaft mit gemischten Gefühlen gegenüber. Aber Jaffe hatte sich so sehr gefreut, daß er nicht auf die Warnzeichen geachtet hatte. Er hatte sogar verlangt, den Nuncio hier und jetzt an sich selbst auszuprobieren. Fletcher hatte sich dagegen ausgesprochen; er hatte gesagt, daß noch monatelange weitere Studien erforderlich wären, bevor sich Jaffe diesem Risiko aussetzen konnte. Er legte dar, daß der Nuncio immer noch zu rätselhaft war. Er wollte erst

herausfinden, wie er sich auf den Organismus des Jungen auswirkte, bevor er weitere Versuche unternahm.

Angenommen, er erwies sich in einer Woche als tödlich für den Jungen? Oder in einem Tag? Dieses Argument reichte aus, Jaffes Tatendurst eine Weile zu dämpfen. Er überließ es Fletcher, die erforderlichen Untersuchungen durchzuführen, kam aber fortan wöchentlich wieder und stellte bei jedem Besuch Fletchers zunehmenden Verfall fest, ging aber davon aus, daß der Stolz des Mannes über seine Errungenschaft ihn daran hindern würde, ihr Schaden zuzufügen.

Jetzt, da Schwärme verbrannter Notizblätter am Boden auf ihn zugeweht wurden, verfluchte er seine Vertrauensseligkeit. Er stieg aus dem Jeep aus und schritt zwischen den verstreuten Feuern auf das Missionsgebäude zu. Dieser Ort hatte immer eine apokalyptische Aura gehabt. Der Boden war so trocken und sandig, daß er lediglich ein paar dürre Yuccapalmen ernähren konnte; die Mission selbst war so dicht an den Rand 54

der Klippen gepfercht, daß der Pazifik sie zweifellos eines Winters verschlucken würde; die Seeraben und tropischen Vögel machten ein gewaltiges Getöse hoch droben.

Heute flatterten jedoch nur Worte durch die Luft. Die Mauern der Mission waren rußgeschwärzt, wo Feuer zu nahe bei ihnen entfacht worden waren. Die Erde war mit Asche bedeckt, die noch unfruchtbarer als der Sand war.

Nichts war mehr so, wie es gewesen war.

Er rief Fletchers Namen, als er durch die offene Tür trat, und die Befürchtungen, die er auf dem Weg bergauf gehegt hatte, waren mittlerweile beinahe Angst, allerdings nicht um sich selbst, sondern um die Große Arbeit. Er war froh, daß er bewaffnet gekommen war. Wenn Fletcher endgültig dem

Wahnsinn anheimgefallen war, würde er vielleicht die Formel des Nuncio aus ihm herausquälen müssen. Es war nicht das erste Mal, daß er sich mit einer Waffe in der Hand auf die Suche nach Wissen machte. Das war manchmal erforderlich.

Das Innere lag in Trümmern; Instrumente im Wert von mehreren hunderttausend Dollar - die er durch Lockungen, Drohungen oder Verführungskünste von Akademikern erhalten hatte, die ihm gaben, was er verlangte, nur damit Jaffe den Blick von ihnen nahm - waren vernichtet, Labortische mit einer Armbewegung leergefegt worden. Sämtliche Fenster waren aufgerissen, der heiße und salzige Wind vom Pazifik wehte durch das Gebäude. Jaffe navigierte durch die Trümmer bis zu Fletchers Lieblingszimmer, die Zelle, die er einmal - high von Meskalin - den Stöpsel des Lochs in seinem Herzen genannt hatte.

Dort saß er, lebend, auf dem Stuhl vor dem aufgerissenen Fenster und sah zur Sonne empor; genau das, was ihn auf dem rechten Auge blind gemacht hatte. Er trug dasselbe schäbige Hemd und die zerschlissenen Hosen wie immer; sein Gesicht zeigte dasselbe verkniffene unrasierte Profil; der

Pferdeschwanz ergrauenden Haares - sein einziges

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Zugeständnis an die Eitelkeit - war an Ort und Stelle. Selbst seine Haltung - Hände im Schoß, der Oberkörper eingesunken -

hatte Jaffe schon zahllose Male gesehen. Und dennoch stimmte etwas an der Idylle nicht, und das reichte aus, daß Jaffe unter der Tür stehenblieb und sich weigerte, die Zelle selbst zu betreten. Es war, als wäre Fletcher zu sehr er selbst. Sein Erscheinungsbild war zu perfekt: der Versonnene, der den Himmel betrachtete; jede Pore und jede Falte verlangte die Aufmerksamkeit von Jaffes schmerzender Netzhaut, als wäre sein Porträt von tausend Miniaturmalern gemalt worden, und jeder hatte einen Zentimeter des Modells übernehmen dürfen, den sie alle mit einem aus nur einer einzigen Borste

bestehenden Pinsel in übelkeiterregenden Einzelheiten ausgeführt hatten. Der Rest des Zimmers - Wände, Fenster, selbst der Stuhl, auf dem Fletcher saß - verschwammen, weil sie nicht mit der allzu gründlichen Realität dieses Mannes kon-kurrieren konnten.

Jaffe machte die Augen zu, damit er das Porträt nicht ansehen mußte. Es überlastete seine Sinne. Machte ihn schwindlig.

Er hörte Fletchers Stimme in der Dunkelheit, so unmelodisch wie immer.

»Schlechte Nachrichten«, sagte er sehr leise.

»Warum?« sagte Jaffe, ohne die Augen aufzumachen. Aber auch so wußte er ganz genau, daß das Wunderkind zu ihm sprach, ohne Zunge oder Lippen zu benützen.

»Gehen Sie bitte«, sagte Fletcher. »Und die Antwort lautet: ja.«

»Die Antwort worauf?«

»Sie haben recht. Ich brauche meinen Hals nicht mehr.«

»Ich habe nicht gesagt...«

»Das ist auch nicht mehr nötig, Jaffe. Ich bin in Ihrem Kopf.

Dort ist alles, Jaffe. Schlimmer, als ich gedacht habe. Sie müssen gehen...«

Die Lautstärke ließ nach, aber die Worte blieben. Jaffe ver-56

suchte, sie zu verstehen, aber die meisten entgingen ihm. Etwas wie werden wir zu Himmel. Oder nicht? Ja, das hatte er gesagt.

»... werden wir zu Himmel?«

»Wovon reden Sie?« sagte Jaffe.

»Machen Sie die Augen auf«, antwortete Fletcher.

»Es macht mich krank, Sie anzusehen.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber trotzdem... Sie sollten die Augen aufmachen. Sehen, wie das Wunder funktioniert.«

»Welches Wunder?«

»Sehen Sie.«

Er gehorchte Fletchers Drängen. Die Szene war noch genauso, wie sie gewesen war, bevor er die Augen zugemacht hatte. Das offene Fenster; der Mann, der davor saß. Genau dasselbe.

»Der Nuncio ist in mir«, verkündete Fletcher in Jaffes Kopf.

Er bewegte das Gesicht überhaupt nicht. Kein Zucken der Lippen. Kein Blinzeln der Wimpern. Immer nur dieselbe schreckliche Vollendung.

»Sie meinen, Sie haben ihn an sich selbst erprobt?« sagte Jaffe. »Nach allem, was Sie mir gesagt haben?«

»Er verändert alles, Jaffe. Er ist die Peitsche auf dem Rücken der Welt.«

»Sie haben ihn genommen! Ich hätte ihn bekommen sollen!«

»Ich habe ihn nicht genommen. Er hat mich genommen. Er hat ein Eigenleben, Jaffe. Ich wollte ihn vernichten, aber das hat er nicht zugelassen.«

»Warum wollten Sie ihn überhaupt vernichten? Er ist die Große Arbeit.«

»Weil er nicht so funktioniert, wie ich mir das gedacht habe.

Er interessiert sich nicht für das Fleisch, Jaffe, es sei denn als Fußnote. Er spielt mit dem Verstand. Er nimmt Gedanken als Inspiration und Triebkraft. Er macht uns zu dem, was wir gerne wären oder wovor wir Angst haben. Oder zu beidem.

Wahrscheinlich zu beidem.«

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»Sie haben sich nicht verändert«, stellte Jaffe fest. »Sie hören sich immer noch gleich an.«

»Aber ich spreche in Ihrem Kopf«, erinnerte Fletcher ihn.

»Habe ich das vorher je getan?«

»Also liegt Telepathie in der Zukunft der Rasse«, antwortete Jaffe. »Das überrascht mich nicht. Sie haben den Prozeß einfach beschleunigt. Haben ein paar Jahrtausende

übersprungen.«

»Werde ich Himmel sein?« sagte Fletcher noch einmal. »Das möchte ich gerne sein.«

»Dann seien Sie es«, sagte Jaffe. »Meine Ambitionen gehen weiter.«

»Ja. Ja, leider. Darum habe ich versucht, den Nuncio von Ihnen fernzuhalten. Damit er Sie nicht benützen kann. Aber er hat mich abgelenkt. Ich sah, wie das Fenster aufging, und konnte mich nicht zurückhalten. Der Nuncio hat mich so verträumt gemacht. Nun sitze ich hier und frage mich: Werde ich... werde ich Himmel sein?«

»Er hat verhindert, daß Sie mich betrügen«, sagte Jaffe. »Er möchte benützt werden, das ist alles.«

»Mmmm.«

»Und wo ist der Rest? Sie haben nicht alles genommen.«

»Nein«, sagte Fletcher. Die Gabe der Täuschung war ihm genommen worden. »Aber bitte, nicht...«

»Wo?« sagte Jaffe, der nun das Zimmer betrat. »Haben Sie ihn bei sich?«

Er spürte Myriaden winziger Bewegungen auf der Haut, als er eintrat, als wäre er in eine dichte Wolke unsichtbaren Staubes getreten. Das Gefühl hätte ihn davor warnen sollen, sich mit Fletcher einzulassen, aber er war so versessen auf den Nuncio, daß er es gar nicht bemerkte. Er legte dem Mann einen Finger auf die Schulter. Kaum war der Kontakt hergestellt, schien die Gestalt auseinanderzufliegen, eine Wolke aus Splittern - grau, weiß und rot -, die wie ein Pollensturm gegen 58

ihn brandeten.

Er hörte das Genie in seinem Kopf lachen, aber nicht auf seine Kosten, wie Jaffe wußte, sondern wegen des befreienden Gefühls, daß er endlich die Staubschicht abschütteln konnte, die sich seit der Geburt auf ihm angesammelt hatte und immer dichter geworden war, bis die letzten Spuren der Helligkeit verdeckt waren. Jetzt stob der Staub davon. Fletcher saß immer noch da wie zuvor. Aber jetzt leuchtete er.

»Bin ich zu hell?« sagte er. »Das tut mir leid.«

Er reduzierte seine Leuchtkraft.

»Das will ich auch können!« sagte Jaffe. »Auf der Stelle.«

»Ich weiß«, antwortete Fletcher. »Ich kann Ihr Verlangen spüren. Übel, Jaffe, übel. Sie sind gefährlich. Ich glaube, mir ist erst jetzt klar geworden, wie gefährlich Sie sind. Ich kann in Sie hineinsehen. Ihre Vergangenheit lesen.« Er verstummte einen Augenblick, dann gab er ein langes, schmerzvolles Stöhnen von sich. »Sie haben einen Menschen getötet«, sagte er.

»Er hatte es verdient.«

»Er stand Ihnen im Weg. Und der andere, den ich sehe...

Kissoon, richtig? Ist er auch gestorben?«

»Nein.«

»Aber Sie hätten ihn gerne umgebracht, nicht? Ich kann den Haß in Ihnen spüren.«

»Ja, ich hätte ihn umgebracht, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte.« Er lächelte.

»Und mich auch, nehme ich an«, sagte Fletcher. »Haben Sie da ein Messer in der Tasche?« fragte er, »oder freuen Sie sich nur, mich zu sehen?«

»Ich will den Nuncio«, sagte Jaffe. »Ich will ihn, und er will mich...«

Er wandte sich ab. Fletcher rief hinter ihm her:

»Er beeinflußt den Verstand, Jaffe. Möglicherweise die Seele. Verstehen Sie denn nicht? Es gibt nichts außen, das nicht innen seinen Anfang hätte. Nichts Reales, das nicht zuerst 59

geträumt würde. Ich? Ich wollte meinen Körper nie, bestenfalls als Behältnis. Ich wollte eigentlich überhaupt nie etwas, nur Himmel sein. Aber Sie, Jaffe. Sie! Ihr Verstand ist voller Scheiße. Denken Sie darüber nach. Denken Sie, was der Nuncio verstärken wird. Ich flehe Sie an...«

Die dringende Bitte, die in seinen Kopf gehaucht wurde, ließ Jaffe einen Moment innehalten und zu dem Porträt

zurücksehen. Es war von seinem Stuhl aufgestanden, obwohl es, Fletchers Gesichtsausdruck nach zu schließen, eine Qual war, sich von dem Ausblick loszureißen.

»Ich flehe Sie an«, wiederholte er. »Lassen Sie sich nicht von ihm benützen.«

Fletcher streckte eine Hand nach Jaffes Schulter aus, aber dieser wich vor ihm zurück und betrat das Labor. Sein Blick fiel fast auf der Stelle auf den Tisch, wo die beiden restlichen Phiolen standen, deren Inhalt gegen die Glaswände brodelte.

»Wunderschön«, sagte Jaffe und ging auf sie zu. Der Nuncio sprang in den Phiolen empor, als er näher kam, wie ein Hund, der es nicht erwarten kann, seinem Herrn das Gesicht zu lecken. Seine Unterwürfigkeit strafte Fletcher Lügen. Er, Randolph Jaffe, war der Herr in dieser Runde. Der Nuncio der Untergebene.

Fletcher sprach in seinem Kopf weiterhin Warnungen aus:

»Jede Grausamkeit in Ihnen, Jaffe, jede Angst, jede Dummheit, jede Feigheit. Alles wird Sie überwältigen. Sie sind darauf vorbereitet? Ich glaube nicht. Er wird Ihnen zuviel zeigen.«

»Zuviel gibt es nicht«, sagte Jaffe, achtete nicht mehr auf die Einwände und griff nach der ersten Phiole. Der Nuncio konnte es nicht erwarten. Er zerschmetterte das Glas, der Inhalt schnellte Jaffes Haut entgegen. Wissen - und Entsetzen -

kamen augenblicklich, denn der Nuncio vermittelte seine Botschaft beim Kontakt. In dem Augenblick, als Jaffe

erkannte, daß Fletcher recht hatte, besaß er nicht mehr die Macht, seinen Fehler zu korrigieren.

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Der Nuncio hatte wenig oder gar kein Interesse daran, die Ordnung seiner Zellen zu verändern. Wenn das geschah, dann lediglich als Folge einer grundlegenderen Verwandlung. Er betrachtete seine Anatomie als Einbahnstraße. Die geringen Ver-besserungen, die er in dem Organismus vornehmen konnte, waren unter seiner Würde. Er vergeudete keine Zeit damit, Fingergelenke zu verbessern oder den Unterleib zu

verwandeln. Er war ein Prophet, kein Schönheitschirurg. Der Verstand war sein Ziel. Der Verstand, der den Körper als Befriedigung benützte, selbst wenn diese Befriedigung dem Behältnis schadete. Denn der Verstand war der Ursprung der Gier nach Veränderung und deren emsiger kreativer Agent.

Jaffe wollte um Hilfe bitten, aber der Nuncio hatte bereits seine Stimmbänder übernommen und hinderte ihn daran, ein Wort zu sprechen. Gebete waren sinnlos. Der Nuncio war Gott.

