»Das Testament. Die Frauen. Die unehelichen Kinder, die aus dem Nichts auftauchen werden. Er hat mir am Ende doch noch eine seiner verdammten Jahrmarktsüberraschungsfahrten verpaßt.« Ihre Worte waren voller Emotion, aber sie sprach sie dennoch gelassen aus. »Jetzt können Sie nach Hause gehen und das alles in unsterbliche Prosa verwandeln.«

»Ich bleibe in der Stadt«, sagte Grillo. »Bis der Leichnam Ihres Mannes gefunden wird.«

»So weit kommt es nicht«, antwortete Rochelle. »Sie haben die Suche abgebrochen.«

»Was?«

»Spilmont war hier, um es mir zu erklären. Sie haben schon fünf Männer verloren. Anscheinend ist die Chance, ihn zu finden, sowieso gering. Das Risiko lohnt sich nicht.«

»Bekümmert Sie das?«

»Daß ich keinen Leichnam zu begraben habe? Nein,

eigentlich nicht. Besser, man erinnert sich an ihn, wie er lachte, als einen Leichnam aus einem Erdloch zu hieven. Sie sehen, hier ist Ihre Geschichte zu Ende. Sie werden in Hollywood einen Gedenkgottesdienst für ihn abhalten. Der Rest ist, wie 206

man so sagt, Fernsehgeschichte.« Sie stand auf und beendete das Interview damit. Grillo hatte noch jede Menge Fragen, die er nicht gestellt hatte, die meisten aus dem Gebiet, über das sie freiwillig sprechen wollte: seinen Beruf. Er wußte, es gab ein paar Löcher, die Tesla nicht stopfen konnte. Aber er

verzichtete darauf, um die Geduld der Witwe Vance nicht über Gebühr zu strapazieren. Sie hatte ihm mehr gesagt, als er erwartet hatte.

»Vielen Dank, daß Sie mich empfangen haben«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. Ihre Finger waren so dünn wie Zweige.

»Sie waren sehr freundlich.«

»Ellen bringt Sie hinaus«, sagte sie.

»Danke.«

Das Mädchen wartete in der Diele. Als sie die Tür

aufmachte, berührte sie Grillo am Arm. Er sah sie an. Sie schüttelte den Kopf und drückte ihm ein Stück Papier in die Hand. Dann drängte sie ihn ohne ein weiteres Wort auf die Stufe hinaus und machte die Tür hinter ihm zu.

Er wartete, bis er die Reichweite der Videokameras hinter sich gelassen hatte, bis er den Zettel las. Der Name der Frau stand darauf - Ellen Nguyen - und eine Adresse in Deerdell Village. Buddy Vance mochte begraben bleiben, aber seine Geschichte, so schien es, grub sich noch an die Oberfläche.

Grillo wußte aus Erfahrung, daß Geschichten das so an sich hatten. Er war der festen Überzeugung, daß nichts, absolut nichts, geheim bleiben konnte, wie nachdrücklich die daran interessierten Parteien es auch vertuschen mochten.

Verschwörer mochten sich verschwören und Schurken

versuchen zu knebeln, aber früher oder später zeigte sich die Wahrheit oder ein Zerrbild davon, in der unwahrscheinlichsten Form. Es waren selten unumstößliche Tatsachen, die das Leben hinter der Fassade ans Licht brachten. Es waren Gerüchte, Graffiti, Cartoons und Liebeslieder. Es war, was die Leute in ihre Tassen murmelten oder zwischen Ficks oder an einer 207

Klowand lasen.

Die Kunst aus dem Untergrund stieg empor, wie die Gestalten, die er in der Sturzflut gesehen hatte, um die Welt zu verändern.

208

II

Jo-Beth lag im Dunkeln auf dem Bett und sah zu, wie der Wind die Vorhänge abwechselnd bauschte und dann in die Nacht hinauszog. Sie hatte, sobald sie zu Hause war, mit Mama gesprochen und ihr gesagt, daß sie Howie nicht wiedersehen würde. Es war ein hastig gegebenes Versprechen gewesen, aber sie bezweifelte, ob Mama es überhaupt gehört hatte. Sie war geistesabwesend, ging in ihrem Zimmer auf und ab, rang die Hände und murmelte Gebete vor sich hin. Die Gebete

erinnerten Jo-Beth daran, daß sie versprochen hatte, den Pastor anzurufen, es aber nicht getan hatte. Sie nahm sich, so gut es ging, zusammen, ging nach unten und rief in der Kirche an.

Aber Pastor John war nicht da; er war weggegangen, um Angelie Datlow zu trösten, deren Mann Bruce beim Versuch, Buddy Vance' Leichnam zu bergen, ums Leben gekommen

war. So hörte Jo-Beth zum erstenmal von der Katastrophe. Sie beendete die Unterhaltung und legte den Hörer zitternd auf. Sie brauchte keine detaillierte Beschreibung der Unglücksfälle. Sie hatte sie gesehen, und Howie auch. Ihr gemeinsamer Traum war von einem Live-Bericht aus dem Schacht unterbrochen worden, wo Datlow und seine Kollegen gestorben waren.

Sie saß in der Küche, wo der Kühlschrank summte und die Vögel und Insekten im Garten fröhliche Musik machten, und versuchte, das Unergründliche zu ergründen. Vielleicht hatte sie an eine allzu optimistische Version der Welt geglaubt, aber sie war bisher mit der Gewißheit durchs Leben gegangen, daß es Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung gab, die alles verstanden, was sie persönlich nicht verstand. Es war tröstlich, das zu wissen. Jetzt war sie nicht mehr so sicher. Wenn sie jemandem von der Kirche, aus der sich der größte Teil ihres Bekanntenkreises rekrutierte, erzählte, was im Motel

geschehen war - der Traum vom Wasser, der Traum vom Tod -

würden sie das sagen, was Mama gesagt hatte: Es war das 209

Wirken des Teufels. Als sie das zu Howie gesagt hatte, hatte er geantwortet, daß sie das selbst nicht glaubte, und damit hatte er recht gehabt. Es war Unsinn. Und wenn das Unsinn war, was dann noch, was man ihr beigebracht hatte?

Weil sie ihre Verwirrung gedanklich nicht bewältigen konnte und auch zu müde war, es nachdrücklich zu versuchen, ging sie in ihr Zimmer und legte sich hin. So kurz nach dem Trauma ihres letzten Schlummers wollte sie nicht schlafen, aber die Müdigkeit überwand ihren Widerstand. Eine Folge

perlmuttartig schimmernder Schwarzweißbilder spulte sich vor ihrem inneren Auge ab: Howie im Butrick's; Howie vor dem Einkaufszentrum, von Angesicht zu Angesicht mit Tommy-Ray; sein Gesicht auf dem Kissen, als sie ihn für tot gehalten hatte. Dann riß die Kette, und die Perlen stoben davon. Sie schlief ein.

Als sie aufgewacht war, zeigte die Uhr acht Uhr fünfundvierzig. Es war vollkommen still im Haus. Sie stand auf und bewegte sich so leise es ging, um Mamas Aufmerksamkeit zu entgehen. Unten machte sie sich ein Sandwich und ging wieder hinauf in ihr Zimmer, wo sie jetzt - nachdem das Sandwich gegessen war - einfach dalag und zusah, wie der Wind mit den Vorhängen spielte.

Das Abendrot war so sanft wie Aprikosencreme gewesen, aber jetzt war es verschwunden. Die Dunkelheit stand kurz bevor. Sie konnte spüren, wie sie näherkroch - Entfernungen auslöschte, das Leben zum Verstummen brachte -, und das beunruhigte sie wie niemals zuvor. In Häusern, die gar nicht so weit entfernt waren, trauerten Familien. Ehefrauen ohne Männer und Kinder ohne Väter sahen der ersten Nacht der Trauer entgegen. In anderen wurde Traurigkeit, die verdrängt worden war, wieder ans Licht geholt, studiert, beweint. Jetzt hatte sie auch etwas, das sie zum Teil der umfassenden Trauer machte. Sie hatte Verlust erlebt, und die Dunkelheit - die soviel von der Welt fortnahm und so wenig zurückgab - würde nie 210

wieder so wie früher sein.

Tommy-Ray wurde geweckt, weil das Fenster klapperte. Er richtete sich im Bett auf. Er hatte den Tag in seinem selbsterzeugten Fieber verbracht.

Der Morgen schien noch mehr als zwölf Stunden entfernt zu sein, aber was hatte er in der inzwischen verstrichenen Zeit gemacht? Geschlafen, geschwitzt und auf ein Zeichen

gewartet.

War es das, was er jetzt hörte; das Klappern des Fensters, gleich den Zähnen eines sterbenden Mannes? Er schlug die Decke zurück! Irgendwann einmal hatte er sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Der Körper, den er im Spiegel sah, war straff und glänzend, wie eine gesunde Schlange. Er stolperte, weil er von Bewunderung abgelenkt war, und als er

aufzustehen versuchte, wurde ihm klar, daß er jegliche Orientierung in dem Zimmer verloren hatte. Das Zimmer war ihm plötzlich fremd - und er dem Zimmer. Der Boden war geneigt wie niemals zuvor, der Schrank zur Größe eines Koffers geschrumpft - oder aber er, Tommy-Ray, war grotesk groß geworden. Er tastete, von Übelkeit ergriffen, nach etwas Festem, um sich zu orientieren. Er wollte zur Tür, aber entweder seine Hand selbst oder das Zimmer machte diese Absicht zunichte, und er bekam statt dessen den Fensterrahmen zu fassen. Er stand still und hielt sich an dem Holz fest, bis das Schwindelgefühl nachließ. Während er wartete, spürte er, wie sich das kaum wahrnehmbare Vibrieren des Rahmens durch die Fingerknochen zu den Handgelenken, in die Arme und durch die Schultern bis zur Wirbelsäule fortpflanzte. Es war ein kribbelnder Tanz in seinem Mark, der keinen Sinn ergab, bis er die letzten Halswirbel erklommen hatte und den Schädel erreichte. Dort wurde die Bewegung, die ein Klirren im Glas gewesen war, wieder zu einem Ton: eine Folge von Klicken und Rasseln, die ihn rief.

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er ließ den Fensterrahmen los und wandte sich benommen zur Tür. Er trat die Laken, 211

die er im Schlaf zerwühlt hatte, mit den Füßen beiseite. Er hob T-Shirt und Jeans auf, weil er am Rande daran dachte, daß er sich anziehen sollte, bevor er das Haus verließ; aber er schleifte seine Kleidung lediglich hinter sich her, während er die Treppe hinunterging und durch die Schwärze hinter das Haus trat.

Der Garten war groß und chaotisch, da sich viele Jahre niemand mehr um ihn gekümmert hatte. Der Zaun war schadhaft, die Sträucher, die gepflanzt worden waren, um den Garten von der Straße her abzuschirmen, waren zu einer dichten Mauer der Vegetation geworden. Auf diesen kleinen Dschungel ging er jetzt zu, weil ihn der Geigerzähler in seinem Kopf, dessen Ticken mit jedem Schritt lauter wurde, dorthin zog.

Jo-Beth erhob sich mit Zahnschmerzen vom Kissen. Sie

berührte zögernd ihr Gesicht an der Seite. Es fühlte sich wund an; beinahe wie ein Bluterguß. Sie stand auf und schlich den Flur entlang zum Bad. Sie stellte fest, daß Tommy-Rays Zimmertür offenstand. Falls er da war, konnte sie ihn nicht sehen. Die Vorhänge waren zugezogen, das Innere

pechschwarz.

Ein kurzer Blick in den Spiegel im Bad zeigte ihr, daß ihr Gesicht zwar vom Weinen gezeichnet, ansonsten aber

unversehrt war. Aber der Schmerz im Kiefer, der sich

kreisförmig bis zur Schädelbasis ausbreitete, blieb erhalten. Sie hatte so etwas noch nie vorher gespürt. Der Druck war nicht gleichmäßig, sondern rhythmisch wie ein Puls, der nicht von ihrem Herzen ausging, sondern einen anderen Ursprung hatte.

»Aufhören«, murmelte sie und biß die Zähne wegen des Vibrierens zusammen. Aber es ließ sich nicht vertreiben. Es nahm ihren Kopf nur noch in einen festeren Klammergriff, als wollte es ihre Gedanken vollkommen hinauspressen.

In ihrer Verzweiflung beschwor sie Howie herauf; ein Bild des Lichts und des Lachens, das sie diesem stumpfsinnigen Pochen entgegenhielt, das aus dem Dunkel kam. Es war ein 212

verbotenes Bild - sie hatte Mama geschworen, es zu vergessen

-, aber sie hatte keine andere Waffe. Wenn sie nicht

zurückschlug, würde das Pochen in ihrem Kopf ihre Gedanken mit seiner Beharrlichkeit zertrümmern; sie zwingen, nach seinem, und nur nach seinem, Rhythmus zu handeln.

Howie...

Er lächelte ihr aus der Vergangenheit zu. Sie klammerte sich an sein strahlendes Bild und beugte sich über das

Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.

Wasser und ihre Erinnerung schwächten den Ansturm ab. Sie ging unsicheren Schrittes aus dem Bad und in Tommy-Rays Zimmer. Was auch immer diese Krankheit sein mochte, er war ganz bestimmt auch davon betroffen. Von frühester Kindheit an hatten sie sich immer jeden Virus gemeinsam geholt und erduldet. Vielleicht hatte diese neue, seltsame Heimsuchung ihn früher als sie ergriffen, und sein Verhalten vor dem Einkaufszentrum war eine Folge davon gewesen. Dieser

Gedanke spendete ihr Hoffnung. Wenn er krank war, konnte man ihn gesundmachen. Sie konnten beide gemeinsam gesund werden.

Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie durch die Tür trat. Es roch wie in einem Krankenzimmer und war unerträglich heiß und stickig.

»Tommy-Ray? Bist du da?«

Sie stieß die Tür auf, damit sie mehr Licht hatte. Das Zimmer war verlassen, das Bett zerwühlt, der Teppich

verrutscht, als hätte er eine Tarantella darauf getanzt. Sie ging zum Fenster, das sie aufmachen wollte, aber sie zog nur die Vorhänge beiseite, weiter kam sie nicht. Der Anblick, der sich ihr bot, reichte aus, daß sie schnellstmöglich die Treppe hinunterhastete und dabei Tommy-Rays Namen rief. Sie hatte im Licht der Küchentür gesehen, wie er über den Rasen torkelte und die Jeans hinter sich herzog.

Das Dickicht am Ende des Gartens bewegte sich; aber es 213

verbarg sich mehr als nur der Wind darin.

»Mein Sohn«, sagte der Mann zwischen den Bäumen. »Endlich begegnen wir einander.«

Tommy-Ray konnte nicht deutlich erkennen, wer ihn gerufen hatte, aber er zweifelte nicht daran, daß es dieser Mann gewesen war. Als er ihn sah, wurde das Schwatzen in seinem Kopf leiser.

»Komm näher«, befahl der Mann. Seine Stimme hatte etwas von dem Fremden mit Süßigkeiten, ebenso die Tatsache, daß er sich nicht richtig zeigte. Das mein Sohn konnte doch nicht buchstäblich wahr sein, oder? Wäre es nicht toll, wenn doch?

Nachdem er alle Hoffnung aufgegeben hatte, den Mann

kennenzulernen, nach den Frotzeleien der Kindheit und stundenlangen vergeblichen Versuchen, ihn sich vorzustellen, den verlorenen Vater endlich hier zu haben. Herrlich, so herrlich.

»Wo ist meine Tochter?« sagte der Mann. »Wo ist Jo-Beth?«

»Ich glaube, sie ist im Haus.«

»Bring sie zu mir, ja?«

»Einen Augenblick.«

»Sofort!«

»Ich will dich zuerst sehen. Ich will sicher sein, daß es kein Trick ist.«

Der Fremde lachte.

»Ich höre schon meine Stimme in dir«, sagte er. »Auch mit mir hat man sich Tricks erlaubt. Das macht dich vorsichtig, richtig?«

»Richtig.«

»Selbstverständlich mußt du mich sehen«, sagte er und trat zwischen den Bäumen hervor. »Ich bin dein Vater. Ich bin der Jaff.«

Als Jo-Beth die Treppe hinuntergelaufen war, hörte sie Mama 214

aus ihrem Zimmer rufen.

»Jo-Beth? Was geht da vor?«

»Schon gut, Mama.«

»Komm her! Etwas Schreckliches... im Schlaf...«

»Einen Augenblick, Mama. Bleib im Bett.«

»Schrecklich...«

»Ich bin gleich wieder da. Bleib nur, wo du bist.«

Er war leibhaftig hier: der Vater, von dem Tommy-Ray in tausend Formen geträumt hatte, seit ihm klar geworden war, daß andere Jungs zwei Elternteile hatten, einen, der dasselbe Geschlecht hatte wie sie, Männersachen wußte und sie an seine Söhne weitergab. Manchmal hatte er sich vorgestellt, daß er der uneheliche Sohn eines Filmstars war und daß eines Tages eine Limousine vorfahren und ein berühmtes Lächeln

aussteigen und genau das sagen würde, was der Jaff eben gesagt hatte. Aber dieser Mann war besser als jeder Filmstar.

Er sah nicht besonders aus, aber er teilte mit den Gesichtern, die die Welt vergoltene, einen seltsamen Ausdruck, als hätte er es gar nicht nötig, seine Macht zu demonstrieren. Tommy-Ray wußte noch nicht, woher diese Macht kam, aber ihre Zeichen waren unübersehbar. »Ich bin dein Vater«, sagte der Jaff wieder. »Glaubst du mir?«

Selbstverständlich glaubte er es. Er wäre ein Narr, so einen Vater zu verleugnen.

»Ja«, sagte er. »Ich glaube dir.«

»Und du wirst mir wie ein liebender Sohn gehorchen?«

»Ja. Das werde ich.«

»Gut«, sagte der Jaff. »Dann bring mir jetzt bitte meine Tochter. Ich habe sie auch gerufen, aber sie widersetzt sich mir. Du weißt, warum...«

»Nein.«

»Denk nach.«

Tommy-Ray dachte nach, aber ihm fiel keine unmittelbare 215

Antwort ein.

»Mein Feind«, sagte der Jaff, »hat sie berührt.«

Katz, dachte Tommy-Ray. Er meint diesen Scheißkerl Katz.

»Ich habe dich gemacht und Jo-Beth, damit ihr meine Agenten seid. Mein Feind hat dasselbe gemacht. Er hat ein Kind gezeugt.«

»Katz ist nicht dein Feind?« sagte Tommy-Ray und bemühte sich, das alles zu durchschauen. »Er ist der Sohn deines Feindes?«

»Und er hat deine Schwester berührt. Das hält sie von mir fern, diese Befleckung.«

»Nicht mehr lange.«

Kaum hatte er das gesagt, drehte sich Tommy-Ray um, lief zum Haus und rief mit beschwingter Stimme Jo-Beths Namen.

Sie hörte sein Rufen im Haus und war beruhigt. Es hörte sich nicht an, als würde er leiden. Als sie in die Küche kam, stand er unter der Tür zum Garten, hielt sich mit beiden Händen am Rahmen fest und beugte sich grinsend herein. Er war

schweißnaß und fast nackt, daher sah er aus, als wäre er gerade eben vom Strand heraufgelaufen.

»Etwas Wunderbares«, grinste er.

»Was?«

»Draußen. Komm mit mir.«

Jede Ader seines Körpers schien sich stolzgeschwellt auf der Brust abzuzeichnen. Seine Augen hatten ein Leuchten, dem sie nicht traute. Und auch sein Lächeln machte ihr Mißtrauen noch stärker.

»Ich komme nicht mit, Tommy...«, sagte sie.

»Warum wehrst du dich dagegen?« fragte er und legte den Kopf schief. »Daß er dich berührt hat, bedeutet nicht, daß du ihm gehörst.«

»Wovon redest du?«

»Katz. Ich weiß, was er getan hat. Schäme dich nicht. Dir ist verziehen worden. Aber du mußt mitkommen und dich persön-216

lich entschuldigen.«

»Verziehen?« Sie sprach mit lauter Stimme, was die

Schmerzen in ihrem Kopf zu neuen Höchstleistungen

anspornte. »Du hast kein Recht, mir zu verzeihen, du

Arschloch! Ausgerechnet du...«

»Nicht ich«, sagte Tommy mit unerschütterlichem Lächeln.

»Dein Vater.«

»Was?«

»Der draußen wartet...«

Sie schüttelte den Kopf. Die Schmerzen wurden schlimmer.

»Komm einfach mit mir. Er ist im Hof.« Er ließ den Türrahmen los und kam durch die Küche auf sie zu. »Ich weiß, es tut weh«, sagte er. »Aber der Jaff wird es lindern.«

»Bleib mir vom Leibe!«

»Ich bin es, Jo-Beth. Tommy-Ray. Du mußt keine Angst haben.«

»O doch! Ich weiß nicht, wovor, aber ich habe guten Grund dazu.«

»Du denkst das, weil du von Katz befleckt worden bist«, sagte er. »Du weißt, ich würde nie etwas tun, was dich verletzt.

Wir empfinden gemeinsam, oder nicht? Was dir weh tut, tut mir auch weh. Ich mag Schmerzen nicht.« Er lachte. »Ich bin verschroben, aber so verschroben nun auch wieder nicht.«

Mit diesem Argument konnte er sie trotz ihrer Zweifel überzeugen, denn es war die Wahrheit. Sie hatten neun Monate in derselben Gebärmutter verbracht; sie waren zwei Hälften derselben Eizelle. Er wollte ihr nichts Böses.

»Bitte komm«, sagte er und streckte die Hand aus.

Sie ergriff sie. Sofort ließen die Kopfschmerzen nach.

Anstelle des Schwatzens wurde ihr Name geflüstert.

»Jo-Beth?«

»Ja?« sagte sie.

»Nicht ich«, sagte Tommy-Ray. »Der Jaff. Er ruft dich.«

»Jo-Beth.«

217

»Wo ist er?«

Tommy-Ray deutete zu den Bäumen. Plötzlich schienen sie sehr weit vom Haus entfernt zu sein, fast am Ende des Gartens.

Sie war nicht sicher, wie sie so schnell so weit gekommen war, aber der Wind, der mit den Vorhängen gespielt hatte, hielt sie nun in seinem Bann und drängte sie, so schien es, in Richtung des Dickichts. Tommy-Ray ließ ihre Hand los.

