Zwei Tage nach der Elternversammlung platzte die Ge-

schichte, und Palomo Grove - das von Arleens Enthüllungen erschüttert, aber keineswegs umgeworfen worden war - erhielt einen fast tödlichen Schlag. Die Geschichte des verrückten Mädchens hatte eine interessante Lektüre für UFO-Anhänger und Krebsheilmittel-Fanatiker abgegeben, aber sie war im Grunde genommen ein Einzelfall gewesen. Diese neue

Entwicklung aber berührte einen empfindlicheren Nerv. Nun hatte man vier Familien, deren ordentliches, behütetes Leben durch eine Verschwörung ihrer eigenen Töchter kaputtgemacht worden war. War eine Art Kult dafür verantwortlich? fragte die Presse. Handelte es sich bei den unbekannten Vätern

womöglich um ein und dieselbe Person, einen Verführer junger Frauen, dessen geheimgehaltene Identität schon allein mehr als genügend Stoff für Spekulationen bot? Und was war mit der Tochter der Farrells, die als erste den Bund der Jungfrauen, wie sie inzwischen genannt wurden, verpfiffen hatte? War sie zu extremerem Verhalten getrieben worden als ihre

Freundinnen, weil sie, wie der Chronicle als erster berichtete, unfruchtbar war? Oder hatten die anderen ihre wahren Exzesse nur noch nicht gestanden? Es war eine Geschichte, die endlos weiterging. Sie enthielt alles: Sex, Besessenheit, Familien im Chaos, Kleinstadtintrigen, Sex, Wahnsinn, Sex. Und was noch wichtiger war, es konnte nur noch besser werden.

Die Presse konnte den Verlauf der Schwangerschaften

verfolgen. Mit etwas Glück würde ihr eine erstaunliche 113

Belohnung zuteil werden. Alle Kinder würden als Drillinge zur Welt kommen oder als Schwarze oder als Totgeburten.

Oh, welche Möglichkeiten!

114

III

Es herrschte Ruhe im Zentrum des Sturms; Ruhe und Stille.

Die Mädchen hörten das Heulen und die Vorwürfe, die von Eltern, Presse und Altersgenossen gleichermaßen über ihnen ausgeschüttet wurden, aber sie ließen sich nicht davon beeindrucken. Der Prozeß, der im See angefangen hatte, wurde in seiner unweigerlichen Weise fortgesetzt, und sie ließen ihr Denken davon formen, wie sie ihre Körper davon hatten formen lassen und noch ließen. Sie waren so ruhig, wie es der See gewesen war; ihre Oberfläche so ausgeglichen, daß nicht einmal die heftigsten Angriffe auch nur eine Welle erzeugen konnten.

Und sie suchten während dieser Zeit nicht die gegenseitige Gesellschaft. Ihr Interesse aneinander, wie überhaupt an der Umwelt, schrumpfte auf Null. Sie saßen lediglich zu Hause und wurden runder, während um sie herum die Kontroverse tobte. Doch auch diese ließ, entgegen früheren Erwartungen, im Lauf der Monate nach, und neue Skandale erheischten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aber das Gleichgewicht des Grove hatte bleibenden Schaden davongetragen. Der Bund der Jungfrauen hatte den Ort im Ventura County auf eine Weise bekannt gemacht, wie man es sich niemals gewünscht hatte, die man aber dessen ungeachtet, da nun einmal

geschehen, finanziell ausschlachten wollte. Der Grove hatte in diesem Herbst mehr Besucher als seit seiner Gründung

zusammengenommen, hauptsächlich von Leuten, die damit prahlen wollten, daß sie dort gewesen waren; in Crazyville; der Stadt, wo sich Mädchen auf alles stürzen, das sich bewegte, wenn der Teufel es ihnen befahl. Darüber hinaus fanden weitere Veränderungen in dem Ort statt, die nicht so

offensichtlich waren wie volle Bars und Einkaufszentren.

Hinter verschlossenen Türen mußte die Jugend von Palomo Grove vehementer um ihre Vorrechte kämpfen, da Eltern, spe-115

ziell Väter von Töchtern, Freiheiten einschränkten, die zuvor als gegeben betrachtet worden waren. Diese häuslichen Zwistigkeiten zerrütteten einige Familien und entzweiten andere vollkommen. Der Alkoholkonsum stieg entsprechend an; Marvin's Food and Drug machte im Oktober und November ein hervorragendes Geschäft mit harten Spirituosen, und über Weihnachten schnellte die Nachfrage in die Stratosphäre, als Vorkommnisse wie Trunkenheit, Ehebruch, das Verprügeln von Ehefrauen und Exhibitionismus Palomo Grove, zusätzlich zu den üblichen Festivitäten, in ein Sündenparadies

verwandelten.