Vorher in einer Flasche, jetzt in seinem Körper. Jaffe konnte nicht einmal sterben, obwohl sein Körper so heftig schlotterte, daß es schien, als würde er bersten. Der Nuncio untersagte alles, außer seinem eigenen Wirken. Seinem

ehrfurchtgebietenden, vervollkommnenden Wirken.

Als erstes legte er den Rückwärtsgang von Jaffes

Erinnerungen ein und schoß ihn von dem Augenblick, als er in ihn eingedrungen war, sein ganzes Leben zurück,

durchleuchtete jedes Ereignis, bis zurück in die Wasser des Mutterleibes. Ein Augenblick schmerzlichen Sehnens nach eben diesem Ort wurde ihm gewährt - seine Ruhe, seine Sicherheit -, dann zerrte ihn sein Leben wieder heraus und begann die Rückreise durch sein unbedeutendes Leben in Omaha. Vom Anfang seines bewußten Lebens an hatte er

soviel Wut in sich. Gegen das Unbedeutende und das

Politische; gegen die Streber und die Verführer, die Mädchen aufrissen und gute Noten bekamen. Er empfand alles erneut, aber viel intensiver: wie Krebszellen, die binnen eines Augenblicks dick und fett wurden und ihn vermehrten. Er sah seine 61

Eltern dahinscheiden und sich selbst außerstande, sie zu halten oder - als sie nicht mehr waren - um sie zu trauern, aber dennoch wütend, weil er nicht wußte, warum sie gelebt oder ihn selbst in die Welt gesetzt hatten. Er verliebte sich wieder, zweimal. Er wurde zweimal abgewiesen. Nährte den Haß, schmückte die Narben, ließ die Wut größer und größer werden.

Und zwischen diesen bemerkenswerten Tiefpunkten die ewige Tretmühle der Jobs, die er nicht behalten konnte, und Menschen, die Tag für Tag seinen Namen vergaßen; ein

Weihnachtsfest nach dem anderen, und jedes nur dadurch gekennzeichnet, daß er wieder ein Jahr älter war. Er kam niemals dem Begreifen näher, warum er erschaffen worden war

- warum irgend jemand erschaffen wurde, wo doch alles Betrug und Charade war und sowieso zu Nichts wurde.

Dann das Zimmer am Kreuzweg, vollgestopft mit Postirrläufern, und plötzlich hatte seine Wut ein Echo von einer Küste zur anderen, wilde, wütende Menschen wie er selbst, die auf ihre Verwirrung einstachen und hofften, einen Sinn zu erkennen, wenn sie blutete. Einigen war das gelungen. Sie hatten, wenn auch flüchtig, Geheimnisse erblickt. Und er bekam die Beweise dafür. Zeichen und Kodes; das Medaillon des Schwarms, das ihm in die Hände gefallen war. Einen Augenblick später hatte er das Messer in Homers Kopf

gestochen und war, lediglich mit einem Bündel Hinweisen bewaffnet, auf dem Weg zu einer Reise, die ihn, mit jedem Schritt mächtiger werdend, nach Los Alamos und in die Schleife geführt hatte, und schließlich zur Misión de Santa Catrina.

Er wußte immer noch nicht, warum er erschaffen worden war, aber er hatte in seinen vier Lebensjahrzehnten soviel angehäuft, daß der Nuncio ihm eine vorläufige Antwort geben konnte. Wegen der Wut. Wegen der Rache. Damit er Macht bekam und von dieser Macht Gebrauch machte.

Er schwebte einen Augenblick über der Szene und sah sich 62

selbst unten auf dem Boden, inmitten von Glasscherben, wo er sich den Kopf hielt, als wollte er verhindern, daß dieser platzte.

Fletcher trat ins Bild. Er schien auf den Körper einzusprechen, aber Jaffe konnte die Worte nicht hören. Zweifellos eine selbstgefällige Rede über die Vergeblichkeit menschlichen Strebens.

Plötzlich lief er mit erhobenen Fäusten auf den Körper zu und schlug auf ihn ein. Er zerstob, wie das Porträt am Fenster. Jaffe heulte, als sein körperloser Geist in die Stofflichkeit am Boden zurückgezogen wurde, in seine vom Nuncio verwandelte

Anatomie.

Er öffnete die Augen und sah zu dem Mann auf, der seine Kruste zertrümmert hatte, und erblickte Fletcher mit neuem Verständnis.

Sie waren von Anfang ein ungleiches Paar gewesen, und die fundamentalen Prinzipien beider hatten dem anderen mißfallen.

Aber jetzt erkannte Jaffe die Mechanismen ganz deutlich. Jeder war des anderen Nemesis. Keine zwei anderen Wesen auf Erden standen in so krassem Gegensatz zueinander. Fletcher liebte das Licht, wie es nur ein Mann, der Todesangst vor dem Unbekannten hat, lieben kann; eines seiner Augen konnte die Oberfläche der Sonne nicht mehr betrachten. Und er selbst war der Jaff, der wahre und einzige, verliebt in die Dunkelheit, in der seine Wut Nahrung und ihren Ausdruck gefunden hatte.

Die Dunkelheit, die den Schlaf brachte und die Reise zum Meer der Träume jenseits des Schlafes. So schmerzvoll die Ausbildung durch den Nuncio gewesen war, es war gut, daß er daran erinnert worden war, was er war. Mehr als erinnert -

durch das Glas seiner eigenen Erinnerungen vergrößert. Nicht mehr in der Dunkelheit, sondern ein Teil von ihr, und befähigt, von der ›Kunst‹ Gebrauch zu machen. In seinen Händen juckte es ihn schon, das zu tun. Und dieses Jucken brachte das Begreifen mit sich, wie man den Schleier wegreißen und zum Meer der Essenz vordringen konnte. Er brauchte kein Ritual.

Er brauchte weder Sprüche noch Opfer. Er war eine

63

weiterentwickelte Seele. Seine Bedürfnisse ließen sich nicht leugnen, und er hatte Bedürfnisse im Übermaß. Aber indem er dieses neue Selbst erreicht hatte, hatte er unfreiwillig eine Kraft erschaffen, die ihn bei jedem Schritt bekämpfen würde, wenn er ihr nicht hier und jetzt Einhalt gebot. Er stand auf und mußte keine Herausforderung von Fletchers Lippen hören, um zu wissen, daß die Feindschaft zwischen ihnen vollkommen klar war. Er las den Ekel in der Flamme, die in den Augen seines Gegners leuchtete. Das Genie sauvage, der Drogendämon und die Zimperliese Fletcher waren aufgelöst und neu erschaffen worden: freudlos, verträumt und klug. Vor Minuten war er noch bereit gewesen, nur am Fenster zu sitzen und sich danach zu sehnen, Himmel zu werden, bis das Sehnen oder der Tod ihre Arbeit taten. Jetzt nicht mehr.

»Ich verstehe alles«, verkündete er und beschloß, die Stimmbänder zu benützen, da sie nun gleich und ebenbürtig waren.

»Du hast mich dazu benützt, dich größer zu machen, damit du dir den Weg zur Offenbarung erschleichen konntest.«

»Und das werde ich auch«, antwortete der Jaff. »Jetzt bin ich unvermeidlich.« Er breitete die Arme aus. Kugeln reinster Energie, winzigen Kugellagern gleich, wurden aus den Händen ausgeschwitzt. »Siehst du? Ich bin ein Künstler.«

»Erst wenn du die ›Kunst‹ benützen kannst.«

»Und wer soll mich daran hindern? Du?«

»Ich habe keine andere Wahl. Ich trage die Verantwortung.«

»Wie? Ich habe dich einmal zusammengeschlagen. Ich kann es wieder tun.«

»Ich werde Visionen gegen dich beschwören.«

»Das kannst du versuchen.« Beim Sprechen kam dem Jaff eine Frage in den Sinn, die Fletcher zu beantworten begann, noch ehe er sie völlig ausformuliert hatte.

»Warum ich deinen Körper berührt habe? Ich weiß nicht.

Der Nuncio hat es verlangt. Ich wollte nicht darauf achten, aber er hat danach geschrien.«

64

Er machte eine Pause, dann sagte er: »Vielleicht ziehen sich Gegensätze an, selbst in deinem Zustand.«

»Dann sage ich: Je früher du tot bist, desto besser«, sagte der Jaff und streckte die Arme aus, um seinem Gegner den Hals umzudrehen.

In der Dunkelheit, die vom Pazifik her über die Mission kam, hörte Raul den ersten Kampfeslärm. Er wußte durch die Echos in seinem eigenen, vom Nuncio verwandelten Körper, daß das Destillat hinter den Mauern im Einsatz war. Sein Vater, Fletcher, hatte sein eigenes Leben hinter sich gelassen und war zu etwas Neuem geworden. Und der andere Mann, dem er

immer mißtraut hatte, schon als Worte lediglich wie böse Laute eines menschlichen Gaumens gewesen waren, ebenfalls. Jetzt begriff er die Bedeutung dieses Wortes; jedenfalls konnte er sie mit seiner eigenen animalischen Reaktion auf Jaffe erklären: Ekel. Der Mann war bis ins Mark hinein krank; wie eine von Fäulnis zerfressene Frucht. Dem Kampfeslärm drinnen nach zu schließen, hatte Fletcher beschlossen, gegen diese Verderbtheit vorzugehen. Die kurze, friedliche Zeit, die er mit seinem Vater gehabt hatte, war vorüber. Kein Unterricht in feinem

Benehmen mehr; kein Am-Fenster-Sitzen, während »der

erhabene Mozart« lief und sie zusahen, wie die Wolken ihre Form veränderten.

Als die ersten Sterne herauskamen, hörte der Lärm in der Mission auf. Raul wartete in der Hoffnung, daß Jaffe vernichtet worden war, aber er fürchtete, daß auch sein Vater nicht mehr sein würde. Nachdem er eine Stunde in der Kälte gewartet hatte, beschloß er hineinzugehen. Wo immer sie hingegangen sein mochten - Himmel oder Hölle -, er konnte ihnen nicht folgen. Er konnte lediglich seine Kleidungsstücke anziehen, die er immer verabscheut hatte - sie kratzten und engten ein -, die jetzt aber eine Erinnerung an die Lehren seines Meisters waren.

Er würde sie immer tragen, damit er den guten Menschen 65

Fletcher nie vergaß.

Als er an der Tür angekommen war, stellte er fest, daß die Mission nicht verlassen war. Fletcher war noch da. Und sein Gegner auch. Beide Männer besaßen noch Körper, die an ihre früheren Erscheinungen erinnerten, aber sie waren verändert.

Über jedem schwebte ein Schemen: ein Kind mit riesigem Kopf über Jaffe; eine Wolke, in deren Kissen irgendwo die Sonne war, über Fletcher. Die Männer hielten mit den Händen gegenseitig ihre Hälse umklammert. Ihre Astralkörper waren ebenso verflochten. Vollkommener Gleichstand; keiner konnte einen Sieg erringen.

Rauls Eintreten machte diesen Gleichstand zunichte.

Fletcher drehte sich um, sein gesundes Auge sah den Jungen an, und in diesem Moment nutzte der Jaff seinen Vorteil und schleuderte den Gegner quer durchs Zimmer.

»Hinaus!« schrie Fletcher Raul an. »Geh hinaus!«

Raul tat, wie ihm befohlen worden war, und raste zwischen den erloschenen Feuern vor der Mission hindurch, während unter seinen Füßen der Boden bebte, als hinter ihm neue Wutausbrüche entfesselt wurden. Ihm blieben gerade drei Sekunden Zeit, sich ein Stück den Hang hinabzuwerfen, bevor die Leeseite der Mission - Mauern, die erbaut worden waren, damit sie bis ans Ende des Glaubens überdauerten - unter einem Energieausbruch barst. Er bedeckte nicht die Augen. Und deshalb konnte er sehen, wie die Gestalten von Jaffe und dem guten Menschen Fletcher, Zwillinge, die im gegenseitigen Würgegriff gefangen waren, aus dem Zentrum der Explosion über seinem Kopf hinausflogen und in der Nacht

verschwanden.

Die Wucht der Explosion hatte die Scheiterhaufen verstreut.

Jetzt flackerten Hunderte kleinerer Feuer rings um die Mission herum empor. Das Dach war fast vollkommen zerstört worden.

In den Wänden konnte man klaffende Wunden sehen.

Raul, der sich bereits einsam fühlte, hinkte zu seinem 66

einzigen Zuhause zurück.

67

VI

In diesem Jahr wurde in Amerika ein Krieg ausgefochten, wahrscheinlich der erbittertste, sicherlich aber der seltsamste, der jemals auf, über oder in seinem Boden ausgetragen worden war. Es wurde kaum in Meldungen erwähnt, weil er unbemerkt blieb. Besser gesagt, seine Auswirkungen - zahlreich und häufig traumatisch - waren kaum als Folgen eines Krieges zu erkennen und wurden demzufolge ständig fehlinterpretiert.

Aber es handelte sich schließlich auch um einen Krieg ohne Präzedenzfall. Nicht einmal die eingefleischtesten Propheten, die einmal jährlich den Weltuntergang vorhersagten, konnten das Beben in Amerikas Eingeweiden interpretieren. Sie wußten, etwas Außergewöhnliches war im Gange, und wäre Jaffe noch im Zimmer der Postirrläufer im Postamt von Omaha gewesen, hätte er zahllose Briefe gefunden, die hin und her geschickt wurden und voll von Theorien und Mutmaßungen waren. Aber keine kam der Wahrheit auch nur entfernt nahe -

nicht einmal diejenigen der Leute, die auf indirekte Weise vom Schwarm und der ›Kunst‹ wußten.

Der Kampf war nicht nur ohne Präzedenzfall, auch seine Natur veränderte sich im Laufe der Wochen. Die Kämpfenden hatten, als sie die Misión de Santa Catrina verlassen hatten, ihr neues Dasein und die damit verbundenen Kräfte nur

bruchstückhaft verstanden. Sie lernten jedoch sehr rasch, diese neuen Kräfte zu erkennen und einzusetzen, da die

Notwendigkeiten des Konflikts ihre Erfindungsgabe zu

Höchstleistungen anspornten. Fletcher beschwor eine Armee aus dem Fantasieleben der gewöhnlichen Männer und Frauen, denen er begegnete, während er Jaffe quer durch Amerika verfolgte und ihm keine Zeit ließ, seine Gedanken zu

konzentrieren und die ›Kunst‹ einzusetzen, zu der er nun Zugang hatte. Er taufte diese visionären Soldaten

Halluzigenien, nach einer rätselhaften Rasse, deren fossile 68

Überbleibsel von ihrer Existenz vor fünfhundertdreißig Millionen Jahren kündeten. Eine Gattung, die, wie die nun nach ihr benannten Fantasiegebilde, keinerlei Vorläufer hatte.

Die Lebensspanne dieser Soldaten war kaum länger als die eines Schmetterlings. Sie verloren ihre Stofflichkeit rasch und wurden dunstig und vage. Doch so trügerisch sie waren, sie errangen manchen Teilsieg über den Jaff und seine Legionen, die Terata, Ur-Ängste, die Jaffe nun, weil es in seiner Macht stand, aus seinen Opfern herausholen und ihnen für eine gewisse Zeit Substanz verleihen konnte. Die Terata waren nicht weniger flüchtig als die gegen sie gebildeten Bataillone.

Diesbezüglich, wie auch in vielem anderen, waren der Jaff und der gute Mensch Fletcher einander ebenbürtig.

Der Krieg ging weiter, in Attacken und Gegenangriffen, in Ein-kesselungsmanövern und Sturmläufen, und die Absicht jeder Armee war es, den Führer der anderen niederzumetzeln. Die natürliche Welt reagierte nicht eben gütig auf diesen Krieg.