Geh, hörte sie ihn sagen, darauf haben wir so lange gewartet...

Sie zögerte. Die Art, wie sich die Bäume bewegten, wie die Blätter bebten, erinnerte sie an schlimme Anblicke: möglicherweise eine Pilzwolke; oder Blut in Wasser. Aber die Stimme, die sie lockte, war tief und beruhigend, und das Gesicht, das sprach - und jetzt sichtbar war - rührte sie zutiefst. Wenn sie einen Mann Vater nennen wollte, wäre dieser hier eine gute Wahl. Sie mochte seinen Bart und die düstere Stirn. Sie mochte, wie seine Lippen die Worte, die er aussprach, mit äußerster Präzision formten.

»Ich bin der Jaff«, sagte er. »Dein Vater.«

»Tatsächlich?« sagte sie.

»Tatsächlich.«

»Warum bist du gekommen? Nach so langer Zeit?«

»Komm näher. Ich sage es dir.«

Sie wollte einen Schritt näher kommen, als sie einen Schrei vom Haus hörte.

»Laß dich nicht von ihm berühren!«

Es war Mama, die mit einer Lautstärke schrie, deren Jo-Beth sie nie für fähig gehalten hätte. Der Schrei bannte sie auf der Stelle. Sie drehte sich auf dem Absatz herum. Tommy-Ray stand direkt hinter ihr. Und hinter ihm kam Mama mit

aufgeknöpftem Nachthemd und barfuß näher.

»Jo-Beth, komm da weg!« sagte sie.

»Mama?«

»Komm weg!«

218

Es war fast fünf Jahre her, seit Mama zum letztenmal das Haus verlassen hatte; sie hatte während dieser Zeit mehr als einmal gesagt, daß sie es nie wieder verlassen würde. Und doch war sie da, mit erschrockenem Gesichtsausdruck, und ihre Schreie waren keine Bitten, sondern Befehle.

»Kommt da weg, alle beide!«

Tommy-Ray drehte sich zu seiner Mutter um. »Geh ins

Haus«, sagte er. »Das hat nichts mit dir zu tun.«

Mama ging langsamer.

»Du weißt es nicht, mein Sohn«, sagte sie. »Du kannst es nicht einmal ansatzweise verstehen.«

»Das ist unser Vater«, antwortete Tommy-Ray. »Er ist nach Hause gekommen. Du solltest dankbar sein.«

»Dafür?« sagte Mama mit weit aufgerissenen Augen. »Das hat mir das Herz gebrochen. Und es wird auch euch das Herz brechen, wenn ihr es zulaßt.« Sie stand jetzt einen Meter von Tommy entfernt. »Laß es nicht zu«, sagte sie sanft und streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu streicheln. »Laß nicht zu, daß er uns weh tut.«

Tommy-Ray schlug Mamas Hand weg.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte er. »Das hat nichts mit dir zu tun.«

Mama reagierte sofort; sie ging einen Schritt auf Tommy-Ray zu und schlug ihm ins Gesicht; es war ein Schlag mit der offenen Hand, der zum Haus hallte.

»Dummkopf!« schrie sie ihn an. »Erkennst du das Böse denn nicht, wenn du es siehst?«

»Ich erkenne eine verdammte Wahnsinnige, wenn ich sie sehe«, schrie Tommy-Ray zurück. »Deine Gebete und das Geschwätz vom Teufel... du machst mich krank! Du versuchst, mein Leben zu verderben. Und jetzt willst du auch das verderben. Vergiß es. Papa ist heimgekommen. Leck mich!«

Sein Ausbruch schien den Mann unter den Bäumen zu

amüsieren; Jo-Beth hörte ihn lachen. Sie sah sich um. Er hatte 219

offenbar nicht damit gerechnet, daß sie sich umdrehen würde, denn er hatte die Maske, die er trug, ein wenig verrutschen lassen. Das Gesicht, das ihr so väterlich erschienen war, war aufgedunsen; Augen und Stirn waren größer; das bärtige Kinn und der Mund, die ihr so gefallen hatten, beinahe verkümmert.

Wo ihr Vater gewesen war, war jetzt ein monströses Baby. Sie schrie auf, als sie es sah. Das Dickicht um ihn herum brach sofort in hektische Aktivität aus. Die Zweige schlugen wie Flagellanten nacheinander, streiften Rinde ab und schüttelten Laub von sich; ihre Bewegungen waren so heftig. Sie war sicher, daß sie die Wurzeln aus dem Boden reißen und auf sie zukommen würden.

»Mama!« sagte sie und drehte sich wieder zum Haus um.

»Wohin gehst du?« sagte Tommy-Ray.

»Das ist nicht unser Vater!« sagte sie. »Es ist ein Trick! Sieh doch! Ein schrecklicher Trick!«

Tommy-Ray wußte es entweder und wollte es nicht wahr-

haben, oder er stand so sehr unter dem Einfluß des Jaff, daß er nur sah, was ihn der Jaff sehen lassen wollte.

»Du bleibst bei mir!« sagte er und packte Jo-Beths Arm,

»bei uns!«

Sie wollte sich losreißen, aber sein Griff war zu fest. Mama griff ein und unterbrach den Kontakt mit einem abwärts gerichteten Faustschlag. Bevor Tommy-Ray sie wieder ergreifen konnte, spurtete Jo-Beth in Richtung Haus. Der Laubsturm folgte ihr über den Rasen, ebenso Mama, deren Hand sie nahm, während sie zur Tür liefen.

»Sperr ab! Sperr ab!« sagte Mama, als sie drinnen waren.

Sie gehorchte. Kaum hatte sie den Schlüssel umgedreht, befahl Mama, ihr zu folgen.

»Wohin?« sagte Jo-Beth.

»In mein Zimmer. Ich weiß, wie man ihn aufhalten kann.

Beeil dich!«

Das Zimmer roch nach Mamas Parfüm und muffigem

220

Leinen, aber heute spendete das Vertraute Trost. Ob das Zimmer auch Sicherheit bot, blieb dahingestellt. Jo-Beth konnte hören, wie unten die Gartentür eingetreten wurde, danach ein Lärm, als würde der Inhalt des Kühlschranks durch die Küche geschleudert. Danach Stille.

»Suchst du den Schlüssel?« sagte Jo-Beth, die sah, wie Mama unter das Kissen griff. »Ich glaube, der ist draußen.«

»Dann hol ihn!« sagte Mama. »Schnell!«

Auf der anderen Seite der Tür quietschte es, worauf sich Jo-Beth überlegte, ob sie die Tür aufmachen sollte, aber wenn die Tür nicht abgeschlossen war, hatten sie überhaupt keinen Schutz. Mama sprach davon, wie man den Jaff aufhalten konnte, aber sie suchte nicht nach dem Schlüssel, sondern nach dem Gebetbuch, und Gebete würden gar nichts aufhalten.

Ständig starben Menschen mit Gebeten auf den Lippen. Sie hatte keine andere Wahl, sie mußte die Tür aufreißen.

Sie sah zur Treppe. Dort stand der Jaff, ein bärtiger Fötus, dessen große Augen sie betrachteten. Der winzige Mund grinste. Sie griff nach dem Schlüssel, während er näherkam.

» Wir sind hier«, sagte er.

Der Schlüssel kam nicht aus dem Schloß. Sie zerrte daran, und plötzlich kam er frei und fiel ihr aus den Fingern. Der Jaff war drei Stufen vom oberen Ende der Treppe entfernt. Er sputete sich nicht. Sie ließ sich auf die Fersen nieder, um den Schlüssel aufzuheben und bemerkte zum erstenmal, seit sie das Haus betreten hatte, daß das Trommeln, das sie auf seine Anwesenheit aufmerksam gemacht hatte, wieder angefangen hatte. Der Lärm verwirrte ihre Gedanken. Warum bückte sie sich? Wonach suchte sie? Der Anblick des Schlüssels erinnerte sie daran. Sie ergriff ihn - der Jaff war auf der obersten Stufe -, stand auf, wich zurück, schlug die Tür zu und sperrte ab.

»Er ist da!« sagte sie zu Mama, die zu ihr sah.

»Natürlich«, sagte Mama. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Es war kein Gebetbuch, sondern ein Messer, ein 221

acht Zoll langes Küchenmesser, das vor einiger Zeit

verschwunden war.

»Mama?«

»Ich wußte, daß er kommen würde. Ich bin bereit.«

»Damit kannst du ihn nicht bekämpfen«, sagte sie. »Er ist gar kein Mensch, nicht?«

Mama sah zur Tür.

»Sag es mir, Mama.«

»Ich weiß nicht, was er ist«, sagte sie. »Ich habe darüber nachgedacht... die ganzen Jahre über. Vielleicht der Teufel.

Vielleicht auch nicht.« Sie sah Jo-Beth an. »Ich habe mich so lange gefürchtet«, sagte sie. »Und jetzt ist er hier, und alles sieht so einfach aus.«

»Dann erkläre es mir«, sagte Jo-Beth. »Ich verstehe es nämlich nicht. Wer ist er? Was hat er mit Tommy-Ray

gemacht?«

»Er hat die Wahrheit gesagt«, sagte Mama. »In gewisser Weise. Er ist euer Vater. Jedenfalls einer davon.«

»Wie viele brauche ich denn?«

»Er hat mich zur Hure gemacht. Er hat mich mit Begierden, die ich nicht wollte, fast in den Wahnsinn getrieben. Der Mann, der mit mir geschlafen hat, ist dein Vater; aber das...« Sie deutete mit dem Messer zur Tür, gegen die von der anderen Seite geklopft wurde, »... hat dich wirklich gemacht.«

» Ich höre dich«, sagte der Jaff. »Laut und deutlich.«

»Geh weg«, sagte Mama und ging zur Tür. Jo-Beth wollte sie zurückbeordern, aber sie achtete nicht auf den Befehl. Sie packte Jo-Beth am Arm, zog sie dicht an sich und hielt ihr das Messer an die Kehle.

»Ich bringe sie um«, sagte sie zu dem Ding vor der Tür. »So wahr es einen Gott im Himmel gibt, es ist mein Ernst. Wenn du versuchst, hier hereinzukommen, ist deine Tochter tot.« Sie hielt Jo-Beth so fest, wie Tommy-Ray es getan hatte. Vor wenigen Minuten hatte er sie eine Wahnsinnige genannt. Ihre 222

jetzige Darbietung war entweder ein hervorragend gespielter Bluff, oder er hatte recht gehabt. Wie auch immer, Jo-Beths Leben war verwirkt. Der Jaff klopfte wieder an die Tür.

»Tochter?« sagte er.

»Antworte ihm«, befahl Mama ihr.

»Tochter?«

»Ja...«

»Fürchtest du um dein Leben? Ehrlich. Sag es mir ehrlich.

Denn ich habe dich aufrichtig lieb und will nicht, daß dir ein Leid geschieht.«

»Sie fürchtet um ihr Leben«, sagte Mama.

»Laß sie antworten«, sagte der Jaff.

Jo-Beth zögerte nicht mit der Antwort. »Ja«, sagte sie. »Ja.

Sie hat ein Messer und...«

»Du wärst eine Närrin«, sagte der Jaff zu Mama, »das einzige zu töten, das dein Leben lebenswert gemacht hat. Aber du würdest es tun, nicht?«

»Ich werde sie dir nicht überlassen«, sagte Mama.

Schweigen auf der anderen Seite der Tür. Dann sagte der Jaff: »Meinetwegen...« Er lachte leise. » Es gibt immer ein Morgen.«

Er zerrte ein letztesmal an der Tür, als wollte er sich vergewissern, daß er tatsächlich ausgesperrt war. Dann hörten das Lachen und das Rasseln auf und wurden von einem leisen, kehligen Laut verdrängt, dem Stöhnen von etwas, das wußte, daß es geboren wurde, Schmerzen zu leiden und keine

Möglichkeit hatte, seinem Dasein zu entfliehen. Die Wehklage dieses Tons war ebenso furchteinflößend wie die

vorangegangenen Drohungen und Verführungen. Dann wurde es leiser.

»Er geht«, sagte Jo-Beth. Mama hielt immer noch das

Messer an ihren Hals. »Er geht, Mama. Laß mich wieder los.«

Die fünfte Stufe der zweiten Treppenflucht quietschte zweimal und bestätigte Jo-Beths Ahnung, daß ihre Peiniger das 223

Haus tatsächlich verließen. Aber es vergingen noch dreißig Sekunden, bis Mama Jo-Beths Arm losließ, und eine weitere Minute, bis sie ihre Tochter ganz freigab.

»Er hat das Haus verlassen«, sagte sie. »Aber bleib noch hier.«

»Was ist mit Tommy?« sagte Jo-Beth. »Wir müssen ihn finden.«

Mama schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß ich ihn verlieren würde«, sagte sie. »Es wäre zwecklos.«

»Aber wir müssen es versuchen«, sagte Jo-Beth.

Sie machte die Tür auf. Auf der anderen Seite lehnte etwas am Geländer, das nur Tommy-Rays Handarbeit sein konnte.

Als sie Kinder waren, hatte er Puppen im Dutzend für Jo-Beth gemacht, behelfsmäßige Spielzeuge, die dennoch seine

unverwechselbare Handschrift trugen. Sie lächelten immer.

Jetzt hatte er eine neue Puppe geschaffen; einen Vater, der aus Lebensmitteln bestand. Der Kopf ein Hamburger mit

Daumenabdrücken als Augen; Beine und Arme Gemüse; als Körper ein Milchkarton, dessen Inhalt zwischen den Beinen heruntertropfte, an einer Pfefferschote und zwei

Knoblauchknollen herab, die dort befestigt waren. Jo-Beth sah das grobe Ding an, dessen Fleischgesicht sie musterte.

Diesesmal kein Lächeln. Nicht einmal ein Mund. Nur zwei Löcher im Hackfleisch. Von den Lenden troff die Milch der Mannbarkeit herab und befleckte den Teppich. Mama hatte recht. Sie hatten Tommy-Ray verloren.

»Du hast gewußt, daß der Dreckskerl zurückkommen

würde«, sagte sie.

»Ich habe es vermutet; mit der Zeit. Nicht wegen mir. Er kam nicht wegen mir. Ich war nur eine verfügbare

Gebärmutter, wie wir alle...«

»Der Bund der Jungfrauen«, sagte Jo-Beth.

»Wo hast du das gehört?«

»O Mama... Die Leute haben geredet, seit ich ein Kind 224

war...«

»Ich habe mich so geschämt«, sagte Mama. Sie legte die Hand vors Gesicht, die andere, mit der sie noch das Messer hielt, hing herunter. »So sehr geschämt. Ich wollte mich selbst umbringen. Aber der Pastor hat mich davon abgehalten. Er sagte, ich müßte leben. Für den Herrn. Und für dich und Tommy-Ray.«

»Du mußt sehr stark gewesen sein«, sagte Jo-Beth und

wandte sich von der Puppe ab, um sie anzusehen. »Ich habe dich lieb, Mama. Ich weiß, ich habe gesagt, daß ich Angst hatte; aber du hättest mir nichts getan.«

Mama sah zu ihr auf; Tränen flossen unablässig aus ihren Augen und tropften vom Kinn herunter.

Ohne nachzudenken sagte sie: »Ich hätte dich mausetot gemacht.«

225

III

»Mein Feind ist immer noch hier«, sagte der Jaff.

Tommy-Ray hatte ihn auf einen Weg geführt, der

ausschließlich den Kindern des Grove bekannt war und der an der Rückseite des Hügels entlang zu einem

schwindelerregenden Aussichtspunkt führte. Er war zu felsig als Ausflugsziel und so instabil, daß man dort nicht bauen konnte, bot aber allen, die die Strapaze des Kletterns auf sich nahmen, einen einmaligen Ausblick über Laureltree und Windbluff.

Dort standen sie, Tommy-Ray und sein Vater, und genossen die Aussicht. Am Himmel waren keine Sterne zu sehen; und unten in den Häusern brannte kaum ein Licht. Wolken hüllten den Himmel ein, Schlaf die Stadt. Vater und Sohn standen ohne Zeugen da und unterhielten sich.

»Wer ist dein Feind?« sagte Tommy-Ray. »Sag es mir, und ich reiße ihm für dich die Kehle heraus.«

»Ich bezweifle, daß er das zulassen würde.«

»Sei nicht sarkastisch«, sagte Tommy-Ray. »Ich bin kein Dummkopf, weißt du. Ich weiß, wenn du mich wie ein Kind behandelst. Ich bin kein Kind.«

»Das mußt du mir beweisen.«

»Werde ich. Ich habe vor nichts Angst.«

»Das werden wir sehen.«

»Willst du mir angst machen?«

»Nein. Ich will dich nur vorbereiten.«

»Worauf? Auf deinen Feind? Sag mir einfach nur, wie er ist.«

»Sein Name ist Fletcher. Er und ich waren Partner, noch vor deiner Geburt. Aber er hat mich betrogen. Besser gesagt, er hat es versucht.«

»Was war euer Geschäft?«

»Ah!« Der Jaff lachte, ein Laut, den Tommy-Ray

226

mittlerweile schon häufig gehört hatte und der ihm um so besser gefiel, je öfter er ihn hörte. Der Mann hatte Humor, auch wenn Tommy-Ray - so wie jetzt - die Pointe nicht verstand.

»Unser Geschäft?« sagte der Jaff. »Es ging im Grunde genommen darum, Macht zu erlangen. Genauer, eine ganz bestimmte Macht. Sie heißt die ›Kunst‹, und mit ihr werde ich in die Träume Amerikas vorstoßen können.«

»Hältst du mich zum Narren?«

»Nicht alle Träume. Nur die wichtigen. Weißt du, Tommy-Ray, ich bin Forscher.«

»Ja?«

»Ja. Aber was gibt es draußen in der Welt noch zu

erforschen? Nicht viel. Ein paar Wüstenlöcher; ein

Regenwald...«

»Den Weltraum«, schlug Tommy-Ray vor und sah nach

oben.

»Eine Wüste, und dazwischen jede Menge Nichts«, sagte der Jaff. »Nein, das wahre Geheimnis - das einzige Geheimnis - ist in unseren Köpfen. Und ich werde es bekommen.«

»Du meinst nicht wie ein Seelenklempner, oder? Du meinst, irgendwie selbst dort zu sein.«

»Ganz recht.«

»Und die ›Kunst‹ ist der Weg dorthin?«

»Wieder richtig.«

»Aber du hast gesagt, es sind nur Träume. Wir träumen alle.

Man kann jederzeit dorthin gelangen, so oft man will, man muß nur einschlafen.«

»Die meisten Träume sind nur Jonglierstücke. Leute schnappen ihre Erinnerungen auf und versuchen, sie in eine Art Ordnung zu bringen. Aber es gibt noch einen anderen Traum, Tommy-Ray. Es ist der Traum davon, was es bedeutet, geboren zu werden, sich zu verlieben und zu sterben. Ein Traum, der erklärt, wofür das Sein da ist. Ich weiß, das ist verwirrend...«

»Sprich weiter. Ich würde es trotzdem gerne hören.«

227

»Es gibt ein Meer des Geistes. Es heißt Essenz«, sagte der Jaff. »Und in diesem Meer liegt eine Insel, die mindestens zweimal in unserem Leben in unseren Träumen auftaucht: am Anfang und am Ende. Sie wurde zuerst von den Griechen entdeckt. Plato schrieb in verschlüsselter Form darüber. Er nannte sie Atlantis...« Er verstummte, weil der Inhalt seiner Geschichte ihn vom Erzählen ablenkte.

»Du sehnst dich sehr nach diesem Ort, nicht wahr?« sagte Tommy-Ray.

»Sehr«, sagte der Jaff. »Ich will in diesem Meer schwimmen, wenn ich Lust dazu habe, und ich möchte an das Ufer, wo die großen Geschichten erzählt werden.«

»Hübsch.«

»Hm?«

»Klingt ganz hübsch.«

Der Jaff lachte. »Du bist erfrischend unbeschwert, mein Sohn. Ich kann dir sagen, wir werden gut miteinander

zurechtkommen. Du kannst mein Agent vor Ort sein, richtig?«

»Aber sicher«, sagte Tommy-Ray grinsend. »Was ist das?«

»Ich kann nicht jedem mein Gesicht zeigen«, sagte der Jaff.

»Und ich mag das Tageslicht nicht besonders. Es ist so wenig...

geheimnisvoll. Aber du kannst für mich ausgehen und Aufträge erledigen.«

»Demnach bleibst du. Ich dachte, wir würden irgendwo zusammen hingehen.«

»Später. Zuerst muß mein Feind sterben. Er ist schwach. Er wird erst versuchen, den Grove zu verlassen, wenn er einen gewissen Schutz hat. Ich denke, er wird sich um sein eigenes Kind kümmern.«

»Katz?«

»Ganz recht.«

»Also sollte ich Katz töten?«

»Das könnte nützlich sein, wenn sich die Gelegenheit

ergibt.«

228

»Dafür werde ich sorgen.«

»Aber du solltest ihm dankbar sein.«

»Warum?«

»Wäre er nicht, wäre ich immer noch unter der Erde. Würde immer noch darauf warten, daß du und Jo-Beth die Teile zusammenfügt und nach mir sucht. Was sie und Katz getan haben...«

»Was haben sie denn getan? Haben sie gefickt?«

»Ist das wichtig für dich?«

»Aber sicher.«

»Für mich auch. Der Gedanke, daß Fletchers Kind deine Schwester berührt, macht mich krank. Und Fletcher hat es auch krank gemacht. Wir waren uns ein einzigesmal einig. Die Frage war: Welcher von uns beiden schafft es zuerst zur Oberfläche, und wer wird stärker sein, wenn es uns gelungen ist?«

»Du.«

»Ja, ich. Ich habe einen Vorteil, den Fletcher nicht hat.