Nachdem die Feiertage und private Scharmützel vorüber waren, beschlossen einige Familie, den Grove ganz zu verlassen, woraufhin eine subtile Neuorganisation des gesellschaftlichen Lebens der Stadt einsetzte, da bislang als erstrebenswert betrachtete Immobilien - zum Beispiel die in den Crescents, jetzt vom Makel der Farrells befleckt - im Wert fielen und von Leuten gekauft wurden, die noch im Sommer zuvor nicht zu träumen gewagt haben würden, daß sie einmal in dieser Gegend leben würden.

So viele Folgen zeitigte ein Kampf in unruhigem Gewässer.

Der Kampf war selbstverständlich nicht unbeobachtet geblieben. Was William Witt in seinem kurzen Leben als Voyeur über Geheimhaltung gelernt hatte, erwies sich im Verlauf der anschließenden Ereignisse als unschätzbar wertvoll. Mehr als einmal war er kurz davor, jemandem zu erzählen, was er am See beobachtet hatte, aber er widerstand der Versuchung, weil er wußte, der kurze Ruhm, der ihm dafür zuteil werden würde, wäre mit anschließendem Argwohn und möglicherweise

Bestrafung erkauft. Nicht nur das; die Aussichten standen gut, daß ihm nicht einmal jemand glauben würde. Aber er hielt die Erinnerungen wach, indem er den Ort des Geschehens

regelmäßig besuchte. Unmittelbar nach dem Vorfall war er 116

sogar täglich hingegangen, um zu sehen, ob er die Bewohner des Sees vielleicht noch einmal erblicken würde. Aber der Wasserspiegel sank bereits. Er war über Nacht um beinahe ein Drittel gesunken. Nach einer Woche war überhaupt kein Wasser mehr da, und man konnte eine Spalte in der Erde sehen, die offenbar zu den unterirdischen Höhlen unter der Stadt führte.

Er war nicht der einzige Besucher dort. Nachdem Arleen preisgegeben hatte, was sich an jenem Nachmittag dort zugetragen hatte, suchten zahllose Schaulustige nach der Stelle.

Die Aufmerksameren fanden sie sofort: Das Wasser hatte das Gras gelb gemacht und mit getrocknetem Schlick überzogen.

Einer oder zwei versuchten sogar, in die Höhle vorzudringen, aber die Spalte fiel buchstäblich senkrecht ab und bot keinerlei Halt. Nach ein paar Tagen des Ruhms wurde die Stelle wieder sich selbst und Williams einsamen Besuchen überlassen. Trotz der Angst, die er empfand, verschaffte es ihm eine seltsame Befriedigung, dorthin zu gehen. Er hatte ein Gefühl der Mittäterschaft, ganz zu schweigen von der erotischen

Spannung, die er empfand, wenn er dort stand, wo er an jenem Tag gestanden hatte, und sich die nackten Badenden vorstellte.

Das Schicksal der Mädchen interessierte ihn nicht besonders.

Er las ab und zu von ihnen, und manchmal hörte er, wie von ihnen gesprochen wurde, aber für William bedeutete aus den Augen auch aus dem Sinn. Es gab Besseres zu beobachten. Da sich der Ort im Aufruhr befand, konnte er jede Menge

spionieren: beiläufige Verführung und niederträchtige Sklaverei; Wutausbrüche; Prügel; Abschiedsszenen mit

blutigen Nasen. Eines Tages, dachte er, werde ich das alles aufschreiben. Das Buch wird den Titel Witts Buch tragen, und wenn es veröffentlicht ist, werden alle wissen, daß ihre Geheimnisse mir gehören.

Wenn er ab und zu doch an die momentane Lage der

Mädchen dachte, dann mit Vorliebe an Arleen, weil sie im 117

Krankenhaus war, wo er sie nicht sehen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte, und seine Ohnmacht war, wie für jeden Voyeur, ein Ansporn. Sie war krank im Kopf, hatte er gehört, und niemand wußte so richtig den Grund dafür. Sie wollte dauernd, daß Männer zu ihr kamen, sie wollte Babys haben, wie die anderen, und weil sie das nicht konnte, war sie krank.

Aber seine Neugier hinsichtlich des Mädchens verschwand völlig, als er jemanden sagen hörte, daß ihre Schönheit dahin war.

»Sie sieht halbtot aus«, hörte er mit. »Tot und unter Drogen.«

Danach war es, als würde Arleen Farrell gar nicht mehr existieren, außer als wunderschöne Vision, die am Ufer eines silbernen Sees ihre Kleider auszog. Daran, was dieser See aus ihr gemacht hatte, dachte er überhaupt nicht mehr.