Ängste und Fantasiegebilde sollten nicht stoffliche Gestalt annehmen. Ihre Arena war der Verstand. Jetzt waren sie solide, ihr Kampf tobte durch Arizona und Colorado, nach Kansas und Illinois, und die natürliche Ordnung der Welt wurde im Vorüberziehen in mehr als einer Hinsicht auf den Kopf gestellt.

Saatgut keimte nicht, sondern zog es vor, in der Erde zu bleiben, anstatt die zarten Triebe zu riskieren, wenn Kreaturen, die allen Naturgesetzen trotzten, auf Erden wandelten.

Zugvögelschwärme, die Gewittern auswichen, in denen es nicht geheuer war, kamen zu spät in ihre Winterquartiere oder verirrten sich völlig und starben. In jedem Staat konnte man Spuren von panischer Flucht erkennen, Folge der Panikreaktion von Tieren, die das Ausmaß des Konflikts, der rings um sie herum bis zur Vernichtung ausgetragen wurde, deutlich spürten. Hengste blickten auf Zäune und Felsen und weideten sich selbst aus, wenn sie Autos bestiegen. Hunde und Katzen 69

wurden über Nacht wild und wegen dieses Verbrechens vergast oder erschossen. Fische in stillen Flüssen versuchten, an Land zu klettern, weil sie spürten, welche Ambitionen in der Luft lagen, und starben den Erstickungstod.

Der Konflikt, der Angst und Schrecken vor sich und Verwü-

stungen hinter sich hatte, kam in Wyoming zum Stillstand, wo sich die Armeen, die einander zu vollkommen ebenbürtig waren, bis zu einem Patt bekriegten. Es war das Ende vom Anfang, jedenfalls beinahe. Das schiere Ausmaß an Energie, das der gute Mensch Fletcher und der Jaff aufbieten mußten, um diese Armeen zu erschaffen und zu führen - keiner war ein Kriegsherr, wie weit man die Definition auch fassen mochte; sie waren lediglich Männer, die einander haßten -, forderte seinen schrecklichen Tribut. Beide waren fast bis zum völligen Zusammenbruch erschöpft, kämpften aber dennoch weiter, wie zwei Boxer, die fast zur Besinnungslosigkeit geprügelt worden waren, aber trotzdem immer weitermachten, weil sie keinen anderen Sport kannten. Keiner würde zufrieden sein, bevor der andere tot war.

In der Nacht des 16. Juli zog sich der Jaff vom Schlachtfeld zurück und verstreute seine Armeen bei dem Ausfall nach Südwesten. Sein Ziel war Kalifornien. Er wußte, daß er den Krieg gegen Fletcher unter den gegenwärtigen Umständen nicht gewinnen konnte, und wollte Zugang zur dritten Phiole des Nuncio, weil dieser vielleicht seine schwindenden Kraftreserven neu aufbauen konnte.

So mitgenommen, wie er war, nahm Fletcher doch die

Verfolgung auf. Zwei Nächte später holte er den Jaff mit einem Ausbruch von Behendigkeit, der seinen Raul, den er

außerordentlich vermißte, beeindruckt haben würde, in Utah ein.

Dort standen sie einander in einer Konfrontation gegenüber, die ebenso brutal wie ausweglos war. Angetrieben von der Leidenschaft, den anderen zu vernichten, die längst die ›Kunst‹

70

überschritten hatte und ebenso hingebungsvoll und

entschlossen wie Liebe war, kämpften sie fünf Nächte lang miteinander. Wieder triumphierte keiner. Sie schlugen aufeinander ein und zerrten aneinander, dunkel gegen hell, bis sie kaum noch ihre Gestalten halten konnten. Als der Wind sie ergriff, konnten sie ihm keinen Widerstand mehr

entgegensetzen. Mit der wenigen Kraft, die ihnen beiden noch blieb, hinderten sie sich gegenseitig daran, zur Mission und der dort wartenden Stärkung vorzustoßen. Der Wind wehte sie über die Grenze nach Kalifornien und drückte sie mit jeder zurückgelegten Meile tiefer zu Boden. Sie reisten nach Südsüdwest über Fresno und Richtung Bakersfield, bis ihre Kräfte - am 27. Juli 1971- nachgelassen hatten, daß sie sich nicht mehr in der Luft halten konnten und in Ventura County am bewaldeten Rand einer Stadt namens Palomo Grove nieder-sanken - inmitten eines unbedeutenden elektrischen Sturms, der die strahlenden Scheinwerfer und erleuchteten Plakatwände des nahen Hollywood nicht einmal zum Flackern brachte.

71

Zweiter Teil

Der Bund der Jungfrauen

I

l

Die Mädchen gingen zweimal zum See hinunter. Zum ersten Mal nach dem schweren Regensturm, der über Ventura County hinweggefegt war und in einer einzigen Nacht mehr Wasser über der Kleinstadt Palomo Grove ausgeschüttet hatte, als die Bewohner von Vernunfts wegen in einem ganzen Jahr hätten erwarten dürfen. Der Regenguß, so monsunartig er gewesen war, hatte jedoch nicht die Hitze weggenommen. Aus der Wüste wehte kaum Wind, und der Ort dörrte bei über

fünfunddreißig Grad vor sich hin. Kinder, die sich vormittags beim Spielen in der Hitze erschöpft hatten, quengelten die Nachmittage über drinnen. Hunde verfluchten ihr Fell; die Vögel sangen nicht. Alte Leute legten sich ins Bett. Einbrecher ebenfalls, in Schweiß gebadet. Die Unglücklichen, die Arbeiten erledigen mußten, welche nicht bis zum Abend warten

konnten, wenn - so Gott wollte - die Temperaturen etwas sanken, gingen zur Arbeit und starrten dabei auf die

hitzeflimmernden Gehwege, jeder Schritt eine Qual, jeder Atemzug stickig in den Lungen.

Aber die vier Mädchen waren an die Hitze gewöhnt; in

ihrem Alter lag sie ihnen im Blut. Zusammen waren sie siebzig Jahre alt, aber wenn Arleen nächsten Dienstag neunzehn wurde, würden es einundsiebzig sein. Heute fühlte sie sich ihrem Alter entsprechend, fühlte die entscheidenden paar Monate, die sie von Joyce, ihrer engsten Freundin, trennten, und noch mehr von Carolyn und Trudi, die mit ihren siebzehn 72

Jahren Welten von einer reifen Frau wie ihr entfernt waren. An diesem Tag, als sie durch die verlassenen Straßen von Palomo Grove schlenderten, hatte sie viel zum Thema Erfahrung zu sagen. Es war schön, an einem so herrlichen Tag draußen zu sein, ohne von den Männern der Stadt begafft zu werden - die sie alle mit Namen kannte -, deren Frauen es vorzogen, in getrennten Schlafzimmern zu schlafen; und ohne Angst, daß ihre sexuellen Anzüglichkeiten von Freundinnen einer ihrer Mütter gehört werden konnten. Sie schritten, wie Amazonen in kurzen Hosen, durch eine Stadt, die wie von einem unsichtbaren Feuer durchdrungen schien, das die Luft zum Wabern brachte und Backsteinmauern in Fata Morganas

verwandelte, das aber nicht tötete. Es streckte lediglich die Einwohner neben ihren offenen Kühlschränken nieder.

»Ist es Liebe?« wandte sich Joyce an Arleen.

Das ältere Mädchen hatte eine rasche Antwort parat.

»Herrgott, nein«, sagte sie. »Manchmal bist du so dumm.«

»Ich dachte nur... weil du so über ihn sprichst.«

»Was meinst du damit: so?«

»Über seine Augen und so.«

»Randy hat hübsche Augen«, gestand Arleen. »Aber Marty auch und Jim und Adam...«

»Oh, hör auf«, sagte Trudi mit mehr als einer Spur Gereiztheit in der Stimme. »Du bist so ein Flittchen.«

»Bin ich nicht.«

»Dann hör auf, Namen zu nennen. Wir wissen alle, daß die Jungs dich mögen. Und wir wissen auch alle den Grund dafür.«

Arleen warf ihr einen Blick zu, der unbemerkt blieb, da sie alle, abgesehen von Carolyn, Sonnenbrillen aufhatten. Sie gingen ein paar Meter schweigend weiter.

»Möchte jemand eine Cola?« sagte Carolyn. »Oder ein Eis?«

Sie waren am Fuß des Hügels angelangt. Vor ihnen lag das Einkaufszentrum, dessen klimatisierte Geschäfte lockten.

»Klar«, sagte Trudi. »Ich komme mit.« Sie wandte sich an 73

Arleen. »Möchtest du auch etwas?«

»Nee.«

»Bist du sauer?«

»Nee.«

»Gut«, sagte Trudi. »Es ist nämlich zu heiß zum Streiten.«

Die beiden Mädchen gingen in Marvin's Food and Drug und ließen Arleen und Joyce an der Straßenecke stehen.

»Tut mir leid...«, sagte Joyce.

»Was?«

»Daß ich nach Randy gefragt habe. Ich dachte vielleicht, du... du weißt schon... daß es vielleicht etwas Ernstes ist.«

»In Grove gibt es keinen, der zwei Cents wert wäre«, murmelte Arleen. »Ich kann es kaum erwarten, von hier

wegzukommen.«

»Wohin wirst du gehen? Los Angeles?«

Arleen zog die Sonnenbrille auf der Nase herunter und sah Joyce an.

»Warum sollte ich das tun?« sagte sie. »Ich bin nicht so dumm, daß ich mich dort in die Schlange stelle. Nein. Ich gehe nach New York. Dort zu studieren, ist besser. Und dann arbeite ich am Broadway. Wenn sie mich wollen, können sie mich holen.«

»Wer?«

»Joyce«, sagte Arleen mit gespielter Verzweiflung. »Hollywood.«

»Oh. Klar. Hollywood.«

Sie nickte bewundernd, weil Arleens Pläne so umfassend waren. Sie selbst hatte sich noch nichts annähernd so Zusammenhängendes ausgedacht. Aber Arleen hatte es auch nicht. Sie war eine kalifornische Schönheit, blond,

wunderschön, und sie hatte ein Lächeln, welches das andere Geschlecht in die Knie zwang. Und als ob das noch nicht genügen würde, war ihre Mutter Schauspielerin gewesen und behandelte ihre Tochter bereits wie einen Star.

74

Joyce hatte diese Segnungen nicht. Keine Mutter, die ihr den Weg ebnete, keinen Ruhm, der sie über schlechte Zeiten hinwegbrachte. Sie konnte nicht einmal eine Cola trinken, ohne sofort einen Ausschlag zu bekommen. Empfindliche Haut, sagte Doktor Briskman immer wieder, das gibt sich mit der Zeit. Aber die versprochene Erlösung war wie das Ende der Welt, von dem der Reverend sonntags immer predigte; immer wieder hinausgeschoben. Bei meinem Glück, dachte Joyce, ist der Tag, an dem ich die Pickel verliere und Titten bekomme, genau dieser Tag. Ich werde makellos schön aufwachen, die Vorhänge zuziehen, und Grove wird nicht mehr da sein. Ich werde nie Randy Krentzman küssen.

Und genau das war selbstverständlich der Grund, warum sie Arleen so eingehend befragt hatte. Joyce hatte nur noch Randy im Sinn, obwohl sie ihn nur dreimal gesehen und erst zweimal mit ihm gesprochen hatte. Beim ersten Mal war sie mit Arleen unterwegs gewesen, und er hatte kaum in Joyce' Richtung gesehen, als sie vorgestellt worden war, daher hatte sie nichts gesagt. Beim zweiten Mal hatte sie keine Konkurrenz

dabeigehabt, aber ihr freundliches Hallo war lediglich mit einem beiläufigen »Wer bist du denn?« beantwortet worden.

Sie war beharrlich gewesen, hatte ihn daran erinnert, hatte ihm sogar gesagt, wo sie wohnte. Beim dritten Zusammentreffen -

»Hallo«, hatte sie wieder gesagt. »Kennen wir uns?« hatte er geantwortet - hatte sie schamlos ihre sämtlichen persönlichen Details aufgesagt; sie hatte ihn, in einem plötzlichen Anfall von Optimismus, sogar gefragt, ob er Mormone war. Das, hatte sie sich später überlegt, war ein taktischer Fehler gewesen. Beim nächsten Mal würde sie Arleens Methode anwenden und den Jungen behandeln, als könnte sie seine Gegenwart kaum ertragen; ihn nie ansehen, nur lächeln, wenn es unbedingt erforderlich war. Und wenn man im Begriff war zu gehen, ihm direkt in die Augen sehen und etwas vage Schmutziges

schnurren. Das Gesetz unterschiedlicher Botschaften. Bei 75

Arleen funktionierte es, warum nicht auch bei ihr? Und nachdem die große Schönheit nun öffentlich ihre Gleichgültigkeit gegenüber Joyce' Idol kundgetan hatte, sah sie einen Silberstreif der Hoffnung. Hätte Arleen aufrichtiges Interesse an Randys Zuneigung gehabt, wäre Joyce vielleicht direkt zu Reverend Meuse gegangen und hätte ihn gefragt, ob er den Weltuntergang nicht ein wenig beschleunigen konnte.

Sie nahm die Sonnenbrille ab und blinzelte zum weißen, hei-

ßen Himmel empor; sie fragte sich, ob der besagte Weltuntergang vielleicht schon unterwegs war. Es war ein seltsamer Tag.

»Das solltest du nicht machen«, sagte Carolyn, die mit Trudi im Kielwasser aus Marvin's Food and Drug herauskam, »die Sonne wird dir die Augen verbrennen.«

»Nein.«

»Doch«, antwortete Carolyn, stets Überbringerin uner-

wünschter Botschaften, »deine Netzhaut ist eine Linse. Wie bei einer Kamera. Sie stellt sich...«

»Schon gut«, sagte Joyce und sah wieder auf den festen Boden. »Ich glaube dir.« Farben tanzten vorübergehend vor ihren Augen und machten sie desorientiert.

»Wohin jetzt?« sagte Trudi.

»Ich gehe wieder nach Hause«, sagte Arleen. »Ich bin

müde.«

»Ich nicht«, sagte Trudi strahlend. »Und ich gehe auch nicht nach Hause. Das ist langweilig.«

»Auf jeden Fall ist es dumm, so vor dem Einkaufszentrum herumzustehen«, sagte Carolyn. »Das ist so langweilig wie zu Hause. Außerdem braten wir in der Sonne.«

Sie sah bereits geröstet aus. Sie war zwanzig Pfund oder mehr schwerer als die anderen und obendrein ein Rotschopf, und die Verbindung von ihrem Gewicht und der weißen Haut, die niemals braun zu werden schien, hätte eigentlich ausreichen sollen, sie im Haus zu halten. Aber die Anstrengung schien ihr gleichgültig zu sein, wie überhaupt alle Sinnesfreuden, 76

abgesehen vom Essen. Vergangenen November war die ganze Familie Hotchkiss in einen Autounfall auf dem Freeway verwickelt gewesen. Carolyn war mit unbedeutenden

Prellungen aus dem Autowrack herausgeklettert und war anschließend ein Stück weiter mit halb verzehrten

Schokoriegeln in Händen von der Polizei gefunden worden. Sie hatte mehr Schokolade als Blut im Gesicht gehabt und Zeter und Mordio geschrien - erzählte man sich jedenfalls -, als einer der Polizisten versucht hatte, ihr den Snack wegzunehmen. Erst viel später hatte man festgestellt, daß sie ein halbes Dutzend gebrochene Rippen gehabt hatte.