Meine Armee, meine Terata, kann man am besten aus sterbenden Menschen ziehen. Ich habe eins aus Buddy Vance gezogen.«

»Wo ist er?«

»Erinnerst du dich, als wir hierhergegangen sind, hast du gedacht, daß uns jemand folgt. Ich habe dir gesagt, es sei ein Hund. Ich habe gelogen.«

»Zeig es mir.«

»Wenn du es siehst, bist du vielleicht nicht mehr so eifrig.«

»Zeig es mir, Papa. Bitte.«

Der Jaff pfiff. Nach diesem Laut bewegten sich die Bäume ein Stück hinter ihnen und offenbarten das Gesicht, welches im Garten das Dickicht zerfetzt hatte. Aber diesesmal konnte man das Gesicht ganz deutlich erkennen. Es glich etwas, das die Brandung ans Ufer gespült hat: ein Tiefseemonster, das gestorben und an die Oberfläche geschwemmt worden war, wo 229

die Sonne es gedörrt und Möwen daran gepickt hatten, so daß es, bis es in die Welt der Menschen gelangte, fünfzig Augenhöhlen und ein Dutzend Mäuler hatte und halb gehäutet war.

»Sauber«, sagte Tommy-Ray leise. »Das hast du von einem Komiker bekommen? Ich finde, das sieht überhaupt nicht komisch aus.«

»Es kam aus einem Mann auf der Schwelle des Todes«,

sagte der Jaff. »Ängstlich und allein. Die bringen immer schöne Exemplare hervor. Irgendwann einmal werde ich dir von den Orten erzählen, wo ich nach verlorenen Seelen gesucht habe, um Terata aus ihnen zu bekommen. Was ich gesehen habe. Von dem Abschaum, dem ich begegnet bin...« Er sah über die Stadt. »Aber hier?« sagte er. »Wo sollte ich hier solche Subjekte finden?«

»Du meinst sterbende Menschen?«

»Ich meine verwundbare Menschen. Menschen ohne eine

Mythologie, die sie beschützt. Ängstliche Menschen. Verlorene Menschen. Wahnsinnige Menschen.«

»Da könntest du mit Mama anfangen.«

»Die ist nicht wahnsinnig. Sie wünscht sich vielleicht noch einmal, sie wäre es; sie wünscht sich vielleicht, sie könnte alles, was sie gesehen und erlitten hat, als Halluzinationen abtun, aber sie weiß es besser. Und sie hat sich selbst geschützt. Sie hat einen Glauben, so idiotisch er auch sein mag.

Nein... ich brauche nackte Menschen, Tommy-Ray. Menschen ohne Götter. Verlorene Menschen.«

»Ich kenne ein paar.«

Tommy-Ray hätte seinen Vater buchstäblich in Hunderte von Haushalten führen können, wäre er imstande gewesen, die Gedanken hinter den Gesichtern zu lesen, an denen er jeden Tag seines Lebens vorbeiging. Leute, die im Einkaufszentrum einkauften und ihre Wagen mit frischem Obst und

230

Vollwertflocken vollstopften, Leute mit gesunder Hautfarbe, wie seine eigene, und mit leuchtenden Augen, wie seine eigenen, die in jeder Hinsicht zufrieden und glücklich zu sein schienen. Vielleicht besuchten sie ab und zu einmal einen Analytiker, um auf dem rechten Weg zu bleiben; vielleicht schrien sie manchmal ihre Kinder an oder weinten im stillen, wenn ein weiterer Geburtstag ein weiteres verstrichenes Jahr markierte, aber sie betrachteten sich in jeder Hinsicht als ausgeglichene, friedliche Seelen. Sie hatten mehr als genug Geld auf der Bank; die Sonne war meistens warm, und wenn nicht, machten sie ein Feuer an und dachten, daß sie robust genug waren und die Kälte überstehen konnten. Hätte man sie gefragt, hätten sie gesagt, daß sie an etwas glaubten. Aber niemand fragte. Nicht hier; nicht jetzt. Das Jahrhundert war soweit fortgeschritten, daß man nicht mehr über Glauben sprechen konnte, ohne Verlegenheit zu empfinden, und Verlegenheit war ein Trauma, das sie tunlichst aus ihrem Leben fernhielten. Es war besser, nicht vom Glauben zu sprechen oder von den Göttern, es sei denn bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen, und auch dann nur rein mechanisch. Also. Hinter ihren Augen verdarb die Hoffnung, und in vielen war sie bereits tot. Sie lebten von Ereignis zu Ereignis und empfanden Grauen vor den Lücken dazwischen; sie füllten ihr Leben mit Ablenkungen aus, damit sie die Leere vermieden, wo Neugier hätte sein sollen, und sie atmeten erleichtert auf, wenn die Kinder das Alter überwunden hatten, in dem sie Fragen nach dem Sinn des Lebens stellten.

Aber nicht alle verbargen ihre Ängste so gut.

Als Ted Elizando dreizehn war, wurde in seiner Klasse von einem vorausschauenden Lehrer gesagt, daß die Großmächte genügend Raketen besaßen, um die Zivilisation hundertfach damit zerstören zu können. Dieser Gedanke bekümmerte ihn viel mehr, als es seine Klassenkameraden zu bekümmern 231

schien; daher behielt er seine Alpträume vom Weltuntergang für sich, weil er Angst hatte, er würde ausgelacht werden. Die Täuschung funktionierte; bei Ted ebensogut wie bei seinen Klassenkameraden. Bis er zwanzig war, hatte er seine Ängste so gut wie vergessen. Mit einundzwanzig hatte er eine gute Arbeitsstelle in Thousand Oaks und heiratete Loretta. Im darauffolgenden Jahr bekamen sie Nachwuchs. Eines Nachts, ein paar Monate nach der Geburt des Babys Dawn, kam der Alptraum vom letzten großen Feuer wieder. Schwitzend und zitternd stand Ted auf und sah nach seiner Tochter. Sie lag schlafend in ihrer Koje, auf dem Bauch, wie sie so gerne schlief. Er betrachtete sie etwa eine Stunde lang im

Schlummer, anschließend ging er wieder ins Bett. Danach wiederholte sich diese Abfolge der Ereignisse beinahe jede Nacht, bis sie so vorhersehbar wie ein Ritual wurde. Manchmal drehte sich das Baby im Schlaf um und schlug die Augen mit den langen Wimpern auf. Wenn sie ihren Daddy neben der Wiege stehen sah, lächelte sie. Doch die Nachtwachen

forderten ihren Tribut bei Ted. Der Nacht für Nacht

unterbrochene Schlaf kostete ihn Kraft; es fiel ihm immer schwerer zu verhindern, daß der Schrecken, der nachts zu ihm kam, auch bei Tage erschien. Wenn er am hellichten Tag am Schreibtisch saß, stürmte das Grauen auf ihn ein. Die Frühlingssonne, die auf das Papier vor ihm schien, wurde zu blendendgrellen Atompilzen. Jede Brise, wie sanft auch immer, trug ihm ferne Schreie zu.

Und als er eines Nachts neben Dawns Bettchen stand, hörte er die Marschflugkörper kommen. Er nahm Dawn entsetzt auf die Arme und versuchte, das weinende Kind zu beruhigen. Ihr Weinen weckte Loretta, die nach ihrem Mann suchte. Sie fand ihn im Eßzimmer, und er konnte vor Entsetzen nicht sprechen, weil er seine Tochter anstarrte, die er fallen gelassen hatte, als er sah, wie sie in seinen Armen verkohlte, wie die Haut schwarz und ihre Arme zu rauchenden Stöcken wurden.

232

Er kam einen Monat in die Klinik und durfte dann in den Grove zurückkehren, weil sich die Ärzte darin einig waren, daß größere Hoffnung auf Genesung bestand, wenn er sicher im Schoß seiner Familie weilte. Ein Jahr später reichte Loretta wegen unüberwindbarer Differenzen die Scheidung ein. Sie wurde anerkannt, und ihr wurde das Sorgerecht für das Kind

zugesprochen.

Heutzutage besuchten nur wenige Menschen Ted. In den vier Jahren seit seinem Nervenzusammenbruch arbeitete er in der Tierhandlung im Einkaufszentrum, eine Aufgabe, die glücklicherweise geringste Anforderungen an ihn stellte. Er war glücklich unter den Tieren, die, wie er, schlechte Heuchler waren. Er hatte die Aura eines Mannes an sich, der kein Zuhause mehr hat und auf Messers Schneide steht. Tommy-Ray, dem Mama Haustiere verboten hatte, war von Ted

verwöhnt worden: Er hatte freien Zugang zum Laden gehabt -

und sich sogar ein paarmal darum gekümmert, wenn Ted

Botengänge machen mußte - und durfte mit den Hunden und Schlangen spielen. Er hatte alles über Ted und seine

Geschichte erfahren, obwohl sie nie Freunde geworden waren.

Er hatte Ted zum Beispiel nie bei sich zu Hause besucht, so wie diese Nacht.

»Ich habe jemanden mitgebracht, Teddy. Ich möchte, daß du ihn kennenlernst.«

»Es ist schon spät.«

»Das kann nicht warten. Hör zu, es sind wirklich gute Neuigkeiten, und ich habe außer dir keinen, mit dem ich darüber reden kann.«

»Gute Neuigkeiten?«

»Mein Papa. Er ist nach Hause gekommen.«

»Wirklich? Das freut mich aber für dich, Tommy-Ray.«

»Möchtest du ihn nicht kennenlernen?«

»Nun, ich...«

»Selbstverständlich will er das«, sagte der Jaff, trat aus dem 233

Schatten und streckte Ted die Hand hin. »Jeder Freund meines Sohnes ist auch ein Freund von mir.«

Als er die Wesenheit sah, die Tommy-Ray als seinen Vater vorgestellt hatte, ging Teddy einen ängstlichen Schritt ins Haus zurück. Dies war ein völlig andersartiger Alptraum. So etwas war ihm nicht einmal in den guten alten Zeiten erschienen. Sie hatten sich immer verstohlen angeschlichen. Der hier redete und lächelte und verschaffte sich selbst Einlaß.

»Ich will etwas von dir«, sagte der Jaff.

»Was geht hier vor, Tommy-Ray? Dies ist mein Haus. Sie können nicht einfach hier eindringen und Sachen mitnehmen.«

»Es ist etwas, das du nicht willst«, sagte der Jaff und streckte die Hände nach Ted aus. »Ohne das du viel glücklicher bist.«

Tommy-Ray sah erstaunt und beeindruckt zu, wie Ted die Augen bis unter die Lider verdrehte und Geräusche von sich gab, als müßte er sich gleich übergeben. Aber es kam nichts heraus; jedenfalls nicht aus dem Mund. Die Belohnung kam aus den Poren heraus, die Säfte seines Körpers perlten und dickten ein, verdichteten sich und stiegen von der Haut empor, tränkten Hemd und Hose.

Tommy-Ray tänzelte gebannt von einer Seite auf die andere.

Es war wie eine groteske Zaubervorstellung. Die Tropfen der Feuchtigkeit widersetzten sich der Schwerkraft, sie schwebten vor Ted in der Luft, berührten einander und verschmolzen zu größeren Tropfen, und diese größeren Tropfen vereinigten sich ihrerseits wieder, bis Teile fester Materie, wie ein eklig grauer Käse, vor seiner Brust schwebten. Und immer noch strömten die Fluten auf Geheiß des Jaff und fügten der Masse immer mehr Substanz hinzu. Und allmählich bekam sie auch Gestalt; die erste grobe Skizze von Teds privatem Grauen. Tommy-Ray grinste, als er es sah; die zuckenden Beine, die schielenden Augen. Armer Ted, der dieses Baby in sich gehabt hatte. Wie der Jaff gesagt hatte, er war ohne es besser dran.

234

Das war der erste von zahlreichen Besuchen in dieser Nacht, und sie bekamen jedesmal eine neue Bestie aus den verlorenen Seelen.

Alle blaß, alle vage reptilienhaft, aber in jeder anderen Hinsicht eigenständige Schöpfungen. Der Jaff drückte es am besten aus, als sich die nächtlichen Abenteuer ihrem Ende näherten.

»Es ist eine Kunst«, sagte er. »Dieses Herausziehen. Findest du nicht auch?«

»Ja. Es gefällt mir.«

»Selbstverständlich nicht die ›Kunst‹. Aber ein Echo davon.

Wie jede Kunst, vermute ich.«

»Wohin gehen wir jetzt?«

»Ich muß ausruhen. Wir suchen einen schattigen, kühlen Ort.«

»Ich kenne ein paar.«

»Nein. Du gehst heim.«

»Warum?«

»Weil ich will, daß der Grove morgen aufwacht und denkt, daß die Welt wie immer ist.«

»Und was sage ich Jo-Beth?«

»Sag ihr, daß du dich an nichts erinnern kannst. Wenn sie dich bedrängt, dann entschuldige dich.«

»Ich will nicht gehen«, sagte Tommy-Ray.

»Ich weiß«, sagte der Jaff und legte Tommy-Ray eine Hand auf die Schulter. Er massierte beim Sprechen den Muskel.

»Aber wir wollen nicht, daß sie einen Suchtrupp nach dir ausschicken. Sie könnten Dinge entdecken, die wir erst preisgeben sollten, wenn wir dazu bereit sind!«

Darüber grinste Tommy-Ray.

»Wie lange wird das dauern?«

»Du kannst es nicht erwarten zu sehen, wie der Grove

auseinandergenommen wird, was?«

»Ich zähle die Stunden.«

235

Der Jaff lachte.

»Wie der Vater, so der Sohn«, sagte er, »gib auf dich acht, Junge. Ich komme wieder.«

Und dann führte er seine Bestien lachend in die Dunkelheit.

236

IV

Das Mädchen seiner Träume hatte sich geirrt, dachte Howie, als er aufwachte: Die Sonne scheint nicht jeden Tag im Staate Kalifornien. Als er die Jalousien hochzog, war die Dämmerung trübe; der Himmel zeigte keine Spur Blau. Er machte pflichtschuldigst seine Übungen - das Minimum, das sein Gewissen zuließ. Sie trugen wenig bis gar nichts dazu bei, seinen Körper zu beleben; er schwitzte einfach nur. Nachdem er geduscht und sich rasiert hatte, zog er sich an und ging ins Einkaufszentrum.

Er war noch nicht soweit geheilt, wie es erforderlich sein würde, wenn er Jo-Beth sah. Er wußte aus früheren

Erfahrungen, daß jeder Versuch seinerseits, eine Rede zu planen, lediglich in hoffnungslosem Stammeln enden würde, wenn er den Mund aufmachte. Es wäre besser, ganz dem

Augenblick entsprechend zu reagieren. Wenn sie beharrlich war, würde er nachdrücklich sein. Wenn sie zerknirscht war, würde er verzeihen. Es kam nur darauf an, daß er den Bruch des vergangenen Tages wieder kittete.

Möglicherweise gab es eine Erklärung für das, was ihnen im Motel wiederfahren war, aber stundenlanges gründliches Nachdenken seinerseits hatte nichts ergeben. Er konnte lediglich fol-gern, daß ihr gemeinsamer Traum - dessen Thema, bedachte man die starken Bande zwischen ihnen, nicht schwer zu verstehen war - irgendwie mittels einer telepathischen Fehlschaltung in einen Alptraum verwandelt worden war, den sie weder begriffen noch verdienten. Es war ein irgendwie gearteter astraler Fehler. Er hatte nichts mit ihnen zu tun; sie vergaßen ihn am besten gleich wieder. Mit etwas gutem Willen auf beiden Seiten konnten sie ihre Beziehung dort wieder aufnehmen, wo sie sie vor Butrick's Steak House aufgegeben hatten, als noch so viele Versprechungen in der Luft lagen.

Er ging direkt zur Buchhandlung. Lois - Mrs. Knapp - stand hinter dem Ladentisch. Sonst war das Geschäft leer. Er lächelte 237

und sagte hallo, dann fragte er, ob Jo-Beth schon da war. Mrs.

Knapp sah auf die Uhr und informierte ihn frostig, sie wäre noch nicht da - und sie wäre zu spät.

»Dann warte ich«, sagte er, weil er sich von der

Unfreundlichkeit der Frau nicht von seinem Vorhaben

abbringen lassen wollte. Er ging zu dem Bücherstapel beim Fenster, wo er blättern und gleichzeitig darauf warten konnte, daß Jo-Beth eintraf.

Die Bücher vor ihm waren allesamt religiöser Natur. Eines fiel ihm besonders ins Auge: Die Geschichte des Erlösers. Der Umschlag zeigte einen Mann auf den Knien vor einem grellen Licht sowie die Werbung, daß das Buch die größte

Offenbarung des Jahrhunderts enthielt. Er blätterte es durch.

Das schmale Bändchen - es war kaum mehr als eine Broschüre

- war von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage veröffentlicht worden und erzählte in leicht

verständlichen Absätzen und Bildern die Geschichte des Großen Weißen Gottes des alten Amerika. Den Illustrationen zufolge sah dieser Gott, in welcher Inkarnation er auch immer erschien - als Quetzalcoatl in Mexiko; als Tonga-Loa, Gott der Meeressonne, in Polynesien; als Illa-Tici, Kuku-lean oder in einem halben Dutzend anderer Verkleidungen -, stets wie der perfekte weiße, reinrassige Held aus: groß, geschmeidig, helle Haut, blaue Augen. Und nun, behauptete die Broschüre, war er nach Amerika zurückgekehrt, um den Jahrtausendwechsel zu feiern. Diesesmal würde er bei seinem wahren Namen genannt werden: Jesus Christus. Howie ging zu einem anderen Regal und suchte nach einem Buch, das besser zu seiner Stimmung paßte. Liebesgedichte vielleicht; oder ein Sex-Handbuch. Doch als er die Bücher auf den Regalen genauer in Augenschein nahm, stellte er fest, daß sie allesamt vom selben Verlag oder einer zugehörigen Firma veröffentlicht worden waren. Es gab Gebetbücher; Gesangbücher für die ganze Familie; schwergewichtige Bände über den Aufbau von Zim, der Stadt Gottes 238

auf Erden; oder über die Bedeutung der Taufe. Darunter ein Bildband über das Leben von Joseph Smith, mit Fotos seines Geburtshauses und dem heiligen Hain, wo er offenbar eine Vision gehabt hatte. Die Bildlegende erweckte Howies

Aufmerksamkeit.

Ich sah zwei Wesenheiten, deren strahlender Glanz und deren Glorie unbeschreiblich waren, in der Luft über mir schweben. Eine davon sprach zu mir, nannte mich bei meinem Namen und sagte...

»Ich habe bei Jo-Beth zu Hause angerufen. Es nimmt

niemand ab. Sie müssen weggefahren sein.«

Howie sah von dem Text auf. »Zu schade«, sagte er, glaubte der Frau aber nicht rückhaltlos. Wenn sie den Anruf wirklich gemacht hatte, dann sehr leise.

»Sie kommt heute wahrscheinlich gar nicht mehr«, fuhr Mrs.

Knapp fort, die beim Sprechen Howies Blick auswich. »Ich habe eine sehr formlose Vereinbarung mit ihr. Sie arbeitet, wenn es ihr am besten paßt.«

Er wußte, daß das eine Lüge war. Er hatte erst gestern morgen gehört, wie sie Jo-Beth schalt, weil sie unpünktlich gewesen war; ihre Arbeitszeit war ganz und gar nicht gleitend.

Aber Mrs. Knapp schien, als gute Christin, fest entschlossen zu sein, ihn aus dem Laden zu vertreiben. Vielleicht hatte sie gesehen, wie er beim Blättern gegrinst hatte.

»Es hat überhaupt keinen Zweck, daß Sie warten«, fuhr sie fort. »Es könnte den ganzen Tag dauern.«

»Ich verscheuche doch keine Kunden, oder?« sagte Howie, um sie zu zwingen, ihre Vorbehalte gegen ihn auszusprechen.

»Nein«, sagte sie mit einem knappen, freudlosen Lächeln.

»Das wollte ich auch nicht sagen.«

Er ging zum Tisch. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zu-rück, als hätte sie Angst vor ihm.

»Und was genau wollen Sie sagen?« fragte er und konnte sich kaum noch beherrschen. »Was habe ich an mir, das Ihnen 239

nicht gefällt? Mein Deodorant? Mein Haarschnitt?«

Sie versuchte wieder das knappe Lächeln, aber diesmal gelang es ihr, obwohl sie in Heuchelei geübt war, nicht so recht. Statt dessen zuckte ihr Gesicht nur.

»Ich bin nicht der Teufel«, sagte Howie. »Ich bin nicht hierher gekommen, um jemandem ein Leid zuzufügen.«

Darauf antwortete sie nicht.

»Ich wurde... h... h... hier geboren«, fuhr er fort. »In Palomo Grove.«

»Ich weiß«, sagte sie.

Schau, schau, dachte er. Hier haben wir eine Enthüllung.

»Was wissen Sie sonst noch?« fragte er sie behutsam.

Sie sah zur Tür, und er wußte, sie sprach ein stummes Gebet zu ihrem Großen Weißen Gott, daß jemand zur Tür

hereinkommen und sie von diesem verdammten Jungen und seinen Fragen befreien würde. Weder der Gott noch ein Kunde gehorchten.

»Was wissen Sie über mich?« fragte Howie nochmals. »Es kann nicht so schlimm sein... oder?«

Lois Knapp zuckte kurz die Achseln. »Wohl nicht«, sagte sie.

»Dann los.«

»Ich kannte Ihre Mutter«, sagte sie und verstummte dann, als könnte ihn das zufriedenstellen. Er antwortete nicht, sondern überließ es ihr, das gespannte Schweigen durch Worte

auszufüllen. »Ich kannte sie natürlich nicht sehr gut«, fuhr sie fort. »Sie war etwas jünger als ich. Aber damals kannte jeder jeden. Es ist schon lange her. Und als dann der Unfall passierte...«

»Sie k... k... können aussprechen«, sagte Howie zu ihr.

»Was aussprechen?«

»Sie nennen es einen Unfall, aber es war... war... war eine Vergewaltigung, richtig?«

Ihrem Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, daß sie nie 240

gedacht hätte, dieses Wort - oder etwas entfernt so Obszönes -

könnte jemals in ihrem Laden ausgesprochen werden.

»Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete sie irgendwie trotzig. »Und selbst wenn ich es könnte...« Sie verstummte, holte tief Luft und machte dann einen neuen Versuch. »Warum gehen Sie nicht wieder dorthin, woher Sie gekommen sind?«

sagte sie.