»Also, wohin?« sagte Trudi und kam damit wieder auf das brennende Thema des Tages. »Bei dieser Hitze: wohin?«

»Gehen wir spazieren«, sagte Joyce. »Vielleicht in den Wald. Dort ist es bestimmt nicht so heiß.« Sie sahen Arleen an.

»Kommst du mit?«

Arleen ließ ihre Gefährtinnen eine Weile warten. Schließlich stimmte sie zu.

»Hab' nichts Besseres vor«, sagte sie.

2

Die meisten Städte, so klein sie auch sein mögen, orientieren sich am Muster einer Großstadt. Das heißt, sie sind unterteilt.

Weiß und schwarz, hetero und schwul, reich und weniger reich, weniger reich und arm. Palomo Grove, dessen

Bevölkerungszahl in jenem Jahr, 1971, bei

eintausendzweihundert lag, machte da keine Ausnahme. Der Ort, der an einer sanft ansteigenden Hügelflanke erbaut worden war, war als Verkörperung demokratischer Prinzipien angelegt worden, so daß jeder Einwohner gleichen Zugang zum

Zentrum der Macht, dem Einkaufszentrum nämlich, hatte.

Dieses lag am Fuß von Sunrise Hill, kurz Hill genannt, und 77

vier Ortschaften - Stillbrook, Deerdell, Laureltree und Windbluff - lagen um diese Nabe herum verteilt, deren Le-bensmittelbeschaffungsstrecken in die vier Himmelsrichtungen verliefen. Aber damit erschöpfte sich der Idealismus der Städteplaner. Von da an verliehen die subtilen Unterschiede der Geographie der Ortschaften jeder einen andersartigen Charakter. Windbluff, das an der Südwestflanke des Hügels lag, bot die beste Aussicht; die Grundstücke dort waren die teuersten. Das obere Drittel des Hügels wurde von einem halben Dutzend Prunkvillen beherrscht, deren Dächer kaum hinter üppiger Vegetation zu erkennen waren. An den unteren Hängen dieses Olymps befanden sich die Five Crescents, halbkreisförmige Straßen, die - so man sich kein Haus auf dem Gipfel leisten konnte - die nächstbegehrenswertesten

Unterkünfte boten.

Im Gegensatz dazu Deerdell. Ebenerdig erbaut und auf zwei Seiten von wildem Waldland umgeben, war dieser Quadrant des Grove wertmäßig rasch gesunken. Hier hatten die Häuser keinen Pool und brauchten dringend frische Farbe. Für manche war das Exterieur als Zuflucht en vogue. Bereits 1971 lebten ein paar Künstler in Deerdell; diese Gemeinde sollte beständig wachsen.

Aber wenn es irgendwo im Grove eine Gegend gab, wo die Leute Angst um die Lackierung ihrer Autos hatten, dann hier.

Zwischen diesen beiden gesellschaftlichen und geographi-schen Extremen lagen Stillbrook und Laureltree, letzteres wurde geringfügig höher eingestuft, weil mehrere Straßenzüge an der zweiten Flanke des Hügels erbaut worden waren und die Maßstäbe der Häuser, ebenso wie die Preise, mit jeder Aufwärtsbiegung der Straßen unbescheidener wurden.

Von dem Quartett wohnte niemand in Deerdell. Arleen

wohnte in der Emerson, der zweithöchsten Crescent-Straße, Joyce und Carolyn nur einen Block voneinander entfernt am Steeple Chase Drive in Stillbrook Village, und Trudi in 78

Laureltree. Daher war es ein wenig abenteuerlich, durch die Straßen von East Grove zu schlendern, wo ihre Eltern selten, wenn überhaupt je gewesen waren. Und selbst wenn sie sich einmal hierher verirrt hatten, waren sie bestimmt nie dorthin gegangen, wohin die Mädchen jetzt gingen: in den Wald.

»Hier ist es nicht kühler«, beschwerte sich Arleen, nachdem sie ein paar Minuten unterwegs gewesen waren. »Es ist sogar noch schlimmer.«

Sie hatte recht. Das Laub hielt zwar den sengenden Blick der Sonne von ihren Köpfen fern, aber die Hitze drang trotzdem zwischen den Ästen hindurch. Und weil sie dort festsaß, brachte sie die feuchte Luft zum Dampfen.

»Ich war seit Jahren nicht mehr hier«, sagte Trudi, die mit einem abgebrochenen Zweig durch eine Wolke Stechmücken

peitschte. »Ich bin immer mit meinem Bruder hergekommen.«

»Wie geht es ihm denn?« wollte Joyce wissen.

»Er ist immer noch im Krankenhaus. Der kommt da nie wieder raus. Die ganze Familie weiß es, aber niemand spricht es je aus. Macht mich krank.«

Sam Katz war körperlich und geistig gesund eingezogen und nach Vietnam geschickt worden. Im dritten Monat seiner Dienstzeit war beides von einer Landmine, die zwei seiner Kameraden das Leben gekostet und ihn selbst schwer verletzt hatte, zunichte gemacht worden. Seine Heimkehr war peinlich unbehaglich gewesen; die wenigen Mächtigen des Grove

waren in Reih und Glied angetreten, um den verstümmelten Helden willkommen zu heißen. Anschließend wurde viel von Opfern und Heldenmut gesprochen, viel getrunken, ein paar Tränen verborgen. Sam Katz hatte das alles ungerührt über sich ergehen lassen; sein Gesicht war nicht wegen der

Feierlichkeiten verkniffen, sondern teilnahmslos, als würde er im Geiste immer noch den Augenblick durchleben, da seine Jugend in Stücke gerissen worden war. Ein paar Wochen später war er ins Krankenhaus gekommen. Obwohl seine Mutter

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Neugierigen gesagt hatte, es sei wegen chirurgischer Eingriffe an der Wirbelsäule, wurden die Monate zu Jahren, und Sam kam nicht wieder. Alle konnten den Grund erraten, aber niemand sprach darüber. Sams körperliche Wunden waren angemessen verheilt. Aber sein Verstand hatte sich als weniger widerstandsfähig erwiesen. Die Teilnahmslosigkeit, die er nach seiner Heimkehr zur Schau gestellt hatte, war zu Katatonie geworden.

Die anderen Mädchen hatten Sam alle gekannt, obwohl der Altersunterschied zwischen Joyce und ihrem Bruder so groß war, daß sie ihn fast als Angehörigen einer anderen Rasse betrachtet hatten. Nicht nur ein Mann, was schon hinreichend merkwürdig war, sondern obendrein auch noch alt. Aber als sie die Pubertät hinter sich hatten, wurde die Achterbahnfahrt schneller. Sie sahen die Fünfundzwanzig am Horizont: noch ein Stück weit entfernt, aber sichtbar. Und da begriffen sie, wie vergeudet Sams Leben war, und zwar auf eine Weise, wie Elfjährige das nie hätten begreifen können. Liebevolle, traurige Erinnerungen an ihn brachten sie eine Weile zum Schweigen.

Sie schritten weiter durch die Hitze, Seite an Seite, ihre Arme streiften ab und zu aneinander, aber ihre Gedanken gingen eigene Wege. Trudi dachte an kindliche Spiele, die sie in diesem Dickicht mit Sam gespielt hatte. Er war ein geduldiger Bruder gewesen und hatte ihr erlaubt, ihn zu begleiten, als sie sieben oder acht und er dreizehn gewesen war. Ein Jahr später, als seine Hormone anfingen, ihm zu erzählen, daß Mädchen und Schwestern unterschiedliche Tiere waren, hatte er seine Einladungen zum Kriegspielen eingestellt. Sie hatte um den Verlust getrauert; eine Vorahnung der Trauer, die sie später bewußt empfinden sollte. Jetzt sah sie im Geiste sein Gesicht vor sich, eine seltsame Verschmelzung des Jungen von einst und des Mannes von heute; des Lebens, das er gehabt hatte, und des Todes, den er heute lebte. Es tat ihr weh.

Für Carolyn gab es kaum Kummer im Wachsein. Heute gar 80

keinen - abgesehen von ihrem Wunsch: sie hätte sich noch ein zweites Eis gekauft. Nachts war das wieder etwas anderes. Sie hatte Alpträume von Erdbeben. In ihnen klappte Palomo Grove wie ein Klappstuhl zusammen und verschwand von der Erde.

Das war die Strafe dafür, wenn man zuviel wußte, hatte ihr Vater zu ihr gesagt. Sie hatte seine ungezügelte Neugier geerbt und sie - als sie das erste Mal vom San-Andreas-Graben gehört hatte - auf das Studium der Erde gerichtet, auf der sie gingen.

Man konnte ihrer Festigkeit nicht trauen. Sie wußte, der Boden unter ihren Füßen war von Spalten durchzogen, die sich jeden Augenblick auftun konnten, wie sie sich unter Santa Barbara und Los Angeles und an der ganzen Westküste auftun und eine Menge verschlingen konnten. Sie hielt ihre Ängste im Zaum, indem sie sich selbst verschlang: eine Art beschwörender Zauber. Sie war dick, weil die Erdrinde dünn war; eine umwerfende Entschuldigung für Gefräßigkeit.

Arleen sah zu der Dicken hinüber. Es konnte nicht schaden, hatte ihr ihre Mutter einmal beigebracht, wenn man sich in Gesellschaft von weniger Attraktiven aufhielt. Obwohl sie nicht mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand, umgab sich der einstige Star Kate Farrell immer noch mit durchschnittlichen Frauen, in deren Gesellschaft sie selbst doppelt so gut aussah.

Arleen fand, daß das, besonders an Tagen wie heute, ein zu hoher Preis war. Obwohl sie ihrem eigenen Äußeren

schmeichelten, konnte sie ihre Gefährtinnen eigentlich nicht leiden. Früher hätte sie sie als ihre engsten Freundinnen bezeichnet. Heute waren sie Erinnerungen an ein Leben, dem sie gar nicht schnell genug entkommen konnte. Doch wie sollte sie die Zeit sonst herumbringen, bis sie an der Reihe war?

Sogar das Vergnügen, vor einem Spiegel zu sitzen, wurde mit der Zeit schal. Je schneller ich von hier weg bin, dachte sie, desto schneller werde ich glücklich sein.

Hätte Joyce Arleens Gedanken lesen können, hätte sie beifällig auf deren Eile geblickt. Aber sie dachte nur daran, wie sie 81

am besten ein zufälliges Zusammentreffen mit Randy einfädeln konnte. Wenn sie eine beiläufige Frage nach seinen

Gewohnheiten stellte, würde Arleen ihre Absicht erraten; und sie war vielleicht egoistisch genug, daß sie Joyce' Chancen zunichte machte, obwohl sie selbst sich nicht für den Jungen interessierte. Joyce konnte einen Charakter gut deuten und wußte genau, daß es Arleen möglich war, so pervers zu sein.

Aber stand es ihr an, Perversion zu verteufeln? Sie war hinter einem Mann her, der ihr schon dreimal deutlich gezeigt hatte, wie gleichgültig sie ihm war. Warum konnte sie ihn nicht einfach vergessen und sich den Kummer, abgewiesen zu

werden, ersparen? Weil Liebe eben nicht so war. Sie trieb einen dazu, den Beweisen zu trotzen, wie stichhaltig sie auch immer sein mochten. Sie seufzte hörbar.

»Stimmt was nicht?« wollte Carolyn wissen.

»Nur... heiß«, antwortete Joyce.

»Kennen wir ihn?« fragte Trudi. Bevor sich Joyce eine angemessen zurechtweisende Antwort überlegt hatte, sah sie vor sich zwischen den Bäumen etwas glitzern.

»Wasser«, sagte sie.

Carolyn hatte es auch gesehen. Es glitzerte so hell, daß sie die Augen zukneifen mußte.

»Jede Menge«, sagte sie.

»Ich wußte gar nicht, daß hier ein See ist«, bemerkte Joyce, die sich an Trudi wandte.

»Hier war auch keiner«, lautete die Antwort. »Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.«

»Jetzt ist aber einer da«, sagte Carolyn.

Sie stapfte bereits durch das Dickicht, weil sie nicht so geduldig war, den Weg zu nehmen, und walzte so einen Pfad für die anderen.

»Sieht so aus, als würden wir doch noch eine Abkühlung bekommen«, sagte Trudi und lief hinter ihr her.

Es war tatsächlich ein See, etwa hundertfünfzig Meter im 82

Durchmesser, dessen glatte Oberfläche von halb versunkenen Bäumen und Inseln aus Gestrüpp unterbrochen wurde.

»Regenwasser«, sagte Carolyn. »Wir sind hier direkt am Fuß des Hügels. Es muß sich nach dem Sturm gesammelt haben.«

»Eine Menge Wasser«, sagte Joyce. »Ist das alles letzte Nacht gefallen?«

»Wenn nicht, woher sollte es dann kommen?« sagte Carolyn.

»Ist doch egal«, meinte Trudi. »Sieht erfrischend aus.«

Sie ging an Carolyn vorbei direkt ans Wasser. Mit jedem Schritt wurde der Boden feuchter, und der Schlamm stieg bis über ihre Sandalen. Aber als sie beim Wasser war, hielt es voll und ganz, was es versprochen hatte: Es war erfrischend kühl.

Sie kauerte sich nieder und streckte eine Hand ins Wasser, um sich etwas ins Gesicht zu spritzen.

»Das würde ich nicht tun«, mahnte Carolyn. »Es ist wahrscheinlich voller Chemikalien.«

»Es ist Regenwasser«, antwortete Trudi. »Was sollte denn sauberer sein?«

Carolyn zuckte die Achseln. »Dann bedien dich«, sagte sie.

»Wie tief es wohl ist?« überlegte Joyce. »So tief, daß man schwimmen kann, was meint ihr?«

»Glaube ich kaum«, bemerkte Carolyn.

»Kommt auf den Versuch an«, meinte Trudi und watete in den See. Sie konnte ertrunkenes Gras und Blumen unter den Füßen sehen. Der Boden war weich, ihre Füße wirbelten Schlammwolken auf, aber sie ging weiter, bis sie so tief war, daß der Saum ihrer Shorts naß wurde. Das Wasser war kalt. Sie bekam eine Gänsehaut. Aber immer noch besser als der

Schweiß, der ihr die Bluse an Brust und Rücken festklebte. Sie sah zum Ufer.

»Herrlich«, sagte sie. »Ich geh' rein.«

»So?« sagte Arleen.

»Natürlich nicht.« Trudi watete zu dem Trio zurück und zog dabei die Bluse aus den Shorts. Luftbläschen, die im Wasser 83

emporsprudelten, kribbelten auf ihrer Haut; sie genoß das Gefühl. Sie hatte nichts unter der Bluse an und wäre

normalerweise züchtiger gewesen, auch vor ihren Freundinnen, aber sie konnte der Verlockung des Sees nicht länger

widerstehen.

»Kommt jemand mit?« fragte sie, als sie wieder bei den anderen stand.

»Ich«, sagte Joyce, die bereits die Trainingshose aufknöpfte.

»Ich finde, wir sollten die Schuhe anlassen«, sagte Trudi.

»Wir wissen nicht, was da unten ist.«

»Nur Gras«, sagte Joyce. Sie setzte sich und bearbeitete grinsend die Knoten. »Herrlich«, sagte sie.

Arleen betrachtete ihren überschäumenden Enthusiasmus mit Mißfallen.

»Kommt ihr zwei nicht mit?« sagte Trudi.

»Nein«, sagte Arleen.

»Hast du Angst, dein Make-up könnte verlaufen?«

antwortete Joyce und grinste noch breiter.

»Das sieht doch keiner«, sagte Trudi, bevor ein Streit vom Zaun brechen konnte. »Carolyn? Was ist mit dir?«

Das Mädchen zuckte die Achseln. »Kann nicht

schwimmen«, sagte sie.

»Dazu ist es auch nicht tief genug.«

»Das kannst du nicht wissen«, gab Carolyn zu bedenken.

»Du bist nur ein paar Schritte hineingewatet.«

»Dann bleib dicht am Ufer. Dort ist es sicher.«

»Vielleicht«, sagte Carolyn, alles andere als überzeugt.

»Trudi hat recht«, sagte Joyce, die spürte, daß Carolyns Zaudern ebensoviel damit zu tun hatte, daß sie ihre Leibesfülle entblößen müßte, wie mit dem Schwimmen selbst. »Es sieht uns doch niemand.«

Als sie die Shorts auszog, dachte sie daran, daß sich jede Menge Spanner zwischen den Bäumen verbergen mochten,

aber was sollte das schon? Sagte der Reverend nicht immer, 84

daß das Leben kurz war? Also am besten nichts vergeuden. Sie schlüpfte aus der Unterwäsche und ging ins Wasser.

William Witt kannte die Namen aller vier Badenden. Er kannte sogar die Namen aller Frauen unter vierzig im Grove, wußte, wo sie wohnten und welches ihr Schlafzimmerfenster war; eine Gedächtnisleistung, mit der er nicht bei seinen Schulkameraden prahlte, weil er fürchtete, sie könnten es weitersagen. Er selbst fand es zwar nicht schlimm, durch Fenster zu sehen, wußte aber, daß es mißbilligt wurde. Aber schließlich war er mit Augen geboren worden, oder nicht? Warum sollte er sie dann nicht benützen? Was konnte es schon schaden zu beobachten?

Nicht stehlen, lügen oder Menschen umbringen. Nur das, wozu Gott Augen erschaffen hatte, und er sah nicht ein, was daran kriminell sein sollte.

Er kauerte etwa sechs Meter vom Ufer und knapp zweimal so weit von den Mädchen entfernt im Schutz der Bäume und beobachtete, wie sie sich auszogen. Er sah, daß Arleen Farrell zögerte, und das frustrierte ihn. Sie nackt zu sehen, wäre eine Leistung, die er nicht für sich behalten konnte. Sie war das schönste Mädchen in Palomo Grove: schlank und blond und stupsnasig, wie Filmstars sein sollten. Die beiden anderen, Trudi Katz und Joyce McGuire, waren schon im Wasser, daher konzentrierte er sich auf Carolyn Hotchkiss, die gerade den BH

aufmachte. Ihre Brüste waren schwer und rosa, und als er sie sah, wurde sein Glied in der Hose steif. Obwohl sie Shorts und Unterhose auszog, betrachtete er immerzu ihre Brüste. Er konnte nicht verstehen, warum viele der anderen Jungs - er war zehn - sich so sehr für das da unten interessierten; das war bei weitem nicht so interessant wie der Busen, der von Mädchen zu Mädchen so unterschiedlich war wie Nasen oder Hüften.

Das andere, der Teil, dessen verschiedene Namen ihm

ausnahmslos nicht gefielen, erschien ihm recht uninteressant: ein Büschel Haare und ein Schlitz in der Mitte. Was sollte 85

daran so toll sein?

Er beobachtete, wie Carolyn ins Wasser ging, und konnte gerade noch ein freudiges Kichern unterdrücken, als sie auf das kalte Wasser reagierte, indem sie einen Schritt zurückwich, bei dem ihr Körper wie Gelee zitterte.

»Komm rein! Es ist herrlich!« verspottete Trudi sie.

Carolyn nahm ihren Mut zusammen und ging ein paar

Schritte weiter.

Und jetzt - William konnte sein Glück kaum fassen - nahm Arleen den Hut ab und knöpfte ihr Oberteil auf. Sie ging also doch mit ihnen. Er vergaß die anderen und konzentrierte sich ganz auf Miß Schlank. Kaum war ihm klar geworden, was die Mädchen - denen er über eine Stunde lang unbemerkt gefolgt war - vorhatten, hatte sein Herz so heftig zu klopfen angefangen, daß er glaubte, er würde krank werden. Jetzt verdoppelte sich der Herzschlag noch, als er sich vorstellte, daß er Arleens Busen zu sehen bekam. Nichts - nicht einmal Todesangst - hätte ihn bewegen können, den Blick

abzuwenden. Er stellte sich der Herausforderung, sich die winzigste Bewegung genau einzuprägen, damit sein Bericht glaubwürdiger wurde, wenn er ihn Zweiflern erzählte.

Sie ging langsam vor. Hätte er es nicht besser gewußt, hätte er vermutet, sie wußte, daß sie einen Zuschauer hatte, so sehr neckte sie und präsentierte sich. Ihr Busen war enttäuschend.

Nicht so groß wie der von Carolyn, und keine großen, dunklen Brustwarzen wie die von Joyce. Aber der Gesamteindruck, als sie die abgeschnittenen Jeans und Unterhosen herunterzog, war überwältigend. Er war beinahe panisch, sie zu sehen. Seine Zähne klapperten, als hätte er eine Erkältung. Sein Gesicht wurde heiß, die Eingeweide schienen zu rasseln. Später im Leben sollte William seinem Analytiker erzählen, in diesem Augenblick sei ihm zum ersten Mal bewußt geworden, daß er sterben mußte. Aber das war selbstverständlich im nachhinein gesprochen. Momentan dachte er an alles andere als den Tod.

86

Doch Arleens Nacktheit, die er unsichtbar beobachtete, machte diesen Augenblick zu etwas, das er niemals vergessen würde.

Es sollten Ereignisse eintreten, bei denen er sich wünschte, er wäre nicht zum Spannen hergekommen - tatsächlich sollte er in ständiger Angst vor den Erinnerungen leben -, aber als das Entsetzen Jahre später nachließ, gedachte er des Bildes, wie Arleen Farrell ins Wasser dieses neu entstandenen Sees schritt, als einer Ikone.

Es war nicht der Augenblick, als ihm bewußt wurde, daß er sterben mußte; aber er begriff vielleicht zum ersten Mal, daß es nicht so schlimm sein würde dahinzuscheiden, wenn ihn Schönheit auf diesem letzten Weg begleiten konnte.

Der See war verführerisch, seine Umarmung kühl, aber beruhigend. Es gab keine Strömung wie am Strand. Keine Brandung schlug einem gegen den Rücken, kein Salz brannte in den Augen. Er war wie ein Swimmingpool, der eigens für die vier geschaffen worden war; eine Idylle, zu der niemand sonst im Grove Zugang hatte.

Trudi war die beste Schwimmerin des Quartetts, daher

schwamm sie am mutigsten vom Ufer weg und fand dabei heraus, daß das Wasser, allen Erwartungen zum Trotz, immer tiefer wurde. Sie überlegte sich, daß es sich gesammelt haben mußte, wo der Boden eine natürliche Mulde bildete; vielleicht war hier sogar früher einmal ein jetzt ausgetrockneter See gewesen, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, bei ihren Streifzügen mit Sam je einen gesehen zu haben. Das Gras unter ihren Zehen war verschwunden, statt dessen streiften diese über nackten Fels.

»Schwimm nicht so weit«, rief Joyce ihr zu.

Sie drehte sich um. Das Ufer war weiter entfernt, als sie geglaubt hatte; das Gleißen des Wassers in ihren Augen machte ihre Freundinnen zu drei Flecken, ein blonder und zwei braune, die halb im selben köstlichen Element waren wie sie selbst.

87

Unglücklicherweise würde es ihnen wohl nicht möglich sein, die Existenz dieses Stückchens vom Paradies für sich zu behalten. Arleen würde bestimmt darüber reden. Heute abend würde das Geheimnis heraus sein. Morgen allgemein bekannt.

Sie sollte die Abgeschiedenheit genießen, so lange es noch ging. Mit diesem Gedanken schwamm sie zur Mitte des Sees.

Zehn Meter vom Ufer entfernt dümpelte Joyce im Wasser, das kaum nabeltief war, und beobachtete Arleen am Ufer, wo diese sich bückte und Bauch und Brüste naßspritzte. Sie empfand Neid angesichts der Schönheit ihrer Freundin. Kein Wunder, daß die Randy Krentzmans dieser Welt vollkommen gaga wurden, wenn sie Arleen nur sahen. Sie überlegte sich, wie es sein würde, Arleens Haar zu streicheln, so wie ein Junge das tun würde, oder ihre Brüste zu küssen oder die Lippen. Dieser Gedanke ergriff so unvermittelt und heftig Besitz von ihr, daß sie im Wasser das Gleichgewicht verlor und einen Mundvoll schluckte, als sie versuchte, sich aufzurichten. Nachdem ihr das gelungen war, drehte sie Arleen den Rücken zu und strebte mit spritzenden Bewegungen in tieferes Wasser.

Von vorne rief ihr Trudi etwas zu.

»Was hast du gesagt?« rief Joyce zurück und hörte auf zu rudern, damit sie besser hören konnte.

Trudi lachte. »Warm!« sagte sie und spritzte um sich. »Es ist warm hier draußen!«

»Machst du Witze?«

»Komm doch selber her!« antwortete Trudi.

Joyce schickte sich an, dorthin zu schwimmen, wo Trudi wassertretend verweilte, aber ihre Freundin wandte sich bereits von ihr ab und folgte dem Ruf der Wärme. Joyce konnte nicht anders, sie mußte sich zu Arleen umdrehen. Sie hatte sich endlich herabgelassen, unter den Schwimmenden zu weilen, und war ins Wasser geschritten, bis ihr langes Haar wie ein goldener Kragen um ihren Hals gebreitet war; dann schwamm sie mit bedächtigen Bewegungen zur Mitte des Sees. Joyce 88

empfand beinahe so etwas wie Angst angesichts von Arleens Nähe. Sie wollte Gesellschaft, die sie ablenkte.

»Carolyn!« rief sie. »Kommst du?«

Carolyn schüttelte den Kopf.

»Hier draußen ist es wärmer«, versprach Joyce.

»Das glaube ich nicht.«

»Wirklich!« rief Trudi. »Es ist herrlich!«

Carolyn schien aufzugeben und plätscherte in Trudis

Kielwasser dahin.

Trudi schwamm ein paar Meter weiter. Das Wasser wurde nicht wärmer, aber dafür lebhafter; es blubberte um sie herum wie ein Whirlpool. Plötzlich verlor sie die Nerven und versuchte, Boden zu ertasten, aber es war kein Grund mehr da.

Wenige Meter hinter ihr war das Wasser höchstens eineinhalb Meter tief gewesen; jetzt streiften ihre Zehen nicht einmal mehr über festen Boden. Der Boden mußte ziemlich genau an der Stelle steil abfallen, wo die warme Strömung herkam.

Durch die Tatsache ermutigt, daß drei Schwimmstöße sie wieder in sichere Gefilde bringen würden, tauchte sie den Kopf unter Wasser.

Sie sah zwar auf die Ferne schlecht, aber ihre Nahsicht war hervorragend, und das Wasser war klar. Sie konnte an ihrem Körper hinabsehen bis zu den tretenden Füßen. Unter ihnen un-durchdringliche Dunkelheit. Der Boden war einfach

verschwunden. Sie keuchte erschrocken. Wasser drang ihr in die Nase. Sie schnellte hustend und um sich schlagend nach oben, um Luft zu holen.

Joyce rief ihr etwas zu.

»Trudi! Was ist denn los? Trudi?«

Sie versuchte, ein paar warnende Worte herauszubekommen, aber urgewaltige Panik hatte sie ergriffen; sie konnte sich nur in Richtung Ufer werfen, doch ihre Panik wirbelte das Wasser lediglich zu frischem, erstickendem Tosen auf. Dunkelheit da unten, und etwas Warmes, das nur darauf wartet, mich nach 89

unten zu ziehen.

William Witt sah in seinem Versteck am Ufer, wie sich das Mädchen abmühte. Angesichts ihrer Panik verschwand seine Erektion. Draußen auf dem See ging etwas Seltsames vor sich.

Er konnte Spitzen an der Wasseroberfläche sehen, die Trudi Katz umkreisten wie kaum untergetauchte Fische. Einige lösten sich und schwammen auf die anderen Mädchen zu. Er wagte nicht, einen Ruf auszustoßen. Wenn er das tat, würden sie wissen, daß er ihnen nachspioniert hatte. Er konnte nichts anderes machen, als mit wachsender Bestürzung die

Geschehnisse im See zu beobachten.

Joyce spürte die Wärme als nächste. Sie lief über ihre Haut und in ihr Inneres, wo sie die Eingeweide wie ein Schluck Weihnachtsbrandy überzog. Das Gefühl lenkte sie von Trudis Rudern und der Gefahr ab, in der sie selbst sich befand. Sie beobachtete die Spitzen im Wasser, die Blasen, die rings um sie herum langsam und zäh an die Oberfläche stiegen, wie Lava, seltsam unbeteiligt. Auch als sie den Boden ertasten wollte und es ihr nicht gelang, dachte sie nur nebensächlich ans Ertrinken. Es gab wichtigere Empfindungen. Erstens, daß die Luft aus den Blasen um sie herum der Atem des Sees waren, und wenn sie sie einatmete, war das, als würde sie den See küssen. Zweitens, daß Arleen gleich hier sein würde, mit ihrem Kragen goldener Haare, die um sie herum im Wasser

schwammen. Sie erlag der Verführung des warmen Wassers und gestattete sich die Gedanken, denen sie noch vor wenigen Augenblicken den Rücken gekehrt hatte. Sie waren beide hier, sie und Arleen, vom selben herrlichen Wasser umhüllt, und kamen einander immer näher, während das Element zwischen ihnen die Echos ihrer Bewegungen hin und her trug. Vielleicht würden sie sich in dem Wasser auflösen und ihre Körper flüssig werden, bis sie im See verschmolzen. Sie und Arleen, eine Mischung, frei vom Zwang, sich zu schämen; jenseits von Sex in wonniglicher Einsamkeit.

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Diese Möglichkeit war so erlesen, daß sie keinen Augenblick mehr hinausgeschoben werden konnte. Sie warf die Arme über den Kopf und ließ sich untersinken. Doch der Zauber des Sees, so übermächtig er war, konnte die animalische Panik, die sie empfand, als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug, nicht ganz unterdrücken. Ihr Körper begann ohne ihr Zutun, sich dem Pakt zu widersetzen, den sie mit dem Wasser

geschlossen hatte. Sie strengte sich heftig an und strebte zur Oberfläche, als wollte sie sich in der Luft festhalten.

Arleen und Trudi sahen Joyce beide untergehen. Arleen eilte ihr unverzüglich zu Hilfe und rief beim Schwimmen. Das Wasser um sie herum paßte sich ihrer Aufregung an. Auf allen Seiten stiegen Blasen empor. Sie spürte sie vorbeistreichen wie Hände, die ihren Bauch, die Brüste und die Scham streichelten.

Unter dem Einfluß ihrer Liebkosungen ergriff dieselbe Verträumtheit, die Joyce überkommen und mittlerweile Trudis Panik gestillt hatte, von ihr Besitz. Aber sie hatte kein spezielles Objekt der Begierde, das sie in die Tiefe zog. Trudi beschwor das Bildnis von Randy Krentzman - von wem sonst?

- herauf, aber Arleens Verführer war eine irre Verschmelzung berühmter Gesichter. Deans Wangenknochen, Sinatras Augen, Brandos höhnisches Grinsen. Diesem Flickwerk ergab sie sich ebenso wie Joyce und, ein paar Meter entfernt, Trudi. Sie riß die Arme hoch und ließ sich vom Wasser nehmen.