»Aber ich bin ja zurückgekommen«, antwortete er. »Dies ist meine Heimatstadt.«

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte sie und zeigte ihre Verzweiflung schließlich offen. »Ist Ihnen nicht klar, wie alles aussieht? Sie kommen hierher, und gleichzeitig stirbt Mr. Vance.«

»Was hat das denn damit zu tun, um Himmels willen?«

wollte Howie wissen. Er hatte in den vergangenen

vierundzwanzig Stunden kaum auf die Nachrichten geachtet, aber er wußte, daß die Bergung der Leiche des Komikers, die er gestern gesehen hatte, zu einer mittleren Tragödie geworden war. Er begriff nur den Zusammenhang nicht.

»Ich habe Buddy Vance nicht umgebracht. Und meine

Mutter ganz sicher auch nicht.«

Sie fügte sich schließlich in ihre Rolle als Nachrichtenüber-mittlerin, ließ ihr Zögern sein und erzählte den Rest unverhohlen und schnell, um alles hinter sich zu bringen.

»Der Ort, wo Ihre Mutter vergewaltigt worden ist«, sagte sie,

»ist genau der, wo Mr. Vance abgestürzt ist.«

»Genau derselbe?« sagte Howie.

»Ja«, lautete die Antwort, »man hat mir gesagt, genau derselbe. Ich werde mich sicher nicht persönlich davon

überzeugen. Es gibt genügend Böses in der Welt, man muß nicht auch noch eigens danach suchen.«

»Und Sie denken, ich habe irgend etwas damit zu tun?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Nein. Aber g... g... gedacht.«

»Wenn Sie unbedingt wollen: ja.«

241

»Und Sie wollen, daß ich Ihren Laden verlasse, damit ich meinen schlechten Einfluß nicht verbreiten kann.«

»Ja«, sagte sie unverblümt. »Das will ich.«

Er nickte. »O. K.«, sagte er. »Ich gehe. Aber Sie müssen mir versprechen, Sie werden Jo-Beth erzählen, daß ich hier war.«

Mrs. Knapps Gesicht war ganz Widerwille. Aber ihre Angst vor ihm verlieh ihm eine Macht, deren Einfluß er sich nicht völlig entziehen konnte.

»Das ist doch nicht zuviel verlangt, oder?« sagte er. »Und Sie lügen ja nicht.«

»Nein.«

»Dann sagen Sie es ihr?«

»Ja.«

»Beim Großen Weißen Gott von Amerika?« sagte er. »Wie heißt er doch gleich... Quetzalcoatl?« Sie sah beleidigt drein.

»Vergessen Sie's«, sagte er. »Ich gehe. Tut mir leid, wenn ich heute morgen das Geschäft geschädigt habe.«

Sie hatte einen panischen Gesichtsausdruck, als er den Laden verließ. In den zwanzig Minuten, die er in dem Geschäft verbracht hatte, war die Wolkendecke aufgerissen; die Sonne kam heraus und schien auf den Hügel. In wenigen Minuten würde sie auch auf die Sterblichen im Einkaufszentrum scheinen, zu denen er gehörte. Das Mädchen seiner Träume hatte also doch die Wahrheit gesagt.

242

V

Grillo wachte auf, als das Telefon klingelte, streckte die Hand aus, stieß ein halbvolles Glas Champagner um - sein letzter betrunkener Trinkspruch der vergangenen Nacht: Auf Buddy, tot, aber unvergessen -, fluchte, nahm den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr.

»Hallo?« knurrte er.

»Habe ich dich geweckt?«

»Tesla?«

»Ich liebe Männer, die sich an meinen Namen erinnern«, sagte sie.

»Wie spät ist es?«

»Spät. Du solltest wach sein und arbeiten. Ich möchte, daß du deine Arbeit für Abernethy erledigt hast, wenn ich eintreffe.«

»Was sagst du da? Du kommst hierher?«

»Du schuldest mir ein Essen für den Klatsch über Vance«, sagte sie. »Such ein teures Restaurant aus.«

»Wann willst du denn hier sein?« fragte er sie.

»Oh, das weiß ich noch nicht. Gegen...« Noch ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, legte er den Hörer auf, grinste das Telefon an und stellte sich vor, wie sie jetzt am anderen Ende fluchte. Aber als er aufstand, verschwand das Lächeln.

Pochende Kopfschmerzen sprengten ihm fast den Schädel; er bezweifelte, ob er überhaupt aufstehen könnte, wenn er dieses letzte Glas leergetrunken hätte. Er wählte den Zimmerservice und bestellte Kaffee.

»Saft dazu, Sir?« fragte die Stimme aus der Küche.

»Nein, nur Kaffee.«

»Eier, Croissants...«

»Gütiger Himmel, nein. Keine Eier. Gar nichts. Nur Kaffee.«

Die Vorstellung, sich zum Schreiben hinzusetzen, war fast so ekelerregend wie der Gedanke an Frühstück. Er beschloß statt 243

dessen, mit Ellen Nguyen, dem Hausmädchen von Vance,

deren Adresse, ohne Telefonnummer, sich immer noch in seiner Tasche befand, Kontakt aufzunehmen.

Durch eine kräftige Dosis Koffein wiederbelebt, stieg er ins Auto und fuhr nach Deerdell. Das Haus, das er nach langem Suchen fand, stand in schroffem Kontrast zu ihrem

Arbeitsplatz auf dem Hügel. Es war klein, heruntergekommen und dringend reparaturbedürftig. Grillo ahnte bereits, was für ein Gespräch ihm bevorstand: Die unzufriedene Angestellte wusch die schmutzige Wäsche ihres Chefs. Gelegentlich waren derlei Informanten nützlich gewesen, aber ebensooft hatten sie tückische, erfundene Geschichten erzählt. In diesem Fall bezweifelte er das. Lag es daran, daß Ellen ihn so verwundbar und herzlich empfing und ihm frischen Kaffee kochte,

nachdem sie ihm guten Tag gesagt hatte; oder weil sie, wenn sie wieder ins Zimmer kam, nachdem sie nach ihrem kranken Kind gesehen hatte, das mit einer Grippe im Bett lag, wie sie erklärte, ihre Geschichte ohne logische Fehler weitererzählte und die Fakten immer die gleichen blieben; oder weil die Geschichte, die sie erzählte, nicht nur dem Ruf von Buddy Vance schadete, sondern auch ihrem eigenen? Letztere

Tatsache überzeugte ihn wahrscheinlich mehr als alle anderen davon, daß sie eine zuverlässige Quelle war. Die Geschichte verteilte die schmutzige Wäsche gleichmäßig.

»Ich war seine Geliebte«, erklärte sie. »Fast fünf Jahre lang.

Selbst wenn Rochelle im Haus war - was nicht oft vorkam -, fanden wir Mittel und Wege, zusammenzusein. Oft. Ich glaube, sie hat es die ganze Zeit gewußt. Darum hat sie mich bei erster Gelegenheit hinausgeworfen.«

»Also sind Sie nicht mehr in Coney angestellt?«

»Nein. Sie hat nur auf eine Ausrede gewartet, mich zu feuern, und Sie haben sie geliefert.«

»Ich?« sagte Grillo. »Inwiefern?«

»Sie sagte, ich hätte mit Ihnen geflirtet. Typisch für sie, daß 244

sie so etwas als Grund nannte.« Nicht zum erstenmal im Verlauf ihrer Unterhaltung hörte Grillo heftige Gefühle heraus

- in diesem Fall Verachtung -, die das passive Äußere der Frau kaum verriet. »Sie mißt alle nach ihrem Maß«, fuhr sie fort.

»Und das kennen Sie ja.«

»Nein«, sagte Grillo unverblümt. »Das kenne ich nicht.«

Ellen sah ihn erstaunt an. »Warten Sie hier«, sagte sie zu ihm. »Ich will nicht, daß Philip das alles mit anhören muß.«

Sie stand auf, ging ins Zimmer ihres Sohnes, sagte etwas zu ihm, das Grillo nicht verstand, machte die Tür zu, kam wieder zu ihm zurück und fuhr mit ihrer Geschichte fort.

»Er hat in einem Schuljahr schon mehr schlimme Worte gelernt, als mir lieb ist. Ich möchte, daß er die Chance hat... ich weiß nicht, unschuldig zu sein? Ja, unschuldig, und sei es nur eine kurze Weile. Die häßlichen Dinge kommen noch früh genug, oder nicht?«

»Die häßlichen Dinge?«

»Sie wissen schon: Menschen, die einen betrügen und verraten. Sex-Angelegenheiten. Macht-Angelegenheiten.«

»Klar«, sagte Grillo. »Die kommen.«

»Ich habe Ihnen von Rochelle erzählt, richtig?«

»Ja, das haben Sie.«

»Nun, es ist ganz einfach: Bevor sie Buddy geheiratet hat, war sie eine Hure.«

»Was war sie?«

»Sie haben schon richtig gehört. Warum überrascht Sie das so sehr?«

»Ich weiß nicht. Sie ist so schön. Es muß doch andere Möglichkeiten gegeben haben, Geld zu verdienen.«

»Sie hat teure Gewohnheiten«, antwortete Ellen. Wieder Verachtung, diesesmal mit einer Spur Ekel.

»Hat Buddy das gewußt, als er sie geheiratet hat?«

»Was? Die Gewohnheiten oder daß sie eine Hure war?«

»Beides.«

245

»Ich bin ganz sicher. Ich schätze, darum hat er sie geheiratet.

Sehen Sie, Buddy hat reichlich perverse Neigungen. Tut mir leid, ich meine hatte. Ich kann mich nicht damit abfinden, daß er tot ist.«

»Es muß sehr schwer für Sie sein, so kurz nach dem Verlust über das alles zu reden. Tut mir leid, daß Sie das durchmachen müssen.«

»Ich mache es doch freiwillig, oder?« antwortete sie. »Ich möchte, daß es jemand weiß. Ich möchte, daß es alle wissen.

Er hat mich geliebt, Mr. Grillo. Mich hat er wirklich geliebt, die ganzen Jahre über.«

»Und ich nehme an, Sie ihn auch?«

»O ja«, sagte sie leise. »Sehr. Er war natürlich egoistisch, aber alle Männer sind egoistisch, oder nicht?« Sie ließ Grillo keine Zeit, sich selbst auszunehmen, bevor sie fortfuhr. »Sie werden alle in dem Glauben erzogen, daß sich die Welt nur um sie dreht. Ich mache bei Philip denselben Fehler. Ich weiß es.

Der Unterschied bei Buddy ist, daß sich die Welt eine Zeitlang tatsächlich um ihn gedreht hat. Er war einer der beliebtesten Männer Amerikas. Ein paar Jahre. Jeder kannte sein Gesicht, jeder hatte seine Witze parat. Und selbstverständlich wollten sie alles über sein Privatleben wissen.«

»Demnach ist er ein großes Risiko eingegangen, eine Frau wie Rochelle zu heiraten?«

»Das würde ich sagen, Sie nicht? Besonders da er versuchte, ein neues Programm zu machen und einen Fernsehsender dazu zu bringen, ihm eine Sendung zu geben. Aber wie schon gesagt, er hatte perverse Neigungen. Manchmal war er

regelrecht selbstzerstörerisch.«

»Er hätte Sie heiraten sollen«, bemerkte Grillo.

»Er hätte Schlimmeres machen können«, bemerkte sie. »Er hätte viel Schlimmeres machen können.« Dieser Gedanke brachte Gefühle ans Licht, die nur durch Abwesenheit geglänzt hatten, während sie von ihrer eigenen Rolle sprach. Tränen tra-246

ten ihr in die Augen. Gleichzeitig rief der Junge aus seinem Zimmer. Sie hielt eine Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.

»Ich gehe«, sagte Grillo und stand auf. »Sein Name ist Philip?«

»Ja«, sagte sie, doch das Wort war beinahe unverständlich.

»Ich kümmere mich um ihn, keine Sorge.«

Als er hinausging, wischte sie sich mit den Handrücken Trä-

nen von den Augen. Er machte die Tür zum Kinderzimmer auf und sagte:

»Hi, ich bin Grillo.«

Der Junge, dessen Gesicht die feierliche Symmetrie seiner Mutter hatte, saß aufrecht im Bett und war von einem

Durcheinander von Spielsachen, Malstiften und bekritzelten Blättern umgeben. Der Fernseher in der Ecke war

eingeschaltet, doch der Trickfilm lief ohne Ton.

»Du bist Philip, richtig?«

»Wo ist Mama?« wollte der Junge wissen. Er machte kein Hehl daraus, daß er Grillo gegenüber mißtrauisch war, und sah an ihm vorbei nach seiner Mutter.

»Die kommt gleich«, versicherte Grillo ihm und ging ans Bett. Die Bilder, die größtenteils von der Daunendecke heruntergerutscht waren und auf dem Fußboden lagen,

schienen alle dieselbe aufgeblähte Gestalt zu zeigen. Grillo ließ sich auf die Hacken nieder und hob eines auf. »Wer ist das?«

fragte er.

»Ballon-Mann«, antwortete Philip ernst.

»Hat er auch einen Namen?«

»Ballon-Mann«, lautete die Antwort mit einer Spur Ungeduld.

»Ist er aus dem Fernsehen?« fragte Grillo und studierte die bunte Nonsens-Kreatur auf dem Blatt.

»Nö.«

»Woher dann?«

247

»Aus meinem Kopf.«

»Ist er freundlich?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Er beißt, nicht?«

»Nur dich«, lautete die Antwort.

»Das ist aber nicht sehr höflich«, hörte Grillo Ellen sagen. Er sah über die Schulter. Sie hatte versucht, die Tränen zu verbergen, aber ihren Sohn, der Grillo vorwurfsvoll ansah,

überzeugte sie damit offensichtlich nicht.

»Sie sollten ihm nicht zu nahe kommen«, sagte Ellen. »Er war ziemlich krank, stimmt's?«

»Jetzt ist es wieder gut.«

»Nein. Du bleibst im Bett, bis ich Mr. Grillo zur Tür gebracht habe.«

Grillo stand auf und legte das Bild zu den anderen Porträts auf das Bett.

»Danke, daß du mir den Ballon-Mann gezeigt hast«, sagte er.

Philip antwortete nicht, sondern machte sich wieder an die Arbeit und malte ein anderes Bild rot an.

»Was ich Ihnen gesagt habe...«, sagte Ellen, als das Kind sie nicht mehr hören konnte, »... ist nicht die ganze Geschichte.

Glauben Sie mir, es gibt noch viel mehr. Aber ich bin noch nicht bereit, es zu erzählen.«

»Wenn, dann bin ich bereit, es mir anzuhören«, sagte Grillo.

»Sie finden mich im Hotel.«

»Vielleicht rufe ich an. Vielleicht auch nicht. Was ich Ihnen sage, ist nur ein Teil der Wahrheit, nicht? Das Wichtigste ist Buddy, und den werden Sie niemals in Worte fassen können.

Niemals.«

Dieser Gedanke zum Abschied ging Grillo durch den Kopf, als er durch den Grove zum Hotel zurückfuhr. Es war eine

einfache, aber durchaus gewichtige Feststellung. Buddy Vance war tatsächlich im Mittelpunkt dieser Geschichte. Sein Tod 248

war rätselhaft und tragisch zugleich; aber das Leben, das ihm vorangegangen war, war noch rätselhafter. Er hatte so viele Hinweise auf dieses Leben, daß er außerordentlich fasziniert war. Die Jahrmarktsammlung, die sich an den Wänden von Coney Eye drängte - die wahre Kunst Amerikas; die

moralische Geliebte, die ihn immer noch liebte; die Ehefrau-Hure, die ihn höchstwahrscheinlich nicht liebte und auch nie geliebt hatte. Das alles war auch ohne die Pointe des absurden Todes eine verdammt gute Story. Die Frage war nicht, ob er sie erzählen sollte, sondern wie.

Abernethys Meinung zu der Sache war ihm klar. Er würde Mutmaßungen den Vorzug vor Fakten geben, und Dreck dem Vorzug vor Würde. Aber hier im Grove gab es Geheimnisse.

Grillo hatte sie gesehen, sie waren aus dem Grab von Buddy Vance herausgekommen, nichts Geringeres, und himmelwärts gestrebt. Es war wichtig, diese Geschichte ehrlich und gut zu erzählen, denn andernfalls würde er nur noch größere

Verwirrung stiften, womit keinem ein Gefallen getan wurde.

Aber eins nach dem anderen; er mußte die Fakten so

festhalten, wie er sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden erfahren hatte: von Tesla, von Hotchkiss, von Rochelle und jetzt von Ellen. Daran machte er sich, sobald er im Hotel war, und fertigte eine Rohfassung des Buddy-Vance-Artikels in Handschrift an, während er an dem winzigen Schreibtisch im Zimmer saß. Sein Rücken schmerzte beim Arbeiten, und erste Anzeichen von Fieber trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Aber das bemerkte er gar nicht - oder erst, als er schon über zwanzig Seiten Notizen aufgeschrieben hatte. Erst als er danach aufstand und sich nach der Arbeit streckte, stellte er fest, daß ihn zwar der Ballon-Mann nicht gebissen hatte, aber dafür die Grippe dessen Schöpfers.

249

VI

l

Auf dem Weg vom Einkaufszentrum zu Jo-Beths Haus wurde Howie mehr als klar, warum sie so ein Aufhebens darum gemacht hatte, daß die Ereignisse zwischen ihnen - besonders der gemeinsame Schrecken im Motel - das Werk des Teufels war.

Kein Wunder, arbeitete sie doch mit einer äußerst religiösen Frau in einer Buchhandlung, die vom Boden bis zur Decke mit Mormonen-Literatur vollgestopft war. So schwierig seine Unterhaltung mit Lois Knapp gewesen war, sie hatte ihm einen besseren Eindruck von der Herausforderung vermittelt, die vor ihm lag. Er mußte Jo-Beth irgendwie davon überzeugen, daß die Leidenschaft, die sie füreinander empfanden, kein Verbrechen gegen Gott oder die Menschheit war und daß nichts Dä-

monisches in ihm lauerte. Er konnte sich geringere Probleme vorstellen.

Wie sich herausstellte, bekam er keine Chance, sie zu überzeugen. Er klopfte und läutete fünf Minuten lang, weil er instinktiv wußte, daß jemand im Haus war. Erst als er wieder auf die Straße gegangen war und anfing, zu den zugezogenen Fenstern hinaufzubrüllen, hörte er, wie die Sicherheitsketten hinter der Tür weggenommen wurden. Er ging zur Schwelle zurück und bat die Frau, die ihn durch den Spalt hindurch ansah, wahrscheinlich Joyce McGuire, ihre Tochter sprechen zu dürfen.

Normalerweise hatte er bei Müttern immer Erfolg gehabt. Sein Stammeln und die Brille verliehen ihm das Aussehen eines fleißigen und etwas introvertierten Studenten; sichere Gesellschaft. Aber Mrs. McGuire wußte, daß der Schein häufig trog. Ihr Rat war eine Wiederholung dessen von Lois Knapp.

»Sie sind hier nicht erwünscht«, sagte sie zu ihm. »Gehen Sie wieder nach Hause. Lassen Sie uns in Ruhe.«

»Ich muß Jo-Beth nur ein paar Augenblicke sprechen«, sagte 250

er. »Sie ist doch da, oder nicht?«

»Ja, sie ist da. Aber sie will Sie nicht sprechen.«

»Das würde ich gerne von ihr selbst hören, wenn Sie gestatten.«

»Ach, tatsächlich?« sagte Mrs. McGuire und machte sehr zu seiner Überraschung die Tür auf.

Im Haus war es dunkel und auf der Schwelle hell, aber er konnte Jo-Beth trotzdem im Halbdunkel auf der anderen Seite der Diele sehen. Sie war dunkel gekleidet, als stünde eine Beerdigung bevor. Dadurch sah sie noch blasser aus, als sie tatsächlich war. Nur in ihren Augen spiegelte sich etwas Licht von der Schwelle.

»Sag es ihm«, befahl ihre Mutter.

»Jo-Beth?« sagte Howie. »Können wir miteinander reden?«

»Du darfst nicht hierherkommen«, sagte Jo-Beth leise. Ihre Stimme drang kaum aus dem Inneren heraus. Die Luft

zwischen ihnen war tot. »Es ist gefährlich für uns alle. Du darfst nie wieder hierherkommen.«

»Aber ich muß mit dir reden.«

»Es ist sinnlos, Howie. Uns werden schreckliche Dinge zustoßen, wenn du nicht gehst.«

»Was denn?« wollte er wissen.

Aber nicht sie antwortete, sondern ihre Mutter.

»Sie trifft keine Schuld«, sagte die Frau, und jetzt war nichts mehr von der Ablehnung zu spüren, mit der sie ihn begrüßt hatte. »Niemand gibt Ihnen die Schuld. Aber Sie müssen verstehen, Howard, was Ihrer Mutter und mir zugestoßen ist, ist noch nicht vorbei.«

»Nein, ich fürchte, das verstehe ich nicht«, erwiderte er.

»Das verstehe ich überhaupt nicht.«

»Vielleicht ist das auch besser so«, lautete die Antwort.

»Bitte gehen Sie einfach. Gleich.« Sie wollte die Tür zumachen.

»W... w... w...«, begann Howie. Aber bevor er Warten Sie 251

sagen konnte, sah er sich einem zwei Zentimeter von seiner Nasenspitze entfernten Holzfurnier gegenüber.

»Scheiße«, brachte er ohne Stottern heraus.

Er stand ein paar Sekunden lang wie ein Narr vor der

geschlossenen Tür, während auf der anderen Seite Riegel und Ketten wieder an Ort und Stelle gebracht wurden. Eine umfassendere Niederlage war kaum vorstellbar. Nicht nur Mrs.

McGuire hatte ihm geraten, seine Sachen zu packen, auch Jo-Beth hatte in den Refrain eingestimmt. Er beschloß, das Problem zu vertagen, anstatt noch einen Versuch zu wagen und eine weitere Niederlage zu riskieren.

Seinen nächsten Anlaufhafen hatte er bereits geplant, noch ehe er sich von der Schwelle abwandte und die Straße

hinunterging.

Irgendwo im Wald, auf der anderen Seite des Grove, war die Stelle, wo Mrs. McGuire, seine Mutter und der Komiker allesamt zu Schaden gekommen waren. Vergewaltigung, Tod und Desaster kennzeichneten diese Stelle. Vielleicht gab es irgendwo eine Tür, die nicht so einfach zugeschlagen werden konnte.

»Es ist am besten so«, sagte Mama, als das Geräusch von Howard Katz' Schritten endlich verklungen war.