Carolyn verfolgte in sicheren seichten Gewässern

abgestoßen das Verhalten ihrer Freundinnen. Als sie Joyce untergehen gesehen hatte, war sie zu dem Schluß gekommen, daß dort etwas war, das sie in die Tiefe zog. Aber das Verhalten von Arleen und Trudi strafte das Lügen. Sie beobachtete, wie sie einfach aufgaben. Es war auch kein einfacher Selbstmord. Sie war Arleen so nahe gewesen, daß ihr der freudige Ausdruck des hübschen Gesichts, bevor es untersank, nicht entgangen war. Sie hatte sogar gelächelt!

Gelächelt, und sich dann aufgegeben.

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Die drei Mädchen waren Carolyns einzige Freundinnen auf der Welt. Sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie sie ertranken.

Obwohl das Wasser, wo sie untergegangen waren, mit jedem Augenblick heftiger schäumte, machte sie sich mit dem einzigen Schwimmstil, den sie beherrschte, zu der Stelle auf: einer linkischen Mischung aus Hundepaddeln und Kraul. Die Naturgesetze, das wußte sie, waren auf ihrer Seite. Fett schwamm oben. Aber das war kein Trost, als sie sah, wie der Boden unter ihren Füßen abfiel. Der Boden des Sees war verschwunden. Sie schwamm über einer Spalte, die die anderen Mädchen irgendwie anzog.

Vor ihr kam ein Arm zur Oberfläche. Sie griff verzweifelt danach, erwischte ihn und packte zu. Aber als sie den Kontakt hergestellt hatte, brodelte das Wasser um sie herum mit neu entfachter Heftigkeit. Sie stieß einen Entsetzensschrei aus.

Dann umklammerte die Hand, die sie ergriffen hatte, sie heftig und zog sie in die Tiefe.

Die Welt erlosch wie eine ausgeblasene Kerzenflamme. Ihre Sinne verließen sie. Sie wußte nicht, ob sie noch jemandes Finger hielt, denn sie spürte sie nicht. Und sie konnte in der Düsternis auch nichts sehen, obwohl sie die Augen offen hatte.

Sie war sich ganz am Rande bewußt, daß ihr Körper ertrank; daß sich ihre Lungen durch den offenen Mund mit Wasser füllten, daß der letzte Atem aus ihr wich. Aber ihre Seele hatte das Gehäuse verlassen und entfernte sich von dem Fleisch, dessen Geisel sie gewesen war. Sie sah dieses Fleisch jetzt: nicht mit ihren stofflichen Augen - die waren noch in ihrem Kopf und rollten wie wild -, sondern mit dem geistigen Auge.

Eine fette Tonne, die beim Untergehen wogte und sich drehte.

Sie empfand nichts angesichts ihres Dahinscheidens,

abgesehen vielleicht von Ekel über die Wülste und die absurde Ungeschicklichkeit ihrer Panik. Im Wasser hinter ihrem Körper leisteten die anderen Mädchen noch Widerstand. Ihr Rudern war auch, so vermutete sie, rein instinktiv. Ihre Seelen waren, 92

wie ihre eigene, wahrscheinlich aus den Körpern

herausgeschwebt und betrachteten das Schauspiel mit

derselben Gleichgültigkeit. Sicher, deren Körper waren attraktiver als ihrer, der Verlust daher möglicherweise schmerzhafter. Aber Widerstand war letztendlich

verschwendete Anstrengung. Sie würden bald alle hier in der Mitte dieses sommerlichen Sees sterben. Warum?

Noch während sie die Frage stellte, präsentierte ihr Sehen ohne Augen die Antwort. In der Dunkelheit unter ihrer schwebenden Seele war etwas. Sie konnte es nicht sehen, aber spüren. Eine Macht - nein, zwei Mächte -, deren Atem die Blasen waren, die um sie herum emporstiegen, und deren Arme die Fesseln, die sie zum Sterben festhielten. Sie betrachtete wieder ihren Körper, der immer noch nach Luft schnappte. Ihre Beine strampelten irrwitzig im Wasser. Dazwischen ihre jungfräuliche Fotze. Sie empfand vorübergehend Trauer über Wonnen, die zu kosten sie nie den Mut aufgebracht und zu denen sie jetzt keine Gelegenheit mehr haben würde.

Verfluchte Närrin, daß sie Stolz höher als Empfindungen bewertet hatte. Eigendünkel kam ihr jetzt unsinnig vor. Sie hätte jeden Mann, der sie zweimal angesehen hatte, um den Akt bitten und erst aufgeben sollen, wenn einer ja gesagt hatte.

Das ganze System von Nerven, Öffnungen und Eiern, das unbenutzt sterben mußte. Diese Verschwendung war das einzige, das einer Tragödie gleichkam.

Sie sah wieder in die Dunkelheit der Spalte. Die beiden Mächte, die sie dort gespürt hatte, kamen immer noch näher.

Jetzt konnte sie sie sehen; vage Gestalten, gleich Flecken im Wasser. Eine war hell; jedenfalls heller als die andere. Aber eine andere Unterscheidung als diese konnte sie nicht treffen.

Gesichtszüge, so sie welche hatten, waren so verschwommen, daß man sie nicht erkennen konnte, und der Rest - Gliedmaßen und Leib - waren hinter Schwaden dunkler Blasen verborgen, die mit ihnen emporstiegen. Ihre Absicht freilich konnten sie 93

nicht verbergen. Diese begriff ihr Verstand nur allzu deutlich.

Sie kamen aus der Spalte, um sich das Fleisch zu holen, von dem ihr Denken mittlerweile barmherzigerweise getrennt war.

Sollten sie ihre Beute haben, dachte sie. Er war eine Last gewesen, dieser Körper, und sie war froh, daß sie ihn los war.

Die aufsteigenden Mächte hatten keinerlei Herrschaft über ihre Gedanken; und suchten auch keine. Ihr Begehren galt dem Fleisch, und beide wollten das vollständige Quartett. Weshalb sonst sollten sie miteinander ringen, verschlungene helle und dunkle Flecken, während sie emporstiegen, um sich die Körper zu holen?

Sie hatte sich zu früh frei gefühlt. Als die ersten Ausläufer der verschmolzenen Mächte ihren Fuß berührten, waren die kostbaren Augenblicke der Freiheit dahin. Sie wurde in ihren Schädel zurückgerufen, und die Tür ihres Kopfes schlug laut hinter ihr zu. Die echten Augen ersetzten das geistige Auge, Schmerzen und Panik die süße Gleichgültigkeit. Sie sah, wie die kriegführenden Geister sich um ihren Körper schlangen.

Sie war ein Splitter, der zwischen ihnen hin und her gezogen wurde, während sich beide bemühten, sie zu besitzen. Das Warum entzog sich ihrem Verständnis. Innerhalb von

Sekunden würde sie tot sein. Es war einerlei, welcher der beiden ihren Leichnam für sich beanspruchte, der Helle oder der Dunkle. Wenn sie ihr Geschlecht wollten - sie spürte selbst in den letzten Augenblicken ihr Wirken dort -, sollten sie nicht damit rechnen, daß ihre Lust erwidert wurde. Sie waren tot, alle vier.

Als die letzte Blase Atem aus ihrem Mund strömte, sah sie einen Sonnenstrahl. Konnte es sein, daß sie wieder hinauf stieg? Hatten sie eingesehen, daß ihr Körper für ihre Zwecke nichts taugte, und die Dicke freigegeben? Sie ergriff die Chance beim Schopf, so gering sie auch sein mochte, und stieß sich zur Oberfläche ab. Mit ihr zusammen stieg ein erneuter Schwall Luftblasen empor, der sie beinahe zur Luft

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hinaufzudrücken schien. Diese kam immer näher. Wenn es ihr gelang, nur noch einen Herzschlag lang bei Bewußtsein zu bleiben, würde sie vielleicht überleben.

Gott war ihr gnädig! Sie drang Kopf voraus durch die

Oberfläche. Spie Wasser aus und sog Luft ein. Ihre

Gliedmaßen waren gefühllos, aber eben die Mächte, die so bestrebt gewesen waren, sie nach unten zu ziehen, sorgten jetzt dafür, daß sie oben blieb. Nach drei oder vier Atemzügen wurde ihr bewußt, daß die anderen auch freigegeben worden waren. Sie würgten und plantschten um sie herum. Joyce schwamm bereits zum Ufer und zog Trudi mit sich. Arleen folgte ihnen. Der feste Boden war nur ein paar Meter entfernt.

Obwohl ihre Arme und Beine kaum funktionierten, legte Carolyn die Strecke zurück, bis alle vier stehen konnten. Mit von Schluchzen geschüttelten Körpern taumelten sie ans trockene Land. Und noch jetzt sahen sie hinter sich und hatten Angst, ihre Angreifer hätten beschlossen, ihnen ins Seichte zu folgen. Aber die Stelle in der Mitte des Sees war vollkommen ruhig.

Arleen wurde, noch ehe sie das Ufer erreichte, von Hysterie gepackt. Sie fing zu heulen und zu schlottern an. Niemand kam sie trösten. Sie hatten kaum genügend Energie, einen Fuß vor den anderen zu setzen, geschweige denn, welche zu vergeuden, um das Mädchen zu beruhigen. Arleen überholte Trudi und Joyce und war als erste auf dem Gras, ließ sich auf den Boden fallen, wo sie die Kleider liegengelassen hatte, und versuchte, ihre Bluse anzuziehen, wobei sie um so heftiger schluchzte, weil sie die Ärmelöffnungen nicht fand. Einen Meter vom Ufer entfernt sank Trudi auf die Knie und übergab sich. Carolyn hielt sich abseits von ihr, gegen den Wind, denn sie wußte, ein Hauch Erbrochenes, und sie würde ihrem Beispiel folgen. Es war ein vergebliches Unterfangen. Die Würgelaute waren ein ausreichendes Stichwort. Sie spürte, wie sich ihr Magen umdrehte; dann bemalte sie das Gras kotzgrün und

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eiscremefarben.

Obwohl sich die Szene, die er beobachtete, vom Erotischen zum Entsetzlichen und zuletzt zum Ekelerregenden gewandelt hatte, konnte William Witt den Blick nicht davon abwenden.

Er würde den Anblick der Mädchen, die aus dem Wasser

herauskamen, in dem er sie ertrunken wähnte, und von ihren Anstrengungen, oder durch Druck von unten, so heftig

emporgestoßen wurden, daß ihre Brüste wogten, bis an sein Lebensende nicht vergessen.

Jetzt war das Wasser, das sie fast geholt hatte, ruhig. Kein Wögchen bewegte sich; keine Blase stieg zur Oberfläche. Und doch - konnte er bezweifeln, daß sich vor seinen Augen etwas anderes als ein Unfall abgespielt hatte? Etwas Lebendes war in dem See. Die Tatsache, daß er lediglich dessen Auswirkungen gesehen hatte - das Rudern, das Schreien - und nicht das Ding selbst, erschütterte ihn bis ins Mark. Und er würde die Mädchen auch niemals fragen können, welcher Art ihr

Angreifer gewesen war. Er war allein mit dem, was er gesehen hatte.

Zum ersten Mal in seinem Leben lag die selbstgewählte Rolle des Voyeurs schwer auf ihm. Er schwor sich, daß er nie wieder jemandem nachspionieren würde. Es war ein Schwur, den er einen Tag hielt, dann brach er ihn.

Was dieses Ereignis betraf, davon hatte er genug. Von den Mädchen konnte er nur noch die Umrisse von Hüften und Po-backen sehen, da sie im Gras lagen. Und nachdem das

Erbrechen vorbei war, hörte er nur noch Weinen.

Er schlich sich, so leise er konnte, davon.

Joyce hörte ihn. Sie richtete sich im Gras auf.

»Jemand beobachtet uns«, sagte sie.

Sie betrachtete das sonnenbeschienene Blattwerk, das sich erneut bewegte. Nur der Wind, der durch die Blätter strich.

Arleen war es endlich gelungen, in die Bluse zu schlüpfen.

Sie saß da und hatte die Arme um sich geschlungen. »Ich will 96

sterben«, sagte sie.

»Nein«, sagte Trudi. »Dem sind wir gerade entgangen.«

Joyce legte wieder die Hände vors Gesicht. Die Tränen, die sie besiegt zu haben glaubte, kamen wieder, eine Sturzflut.

»Was, in Gottes Namen, ist geschehen?« sagte sie. »Ich dachte, es wäre nur... Regenwasser.«

Carolyn lieferte die Antwort, ihre Stimme war beherrscht, zitterte aber.

»Unter der ganzen Stadt sind Höhlen«, sagte sie. »Sie müssen während des Sturms mit Wasser vollgelaufen sein. Wir sind über den Schlund von einer geschwommen.«

»Es war so dunkel«, sagte Trudi. »Habt ihr nach unten gesehen?«

»Da war noch etwas«, sagte Arleen. »Außer der Dunkelheit.

Etwas im Wasser.«

Als Antwort darauf wurde Joyce' Schluchzen noch heftiger.

»Ich habe nichts gesehen«, sagte Carolyn. »Aber gespürt.«

Sie sah Trudi an. »Wir haben es alle gespürt, oder nicht?«

»Nein«, sagte Trudi kopfschüttelnd. »Es waren Strömungen aus den Höhlen.«

»Es hat versucht, mich zu ertränken«, sagte Arleen.

»Nur Strömungen«, beharrte Trudi. »Ist mir auch vorher passiert, am Ufer. Strömungen. Haben mir den Boden unter den Füßen weggezogen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Arleen unverblümt.

»Warum belügst du dich selbst? Wir wissen alle, was wir gespürt haben.«

Trudi sah sie stechend an.

»Und was war das?« fragte sie. »Genau.«

Arleen schüttelte den Kopf. Mit dem am Kopf klebenden Haar und dem verschmierten Rouge sah sie ganz und gar nicht mehr wie die Ballkönigin von vor zehn Minuten aus.

»Ich weiß nur, daß es keine Strömung war«, sagte sie. »Ich habe Gestalten gesehen. Zwei Gestalten. Keine Fische. Über-97

haupt keine Fische.« Sie sah von Trudi weg und zwischen ihre Beine. »Ich habe gespürt, wie sie mich angefaßt haben«, sagte sie erschauernd. »Innen drin angefaßt.«

»Sei still!« brauste Joyce plötzlich auf. »Sprich es nicht aus.«

»Es stimmt, oder nicht?« entgegnete Arleen. »Oder nicht?«

Sie sah wieder auf. Zuerst zu Joyce, dann zu Carolyn; schließ-

lich zu Trudi, die nickte.

»Was immer da draußen ist, hat uns gewollt, weil wir Frauen sind.«

Joyce' Schluchzen schwang sich in neue Höhen empor.

»Sei still«, fauchte Trudi. »Wir müssen darüber nachdenken.«

»Was gibt es da nachzudenken?« sagte Carolyn.

»Zunächst einmal, was wir sagen wollen«, antwortete Trudi.

»Wir sagen, wir waren schwimmen...«, begann Carolyn.

»Und dann?«

»... wir waren schwimmen und...«

»Etwas hat uns angegriffen? Hat versucht, in uns einzudringen? Etwas nicht Menschliches?«

»Ja«, sagte Carolyn. »Das ist die Wahrheit.«

»Sei nicht so dumm«, sagte Trudi. »Sie würden uns ausla-chen.«

»Es ist trotzdem die Wahrheit«, beharrte Carolyn.

»Glaubst du, das spielt eine Rolle? Sie werden sagen, daß wir schön blöd waren, überhaupt erst schwimmen zu gehen.

Dann werden sie sagen, daß wir einen Krampf bekommen

haben, oder so etwas.«

»Sie hat recht«, sagte Arleen.

Aber Carolyn klammerte sich an ihre Überzeugung. »Angenommen, jemand anders kommt hierher?« sagte sie. »Und der Vorfall wiederholt sich. Oder sie ertrinken. Nehmen wir an, sie ertrinken. Dann wären wir schuld.«

»Wenn es Regenwasser ist, wird es in ein paar Tagen wieder 98

versickert sein«, sagte Arleen. »Wenn wir etwas sagen, werden wir zum Ortsgespräch. Wir würden es nie überwinden. Es würde uns unser restliches Leben verderben.«

»Führ dich nicht wie eine Schauspielerin auf«, sagte Trudi.

»Keine wird etwas machen, dem wir nicht alle vier zugestimmt haben. Ja? Ja, Joyce?« Joyce gab ein ersticktes Schluchzen der Zustimmung von sich. »Carolyn?«

»Meinetwegen«, lautete die Antwort.

»Wir müssen uns nur auf eine Version einigen.«

»Wir sagen gar nichts«, antwortete Arleen.

»Nichts?« sagte Joyce. »Sieh uns doch an.«

»Nie erklären. Nie entschuldigen«, murmelte Trudi.

»Hm?«

»Das sagt mein Daddy immer.« Der Gedanke, daß dies eine Familienphilosophie war, schien sie aufzumuntern. »Nie erklä-

ren...«

»Wir haben es gehört«, sagte Carolyn.

»Also sind wir uns einig«, fuhr Arleen fort. Sie stand auf und kramte ihre restlichen Kleidungsstücke vom Boden zusammen.

»Wir behalten es alle für uns.«

Niemand erhob noch einen Einwand. Sie griffen Arleens Hinweis auf und zogen sich alle an, dann gingen sie zur Straße zurück und überließen den See seinen Geheimnissen und seiner Stille.

99

II

l

Zuerst geschah überhaupt nichts. Sie hatten nicht einmal Alpträume. Lediglich eine angenehme Mattigkeit, bei der es sich wahrscheinlich um die Nachwirkungen handelte, daß sie dem Tod so nahe gewesen und ihm entkommen waren. Sie verheim-lichten ihre Blutergüsse, gingen ihren Belangen nach und be-wahrten ihr Geheimnis.

In gewisser Weise bewahrte es sich selbst. Sogar Arleen, die ihr Entsetzen angesichts des intimen Überfalls, dem sie alle ausgesetzt waren, als erste ausgedrückt hatte, fand rasch ein sonderbares Vergnügen an der Erinnerung, das sie sich nicht einzugestehen wagte, auch den anderen dreien gegenüber nicht.

Sie sprachen überhaupt wenig miteinander. Was auch nicht nötig war. Dieselbe seltsame Überzeugung wuchs in allen: daß sie, auf eine außergewöhnliche Weise, die Auserwählten waren. Aber lediglich Trudi, die schon immer einen Hang zum Messianischen gehabt hatte, hätte die Empfindung mit diesem Wort bedacht. Für Arleen war die Empfindung lediglich eine Bestätigung dessen, was sie schon immer gewußt hatte: daß sie ein einmalig glamouröses Geschöpf war, für das die Regeln, nach denen der Rest der Welt zu leben hatte, nicht galten. Für Carolyn bedeutete es ein neues Selbstbewußtsein, das ein schwaches Echo der Offenbarungen war, die sie im Angesicht ihres bevorstehenden Todes gehabt hatte: daß jede Stunde, in der man seinen Gelüsten nicht folgte, vergeudet war. Für Joyce war die Empfindung noch einfacher. Sie war für Randy

Krentzman vom Tod errettet worden.

Sie vergeudete keine Zeit damit, ihm ihre Leidenschaft kundzutun. Am Tag nach den Geschehnissen am See fuhr sie direkt zum Haus der Krentzmans in Stillbrook und erklärte ihm mit den einfachsten Worten, daß sie ihn liebte und die Absicht 100

habe, mit ihm zu schlafen. Er lachte nicht. Er sah sie einfach nur bestürzt an, dann fragte er sie etwas verlegen, ob sie einander denn kennen würden. Früher hatte es ihr praktisch das Herz gebrochen, wenn er sie vergessen hatte. Aber etwas hatte sich in ihr verändert. Sie war nicht mehr so empfindlich. Ja, sagte sie zu ihm, du kennst mich. Wir sind einander schon ein paarmal begegnet. Aber es ist mir gleich, ob du dich an mich erinnerst oder nicht. Ich liebe dich, und ich will alles tun, damit du mit mir ins Bett gehst. Während sie das sagte, sah er sie mit offenem Mund an, dann sagte er: Das ist ein Witz, richtig?

Worauf sie antwortete, daß es ganz und gar kein Witz und ihr vielmehr jedes Wort ernst war, und da der Tag warm und das Haus leer war, abgesehen von ihnen beiden, gab es eine bessere Gelegenheit als jetzt?

Seine Verblüffung hatte die Libido Krentzmans nicht beeinträchtigt. Obwohl er nicht verstand, warum sich dieses Mädchen gratis anbot, ergab sich so eine Gelegenheit zu selten, als daß er sie einfach hätte ungenützt lassen können.

Daher akzeptierte er mit dem Gebaren eines Jungen, dem solche Angebote tagtäglich gemacht werden. Sie verbrachten den Nachmittag zusammen und führten den Akt nicht nur einmal, sondern gleich dreimal aus. Sie verließ das Haus gegen Viertel nach fünf und machte sich mit dem Gefühl auf den Heimweg durch den Grove, daß ein Bedürfnis gestillt worden war. Es war keine Liebe. Er war dumm, egoistisch und ein schlechter Liebhaber. Aber er hatte an diesem Nachmittag möglicherweise Leben in sie gepflanzt, oder wenigstens seinen Teelöffel voll Substanz zur Alchemie beigetragen, und mehr hatte sie eigentlich gar nicht von ihm gewollt. Sie hinterfragte diese Veränderung der Prioritäten nicht. Ihr Verstand war kristallklar, was die Notwendigkeit der Befruchtung betraf. Der Rest des Lebens, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, war verschwommen.

Gleich am nächsten Morgen, nachdem sie tiefer als seit 101

Jahren geschlafen hatte, rief sie ihn an und schlug eine zweite Liaison vor, noch an eben diesem Nachmittag. War ich so gut?

fragte er. Sie sagte ihm, daß er besser als gut war; er war ein Hengst; sein Schwanz das achte Weltwunder. Er stimmte bereitwillig zu, sowohl den Schmeicheleien wie auch der Verabredung.

Es sollte sich erweisen, daß sie in der Wahl ihres Partners möglicherweise die glücklichste des Quartetts gewesen war. So eitel und dumm Krentzman war, er war auch harmlos und auf seine unzulängliche Art zärtlich. Der Drang, der Joyce in sein Bett trieb, wirkte mit gleicher Heftigkeit in Arleen, Trudi und Carolyn, trieb die anderen aber in nicht so konventionelle Beziehungen.

Carolyn machte einem Edgar Lott ihre Avancen, einem

Mann Mitte Fünfzig, der im vergangenen Jahr in das Haus gegenüber dem ihrer Eltern eingezogen war. Kein Nachbar hatte sich mit ihm angefreundet. Er war ein Einzelgänger und hatte lediglich die Gesellschaft von zwei Dackeln. Das sowie die Tatsache, daß er nie Damenbesuch erhielt und bei seiner Kleidung stets sorgfältig auf Farbabstimmung achtete -

Taschentuch, Krawatte und Socken waren stets im selben Pastellton gehalten -, führte zur allgemeinen Vermutung, daß er homosexuell war. Doch so naiv Carolyn auch hinsichtlich der Einzelheiten des Geschlechtsverkehrs war, diesbezüglich kannte sie ihn besser als ihre Eltern. Sie hatte mehrmals bemerkt, wie er sie ansah, und ihr Instinkt hatte ihr gesagt, daß seine Blicke mehr als Hallo bedeuteten. Sie lauerte ihm auf, als er mit den Dackeln seinen morgendlichen Spaziergang machte, begleitete ihn und fragte dann - nachdem die Hunde ihr Revier für den heutigen Tag gekennzeichnet hatten -, ob sie vielleicht mit ihm nach Hause kommen könnte. Später sagte er ihr, daß seine Absichten durchaus ehrenhaft gewesen waren und er sie nicht angerührt haben würde, hätte sie sich nicht buchstäblich auf ihn gestürzt und seine Zuwendung gleich auf dem

102

Küchentisch verlangt. Aber wie hätte er so ein Angebot ab-lehnen können?

Wenngleich sie, was Altersunterschied und Anatomie anbetraf, kaum zusammenpaßten, begattete er sie mit einer ungeahnten Heftigkeit, und dabei gerieten die beiden Dackel in einen Taumel der Eifersucht, kläfften und jagten den eigenen Schwänzen hinterher, bis sie völlig erschöpft waren. Nach dem ersten Mal sagte er ihr, daß er in den sechs Jahren seit dem Tod seiner Frau keine andere Frau angerührt hatte, und das hatte ihn zum Alkohol getrieben. Auch sie war eine Frau gewesen, die wußte, was sie wollte. Als er von ihrer Leidenschaft sprach, wurde sein Glied wieder steif. Sie machten es noch einmal.

Diesmal schliefen die Hunde nur.

Anfangs funktionierte die Beziehung hervorragend. Keiner war im mindestens abschätzend, wenn es ans Ausziehen ging; keiner vergeudete Zeit damit, die Schönheit des anderen zu betonen, was ohnedies lächerlich geklungen haben würde; keiner tat so, als wäre es für immer. Sie kamen zusammen, um das zu tun, wozu die Natur ihre Körper geschaffen hatte, und das Drumherum war ihnen egal. Keine Romantik bei

Kerzenschein. Sie besuchte Mr. Lott, wie sie ihn in Gegenwart ihrer Eltern nannte, Tag für Tag, nur um sein Gesicht, kaum hatte sie die Tür hinter sich zugemacht, zwischen den Brüsten zu haben.

Edgar konnte sein Glück kaum fassen. Daß sie ihn verführt hatte, war schon außergewöhnlich genug - nicht einmal in seiner Jugend hatte ihm eine Frau jemals dieses Kompliment gemacht; daß sie immer wieder zu ihm zurückkam und erst dann von ihm ablassen konnte, wenn der Akt bis zur

Erschöpfung ausgeführt worden war, grenzte ans Wunderbare.

Es überraschte ihn daher nicht, als sie ihre Besuche nach zwei Wochen und vier Tagen einstellte. Er war ein wenig traurig, aber nicht überrascht. Nachdem sie eine Woche nicht mehr bei ihm gewesen war, traf er sie auf der Straße und fragte sie, ob 103

sie ihr kleines Techtelmechtel nicht wieder aufnehmen könnten? Sie sah ihn seltsam an und sagte dann nein. Er wollte keine Erklärung, aber sie gab ihm trotzdem eine. Ich brauche dich nicht mehr, sagte sie heiter und tätschelte ihren Bauch.

Erst später, als er mit dem dritten Bourbon in der Hand in seinem muffigen Haus saß, wurde ihm klar, was die Worte und die Geste bedeutet hatten. Danach brauchte er einen vierten und fünften. Der Rückfall in alte Gewohnheiten folgte nur allzu schnell. Er bemühte sich zwar sehr, keine Sentimentalität aufkommen zu lassen, aber jetzt - wo das dicke Mädchen nicht mehr kam - wurde ihm klar, daß sie ihm das Herz gebrochen hatte.

Solche Probleme hatte Arleen nicht. Der Weg, den sie einschlug, um demselben unausgesprochenen Zwang wie die

anderen zu folgen, führte sie in die Gesellschaft von Männern, die das Herz nicht in der Brust hatten, sondern in

Preußischblau auf den Unterarm tätowiert. Für sie fing es, wie für Joyce, gleich am Tag an, nachdem sie beinahe ertrunken wären. Sie zog sich die besten Sachen an, stieg ins Auto ihrer Mutter und fuhr zum Eclipse Point, einem schmalen

Strandabschnitt nördlich von Zuma, der für seine Bars und seine Rocker berüchtigt war. Es überraschte die Bewohner dieser Gegend nicht, ein reiches Mädchen in ihrer Mitte zu sehen. Solche Typen kamen ständig von ihren Luxushäusern herunter, um das Leben in der Gosse zu kosten oder sich vom Leben in der Gosse kosten zu lassen. Normalerweise reichten ein paar Stunden, dann zogen sie sich wieder dorthin zurück, wo der engste Kontakt mit der Unterschicht der mit ihrem Chauffeur war.

Der Point hatte in seinen besten Tagen eine Menge

berühmter Gesichter inkognito kommen sehen, die sich eine Weile in seinen Niederungen tummeln wollten. Jimmy Dean war in seinen wildesten Zeiten Stammgast gewesen und hatte nach Rauchern gesucht, die einen menschlichen Aschenbecher 104

wollten. In einer Bar stand ein Billardtisch, der dem Andenken von Jayne Mansfield gewidmet war, die angeblich einen Akt darauf ausgeübt haben soll, von dem man auch heute noch nur in ehrfürchtigem Flüstern sprach. In einer anderen war der Umriß einer Frau in den Dielenboden geschnitzt, die behauptet hatte, daß sie Veronica Lake war und an eben dieser Stelle sturzbetrunken zusammengebrochen war. Daher folgte Arleen einem gut ausgetretenen Weg von den Hochburgen des Luxus in eine schäbige Bar, für die sie sich schlichtweg ihres Namens wegen entschied: The Slick. Aber anders als viele ihrer Vorgängerinnen mußte sie nicht einmal einen Drink als Vorwand für ihre Fleischeslust bestellen. Sie bot sich einfach an. Und sie fand jede Menge Freier, unter denen sie keinerlei Auswahl traf. Wer wollte, der konnte auch.

Am nächsten Abend kam sie wieder, und am übernächsten auch; sie ließ keinen Blick von ihren Liebhabern, als wäre sie süchtig nach ihnen. Aber nicht alle nutzten die Gelegenheit.

Nach der ersten Nacht betrachteten viele sie mit Argwohn und kamen zur Überzeugung, daß solche Freizügigkeit nur von Wahnsinnigen oder Kranken dargeboten wurde. Andere ent-deckten ritterliche Züge in sich und versuchten, sie vom Boden wegzulocken, bevor das Pack am Ende der Schlange zum Zug kam. Im Falle eines solchen Eingreifens jedoch protestierte sie lautstark und heftig und bat, man möge sie in Ruhe gewähren lassen. Dann zogen sie sich zurück. Manche stellten sich sogar noch einmal in die Schlange.