»Ich weiß«, sagte Jo-Beth, die immer noch die verriegelte Tür anstarrte.

Mama hatte recht. Die Geschehnisse der vergangenen Nacht

- daß der Jaff ins Haus eingedrungen war und Tommy-Ray geholt hatte - bewiesen nachdrücklich, daß man niemandem trauen konnte. Ein Bruder, den sie gekannt zu haben glaubte und den sie sicher lieb hatte, war ihr mit Leib und Seele von einer Macht genommen worden, die aus der Vergangenheit gekommen war. Auch Howie war aus der Vergangenheit

gekommen; aus Mamas Vergangenheit. Was immer momentan im Grove vor sich ging, er war ein Teil davon. Vielleicht 252

Opfer; vielleicht Erzeuger. Doch ob er unschuldig oder schuldig war - wenn sie ihn über die Schwelle dieses Hauses bat, würde sie die geringe Hoffnung auf Erlösung, die sie nach der Auseinandersetzung der vergangenen Nacht hatten, aufs Spiel setzen.

Das alles machte es freilich nicht leichter zu sehen, wie ihm die Tür zugeschlagen wurde. Auch jetzt noch juckte es ihr in den Fingern, die Riegel zurückzuziehen und die Tür

aufzureißen; ihn zurückzurufen und an sich zu drücken; ihm zu sagen, daß zwischen ihnen alles gut werden konnte. Was war gut für sie? Daß sie zusammen waren und die Abenteuer erlebten, nach denen sich ihr Herz die ganze Zeit über gesehnt hatte, daß sie diesen Jungen für sich beanspruchte und küßte, der vielleicht ihr eigener Bruder war? Oder daß sie sich inmitten dieser Flut an die alten Werte klammerte, obwohl mit jeder neuen Woge wieder einer davongespült wurde?

Mama wußte eine Antwort; die Antwort, die sie immer parat hatte, wenn Widersacher auftraten.

»Wir müssen beten, Jo-Beth. Beten, daß wir von unseren Unterdrückern erlöst werden. Und dann soll das Böse offenbart werden, welches der Herr mit dem Odem seines Mundes verzehren und mit dem Licht seiner Ankunft vernichten wird...«

»Ich sehe kein Licht hier, Mama. Ich glaube, ich habe noch nie eines gesehen.«

»Es wird kommen«, beharrte Mama. »Alles wird klar und deutlich werden.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Jo-Beth. Sie dachte an

Tommy-Ray, der gestern nacht spät ins Haus zurückgekehrt war und sein unschuldiges Lächeln gelächelt hatte, als sie ihn nach dem Jaff fragte, als wäre überhaupt nichts geschehen.

War er jetzt einer der Bösen, für deren Vernichtung Mama gerade so inbrünstig betete? Würde der Herr ihn mit dem Odem seines Mundes verzehren? Sie hoffte nicht. Tatsächlich betete sie sogar, daß es nicht so kommen würde, als sie und 253

Mama niederknieten, um mit Gott zu sprechen; sie betete, der Herr möge nicht zu hart über Tommy-Ray richten. Und auch nicht über sie, weil sie dem Gesicht auf der Schwelle hinaus in die Sonne und wo immer es auch hinging folgen wollte.

2

Obwohl der Tag heftig auf den Wald herniederprasselte, war die Atmosphäre unter seinem Baldachin die eines Ortes im Banne der Nacht. Welche Tiere und Vögel auch immer hier hausen mochten, sie blieben in ihren Baus und Nestern. Licht oder etwas, das im Licht lebte, hatte sie zum Schweigen gebracht. Howie spürte ihre abschätzenden Blicke dennoch. Sie behielten jeden seiner Schritte im Auge, als wäre er ein Jäger, der unter einem zu grellen Mond zu ihnen kam. Er war hier nicht erwünscht. Und dennoch wuchs der Drang, weiter

voranzugehen, mit jedem Schritt, den er machte. Am Tag zuvor hatte ihn ein Flüstern hierher geführt; ein Flüstern, das er später als Streich seines benommenen Verstandes abgetan hatte.

Heute zweifelte keine Zelle seines Körpers mehr daran, daß der Ruf echt gewesen war. Es war jemand hier, der ihn sehen wollte; ihm begegnen wollte; ihn kennenlernen wollte. Gestern hatte er sich dem Ruf widersetzt. Das würde er heute nicht tun.

Eine Laune, die nicht ganz seine eigene war, verleitete ihn dazu, beim Gehen den Kopf zurückzulegen, so daß die Sonne, die das Laub durchbohrte, wie ein Schlag Tageslicht auf sein Gesicht fiel. Er zuckte nicht vor dem Leuchten zurück, sondern machte die Augen nur noch weiter auf. Die Helligkeit und der Rhythmus, mit dem es in seine Netzhäute drang, hypnotisierten ihn. Es mißfiel ihm, die Kontrolle über seine geistigen Vorgänge aufzugeben. Er trank nur, wenn er von seinen Freunden dazu genötigt wurde, und hörte sofort auf, wenn er spürte, wie seine Herrschaft über die Maschine nachließ; 254

Drogen waren völlig undenkbar. Aber diese Vergiftung hieß er willkommen; er lud die Sonne förmlich ein, die Wirklichkeit wegzusengen.

Es klappte. Als er die Szene um sich herum wieder

betrachtete, war er halb geblendet von Farben, wie sie kein Grashalm für sich beanspruchen konnte. Sein geistiges Auge beeilte sich geflissentlich, den Raum auszufüllen, den das Tatsächliche freigegeben hatte. Mit einemmal füllte sich sein Sehbereich und wuselte und quoll über von Bildern, die er aus einem unkartographierten Ort seines Kortex geholt haben mußte, denn er konnte sich nicht erinnern, daß er sie selbst erlebt hatte.

Er sah ein Fenster vor sich, das ebenso solide - nein, solider -

wie die Bäume war, zwischen denen er dahinwanderte. Es war offen, das Fenster, und man konnte Meer und Himmel dahinter sehen.

Diese Vision wich einer anderen, nicht ganz so friedlichen.

Feuer loderten rings um ihn herum, in denen Bücherseiten zu brennen schienen. Er schritt furchtlos durch das Feuer, weil er wußte, diese Visionen konnten ihm keinen Schaden zufügen, und er wollte noch mehr davon.

Eine dritte, noch seltsamere als die vorangegangenen, wurde ihm gewährt. Noch während die Feuer ringsum erloschen, tauchten Fische aus den Farben in seinen Augen heraus auf und schossen wie Regenbögen voraus.

Er mußte lachen, so bizarr war der Anblick, und sein Lachen löste ein weiteres Wunder aus, denn die drei Halluzinationen verschmolzen, bezogen den Wald, in dem er ging, in ihr Muster mit ein, bis Feuer, Fische, Himmel, Meer und Bäume ein einziges gleißendes Mosaik wurden.

Die Fische schwammen mit Feuer als Flossen. Der Himmel wurde grün und schleuderte Seesternblüten herab. Das Gras wogte wie die Flut unter seinen Füßen; oder besser gesagt, unter dem Verstand, der die Füße sah, denn Füße waren 255

plötzlich nichts für ihn; auch keine Beine oder andere Teile der Maschine. In diesem Mosaik war er Geist: eine rollende, von ihrem angestammten Platz entfernte Perle.

In seiner Freude bekümmerte ihn eine Frage: Wenn er nur Geist war, was war dann die Maschine? Überhaupt nichts? Etwas, das er abstreifen konnte? Das mit den Fischen ertränkt, mit den Worten verbrannt werden konnte? Irgendwo in ihm setzte Panik ein.

Ich habe keine Kontrolle mehr, sagte er sich, ich habe meinen Körper verloren und habe keine Kontrolle mehr. Mein Gott. Mein Gott. Mein Gott!

Psst, murmelte jemand in seinem Kopf. Es ist alles in Ordnung.

Er blieb stehen; hoffte es jedenfalls.

»Wer ist da?« sagte er; oder hoffte, daß er es gesagt hatte.

Das Mosaik um ihn herum war immer noch an Ort und Stelle und erfand mit jedem Augenblick neue Paradoxe. Er versuchte, es mit einem Aufschrei zu zertrümmern; er wollte von diesem Ort fort an einen einfacheren gelangen.

»Ich will sehen!« schrie er.

»Ich bin hier!« lautete die Antwort. »Howard, ich bin hier!«

»Hör auf damit!« flehte er.

»Womit?«

»Mit den Bildern. Hör mit den Bildern auf!«

»Hab keine Angst. Das ist die wirkliche Welt.«

»Nein!« schrie er zurück. »Das ist sie nicht! Das ist sie nicht!«

Er legte die Hände vors Gesicht, weil er hoffte, das Durcheinander zu vertreiben, aber sie - seine eigenen Hände - hatten sich mit dem Gegner verschworen.

Da, in der Mitte seiner Handflächen, waren seine Augen, die ihn ansahen. Das war zuviel. Er stieß ein Heulen des

Entsetzens aus und fiel nach vorne. Die Fische wurden heller; die Feuer flackerten empor; er spürte, wie sie bereit waren, ihn 256

zu verzehren.

Als er auf dem Boden aufschlug, verschwanden sie, als hätte jemand auf einen Schalter gedrückt.

Er blieb einen Augenblick still liegen, bis er sicher war, daß es sich nicht um einen neuen Trick handelte, dann hielt er die Handflächen hoch, um sich zu vergewissern, daß sie keine Augen mehr hatten, und schließlich richtete er sich wieder auf.

Doch selbst dann klammerte er sich an einen tiefhängenden Ast, um Kontakt mit der Welt zu wahren.

»Du enttäuschst mich, Howard«, sagte der, der ihn gerufen hatte.

Zum erstenmal, seit er die Stimme gehört hatte, hatte sie einen deutlichen Ursprung: eine Stelle, etwa zehn Meter von ihm entfernt, wo die Bäume einen Wald im Wald bildeten, in dessen Mitte ein Licht leuchtete. In diesem Licht badete ein Mann mit Pferdeschwanz und einem blinden Auge. Das

sehende Gegenstück betrachtete Howie durchdringend.

»Kannst du mich deutlich sehen?« fragte er.

»Ja«, sagte Howie. »Ich sehe dich gut. Wer bist du?«

»Mein Name ist Fletcher«, lautete die Antwort. »Und du bist mein Sohn.«

Howie klammerte sich noch fester an den Ast.

»Was bin ich?« sagte er.

Fletchers verwüstetes Gesicht lächelte nicht. So lächerlich sich anhörte, was er gesagt hatte, es sollte offenbar kein Witz sein. Er trat aus dem Kreis der Bäume heraus.

»Ich verstecke mich nicht gerne«, sagte er. »Schon gar nicht vor dir. Aber es sind so viele Menschen gekommen und gegangen...« Er gestikulierte wild mit den Armen. »Gekommen und gegangen! Und nur, um eine Exhumierung zu sehen.

Kannst du dir das vorstellen? Wie kann man nur so einen Tag verschwenden?«

»Hast du Sohn gesagt?« sagte Howie.

»Das habe ich«, sagte Fletcher. »Mein Lieblingswort! Wie 257

oben, so auch unten, nicht? Eine Kugel am Himmel. Zwei zwischen den Beinen.«

»Es ist ein Witz«, sagte Howie.

»Das solltest du besser wissen«, antwortete Fletcher todernst. »Ich habe dich sehr lange gerufen. Der Vater den Sohn.«

»Wie bist du in meinen Kopf gekommen?« wollte Howie

wissen.

Fletcher machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.

»Ich habe dich hier unten gebraucht, damit du mir hilfst«, sagte er. »Aber du hast mir Widerstand geleistet. Ich nehme aber an, in deiner Situation hätte ich dasselbe gemacht. Ich hätte dem brennenden Busch den Rücken zugekehrt.

Diesbezüglich sind wir gleich. Familienähnlichkeit.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Du hättest die Visionen noch eine Weile laufen lassen sollen. War ein richtiger Trip, nicht? Hatte ich schon lange nicht mehr. Ich habe immer Meskalin vorgezogen, aber ich schätze, das ist mittlerweile aus der Mode.«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Howie.

»Billigst du es nicht?«

»Nein.«

»Nun, was für ein schlechter Anfang; ich schätze, es kann nur noch besser werden. Weißt du, dein Vater war

meskalinsüchtig. Ich wollte die Visionen so sehr. Du magst sie auch. Jedenfalls mochtest du sie eine Weile.«

»Sie haben mich krank gemacht.«

»Zuviel auf einmal, das ist alles. Du wirst dich daran gewöhnen.«

»Unmöglich.«

»Aber du mußt lernen, Howard. Das war kein Zeitvertreib, es war eine Lektion.«

»Worin?«

»In der Wissenschaft des Seins und Werdens. Alchimie, 258

Biologie und Metaphysik in einer Disziplin. Ich habe lange gebraucht, es zu begreifen, aber es hat mich zu dem Mann gemacht, der ich bin« - Fletcher klopfte mit dem Zeigefinger an die Lippen -, »was, das ist mir klar, eine etwas pathetische Sichtweise ist. Es gibt bessere Umstände, seinen Erzeuger kennenzulernen, aber ich habe mir größte Mühe gegeben, dir einen Vorgeschmack des Wunders zu zeigen, bevor du seinen Erzeuger höchstpersönlich siehst.«

»Das ist nur ein Traum«, sagte Howie. »Ich habe zu lange in die Sonne gesehen, und sie hat mein Gehirn gebacken.«

»Ich sehe auch gern in die Sonne«, sagte Fletcher. »Aber: Nein - dies ist kein Traum. Wir sind beide in diesem Augenblick hier und tauschen wie zivilisierte Wesen unsere Gedanken aus.

Wirklicher kann das Leben nicht werden.« Er breitete die Arme aus. »Komm näher, Howard. Umarme mich.«

»Auf keinen Fall.«

»Hast du Angst?«

»Du bist nicht mein Vater.«

»Also gut«, sagte Fletcher. »Ich bin nur einer davon. Es gab noch einen anderen. Aber glaub mir, Howard, ich bin der wichtige.«

»Du redest Scheiße, weißt du das?«

» Warum bist du so wütend?« wollte Fletcher wissen. »Liegt es an deiner verzweifelten Affäre mit dem Kind des Jaff?

Vergiß sie, Howard.«

Howie zog die Brille ab und betrachtete Fletcher mit zusammengekniffenen Augen. »Woher weißt du von Jo-Beth?« sagte er.

»Was in deinem Verstand ist, Sohn, ist auch in meinem.

Jedenfalls seit du dich verliebt hast. Laß dir sagen, mir gefällt das ebensowenig wie dir.«

»Wer hat gesagt, daß es mir nicht gefällt?«

»Ich habe mich in meinem ganzen Leben nicht verliebt, aber ich bekomme durch dich einen Geschmack davon, und der ist 259

nicht allzu süß.«

»Wenn du einen Einfluß auf Jo-Beth hast...«

»Sie ist nicht meine Tochter, sondern die des Jaff. Er ist in ihrem Kopf, so wie ich in deinem bin.«

»Das ist ein Traum«, sagte Howie wieder. »Es muß einer sein. Es ist alles ein verdammter Traum.«

»Dann versuch aufzuwachen«, sagte Fletcher.

»Hm?«

»Wenn es ein Traum ist, Junge, dann versuch aufzuwachen.

Damit können wir die Skepsis überwinden und uns an die Arbeit machen.«

Howie zog die Brille wieder auf, damit er Fletchers Gesicht deutlich sehen konnte. Es lächelte nicht.

»Nur zu«, sagte Fletcher, »sortiere deine Zweifel, denn wir haben nicht viel Zeit. Dies ist kein Spiel. Dies ist kein Traum.

Dies ist die Welt. Und wenn du mir nicht hilfst, steht mehr als nur deine Groschenroman-Romanze auf dem Spiel.«

»Scheiß drauf!« sagte Howie und ballte die Faust. »Ich kann aufwachen. Sieh her!«

Er nahm alle Kraft zusammen und verpaßte dem Baum

neben sich einen Faustschlag, der das Blattwerk zum Erzittern brachte.

Rings um ihn herum fielen ein paar Blätter zu Boden. Er schlug nochmals gegen die rauhe Rinde. Der zweite Schlag tat weh, genau wie der erste. Und der dritte und vierte. Aber Fletchers Bild verschwamm nicht; es blieb solide im

Sonnenschein. Howie schlug noch einmal gegen den Baum und spürte, wie die Haut über den Knöcheln aufplatzte und zu bluten anfing. Die Schmerzen wurden zwar mit jedem Schlag schlimmer, aber die Szenerie um ihn herum kapitulierte nicht.

Entschlossen, ihren Bann zu brechen, schlug er immer wieder gegen den Stamm, als wäre das eine neue Übung, die nicht entworfen worden war, um die Maschine zu stärken, sondern sie zu verletzen. Ohne Schmerz kein Preis.

260

»Nur ein Traum«, sagte er zu sich selbst.

»Du wirst nicht aufwachen«, warnte Fletcher ihn. »Hör jetzt auf, bevor du dir etwas brichst. Finger sind nicht so leicht zu beschaffen. Es hat ein paar Äonen gedauert, Finger zu bekommen...«

»Es ist alles nur ein Traum«, sagte Howie. »Nur ein Traum.«

»Hör auf, ja?«

Aber Howie wurde von mehr als nur dem Wunsch getrieben, dem Traum ein Ende zu machen. Ein halbes Dutzend weiterer Gründe, wütend zu sein, waren emporgestiegen und verliehen den Schlägen zusätzliche Wucht. Zorn auf Jo-Beth und ihre Mutter, und seine Mutter auch, wenn er schon einmal dabei war; auf sich selbst, weil er so dumm war, weil er ein heiliger Narr war, während der Rest der Welt so klug war und im Kreis um ihn herumlief. Wenn es ihm gelang, den Bann zu

zerschmettern, den diese Illusion auf ihn ausübte, würde er nie wieder ein Narr sein.

»Du wirst dir die Hand brechen, Howard...«

»Ich werde aufwachen.«

» Und was wirst du dann machen?«

»Ich werde aufwachen.«

» Wenn sie von dir will, daß du sie anfaßt, was willst du dann mit einer gebrochenen Hand anfangen?«

Er hörte auf und drehte sich zu Fletcher um. Die Schmerzen waren plötzlich unerträglich. Er sah aus dem Augenwinkel, daß die Baumrinde scharlachrot war. Ihm wurde übel.

»Sie will... nicht... daß ich sie anfasse«, murmelte er. »Sie...

hat mich ausgesperrt...«

Er ließ die verletzte Hand sinken. Blut tropfte daran herunter, das wußte er, brachte es aber nicht über sich hinzusehen. Der Schweiß auf seinem Gesicht hatte sich plötzlich in Tröpfchen Eiswasser verwandelt. Auch seine Gelenke waren zu Wasser geworden. Er schwang die pochende Hand weg von Fletchers Augen - dunkel, wie seine eigenen; 261

sogar das blinde - und zur Sonne empor.

Ein Sonnenstrahl, der zwischen den Blättern hindurch auf sein Gesicht schien, fiel auf ihn.

»Es ist... kein... Traum«, murmelte er.

»Dafür gibt es leichtere Beweise«, hörte er Fletcher durch das Heulen bemerken, das in seinem Kopf anschwoll.

»Ich werde... mich übergeben...«, sagte er. »Ich kann den Anblick von...«

»Kann dich nicht verstehen, Sohn.«

»Kann den Anblick... von meinem eigenen...«

»Blut?« sagte Fletcher.

Howie nickte. Das war ein Fehler. Sein Gehirn kreiste im Schädel, die Verbindungen brachen. Seine Zunge konnte sehen, die Ohren schmeckten Wachs, die Augen spürten die feuchte Berührung seiner zuklappenden Lider.

»Ich will fort von hier«, sagte er und brach zusammen.

So lange Zeit, mein Sohn, habe ich im Fels darauf gewartet, das Licht zu sehen. Und jetzt, wo ich da bin, kann ich mich nicht daran erfreuen. Oder an dir. Keine Zeit, Spaß mit dir zu haben, wie Väter Spaß an der Gesellschaft ihrer Söhne haben sollten.

Howie stöhnte. Die Welt war gerade nicht zu sehen. Aber wenn er die Augen aufmachte, würde sie da sein und auf ihn warten. Fletcher sagte ihm jedoch, er sollte es nicht zu angestrengt versuchen.

Ich halte dich, sagte er.

Das stimmte. Howie spürte, wie die Arme seines Vaters ihn in der Dunkelheit umschlungen hielten und einhüllten. Sie schienen riesig zu sein. Oder vielleicht war er geschrumpft, wieder zum Baby geworden.

Ich wollte nie Vater werden, sagte Fletcher. Es wurde mir von den Umständen aufgezwungen. Weißt du, der Jaff hat beschlossen, Kinder zu machen, damit er Agenten aus Fleisch und Blut hat. Ich war gezwungen, dasselbe zu tun.

262

»Jo-Beth?« murmelte Howie.

Ja?

»Ist sie von ihm oder von dir?«

Selbstverständlich von ihm. Von ihm.

»Also sind wir nicht... Bruder und Schwester?«

Nein, selbstverständlich nicht. Sie und ihr Bruder sind seine Geschöpfe, du bist meines. Darum mußt du mir helfen, Howie.

Ich bin schwächer als er. Ein Träumer. Das bin ich schon immer gewesen. Ein Träumer auf Drogen. Er ist schon da draußen und beschwört seine verfluchten Terata...

»Seine was?«

Seine Kreaturen. Seine Armee. Das hat er von dem Komiker bekommen. Etwas, das ihn fortgetragen hat. Und ich? Ich bekam nichts. Sterbende Menschen haben nicht viele Fantasien.

Nur Angst. Er liebt Angst.

»Wer ist er?«

Der Jaff? Mein Feind.

»Und wer bist du?«

Sein Feind.

»Das ist keine Antwort. Ich will eine bessere Antwort als das.«

Das würde zuviel Zeit kosten. Wir haben keine Zeit, Howie.

»Nur das Skelett.«

Howie spürte, wie Fletcher in seinem Kopf lächelte.

Oh... das Wesentliche kann ich dir geben, sagte sein Vater.

Skelette von Vögeln und Fischen. Von im Boden begrabenen Wesen. Wie Erinnerungen. Womit wir wieder beim Thema sind.

»Bin ich dumm, oder redest du Unsinn?«

Ich habe dir soviel zu erzählen und so wenig Zeit. Vielleicht ist es am besten, wenn ich es dir zeige.

Seine Stimme klang mit einemmal gepreßt; Howie konnte Angst heraushören.

»Was hast du vor?« sagte er.

Ich öffne dir meinen Verstand, Sohn.

263

»Du hast Angst...«

Wird ziemlich anstrengend werden. Aber ich kenne keine andere Möglichkeit.

»Ich glaube, das will ich nicht.«

»Zu spät«, sagte Fletcher.

Howie spürte, wie die Arme, die ihn hielten, ihn freigaben; spürte, wie er aus dem Griff seines Vaters fiel. Das war eindeutig der schlimmste Alptraum: zu fallen. Aber in dieser Gedan-kenwelt stand die Schwerkraft Kopf. Das Gesicht seines Vaters entfernte sich nicht, als er losgelassen wurde, sondern wurde immer größer und größer, während er hinein fiel.

Jetzt gab es keine Worte mehr, um die Gedanken zu reduzie-ren: nur noch Gedanken selbst, und diese im Überfluß. Zuviel zu verstehen. Howie mußte sich anstrengen, um nicht unterzu-gehen.

Nicht dagegen kämpfen, hörte er die Anweisung seines Vaters. Versuch gar nicht erst zu schwimmen. Laß dich gehen.

Versinke in mich. Sei in mir.

Ich werde nicht mehr ich selbst sein, erwiderte er. Wenn ich ertrinke, bin ich nicht mehr ich. Ich bin du. Ich will nicht du sein.

Geh das Risiko ein. Es gibt keine andere Möglichkeit.

Ich will nicht! Ich kann nicht! Ich brauche... Kontrolle.

Er fing an, sich gegen das Element zu wehren, das ihn umgab. Dennoch brachen Vorstellungen und Bilder durch seinen Verstand. Gedanken strömten in seinen Verstand im Verstand, die er derzeit noch nicht begreifen konnte.

- Zwischen dieser Welt, Kosm genannt - auch der Ton genannt, auch Heiter Incendo genannt - zwischen dieser Welt und dem Metakosm, auch Alibi genannt, auch Exordium und Ort der Einsamkeit genannt, liegt ein Meer, das Essenz heißt -

Das Bild eines Meeres tauchte in Howies Kopf auf, und inmitten dieses Durcheinanders fand er ein Bild, das er kannte.

Dort war er geschwommen, während des kurzen gemeinsamen 264

Traums mit Jo-Beth. Sie waren von einer sanften Strömung getragen worden, ihre Haare ineinander verflochten, die Körper aneinander streifend. Das Wiedererkennen besänftigte seine Angst. Er hörte sich Fletchers Anweisungen eingehender an. -

und in diesem Meer liegt eine Insel - Er sah sie, wenn auch nur aus der Ferne.

- Sie heiße Ephemeris -

Ein schönes Wort, und ein schönes Fleckchen. Die Spitze war von Wolken verhüllt, aber auf den niederen Hängen schien Licht. Kein Sonnenlicht; das Licht des Geistes.

Dort will ich sein, dachte Howie. Dort will ich mit Jo-Beth sein.

Vergiß sie.

Sag mir, was dort ist. Was ist auf Ephemeris?

Die Große und Geheime Show, antworteten die Gedanken seines Vaters, die wir dreimal sehen. Bei der Geburt, beim Sterben und in der einen Nacht, wenn wir neben der Liebe unseres Lebens schlafen.

Jo-Beth.

Ich habe dir gesagt, vergiß sie.

Ich war mit Jo-Beth dort. Wir schwammen gemeinsam

nebeneinander.

Nein.

Doch. Das bedeutet, sie ist die Liebe meines Lebens. Das hast du selbst gesagt.

Ich habe dir gesagt, du sollst sie vergessen.

Es stimmt! Mein Gott! Es stimmt!

Was der Jaff gezeugt hat, ist so befleckt, daß man es nicht lieben kann. So verderbt.

Sie ist das schönste Wesen, das ich je gesehen habe.

Sie hat dich abgewiesen, erinnerte Fletcher ihn.

Dann erobere ich sie zurück.

Ihr Bild war deutlich in seinem Kopf; deutlicher als die Insel oder das Meer der Träume, in dem sie schwebte. Er griff nach 265

dieser Erinnerung und zog sich daran aus der Umklammerung des Verstandes seines Vaters.

Die Übelkeit war wieder da, und dann das Licht, das durch das Blattwerk über seinem Kopf sprenkelte.

Er schlug die Augen auf. Fletcher hielt ihn nicht mehr, falls er das überhaupt je getan hatte. Howie lag auf dem Rücken im Gras. Sein Arm war vom Ellbogen bis zum Handgelenk taub, aber die Hand fühlte sich an, als wäre sie doppelt so groß wie normal. Die Schmerzen darin waren der erste Beweis dafür, daß er nicht träumte. Der zweite, daß er gerade aus einem Traum aufgewacht war. Der Mann mit dem Pferdeschwanz war echt; daran bestand kein Zweifel. Das bedeutete, die Nachricht, die er überbracht hatte, konnte wahr sein. Dies war sein Vater, ob im Guten oder Bösen. Er hob den Kopf vom Gras, als Fletcher sprach:

»Du begreifst nicht, wie verzweifelt unsere Situation ist«, sagte er. »Der Jaff wird die Essenz überfallen, wenn ich ihn nicht aufhalte.«

»Das will ich nicht wissen«, sagte Howie.

»Du hast eine Verantwortung«, verkündete Fletcher. »Ich hätte dich nicht gezeugt, wenn ich nicht der Meinung gewesen wäre, daß du mir helfen kannst.«

»Ach, wie rührend«, sagte Howie. »Jetzt habe ich wirklich das Gefühl, daß ich gebraucht werde.«

Er wollte aufstehen, vermied dabei aber, seine verletzte Hand anzusehen. »Du hättest mir die Insel nicht zeigen sollen, Fletcher...«, sagte er. »Jetzt weiß ich, daß es zwischen mir und Jo-Beth ernst ist. Sie ist nicht befleckt. Und sie ist nicht meine Schwester. Das bedeutet, ich kann sie zurückerobern.«

»Gehorche mir!« sagte Fletcher. »Du bist mein Kind. Du mußt mir gehorchen!«

»Wenn du einen Sklaven brauchst, such dir doch einen«, sagte Howie. »Ich habe Besseres zu tun.«

Er drehte Fletcher den Rücken zu; jedenfalls glaubte er das, 266

bis der Mann vor ihm auftauchte.

»Verdammt, wie hast du das gemacht?«

»Ich kann eine ganze Menge. Kleinigkeiten. Ich werde sie dir beibringen. Nur laß mich nicht im Stich, Howard.«

»Niemand nennt mich Howard«, sagte Howie und hob die

Hand, um Fletcher wegzustoßen. Er hatte seine Verletzung vor-

übergehend vergessen gehabt; jetzt sah er sie wieder vor sich.

Die Knöchel waren aufgescheuert, der Handrücken und die Finger blutverkrustet. Grashalme klebten daran, grün auf rot.

Fletcher wich angeekelt einen Schritt zurück.

»Magst den Anblick von Blut auch nicht, was?« sagte

Howie.

Während er zurückwich, veränderte sich Fletchers Aussehen etwas, aber so subtil, daß es Howie nicht richtig begriff. Lag es daran, daß er in einen von der Sonne beschienenen Fleck zurückgewichen war und das irgendwie durch ihn

hindurchschien? Oder löste sich ein in seinem Bauch

gefangenes Stück Himmel und stieg in die Augen empor? Was auch immer, es kam und ging blitzschnell.

»Ich bin zu einer Abmachung bereit«, sagte Howie.

»Das wäre?«

»Du läßt mich in Ruhe; ich lasse dich...«

» Es gibt nur uns zwei, Sohn. Gegen die ganze Welt.«

»Du bist verrückt, weißt du das?« sagte Howie. Er wandte den Blick von Fletcher ab und sah den Weg entlang, den er gekommen war. »Daher habe ich es! Die ganze Scheiße von wegen heiliger Narr. Nun, ich nicht! Nicht mehr. Es gibt Menschen, die mich lieben!«

»Ich liebe dich!« sagte Fletcher.

»Lügner.«

»Na gut, dann werde ich es lernen.«

Howie entfernte sich von ihm; den blutigen Arm hielt er ausgestreckt.

»Ich kann es lernen!« hörte er seinen Vater hinter sich rufen.

267

»Howard, hör mich an! Ich kann es lernen!«

Er lief nicht weg. Dazu hatte er nicht die Kraft. Aber er kam ohne zu stürzen bis zur Straße; das war ein Sieg des Geistes über die Materie, wenn man bedachte, wie schwach er auf den Beinen war. Dort verweilte er kurze Zeit, weil er sicher war, daß Fletcher ihm nicht in offenes Gelände folgen würde. Der Mann hatte Geheimnisse, die er keinem anderen menschlichen Auge offenbaren wollte. Während er ausruhte, plante er. Zuerst würde er ins Motel zurückkehren und seine Hand versorgen.

Und dann? Wieder zu Jo-Beths Haus. Er mußte gute

Nachrichten überbringen, und er würde eine Möglichkeit finden, sie zu erzählen, und wenn er die ganze Nacht auf die Gelegenheit warten mußte.

Die Sonne war heiß und hell. Sein Schatten eilte ihm voraus, während er ging. Er richtete den Blick auf den Gehweg und folgte seinem Muster dort, Schritt für Schritt, zurück ins normale Dasein.

Im Wald hinter ihm verfluchte Fletcher seine Unzulänglichkeit.

Er hatte noch nie gut überzeugen können und sprang vom Banalen zu Visionen, ohne die Mitte dazwischen ausreichend zu erfassen: einfachste gesellschaftliche Fähigkeiten, die die meisten Menschen schon im Alter von zehn Jahren

beherrschten. Es war ihm nicht gelungen, seinen Sohn durch Argumentation zu überzeugen, und Howard seinerseits hatte sich den Offenbarungen widersetzt, die ihm die Gefahr begreiflich gemacht haben würden, in der sein Vater schwebte.

Nicht nur er; die ganze Welt.

Fletcher zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß der Jaff heute ebenso gefährlich war wie damals in der Misión de Santa Catrina, als ihn der Nuncio erstmals verfeinert hatte. Noch ge-fährlicher. Er hatte Verbündete im Kosm; Kinder, die ihm gehorchen wollten, weil er gut mit Worten umzugehen verstand.

268

In diesem Augenblick floh Howard in die Arme eines dieser Agenten. So gut wie verloren. Damit blieb ihm keine andere Möglichkeit, als selbst in den Grove zu gehen und nach Menschen zu suchen, von denen er Halluzigenien bekommen konnte.

Es hatte keinen Sinn, diesen Augenblick hinauszuzögern.

Ihm blieben noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung, wenn sich der Tag der Dunkelheit beugen würde, und dann würde der Vorteil des Jaff noch größer sein als ohnedies schon.

Obwohl es ihm nicht gefiel, auf den Straßen des Grove zu gehen, wo jeder ihn sehen und studieren konnte, hatte er denn eine andere Wahl? Vielleicht konnte er ein paar beim Träumen erwischen, obwohl es heller Tag war.

Er sah zum Himmel hinauf und dachte an sein Zimmer in der Misión de Santa Catrina, wo er so viele herrliche Stunden mit Raul gesessen, Mozart gehört und den Wolken zugesehen hatte, wie sie sich veränderten, wenn sie vom Meer herein kamen. Veränderung; immerzu Veränderung. Ein Strom von Formen, in denen sie Echos irdischer Dinge fanden: einen Baum, einen Hund, ein menschliches Gesicht. Eines Tages würde er sich zu diesen Wolken gesellen, wenn sein Krieg gegen den Jaff vorüber war. Dann würde die Traurigkeit des Alleinseins, die er jetzt empfand - Raul fort, Howard fort, alles entglitt ihm - nicht mehr sein.

Nur die Starren empfanden Schmerz. Die Wandelhaften lebten in allem, immer. Ein Land, das einen unsterblichen Tag lebte.

Oh, dort zu sein!

269

VII

Für William Witt, den Boswell von Palomo Grove, war am Morgen sein schlimmster Alptraum Wirklichkeit geworden. Er war aus seinem attraktiven Bungalow in Stillbrook gekommen, der, wie er seinen Kunden gegenüber immer prahlte, im Wert um dreißigtausend Dollar gestiegen war, seit er ihn vor fünf Jahren gekauft hatte, um in seiner Lieblingsstadt auf Erden einen weiteren Tag seiner Arbeit als Grundstücksmakler nachzugehen. Aber heute morgen war alles anders. Hätte man ihn gefragt, was genau denn anders war, hätte er keine zufriedenstellende Antwort geben können, aber er spürte instinktiv, daß sein heißgeliebter Grove krankte. Er stand fast den ganzen Morgen am Fenster seines Büros, von dem er unmittelbar den Supermarkt überblicken konnte. Fast jeder im Grove kam mindestens einmal wöchentlich in den Supermarkt; für viele hatte er die Doppelfunktion von Markt und

Treffpunkt. William war stolz darauf, daß er die Namen von neunzig Prozent aller Kunden kannte, die dort einkaufen gingen. Er hatte für viele Häuser gefunden; hatte ihnen neue Häuser besorgt, wenn die Familien zu groß für die alten wurden; häufig hatte er auch denen in mittleren Jahren neue Häuser verschafft, wenn die Kinder aus dem Haus gingen; und schließlich hatte er Häuser verkauft, wenn deren Besitzer gestorben waren. Auch er war den meisten bekannt. Sie riefen ihn beim Vornamen, sie machten Bemerkungen über seine Krawatten - die sein Markenzeichen waren; er besaß

hundertundelf -, sie stellten ihn Freunden vor, die auf Besuch kamen.

Als er heute aus dem Fenster sah, machte ihm das Ritual keinen Spaß. Lag es einfach an der Tatsache von Buddy Vance'

Tod und der nachfolgenden Tragödie, die die Leute so

niedergeschlagen machte; warum sie einander nicht grüßten, wenn sie auf dem Parkplatz aneinander vorbeigingen? Oder 270

waren sie, wie er, mit einer seltsamen Ahnung aufgewacht, als stünde ein Ereignis bevor, das sie nicht in ihre Terminkalender geschrieben hatten, bei dem sie aber schmerzlich vermißt werden würden, wenn sie nicht beiwohnten?

Einfach nur dazustehen und zu beobachten, außerstande zu interpretieren, was er sah oder empfand, zwang seine Seele auf die Knie. Er beschloß, eine Runde zu machen, um Objekte zu begutachten. Er mußte drei Häuser ansehen - zwei in Deerdell, eins in Windbluff - und Preise festsetzen. Seine Angst ließ nicht nach, während er nach Deerdell fuhr. Die Sonne, die auf die Gehwege und Rasenflächen hämmerte, hämmerte

schmerzhaft; die Luft droben gleißte, als wollte sie Backstein und Schiefer auflösen; als wollte sie seinen ganzen kostbaren Grove auslöschen.

Die beiden Objekte in Deerdell waren in sehr unterschiedli-chem Zustand; beide erforderten seine ungeteilte Aufmerksamkeit, während er sie studierte und Wert und Unwert auflistete.

Als er mit ihnen fertig war und sich auf den Weg nach Windbluff machte, war er so sehr von seinen Ängsten

abgelenkt, daß er glaubte, er habe vielleicht zu empfindlich reagiert. Er wußte, die Aufgabe, die nun vor ihm lag, würde ihm sichtliche Freude bereiten. Das Haus am Wild Cherry Glade, direkt unterhalb der Crescents, war groß und

erstrebenswert. Er überlegte bereits die Anzeige im Better Homes Bulletin, als er aus dem Auto ausstieg: Werden Sie zum König des Berges! Das perfekte

Familienheim erwartet Sie!

Er suchte den Haustürschlüssel aus den dreien am Bund aus und schloß die Tür auf. Ein Rechtsstreit war dafür verantwortlich, daß das Haus seit Frühjahr leerstand und nicht angeboten werden konnte; die Luft drinnen war staubig und abgestanden.

Der Geruch gefiel ihm. Einsame Häuser hatten für ihn etwas Rührendes an sich. Er sah sie gerne als wartende Heime; weiße Leinwände, auf die die Käufer ihr eigenes, spezielles Paradies 271

zeichnen würden. Er schlenderte durch das Haus und machte sich in jedem Zimmer peinlich genaue Notizen; dabei ließ er sich verführerische Werbesprüche durch den Kopf gehen: Geräumig und makellos. Ein Haus, das selbst den

anspruchsvollsten Käufer zufriedenstellt, 3 Schlafzimmer. 21/2

Bäder mit Terrazzoboden. Birkenfurnier im Wohnzimmer, voll ausgerüstete Küche, überdachte Veranda...

Unter Berücksichtigung von Größe und Lage des Hauses

würde es einen guten Preis erzielen, das wußte er. Nachdem er das Erdgeschoß durchgesehen hatte, schloß er die Gartentür auf und ging hinaus. Selbst unten am Hügel lagen die Häuser weit auseinander. Man konnte den Garten von keinem Nachbarhaus einsehen. Wäre das möglich gewesen, hätten die Nachbarn sich vielleicht über seinen Zustand beschwert. Der Rasen war kniehoch, fleckig und unkrautüberwuchert; die Bäume mußten geschnitten werden. Er schritt über den von der Sonne erwärmten Boden, um sich den Pool anzusehen. Er war nicht abgelassen worden, nachdem Mrs. Lloyd, der das Grundstück gehörte, gestorben war. Das Wasser war flach und voller Algen, die grüner als das Gras waren, das zwischen den Fugen am Rand des Pools wuchs. Es roch schimmlig. Anstatt den Pool

abzuschreiten, schätzte er ihn, weil er wußte, daß sein geübtes Auge fast so genau war wie ein Metermaß. Er schrieb die Maße gerade auf, als Wellen in der Mitte des Pools anfingen und über die träge Oberfläche auf ihn zuwogten. Er wich vom Rand zurück und machte sich eine Notiz, den Pool-Service

schnellstmöglich hierherzuschicken. Was immer in dem Brackwasser hauste - Pilz oder Fisch -, dessen unrechtmäßige Untermieterschaft konnte nur noch nach Stunden gezählt werden. Das Wasser bewegte sich erneut; pfeilgleiche

Bewegungen, die ihn an einen ganz anderen Tag und ein ganz anderes Gewässer, in dem es gespukt hatte, denken ließen. Er verdrängte die Erinnerung aus dem Kopf - versuchte es jedenfalls -, drehte sich um und lief zum Haus zurück. Aber die 272

Erinnerung war zu lange allein gewesen; sie bestand darauf, mit ihm zu gehen. Er konnte die vier Mädchen - Carolyn, Trudi, Joyce und Arleen, die herrliche Arleen - so deutlich sehen, als hätte er ihnen erst gestern nachspioniert. Er sah sie vor seinem geistigen Auge, wie sie ihre Kleidung auszogen. Er hörte ihr Schwatzen, ihr Lachen.

Er blieb stehen und sah noch einmal zum Pool. Die Suppe war wieder ruhig. Was immer sie ausgebrütet hatte oder wem sie als Bett diente - es war wieder eingeschlafen. Er sah auf die Uhr. Er war erst eine und eine Dreiviertelstunde vom Büro weg. Wenn er sich beeilte und hier rasch zum Ende kam, konnte er noch nach Hause fahren und ein Video aus seiner Sammlung ansehen. Diese Vorstellung, die teilweise von den erotischen Erinnerungen ausgelöst worden war, welche der Pool heraufbeschworen hatte, ließ ihn mit neuem Eifer ins Haus zurückkehren. Er verschloß die Gartentür und ging die Treppe hinauf.

Auf halbem Weg hörte er oben ein Geräusch und blieb

stehen.

»Wer ist da?« wollte er wissen.

Er bekam keine Antwort, hörte das Geräusch aber erneut. Er stellte seine Forderung ein zweitesmal; ein Dialog aus Frage und Geräusch; Frage und Geräusch. Waren möglicherweise Kinder im Haus? In leerstehende Häuser einzubrechen - das war schon vor ein paar Jahren Mode gewesen und jetzt wieder im Anstieg begriffen. Aber dies war das erstemal, daß er die Möglichkeit hatte, einen Missetäter auf frischer Tat zu erwischen.

»Kommen Sie herunter?« sagte er und legte soviel basso profundo in die Frage, wie er aufbringen konnte. »Oder muß ich nach oben kommen und Sie holen?«

Die einzige Antwort war dasselbe wuselnde Geräusch, das er schon zweimal gehört hatte, als würde ein kleiner Hund mit un-geschnittenen Krallen über den Holzboden laufen.

273

Nun denn, dachte William. Er ging weiter die Treppe hinauf, wobei er so fest auftrat, wie er konnte, um den Eindringlingen Angst zu machen. Er kannte Namen und Spitznamen fast aller Kinder im Grove. Und diejenigen, die er nicht kannte, konnte er mühelos auf dem Schulhof identifizieren. Er würde an ihnen ein Exempel statuieren und so weitere potentielle Einbrecher einschüchtern.

Als er oben auf der Treppe war, war alles still geworden. Die Nachmittagssonne schien durch ein Fenster herein, ihre Wärme vertrieb die Angst, die er verspürt hatte. Hier lauerte keine Gefahr. Gefahr lauerte auf einer mitternächtlichen Straße von L.

A. oder im Schaben eines Messers auf Mauersteinen, wenn einen jemand verfolgte. Dies war der Grove an einem sonnigen Freitagnachmittag.

Wie um diesen Gedanken zu bekräftigen, kam ein aufziehbares Spielzeug zur Tür des Elternschlafzimmers herausgewuselt; ein etwa fünfzig Zentimeter langer weißer Tausendfüßler, dessen Plastikfüße rhythmisch auf den Boden tappsten. Er lächelte über diese Geste. Das Kind schickte sein Spielzeug voraus, um zu bekunden, daß es sich ergab. William lächelte nachsichtig und bückte sich, um es aufzuheben, wobei er den Blick auf den Fußboden jenseits der Tür gerichtet hielt.