Carolyn und Joyce gelang es, ihre Affären für sich zu behalten, aber Arleens Verhalten konnte nicht ewig unentdeckt bleiben. Nachdem sie eine Woche lang das Haus spätabends verlassen hatte und erst im Morgengrauen zurückgekehrt war -

eine Woche, in der sie auf Fragen nach ihrem Verbleib lediglich mit befremdeten Blicken reagierte, als wüßte sie es selbst nicht genau, beschloß Lawrence Farrell, ihr Vater, ihr zu folgen. Er betrachtete sich als liberalen Vater, aber wenn seine 105

Prinzessin in schlechte Gesellschaft geriet - möglicherweise Footballspieler oder Hippies -, würde er sich vielleicht verpflichtet fühlen, ihr einen guten Rat zu geben. Sie fuhr wie eine Besessene aus dem Grove hinaus, und er mußte den Fuß auf dem Gaspedal halten, um nur eine angemessene Entfernung beibehalten zu können. Eine oder zwei Meilen vor dem Strand verlor er sie. Er mußte eine Stunde lang die Parkplätze absuchen, bis er das Auto gefunden hatte, das vor dem Slick parkte. Der Ruf dieser Bar war an seine liberalen Ohren gedrungen. Er trat ein und hatte dabei Angst um sein Jackett und die Brieftasche. Drinnen herrschte ein gewaltiges Toben; ein Ring johlender Männer, biersaufende Tiere mit Haaren bis über den Rücken, drängten sich um eine Darbietung am

anderen Ende der Bar. Arleen war nirgends zu sehen. Er war überzeugt, daß er sich geirrt hatte - wahrscheinlich schlenderte sie nur am Strand entlang und beobachtete die Brandung -, und wollte gerade wieder gehen, als jemand den Namen seiner Prinzessin sang.

»Arleen! Arleen!«

Er drehte sich um. Sah sie auch bei der Darbietung zu? Er drängte sich durch die Zuschauermenge. In deren Mitte fand er seine bildhübsche Tochter. Jemand schüttete ihr Bier in den Mund, während er gleichzeitig den Akt mit ihr ausführte, der der Alptraum aller Väter ist, wenn sie an ihre Töchter denken, es sei denn, sie trieben es in ihrer Fantasie selbst mit ihnen.

Wie sie unter diesem Mann lag, sah sie wie ihre Mutter aus; oder besser gesagt, wie ihre Mutter vor so langer Zeit, als sie ihn noch hatte erregen können. Sie grinste und schlug um sich und war verrückt nach dem Mann auf ihr. Lawrence schrie Arleens Namen und trat nach vorne, um den Hundsfott von ihr zu ziehen. Jemand sagte ihm, er sollte gefälligst warten, bis er an der Reihe war. Er verpaßte dem Mann eine auf den Kiefer, ein Schlag, der den Pisser in die Zuschauer schleuderte, von denen viele die Hosen offen hatten und erigierte Glieder 106

präsentierten. Der Bursche spie einen Schwall Blut aus und warf sich auf Lawrence, der, während er auf die Knie

geschlagen wurde, immer wieder beteuerte, daß dies seine Tochter war, seine Tochter... großer Gott, seine Tochter. Er hörte erst auf, als sein Mund keine Worte mehr hervorbringen konnte. Und selbst dann versuchte er noch, zu Arleen zu kriechen und sie mit Prügeln zur Besinnung zu bringen. Aber ihre Bewunderer zerrten ihn einfach hinaus und warfen ihn in den Straßengraben. Dort lag er eine Weile, bis er die Energie aufbrachte, sich zu erheben. Er schleppte sich zum Auto zurück, wo er mehrere Stunden wartete und manchmal weinte, bis Arleen herauskam.

Seine Blutergüsse und das blutige Hemd schienen sie nicht zu berühren. Als er ihr sagte, daß er gesehen hatte, was sie tat, legte sie den Kopf ein wenig schief, als wüßte sie nicht genau, wovon er sprach. Er befahl ihr, in sein Auto einzusteigen. Sie gehorchte widerspruchslos. Sie fuhren schweigend nach Hause.

An diesem Tag wurde nichts gesprochen. Sie blieb in ihrem Zimmer und hörte Radio, während Lawrence mit dem Anwalt sprach, ob man das Slick nicht schließen könnte, mit den Polizisten, damit ihre Vergewaltiger zur Rechenschaft gezogen wurden, und mit seinem Psychiater, was er falsch gemacht hatte. An diesem Abend ging sie wieder weg, schon beizeiten, oder versuchte es zumindest. Er stellte sich ihr jedoch vor der Tür in den Weg, und die Vorwürfe, die gestern nacht ungesagt geblieben waren, setzten ein. Sie sah ihn die ganze Zeit nur mit glasigen Augen an. Ihre Gleichgültigkeit erboste ihn. Sie kam nicht mit hinein, als er sie dazu aufforderte, und sagte ihm auch nicht, was ihr Verhalten zu bedeuten hatte. Seine Besorgtheit wurde zu Wut, seine Stimme wurde lauter, die Worte

ausfälliger, bis er sie mit voller Lautstärke eine Hure nannte und überall am Crescent Vorhänge beiseite geschoben wurden.

Schließlich war er vor Wut oder Verständnislosigkeit geblendet und schlug sie; und er hätte sie vielleicht ernsthaft verletzt, 107

wäre Kate nicht eingeschritten. Arleen wartete nicht. Nachdem ihr tobender Vater in der Obhut ihrer Mutter war, lief sie weg und fuhr per Anhalter zum Strand hinunter.

In dieser Nacht fand eine Razzia im Slick statt. Es gab einundzwanzig Festnahmen, hauptsächlich wegen

unbedeutender Drogenverstöße, und die Bar wurde

dichtgemacht. Als die Polizisten die Bar stürmten, fanden sie Lawrence Farrells Tochter bei derselben Schieb-und-stoß-

Nummer, die sie seit einer Woche allnächtlich abzog. Das war eine Sensation, die nicht einmal Lawrence' plumpe

Bestechungsversuche aus den Zeitungen heraushalten konnten.

Sie wurde zur häufigsten Lektüre entlang der Küste. Arleen wurde zu einer medizinischen Untersuchung ins Krankenhaus gebracht. Man fand heraus, daß sie zwei durch Verkehr übertragene Infektionen und eine Geschlechtskrankheit hatte, dazu innere Verletzungen und Aufschürfungen, die ihr exzessiver Verkehr zwangsläufig mit sich bringen mußte. Aber sie war wenigstens nicht schwanger. Lawrence und Kathleen Farrell dankten dem Herrn für diese kleine Gunst.

Die Enthüllungen über Arleens Ausflüge ins Slick führten überall in der Stadt zu verschärften elterlichen Kontrollen.

Selbst in East Grove waren deutlich weniger Jugendliche nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen zu sehen. Heimliche Romanzen wurden immer schwerer zu bewerkstelligen. Auch Trudi, die letzte der vier, mußte ihren Partner bald aufgeben, obwohl sie eine beinahe perfekte Tarnung für ihre Aktivitäten gefunden hatte: Religion. Sie hatte den Verstand besessen, einen gewissen Ralph Contreras zu verführen, einen Mischling, der als Gärtner für die lutheranische Kirche ›Prince of Peace‹

in Laureltree arbeitete und so sehr stotterte, daß er nach praktischen Gesichtspunkten so gut wie stumm war. Ihr gefiel er so. Er führte aus, wozu sie ihn brauchte, und hielt den Mund.

Alles in allem der perfekte Liebhaber. Nicht, daß ihr viel an seiner Technik lag, wenn er heroisch den Mann für sie spielte.

108

Er war lediglich Mittel zum Zweck. Wenn er seine Pflicht Genüge getan hatte - ihr Körper würde ihr sagen, wenn dieser Augenblick gekommen war -, würde sie keinen Gedanken

mehr an ihn verschwenden. Sagte sie sich jedenfalls.

Aufgrund von Arleens Indiskretion sollten aber sämtliche Affären - einschließlich der Trudis - rasch ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Für sie wäre es wahrscheinlich einfach gewesen, ihre Beziehung zu Ralph dem Stummen zu

vergessen, aber nicht so für Palomo Grove.

2

Die Zeitungsartikel über das skandalöse geheime Leben der Kleinstadtschönheit Arleen Farrell waren so offen, wie es die Rechtsabteilungen der Zeitungen zuließen, aber die

Einzelheiten mußten der Gerüchteküche überlassen werden.

Ein kleiner Schwarzmarkt mit angeblichen Fotos der Orgie erwies sich als lukrativ, obwohl die Bilder so unscharf waren, daß man unmöglich sagen konnte, ob sie das tatsächliche Ereignis zeigten. Auf die Familie selbst - Lawrence, Kate, Schwester Jocelyn und Bruder Craig - wurde ebenfalls ein grelleres Licht geworfen. Leute, die auf der anderen Seite des Grove wohnten, nahmen beim Einkaufen Umwege in Kauf, um durch den Crescent und an dem ruchlosen Haus

vorbeizufahren. Craig mußte von der Schule genommen

werden, weil seine Mitschüler ihn wegen seiner schmutzigen großen Schwester unbarmherzig hänselten; Kate steigerte ihren Konsum an Beruhigungsmitteln, bis sie jedes Wort mit mehr als zwei Silben nuschelte. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Drei Tage nachdem Arleen in der Rockerkneipe

aufgegriffen worden war, wurde im Chronicle ein Interview abgedruckt, das angeblich mit einer von Arleens Kranken-schwestern geführt worden war. Dort stand zu lesen, daß sich 109

die Tochter der Farrells in einer sexuellen Tollheit befand, eine Obszönität nach der anderen aussprach und nur still war, um Tränen der Frustration zu weinen. Das an sich war schon hinreichend Stoff für Nachrichten. Aber, so stand in dem Interview weiter zu lesen, die Krankheit der Patientin ging weiter als eine überreizte Libido. Arleen Farrell glaubte, daß sie besessen war.

Ihre Geschichte, die sie erzählte, war weitschweifig und bizarr. Sie und drei Freundinnen waren in einem See in der Nähe von Palomo Grove schwimmen gegangen und von etwas angegriffen worden, das in sie alle eingedrungen war. Diese ungestüme Wesenheit hatte von Arleen und - wahrscheinlich - ihren Freundinnen verlangt, daß sie sich von einem beliebigen Mann schwängern ließen, der dafür zur Verfügung stand. Daher ihre Abenteuer im Slick. Der Teufel in ihrer Gebärmutter hatte lediglich in dieser üblen Gesellschaft nach einem Surrogatvater gesucht.

Der Artikel wurde ohne eine Spur Ironie präsentiert; der Text von Arleens sogenannter Beichte war auch ohne

editorische Aufarbeitung hinreichend bizarr. Nur die Blinden und Analphabeten im Grove wußten die Enthüllungen nicht zu deuten. Niemand glaubte, daß die Behauptungen auch nur ein Fünkchen Wahrheit enthielten, abgesehen von den Familien der Freundinnen, mit denen Arleen am Samstag, dem 28. Juli unterwegs gewesen war. Obwohl sie Joyce, Carolyn und Trudi nicht beim Namen nannte, wußte jeder, daß die vier dicke Freundinnen waren. Niemand, der Arleen auch nur flüchtig kannte, konnte Zweifel daran haben, wen sie mit in ihre satanischen Hirngespinste verwickelt hatte.

Es wurde rasch offensichtlich, daß die Mädchen vor den Folgen von Arleens lächerlichen Behauptungen geschützt werden mußten. In den Haushalten der McGuires, Katz' und Hotchkiss'

fand, abgesehen von einigen Ausschmückungen, dieselbe Unterhaltung statt.

110

Die Eltern fragten: »Möchtest du den Grove eine Weile verlassen, bis sich das Schlimmste gelegt hat?«

Worauf das Kind antwortete: »Nein, mir geht es gut. Es ging mir noch nie besser.«

»Bist du sicher, daß es dich nicht zu sehr mitnimmt,

Liebes?«

»Sehe ich mitgenommen aus?«

»Nein.«

»Dann bin ich es auch nicht.«

So ausgeglichene Kinder, dachten die Eltern, daß sie angesichts der Tragödie des Wahnsinns einer guten Freundin so ruhig bleiben konnten; sind sie nicht eine Zierde für uns?

Ein paar Wochen lang waren sie genau das: Mustertöchter, die sich den Belastungen ihrer Situation mustergültig gewachsen zeigten. Dann aber geriet das perfekte Bild ins Wanken, als Besonderheiten in ihren Verhaltensmustern deutlich wurden. Es waren schleichende Veränderungen, die vielleicht noch länger unbemerkt geblieben wären, hätten die Eltern nicht so fürsorglich über ihre Babys gewacht. Zuerst fiel den Eltern auf, daß ihre Nachkommen einen seltsamen

Tagesablauf entwickelten; sie schliefen nachmittags und schritten um Mitternacht auf und ab. Veränderte

Eßgewohnheiten wurden offensichtlich. Selbst Carolyn, die bekanntermaßen nie etwas Eßbares abgelehnt hatte,

entwickelte eine beinahe pathologische Abneigung gegen bestimmte Speisen, speziell Meeresfrüchte. Die Ausgeglichenheit der Mädchen war dahin. Sie wurde von Launen ersetzt, die vom Einsilbigen zum Geschwätzigen und vom Eisigen zum Hingebungsvollen reichten. Betty Katz schlug als erste vor, daß ihre Tochter den Hausarzt aufsuchen sollte. Trudi erhob keinerlei Einwände. Sie schien auch nicht im geringsten überrascht zu sein, als ihr der Arzt bestätigte, daß sie bei bester Gesundheit war; und schwanger.

Carolyns Eltern kamen als nächste zu dem Ergebnis, daß das 111

geheimnisvolle Verhalten ihres Sprößlings eine medizinische Untersuchung erforderlich machte. Sie erhielten dieselben Neuigkeiten, mit dem Zusatz, wenn Carolyn die Absicht hätte, das Kind auszutragen, wäre es ratsam, wenn die künftige Mutter dreißig Pfund abnahm.

Wenn noch Hoffnungen gehegt wurden, daß diese

Diagnosen nicht auf einen bestimmten Zusammenhang

hinausliefen, so wurden diese Hoffnungen durch den dritten und letzten Beweis zunichte gemacht. Joyce McGuires Eltern hatten sich die Mittäterschaft ihrer Tochter an diesem Skandal nicht eingestehen wollen, aber schließlich bestanden auch sie auf einer Untersuchung ihrer Tochter. Sie war, wie Carolyn und Trudi, bei bester Gesundheit. Und sie war schwanger.

Diese Neuigkeiten verlangten nach einer Neubewertung von Arleen Farrells Aussage. War es möglich, daß sich hinter ihrem irren Stammeln ein Fünkchen Wahrheit verbarg?

Die Eltern setzten sich zusammen und redeten miteinander.

Gemeinsam erarbeiteten sie eine Theorie, die logisch klang.

Die Mädchen hatten eindeutig eine Art Abmachung getroffen.

Sie hatten - aus nur ihnen allein bekannten Gründen -

beschlossen, schwanger zu werden. Dreien war es gelungen.

Arleen nicht, und das hatte das ohnehin überspannte Mädchen in die Fänge eines Nervenzusammenbruchs gestürzt. Die Probleme, denen sie sich jetzt gegenübersahen, waren

dreifacher Natur. Als erstes mußten sie die künftigen Väter finden und wegen ihrer sexuellen Gefügigkeit verklagen. Als zweites mußten sie die Schwangerschaften so schnell und sicher wie möglich abbrechen. Als drittes mußten sie die ganze Sache so geheim wie möglich halten, damit der Ruf der drei Familien nicht ebenso litt wie der der Farrells, die die rechtschaffenen Einwohner des Grove mittlerweile wie Parias behandelten.

Sie scheiterten bei allen dreien. Im Falle der Väter schon aus dem Grund, weil keines der Mädchen, nicht einmal unter 112

elterlichem Druck, den Namen des Missetäters preisgeben wollte. Im Falle der Abtreibungen gleichermaßen, weil sich die Kinder standhaft weigerten, sich zu etwas zwingen zu lassen, das zu erreichen sie soviel Mühe und Schweiß gekostet hatte.

Und zuletzt im Falle der Geheimhaltung, weil solche Skandale das Licht lieben, und daher war lediglich eine indiskrete Arzthelferin erforderlich, damit die Journalisten neuerlichen Spuren von Missetaten nachschnüffelten.