Aber als seine Finger Kontakt herstellten, sah er das Spielzeug wieder an, denn die Berührung bestätigte, was die Augen so spät begriffen, daß er nicht mehr entsprechend handeln konnte: daß das Ding, das er aufhob, überhaupt kein Spielzeug war. Die Schale war weich, warm und feucht in seiner Hand, die peristaltischen Bewegungen ekelerregend. Er wollte es loslassen, aber sein Körper klebte an der Hand und drängte gegen die Handfläche. Er ließ Notizbuch und Bleistift fallen und riß die Kreatur mit einer Hand von der anderen los und warf sie von sich. Sie fiel auf den in Segmente unterteilten Rücken, die Beine zuckten wie die eines gestürzten Krebses. Er taumelte keuchend gegen die Wand, bis eine Stimme hinter der Tür 274

sagte:

»Stehen Sie doch nicht so förmlich da draußen. Sie sind herzlich willkommen.«

William war klar, daß der Sprecher kein Kind war, aber er hatte längst eingesehen, daß das Szenario, das er vor wenigen Minuten entworfen hatte, zu optimistisch gewesen war.

»Mr. Witt«, sagte eine zweite Stimme. Sie war dünner als die erste; und sie kannte er.

»Tommy-Ray?« sagte William und konnte die Erleichterung, die er empfand, nicht verheimlichen. »Bist du das, Tommy-Ray?«

»Aber sicher. Kommen Sie rein. Lernen Sie die Bande kennen.«

»Was geht hier vor?« sagte William, wich dem zuckenden Tier aus und stieß die Tür auf. Mrs. Lloyds Vorhänge waren wegen der Helligkeit zugezogen worden; nach dem grellen Licht draußen schien das Zimmer doppelt dunkel zu sein. Aber er konnte Tommy-Ray McGuire sehen, der mitten im Zimmer stand, und hinter ihm saß in einer dunklen Ecke noch jemand anders. Es schien, als hätte einer von ihnen im abgestandenen Wasser des Pools gebadet; der ekelhafte Geruch kribbelte in Williams Stirnhöhlen.

»Du hast hier drinnen nichts zu suchen«, schalt er Tommy-Ray. »Ist dir klar, daß du eingebrochen bist? Dieses Haus...«

»Sie werden uns doch nicht verraten, oder?« sagte Tommy-Ray. Er kam einen Schritt auf William zu und verbarg dadurch seinen Komplizen vollkommen.

»So einfach ist das nicht...«, begann William.

»Doch, das ist es«, sagte Tommy-Ray tonlos. Er machte noch einen Schritt, und noch einen, und plötzlich ging er an William vorbei zur Tür und schlug sie zu. Das Geräusch schreckte Tommy-Rays Begleiter - oder besser gesagt, die Begleiter seines Begleiters - auf, denn Williams Augen hatten sich mittlerweile soweit an das Halbdunkel gewöhnt, daß er 275

den bärtigen Mann in der Ecke sehen konnte, auf dem

Kreaturen wuselten, die große Familienähnlichkeit mit dem Tausendfüßler draußen hatten. Sie bedeckten ihn wie ein lebender Panzer. Sie krochen ihm über das Gesicht und verweilten auf Lippen und Augen; sie drängten sich um seine Lenden und massierten ihn. Sie tranken an seinen

Achselhöhlen und machten Kapriolen auf seinem Bauch. Es waren so viele, daß sein Körper auf doppelte Größe angeschwollen zu sein schien.

»Gütiger Himmel«, sagte William.

»Hübsch, was?« sagte Tommy-Ray.

»Sie und Tommy-Ray sind alte Bekannte, wie ich gehört habe«, sagte der Jaff. »Erzählen Sie mir alles. War er ein rück-sichtsvolles Kind?«

»Was soll das, zum Teufel?« sagte William und sah wieder zu Tommy-Ray. Die rollenden Augen des Jungen glänzten.

»Das ist mein Vater«, lautete seine Antwort. »Das ist der Jaff.«

»Wir möchten gerne, daß Sie uns die Geheimnisse Ihrer Seele zeigen«, sagte der Jaff.

William dachte sofort an seine daheim verschlossene Privat-sammlung. Woher konnte diese Obszönität davon wissen?

Hatte Tommy-Ray ihm nachspioniert? War der Spanner selbst gespannt worden?

William schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Geheimnisse«, sagte er leise.

»Stimmt wahrscheinlich«, sagte Tommy-Ray. »Langweiliger kleiner Scheißer.«

»Unhöflich«, sagte der Jaff.

»Sagen alle«, behauptete Tommy-Ray. »Sieh ihn dir doch an, mit seinen verdammten Krawatten und seiner

Freundlichtuerei.«

Tommy-Rays Worte verletzten William. Sie brachten seine Wangen ebenso zum Zittern wie der Anblick des Jaff.

276

»Der langweiligste Scheißer in der ganzen verfluchten Stadt«, sagte Tommy-Ray.

Als Antwort darauf riß der Jaff eine der Kreaturen von seinem Bauch und warf sie nach Tommy-Ray. Er war zielsicher.

Die Kreatur, die Schwänze wie Peitschen und einen winzigen Kopf hatte, klammerte sich an Tommy-Rays Gesicht und

drückte den Unterleib gegen seinen Mund. Er verlor das Gleichgewicht und stolperte zur Seite, während er nach dem Parasiten griff. Dieser löste sich mit einem komischen Kußlaut von dem Gesicht und entblößte Tommy-Rays Grinsen, das den Jaff ebenfalls zum Lachen brachte. Tommy-Ray warf die Kreatur wieder in Richtung ihres Herrn und Meisters zurück, ein halbherziger Wurf, nach dem das Ding wenige Zentimeter von William entfernt landete. Er wich davor zurück, was Vater und Sohn wieder zum Lachen reizte.

»Es tut Ihnen nichts«, sagte der Jaff. »Solange ich es nicht will.«

Er rief der Kreatur, mit der er und der Junge gespielt hatten, etwas zu, worauf sie sich zum Jaff zurückschleppte.

»Sie kennen wahrscheinlich die meisten Leute hier«, sagte der Jaff.

»Ja«, murmelte Tommy-Ray. »Und sie kennen ihn.«

»Dieses hier, zum Beispiel«, sagte der Jaff und zerrte ein katzengroßes Geschöpf hinter sich hervor, »dieses hier stammt von dieser Frau... wie hieß sie doch gleich, Tommy?«

»Kann mich nicht erinnern.«

Der Jaff schob die Kreatur, die einem großen, blassen Skorpion glich, um seine Füße herum. Das Ding schien beinahe scheu zu sein; es wollte in sein Versteck zurück.

»Die Frau mit den Hunden, Tommy...«, sagte der Jaff. »Mildred irgendwas.«

»Duffin«, sagte William.

»Gut! Gut!« sagte der Jaff und deutete mit einem dicken Daumen in seine Richtung. »Duffin! Wie leicht man so etwas 277

vergißt! Duffin!«

William kannte Mildred. Er hatte sie heute morgen - ohne die Pudel - auf dem Parkplatz gesehen, wo sie ins Leere gestarrt hatte, als wäre sie hierhergefahren und hätte vergessen, weshalb sie eigentlich gekommen war. Er begriff allerdings nicht, was sie und der Skorpion gemeinsam hatten.

»Wie ich sehe, sind Sie verwirrt, Witt«, sagte der Jaff. »Sie fragen sich: Ist das Mildreds neues Haustier? Die Antwort lautet nein. Die Antwort lautet, es ist Mildreds Fleisch geworden, tiefstes Geheimnis. Und das will ich von Ihnen, William. Ihre verborgensten Geheimnisse.«

Als heißblütiger heterosexueller Voyeur begriff William den abgewichsten Sinn der Bitte des Jaff sofort. Er und Tommy-Ray waren nicht Vater und Sohn; sie fickten miteinander. Und ihr Gerede von den verborgensten, tiefsten Geheimnissen war lediglich ein Schleier darüber.

»Ich will damit nichts zu tun haben«, sagte William.

»Tommy-Ray, ich sage dir eines, laß dich nicht auf abseitige Sachen ein.«

»Angst ist nichts Abseitiges«, sagte der Jaff.

»Jeder hat Angst«, fügte Tommy-Ray hinzu.

»Manche mehr als andere. Sie... vermute ich... mehr als die meisten. Los, William. Sie haben schlimme Sachen im Kopf.

Ich will sie nur herausholen und zu meinem Eigentum

machen.«

Weitere Anzüglichkeiten. William hörte, wie Tommy-Ray einen Schritt in seine Richtung machte.

»Bleib mir vom Leibe«, warnte William ihn. Es war ein reiner Bluff, und Tommy-Rays Grinsen nach zu schließen, wußte er das.

»Hinterher werden Sie sich besser fühlen«, sagte der Jaff.

»Viel besser«, sagte Tommy-Ray.

»Es tut nicht weh. Nun, am Anfang vielleicht ein bißchen.

Aber wenn Sie die schlimmen Sachen ans Licht gebracht 278

haben, sind Sie ein anderer Mensch.«

»Mildred war nur eine von vielen«, sagte Tommy-Ray. »Er hat gestern nacht eine Menge Leute besucht.«

»Richtig.«

»Ich habe ihm den Weg gezeigt, und er ist gegangen.«

»Wissen Sie, manche Leute kann ich wittern. Manche kann ich wirklich ziemlich gut wittern.«

»Louise Doyle... Chris Seapara... Harry O'Connor...«

William kannte sie alle.

»... Günther Rothberry... Martine Nesbitt...«

»Martine hatte ein paar echt eindrucksvolle Dinge zu

zeigen«, sagte der Jaff. »Eines davon ist draußen. Kühlt sich ab.«

»Im Pool?« murmelte William.

»Haben Sie es gesehen?«

William schüttelte den Kopf.

»Das müssen Sie unbedingt. Es ist wichtig zu wissen, was die Leute all die Jahre über vor Ihnen verborgen haben.« Das berührte einen Nerv, doch William vermutete, daß der Jaff das gar nicht mitbekam. »Sie denken, Sie kennen diese Leute«, fuhr er fort, »aber sie haben alle Ängste, die sie nie eingestehen; dunkle Orte, die sie mit einem Lächeln verbergen.

Die hier...« Er hob einen Arm, an dem sich etwas wie ein Affe ohne Pelz festklammerte, »... leben an diesen Orten. Ich rufe sie nur heraus.«

»Martine auch?« sagte William, dem sich eine vage

Möglichkeit des Entkommens offenbarte.

»Aber sicher«, sagte Tommy-Ray. »Sie hatte eines der besten.«

»Ich nenne sie Terata«, sagte der Jaff. »Das bedeutet eine monströse Geburt; ein Wunderkind. Wie gefällt Ihnen das?«

»Ich... ich würde gerne sehen, was Martine hervorgebracht hat«, antwortete William.

»Eine hübsche Dame«, sagte der Jaff, »mit einem häßlichen 279

Fick im Kopf. Zeig es ihm, Tommy-Ray. Und dann bring ihn wieder herauf.«

»Klar.«

Tommy-Ray drehte den Türknauf, zögerte dann aber, bevor er die Tür aufmachte, als hätte er die Gedanken gelesen, die William durch den Kopf gingen.

»Wollen Sie es wirklich sehen?« fragte der Jugendliche.

»Ich will es sehen«, sagte Witt. »Martine und ich...« Er verstummte. Der Jaff sprach darauf an.

»Sie und diese Frau, William? Zusammen?«

»Ein- oder zweimal«, log William. Er hatte Martine nie auch nur berührt und wollte es auch nicht, aber er vermutete, daß es seiner Neugier ein Motiv verlieh.

Der Jaff schien überzeugt.

»Um so mehr Grund zu sehen, was sie vor Ihnen verheimlicht hat«, sagte er. »Nimm ihn mit, Tommy-Ray! Nimm ihn mit!«

Der junge McGuire tat, wie ihm geheißen worden war, und führte William nach unten. Er pfiff unmelodisch vor sich hin, und sein leichter Gang und das beiläufige Benehmen verrieten nichts von der höllischen Gesellschaft, in der er sich befand.

Mehr als einmal war William versucht, den Jungen nach dem Warum zu fragen, damit er besser verstehen konnte, was mit dem Grove vor sich ging. Wie konnte es sein, daß das Böse so unbeschwert war? Wie konnten Seelen, die eindeutig so verderbt waren wie Tommy-Ray, hüpfen und singen und sich wie gewöhnliche Menschen verhalten?

»Unheimlich, nicht?« sagte Tommy-Ray, während er Wil-

liam den Schlüssel der Gartentür abnahm. Er hat meine Gedanken gelesen, dachte Witt, aber Tommy-Rays nächste Bemerkung bewies, daß es nicht so war.

»Leerstehende Häuser. Unheimlich. Für Sie nicht, schätze ich. Sie sind daran gewöhnt, richtig?«

»Man gewöhnt sich an alles.«

280

»Der Jaff mag die Sonne nicht, daher habe ich dieses Haus für ihn gesucht. Als ein Versteck.«

Tommy-Ray blinzelte zum hellen Himmel, als sie nach drau-

ßen gingen. »Ich glaube, ich werde wie er«, bemerkte er. »Wissen Sie, ich mochte den Strand. Topanga; Malibu. Jetzt macht es mich krank, überhaupt an diese... Helligkeit zu denken.«

Er ging voraus zum Pool, hielt den Kopf gesenkt, schwatzte aber unaufhörlich weiter.

»Sie und Martine hatten also was laufen, ja? Sie ist nicht gerade Miß World, wenn Sie wissen, was ich meine. Und sie hatte eindeutig ein paar abwegige Sachen in sich. Sie sollten sehen, wie es herauskommt... Junge, Junge. Was für ein Anblick. Sie schwitzen es aus. Richtig durch die kleinen Löcher...«

»Poren.«

»Hm?«

»Die kleinen Löcher. Poren.«

»Ja. Hübsch.«

Sie kamen zum Pool. Während er darauf zuging, sagte Tommy-Ray: »Der Jaff hat eine Methode, sie zu rufen, wissen Sie.

Mit seinem Verstand. Ich nenne Sie einfach beim Namen; dem Namen der Leute, zu denen sie gehören.« Er sah William an und erwischte ihn, wie er den Zaun um das Grundstück herum nach Lücken absuchte. »Langweile ich Sie?« sagte Tommy-Ray.

»Nein... Nein... ich habe nur... nein, du langweilst mich nicht.«

Der Junge sah wieder zum Pool. »Martine?« rief er. Die Wasseroberfläche wurde aufgewühlt. »Da kommt sie«, sagte Tommy-Ray. »Sie werden echt beeindruckt sein.«

»Wahrscheinlich«, sagte William und ging einen Schritt auf den Rand zu. Als das Ding im Wasser an die Oberfläche kam, streckte er den Arm aus und stieß Tommy-Ray in den Rücken.

Der Junge schrie und verlor das Gleichgewicht. William sah 281

flüchtig das Terata im Pool - wie ein Kriegsschiff mit Beinen.

Dann fiel Tommy-Ray darauf, und Mensch und Bestie

schlugen um sich. William blieb nicht, um festzustellen, wer wen biß. Er lief zur schwächsten Stelle im Zaun, kletterte darüber und floh.

»Du hast ihn entkommen lassen«, sagte der Jaff, als Tommy-Ray nach einer Weile ins Nest zurückkehrte. »Ich kann mich nicht auf dich verlassen, das ist mir jetzt klar.«

»Er hat mich ausgetrickst.«

»Du solltest dich nicht so verdammt überrascht anhören.

Hast du noch nichts gelernt? Die Menschen haben geheime Gesichter. Das macht sie so interessant.«

»Ich wollte ihn verfolgen, aber er war schon weg. Soll ich zu ihm nach Hause gehen? Ihn möglicherweise umbringen?«

»Sachte, sachte«, sagte der Jaff. »Wir können damit leben, daß er einen oder zwei Tage herumläuft und Gerüchte verbreitet. Wer wird ihm denn schon glauben? Wir müssen nur von hier fort, wenn es dunkel ist.«

»Es gibt noch andere leerstehende Häuser.«

»Wir müssen nicht mehr suchen«, sagte der Jaff. »Ich habe gestern nacht einen permanenten Wohnsitz für uns gefunden.«

»Wo?«

»Ist noch nicht ganz bereit für uns, aber das wird er sein.«

»Wer?«

»Wirst schon sehen. Vorerst mußt du eine kleine Reise für mich unternehmen.«

»Gerne.«

»Du wirst nicht lange weg sein, aber es gibt an der Küste einen Ort, wo ich etwas zurücklassen mußte, das mir wichtig ist; es ist schon lange her. Ich möchte, daß du es mir holst, während ich Fletcher beseitige.«

»Da möchte ich dabeisein.«

»Dir gefällt der Tod, nicht?«

282

Tommy-Ray grinste. »Ja. Mein Freund Andy, der hatte sich direkt hier einen Totenkopf tätowieren lassen.« Tommy-Ray deutete auf die Brust. »Direkt über dem Herzen. Er sagte immer, er würde jung sterben. Er sagte, er würde runter nach Bombora gehen - dort sind die Klippen echt gefährlich, die Wellen sacken einfach weg, weißt du? - und auf eine letzte Welle warten; und wenn er wirklich reisen würde, würde er sich einfach von der Klippe stürzen. Hinunter. Einfach so. Fahren und sterben.«

»Hat er es getan?« fragte der Jaff. »Sterben, meine ich.«

»Einen Scheißdreck hat er«, sagte Tommy-Ray verächtlich.

»Hatte nicht den Mumm.«

»Aber du könntest es?«

»Jetzt? Todsicher.«

»Nun, du solltest es nicht allzu eilig haben. Es wird eine Party geben.«

»Ja?«

»O ja. Eine Riesenparty. Eine Party, wie sie diese Stadt noch nie gesehen hat.«

»Wer wird eingeladen?«

»Halb Hollywood. Und die andere Hälfte wird sich wün-

schen, sie wäre dabei gewesen.«

»Und wir?«

»O ja. Wir werden auch da sein. Da kannst du sicher sein.

Wir werden da sein, wir werden bereit sein und warten.«

Endlich, dachte William, als er auf Spilmonts Schwelle am Peaseblossom Drive stand, endlich eine Geschichte, die ich erzählen kann.

Er war dem Reigen des Schreckens des Jaff mit einem

Bericht entkommen, den er sich von der Seele reden konnte, und er würde für seine Warnung zum Helden werden.

Spilmont gehörte zu den vielen, für die William ein Haus gefunden hatte; sogar zwei. Sie kannten einander so gut, daß sie 283

per du waren.

»Billy?« sagte Spilmont und betrachtete William von oben bis unten. »Du siehst nicht besonders gut aus.«

»Es geht mir auch nicht gut.«

»Komm rein.«

»Es ist etwas Schreckliches geschehen, Oscar«, sagte

William und ließ sich nach drinnen führen. »Ich habe noch nie etwas Schlimmeres gesehen.«

»Setz dich«, sagte Spilmont. »Judith? Es ist Bill Witt. Was brauchst du, Billy? Was zu trinken? Herrgott, du zitterst ja wie Espenlaub.«

Judith Spilmont war die perfekte Mutter Erde, mit breiten Hüften und einem gewaltigen Busen. Sie kam aus der Küche und wiederholte die Feststellungen ihres Mannes. William bat um ein Glas Eiswasser, konnte aber mit seiner Geschichte nicht warten, bis er es bekommen hatte.

Er wußte, noch bevor er anfing, wie lächerlich sie sich anhören würde. Es war eine Geschichte fürs Lagerfeuer, die man nicht im hellen Tageslicht erzählen sollte, während die Kinder der Zuhörer vor dem Fenster zwischen den Düsen des Rasensprengers tanzten und jauchzten.

Aber Spilmont hörte pflichtschuldig zu, schickte jedoch seine Frau hinaus, als sie das Wasser gebracht hatte. William schilderte seine Erlebnisse, erinnerte sich sogar an die Namen derer, die der Jaff in der Nacht zuvor berührt hatte, und erklärte ab und zu, er wüßte, wie lächerlich sich das alles anhörte, aber es wäre dennoch die reine Wahrheit. Mit dieser Feststellung beendete er seinen Bericht:

»Ich weiß, wie sich das anhören muß«, sagte er.

»Kann nicht sagen, daß das nicht eine tolle Geschichte war«, antwortete Spilmont. »Wenn sie mir ein anderer als du erzählt hätte, hätte ich wohl nicht so bereitwillig zugehört. Aber, Scheiße, Bill... Tommy-Ray McGuire? Das ist doch ein netter Junge.«

284

»Ich bringe dich hin«, sagte William. »Wenn wir bewaffnet hingehen.«

»Nein, dazu bist du nicht in der Verfassung.«

»Du darfst nicht allein gehen«, sagte William.

»He, Nachbar, du hast einen Mann vor dir, der seine Kinder liebt. Glaubst du, ich würde sie zu Waisen machen?« lachte Spilmont. »Hör zu, geh nach Hause. Bleib dort. Ich ruf dich an, wenn ich etwas Neues weiß. Abgemacht?«

»Abgemacht.«

»Bist du sicher, daß du fahren kannst? Ich könnte jemanden holen...«

»Ich bin hierhergekommen.«

»Stimmt.«

»Ich komme schon zurecht.«

»Behalte es vorläufig für dich, Bill. O.K.? Ich will nicht, daß jemand schießwütig wird.«

»Nein. Gewiß. Ich verstehe.«

Spilmont sah zu, wie William den Rest des Eiswassers

hinunterkippte, dann brachte er ihn zur Tür, schüttelte ihm die Hand und winkte ihm zum Abschied.

William befolgte die Anweisungen.

Er fuhr nach Hause, rief Valerie an, daß er nicht mehr ins Büro kommen würde, verschloß sämtliche Türen und Fenster, zog sich aus, übergab sich, duschte und wartete neben dem Telefon auf weitere Nachrichten von dem Unheil, das über Palomo Grove gekommen war.

285

VIII

Grillo war plötzlich hundemüde geworden und gegen Viertel nach drei ins Bett gegangen, nachdem er der Telefonzentrale Anweisung gegeben hatte, bis auf weiteres keinen Anruf in seine Suite durchzustellen. Aus diesem Grund weckte ihn auch ein Klopfen an der Tür. Er richtete sich auf, und sein Kopf war so leicht, daß er beinahe davongeschwebt wäre.

»Zimmerservice«, sagte eine Frau.

»Ich habe nichts bestellt«, sagte er. Dann kam ihm die Erkenntnis: »Tesla?«

Es war Tesla, die auf ihre gewohnt trotzige Weise gut aussah. Grillo war schon vor langer Zeit klargeworden, daß ein Genie erforderlich war, um durch die Kombination von

bestimmten Kleidungs- und Schmuckstücken Tand in

Bezauberndes und das Geschmackvolle in Kitsch zu

verwandeln. Tesla gelang die Verwandlung in beide

Richtungen, ohne daß sie es versuchte. Heute hatte sie ein weißes Herrenoberhemd an, das zu groß für ihren schlanken, zierlichen Körper war, dazu eine mexikanische Bola mit dem Bildnis der Madonna um den Hals, weite blaue Hosen,

hochhackige Schuhe - mit denen sie ihm trotzdem nur bis zur Schulter reichte - und silberne Ohrringe in Form von

Schlangen in rotem Haar, in das sie blonde Strähnen gefärbt hatte, weil sie sagte, daß Blondinen tatsächlich mehr Spaß hatten, aber ein ganzer Kopf davon wäre unmäßig.

»Du hast geschlafen«, sagte sie.

»Ja.«

»Tut mir leid.«

»Ich muß pissen gehen.«

»Dann geh. Geh.«

»Fragst du nach meinen Anrufen?« rief er hinaus, während er sein Ebenbild im Spiegel betrachtete. Er sah erbärmlich aus, dachte er: wie der unterernährte Dichter, der zu sein er beim er-286

sten Mal, als er hungrig gewesen war, aufgegeben hatte. Erst als er über der Kloschüssel schwankte - mit einer Hand an seinem Schwanz, der ihm noch nie so fern oder so klein erschienen war - und sich mit der anderen Hand am Türrahmen festhielt, damit er nicht umkippte, gestand er sich ein, wie krank er sich fühlte.

»Du solltest mir nicht zu nahe kommen«, sagte er zu Tesla, als er wieder ins Zimmer gestolpert war. »Ich glaube, ich habe die Grippe.«

»Dann geh wieder ins Bett. Von wem hast du denn die

Grippe?«

»Von einem Kind.«

»Abernethy hat angerufen«, informierte Tesla ihn. »Und eine Frau namens Ellen.«

»Ihr Kind.«

»Wer sie?«

»Sie nette Frau. Welche Nachricht?«

»Muß dringend mit dir sprechen. Keine Nummer.«

»Glaube nicht, daß sie ein Telefon hat«, sagte Grillo. »Ich sollte herausfinden, was sie will. Sie hat für Vance gearbeitet.«

»Skandal?«

»Ja.« Seine Zähne fingen an zu klappern. »Scheiße«, sagte er. »Mir ist, als würde ich verbrennen.«

»Vielleicht sollte ich dich nach L. A. mitnehmen?«

»Unmöglich. Ich habe hier eine tolle Story, Tesla.«

»Es gibt überall tolle Stories. Abernethy kann einen anderen herschicken.«

»Das hier ist seltsam«, sagte Grillo. »Hier geht etwas vor, das ich nicht verstehe.« Er setzte sich hin; sein Kopf pochte.

»Weißt du, daß ich dabei war, als die Männer, die nach Vance'

Leichnam suchten, ums Leben kamen?«

»Nein. Was ist passiert?«

»Was auch immer sie in den Nachrichten gesagt haben, es war kein unterirdischer Dammbruch. Jedenfalls nicht nur das.

287

Zunächst einmal habe ich, lange bevor das Wasser kam, Schreie gehört. Ich glaube, sie haben da unten gebetet, Tesla.

Gebetet. Und dann dieser verdammte Geysir. Wasser, Rauch, Dreck. Leichen. Und noch etwas. Nein: zweimal noch etwas.

Kam heimlich aus der Erde heraus.«

»Geklettert?«

»Geflogen.«

Tesla sah ihn lange und durchdringend an.

»Ich schwöre es, Tesla«, sagte Grillo. »Vielleicht waren es Menschen... vielleicht nicht. Sie schienen mehr wie... ich weiß auch nicht... mehr wie Energie zu sein. Und bevor du fragst, ich war clean und nüchtern.«

»Warst du der einzige, der sie gesehen hat?«

»Nein, ein Mann namens Hotchkiss war bei mir. Ich glaube, er hat sie auch gesehen. Aber er geht nicht ans Telefon, um es zu bestätigen.«

»Ist dir klar, daß du dich wie reif fürs Irrenhaus anhörst?«

»Das bestätigt doch nur, was du immer gedacht hast, oder nicht? Für Abernethy zu arbeiten, den Dreck der Reichen und Berühmten auszugraben...«

»Dich nicht in mich zu verlieben.«

»Mich nicht in dich zu verlieben.«

»Wahnsinnig.«

»Verrückt.«

»Hör zu, Grillo, ich bin eine erbärmliche Krankenschwester, also rechne nicht mit meinem Mitleid. Wenn du praktische Hilfe brauchst, solange du krank bist, mußt du mir nur sagen, was ich tun soll.«

»Du könntest bei Ellen vorbeischauen. Ihr sagen, daß ich mir bei dem Kind die Grippe geholt habe. Mach ihr Schuldgefühle.

Das ist eine Riesenstory, und ich kenne bisher nur einen winzigen Teil.«

»Das ist mein Grillo. Krank, aber er schämt sich nie.«

288

Es war Spätnachmittag, als Tesla sich auf den Weg zu Ellen Nguyens Haus machte; sie weigerte sich, das Auto zu nehmen, obwohl Grillo sie warnte, daß ihr ein tüchtiger Fußmarsch bevorstand. Wind war aufgekommen und begleitete sie durch die Stadt. Es war ein Ort, in dem sie gerne einmal einen Thriller ansiedeln würde; zum Beispiel eine Geschichte über einen Mann mit einer Atombombe im Koffer. Natürlich war das schon einmal gemacht worden; aber ihre Geschichte hatte eine neue Wendung. Sie würde sie nicht als Parabel des Bösen sondern der Apathie erzählen. Die Leute beschlossen einfach, nicht zu glauben, was ihnen gesagt wurde; sie gingen mit gleichgültigen Gesichtern ihrem Tagwerk nach. Und die Heldin würde versuchen, die Leute aufzurütteln und ihnen die Gefahr bewußt zu machen, in der sie schwebten; aber das würde ihr nicht gelingen, und am Ende würde sie von einem Mob, der nicht wollte, daß sie Dreck aufwühlte, aus der Stadt

hinausgeworfen werden. In dem Augenblick würde die Erde beben und die Bombe hochgehen. Ausblenden. Ende. Natürlich würde der Film so nie gedreht werden, aber sie war Expertin darin, Drehbücher zu schreiben, die nie verfilmt wurden.

Trotzdem fielen ihr immer wieder Geschichten ein. Sie konnte keinen neuen Ort oder neue Gesichter sehen, ohne eine Handlung darum zu konstruieren. Sie analysierte die

Geschichten, die ihr Verstand zu jeder Besetzung und jeder Kulisse erfand, nicht allzu eingehend; es sei denn, sie waren -

wie jetzt - so offensichtlich, daß es unvermeidlich war.

Momentan sagte ihr Innerstes ihr, daß Palomo Grove eine Stadt war, die irgendwann mit einem Knall hochgehen würde.

Ihr Orientierungssinn war verläßlich und gut. Sie gelangte ohne Umwege zum Haus von Ellen Nguyen. Die Frau, die die Tür aufmachte, sah so zierlich aus, daß Tesla kaum wagte, lauter als flüsternd zu sprechen, geschweige denn, Beweise von Indiskretionen aus ihr herauszulocken. Sie verkündete schlicht und einfach die Tatsachen: daß sie auf Bitten von Grillo 289

gekommen war, weil er sich die Grippe geholt hatte.

»Keine Bange, er wird es überleben«, sagte sie, als sie Ellens gequälten Ausdruck sah. »Ich bin nur hergekommen, um zu er-klären, warum er nicht selbst zu Ihnen kommt.«

»Bitte kommen Sie herein«, sagte Ellen.

Tesla lehnte ab. Sie war nicht in der Stimmung für eine empfindsame Seele. Aber die Frau erwies sich als beharrlich.

»Ich kann hier nicht reden«, sagte sie, als sie die Tür zumachte. »Und ich kann Philip nicht zu lange allein lassen.

Ich habe kein Telefon mehr. Ich mußte zu meinem Nachbarn, um Mr. Grillo anzurufen. Würden Sie ihm eine Nachricht überbringen?«

»Gerne«, sagte Tesla und dachte: Wenn es ein Liebesbrief ist, werfe ich ihn in den Abfalleimer. Sie wußte, Ellen Nguyen war Grillos Typ. Hilflos, damenhaft, sanft. Alles in allem völlig anders als sie selbst.

Das ansteckende Kind saß auf dem Sofa.

»Mr. Grillo hat die Grippe«, sagte seine Mutter zu ihm.

»Warum schenkst du ihm nicht eins von deinen Bildern, damit es ihm wieder besser geht?«

Der Junge stapfte in sein Zimmer und gab Ellen damit Gelegenheit, ihre Botschaft an den Mann zu bringen.

»Würden Sie ihm sagen, daß sich die Lage in Coney

geändert hat?« sagte Ellen.

»In Coney geändert«, wiederholte Tesla. »Und was bedeutet das genau?«

»Es wird eine Gedenkparty für Buddy in seinem Haus geben.

Mr. Grillo wird es verstehen. Rochelle, seine Frau, hat den Chauffeur hergeschickt. Mich gebeten, ihr zu helfen.«

»Und was hat Grillo damit zu tun?«

»Ich will wissen, ob er eine Einladung braucht.«

»Darauf kann ich getrost mit Ja antworten. Wann soll es denn sein?«

»Morgen abend.«

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»Knapper Termin.«

»Die Leute werden wegen Buddy kommen«, sagte Ellen. »Er war sehr beliebt.«

»Der Glückliche«, bemerkte Tesla. »Wenn Grillo etwas von Ihnen will, kann er Sie demnach im Haus von Vance

erreichen?«

»Nein. Er darf dort nicht anrufen. Sagen Sie ihm, er soll nebenan eine Nachricht hinterlassen. Bei Mr. Fulmer. Er sieht nach meinem Philip.«

»Fulmer. Gut. Verstanden.«

Sonst gab es nicht viel zu sagen. Tesla nahm Philips Bild entgegen, das sie Grillo bringen sollte, zusammen mit den besten Wünschen von Mutter und Sohn, dann machte sie sich wieder auf den Heimweg und dachte sich unterwegs

Geschichten aus.

291

IX

»William?«

Endlich war Spilmont am Telefon. Die Kinder lachten nicht mehr im Hintergrund. Es war Abend geworden, und wenn die Sonne nicht mehr schien, war das Wasser des Rasensprengers zu kalt.

»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte er. »Ich habe heute nachmittag sowieso schon zuviel vergeudet.«

»Was?« sagte William. Er hatte den Nachmittag im Fieber der Erwartung verbracht. »Erzähl.«

»Ich fuhr, kaum daß du weg warst, zum Wild Cherry Glade hinauf.«

»Und?«

»Und nichts, Junge. Große dicke Null. Das Haus war verlassen, und ich habe wie ein Arschloch ausgesehen, als ich hineinging, als wäre Gott weiß was drinnen. Schätze, das hast du geplant gehabt, richtig?«

»Nein, Oscar. Da irrst du dich.«

»Nur einmal, Junge. Einmal kann ich einen Scherz

vertragen, O.K.? Soll mir niemand nachsagen, daß ich keinen Sinn für Humor habe.«

»Es war kein Witz.«

»Weißt du, eine Zeitlang hast du mich echt an der Nase herumgeführt. Du solltest Bücher schreiben und nicht

Grundstücke verkaufen.«

»Das ganze Haus war leer? Keine Spur von etwas? Hast du im Pool nachgesehen?«

»Hör auf damit!« sagte Spilmont. »Ja, alles leer. Pool; Haus; Garage. Alles leer.«

»Dann sind sie abgehauen. Sie sind entwischt, bevor du gekommen bist. Ich verstehe nur nicht, wie. Tommy-Ray hat gesagt, der Jaff mag kein Sonnenlicht...«

»Genug!«

sagte Spilmont. »Ich habe auch ohne

292

deinesgleichen zuviel Spinner am Ort. Komm zu dir, ja? Und versuch das nicht mit einem der anderen Jungs, Witt. Sie sind gewarnt, klar? Wie ich sagte: Einmal ist genug!«

Spilmont beendete das Gespräch, ohne sich zu

verabschieden, und William hörte sich eine halbe Minute lang das Freizeichen an, bevor er den Hörer aus der Hand gleiten ließ.

»Wer hätte das gedacht?« sagte der Jaff und streichelte sein neuestes Geschöpf. »Angst findet man dort, wo man sie am wenigsten erwartet.«

»Ich will es halten«, sagte Tommy-Ray.

»Es gehört dir«, sagte der Jaff und ließ den Jungen das Terata von seinem Arm nehmen. »Was dir gehört, gehört auch mir.«

»Hat nicht viel Ähnlichkeit mit Spilmont.«

»Aber gewiß doch«, sagte der Jaff. »Ein getreulicheres Porträt des Mannes hat es nie gegeben. Das ist seine Wurzel.

Sein Kern. Die Angst eines Mannes macht ihn zu dem, was er ist.«

»Ist das so?«

»Was heute abend hier hinausgegangen ist und sich Spilmont genannt hat, ist nur die Hülle. Das Überbleibsel.«

Er schlenderte zum Fenster, während er sprach, und zog die Vorhänge beiseite. Die Terata, die über ihn gewuselt waren, als William kam, folgten ihm auf den Fersen. Er scheuchte sie weg. Sie wichen respektvoll zurück, krochen aber, kaum hatte er sich umgedreht, wieder in seinen Schatten.

»Die Sonne ist fast untergegangen«, sagte er. »Wir sollten aufbrechen. Fletcher ist bereits im Grove.«

»Ja?«

»O ja. Er kam am Nachmittag an.«

»Woher weißt du das?«

»Es ist unmöglich, jemanden so sehr zu hassen, wie ich Flet-293

cher, ohne seinen Aufenthaltsort zu kennen.«

»Also töten wir ihn?«

»Wenn wir genügend Attentäter haben«, sagte der Jaff. »Ich will keine Fehler, wie bei Mr. Witt.«

»Ich hole erst Jo-Beth.«

»Wozu die Mühe?« sagte der Jaff. »Wir brauchen sie nicht.«

Tommy-Ray warf Spilmonts Terata auf den Boden. »Ich

brauche sie«, sagte er.

»Es ist selbstverständlich rein platonisch.«

»Was soll das heißen?«

»Das ist Ironie, Tommy-Ray. Was ich damit sagen will ist: Du willst ihren Körper.«

Tommy-Ray dachte einen Augenblick darüber nach. Dann

sagte er:

»Vielleicht.«

»Sei ehrlich.«

»Ich weiß nicht, was ich will«, lautete die Antwort, »aber ich weiß ganz bestimmt, was ich nicht will. Ich will nicht, daß dieser Wichser Katz sie anfaßt. Sie gehört zur Familie, richtig? Du hast mir gesagt, daß das wichtig ist.«

Der Jaff nickte. »Du bist sehr überzeugend«, sagte er.

»Also, holen wir sie?« sagte Tommy-Ray.

»Wenn es so wichtig ist«, antwortete sein Vater. »Ja, wir gehen und holen sie.«

Als er Palomo Grove zum ersten Mal sah, war Fletcher fast verzweifelt.

In den Monaten seines Krieges gegen den Jaff hatte er eine Vielzahl von Städten wie diese gesehen; geplante Gemeinden, die jede Einrichtung besaßen, nur nicht die Einrichtung zu fühlen; Orte, die einen Eindruck von Leben vermittelten, in Wirklichkeit aber wenig bis gar keines hatten. Zweimal war er, in solchen Vakuen eingeschlossen, dicht davor gewesen, von seinem Feind ausgelöscht zu werden. Obwohl er den Aberglauben 294

überwunden hatte, fragte er sich, ob dieses dritte Mal tödlich sein würde.

Der Jaff hatte seinen Brückenkopf hier bereits eingerichtet, daran zweifelte Fletcher nicht. Hier dürfte es ihm nicht schwerfallen, die schwachen und ungeschützten Seelen zu finden, über die er so gerne herfiel. Für Fletcher, dessen Halluzigenien aus einem reichhaltigen und fröhlichen Traumleben geboren wurden, bot die von Behaglichkeit und Gleichgültigkeit verderbte Stadt kaum Nahrung.

In einem Ghetto oder einem Irrenhaus, wo das Leben dicht am Abgrund verlief, hätte er mehr Glück gehabt als in dieser gut bewässerten Wüste. Aber er hatte keine Wahl. Da er keinen menschlichen Agenten hatte, der ihm den Weg zeigte, war er gezwungen, wie ein Hund zwischen den Menschen dahin-zuschleichen und nach der Fährte eines Träumers zu schnuppern. Er fand ein paar im Einkaufszentrum, wurde aber kurz angebunden abgewiesen, wenn er versuchte, sie in Gespräche zu verwickeln.

Er gab sich redliche Mühe, einen Anschein von Normalität zu wahren, doch es war lange her, seit er ein Mensch gewesen war. Die Menschen, auf die er zuging, sahen ihn seltsam an, als hätte er einen Teil seiner Vorstellung übersehen, so daß sie den vom Nuncio Verwandelten darunter erkennen konnten. Und daher zogen sie sich zurück. Einer oder zwei verweilten in seiner Gesellschaft. Eine alte Frau, die ein Stück von ihm entfernt stand und jedesmal lächelte, wenn er in ihre Richtung sah; zwei Kinder, die das Schaufenster der Tierhandlung vergaßen, als sie ihn erblickten, und ihn anstarrten, bis ihre Mütter sie zu sich riefen. Die Ausbeute war so mager, wie Fletcher befürchtet hatte. Hätte der Jaff die Möglichkeit gehabt, ihr Schlachtfeld persönlich auszusuchen, er hätte keine bessere Wahl treffen können. Wenn der Krieg zwischen ihnen in Palomo Grove zu Ende gehen sollte - und Fletcher spürte in seinem Innersten, daß einer von ihnen hier sein Ende finden würde -, dann würde 295

ganz sicher der Jaff der Sieger sein.

Als der Abend kam und sich das Einkaufszentrum leerte, ging auch Fletcher weiter und wanderte durch die einsamen Straßen. Es waren keine Fußgänger unterwegs. Nicht einmal jemand, der mit dem Hund Gassi ging. Er wußte warum. Die menschliche Sphäre konnte, obwohl sie freiwillig unempfänglich war, die Anwesenheit übernatürlicher Kräfte in ihrer Mitte nicht völlig verdrängen. Die Einwohner des Grove wußten, daß es heute nacht in ihrer Stadt spukte, obwohl sie ihre Ängste nicht in Worte hätten kleiden können, und daher suchten sie Zuflucht vor ihren Fernsehern. Fletcher konnte die Bildschirme in jedem Haus flimmern sehen, und die Lautstärke war stets aufgedreht, wie um den Gesang zu übertönen, den die Sirenen draußen heute nachsingen mochten. In den Armen von Show-mastern und Seifenopern-Königinnen gewiegt, wurden die kleinen Geister von Palomo Grove in einen unschuldigen Schlaf gelullt, und dem Wesen, das sie vor der Vernichtung hätte retten können, schlugen sie die Türen zu und ließen es draußen allein.

296

X

l

Während die Dämmerung zur Nacht wurde, beobachtete Howie an einer Straßenecke einen Mann, bei dem es sich, wie er später erfahren sollte, um den Pastor handelte, der vor dem Haus der McGuires auftauchte, wo er sich durch die

geschlossene Tür hindurch vorstellte und - nach einer Pause, während Schlösser aufgeschlossen und Riegel entriegelt wurden - ins innerste Heiligtum eingelassen wurde. So eine Ablenkung würde sich heute abend nicht noch einmal bieten, vermutete Howie. Wenn es eine Gelegenheit gab, an der wachsamen Mutter vorbeizuschlüpfen und zu Jo-Beth zu

gelangen, dann war sie jetzt gekommen. Er überquerte die Straße, vergewisserte sich aber vorher, ob niemand kam. Er hätte keine Angst haben müssen. Die Straßen waren

außergewöhnlich still. Aus den Häusern tönte Lärm: Fernseher waren so laut gestellt, daß er beim Warten neun verschiedene Kanäle unterscheiden, Titelmelodien mitsummen und über Scherze lachen konnte. So konnte er sich ohne Zeugen zur Seite des Hauses schleichen; dann kletterte er über das Tor und ging den Weg zum Garten entlang. Währenddessen wurde in der Küche das Licht eingeschaltet. Er wich vom Fenster zurück. Es war aber nicht Mrs. McGuire, die hereingekommen war, sondern Jo-Beth, die dem Gast ihrer Mutter

pflichtschuldigst ein Abendessen machte. Er beobachtete sie gebannt. Obwohl sie ein dunkles, schlichtes Kleid anhatte und einer gewöhnlichen Tätigkeit nachging, war sie doch der außergewöhnlichste Anblick, den er je gesehen hatte, trotz des unvorteilhaften Neonlichts. Als sie zur Spüle kam, um Tomaten zu waschen, kam er aus seinem Versteck. Sie bekam seine Bewegung mit und sah auf. Er hatte bereits den Finger an den Lippen, um sie zum Schweigen zu ermahnen. Sie winkte 297

ihn fort - mit panischem Gesichtsausdruck. Er gehorchte keinen Augenblick zu früh, denn ihre Mutter erschien unter der Küchentür. Es folgte eine kurze Unterhaltung zwischen ihnen, die Howie nicht mitbekam, dann ging Mrs. McGuire wieder ins Wohnzimmer. Jo-Beth sah über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß ihre Mutter fort war, dann kam sie zur Gartentür und schloß zögernd auf. Aber sie machte sie nicht so weit auf, daß er eintreten konnte. Statt dessen preßte sie das Gesicht in den Spalt und flüsterte:

»Du hast hier nichts zu suchen.«

»Ich bin aber hier«, sagte er. »Und du bist froh darüber.«

»Nein.«

»Solltest du aber sein. Ich habe Neuigkeiten. Gute Neuigkeiten. Komm heraus.«

»Das kann ich nicht«, flüsterte sie. »Und sei leiser.«