Unglücklicherweise konnten die Leiber der restlichen

Mitglieder des Quartetts das Erlebnis und seine Folgen, die schon bald zur plärrenden Wirklichkeit wurden, nicht so einfach vergessen. Die zweite Phase der Demütigung von Palomo Grove begann am 2. April, als die erste des Bundes der Jungfrauen niederkam.

Howard Ralph Katz wurde von seiner achtzehnjährigen Mutter Trudi um drei Uhr sechsundvierzig mittels Kaiserschnitt geboren. Er war schwächlich und wog lediglich vier Pfund und sechzig Gramm, als er das Licht des Operationssaals erblickte.

Ein Kind, das, darin waren sich alle einig, der Mutter gleichsah, wofür die Großeltern pflichtschuldigst dankbar waren, hatten sie doch keine Ahnung, wer der Vater war.

Howard hatte Trudis dunkle, tiefliegende Augen und schon bei der Geburt einen gezwirbelten braunen Haarschopf. Wie seine Mutter, die auch zu früh zur Welt gekommen war, mußte er in den ersten sechs Tagen seines Lebens um jeden Atemzug kämpfen, danach wurde er rasch kräftiger. Am 19. April 118

brachte Trudi ihren Sohn nach Palomo Grove, um ihn in dem Ort großzuziehen, den sie am besten kannte.

Zwei Tage nach der Entbindung von Howard Katz gebar die zweite aus dem Bund der Jungfrauen. Diesmal bekam die Presse mehr als nur die Geburt eines kränklichen Jungen. Joyce McGuire brachte Zwillinge zur Welt, die im Abstand von einer Minute ohne jegliche Komplikationen auf die Welt kamen. Sie nannte sie Jo-Beth und Tommy-Ray, Namen, die sie - obwohl sie das niemals zugegeben haben würde, nicht bis ans Ende ihres Lebens - auswählte, weil die Kinder zwei Väter hatten: einen in Randy Krentzman, einen im See. Drei, wenn sie den Vater im Himmel mitzählte, aber sie fürchtete, daß dieser sie schon längst zugunsten willfährigerer Seelen übergangen hatte.

Eine Woche nach Geburt der McGuire-Zwillinge gebar auch Carolyn Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen, aber der Junge kam tot zur Welt. Das Mädchen, das schwer und kräftig war, bekam den Namen Linda. Mit ihrer Geburt schien die Legende vom Bund der Jungfrauen an ihrem logischen Ende angelangt zu sein. Die Beerdigung von Carolyns anderem Kind zog eine kleine Gruppe Neugieriger an, aber ansonsten ließ man die vier Familien in Ruhe. Sogar zu sehr in Ruhe. Freunde riefen nicht mehr an; Bekannte leugneten, daß sie sie überhaupt gekannt hatten. Die Geschichte vom Bund der Jungfrauen hatte den guten Namen von Palomo Grove beschmutzt, und obwohl der Skandal der Stadt einen Ruf verschafft hatte, herrschte mittlerweile der allgemeine Wunsch vor zu vergessen, daß der Zwischenfall je stattgefunden hatte.

Da die Ablehnung, die sie von allen Seiten spürte, die Familie Katz schmerzlich berührte, trafen sie Vorbereitungen, den Grove zu verlassen und in Alan Katz' Heimatstadt Chicago zurückzukehren. Sie verkauften ihr Haus Ende Juni an einen Auswärtigen, der mit einem Schlag ein gutes Geschäft machte und obendrein ein wertvolles Grundstück und einen Ruf bekam. Zwei Wochen später war die Familie Katz

119

weggezogen.

Diese Entscheidung erwies sich als klug. Hätten sie ihre Abreise nur noch ein paar Tage hinausgezogen, wären sie auch in die letzte Tragödie in der Geschichte des Bundes verwickelt worden. Am Abend des 26. machte die Familie Hotchkiss einen Ausflug und ließ Carolyn mit Tochter Linda zu Hause zurück. Sie blieben länger als erwartet weg, und als sie zurückkamen, war Mitternacht bereits vorbei, also schon der 27. Carolyn hatte den Jahrestag des Schwimmausflugs dadurch gefeiert, daß sie ihre Tochter erstickt und sich dann selbst das Leben genommen hatte. Sie hatte einen Abschiedsbrief

hinterlassen, in dem mit derselben grausigen

Teilnahmslosigkeit, mit der das Mädchen von dem San-

Andreas-Graben gesprochen hatte, zu lesen stand, daß Arleen Farrells Geschichte wahr gewesen war. Sie waren schwimmen gegangen, sie waren angegriffen worden. Bis zum heutigen Tag wußte sie nicht, von was, aber sie hatte seither die Präsenz in sich selbst und ihrem Kind gespürt, und diese war böse.

Darum hatte sie Linda erstickt. Und darum würde sie sich jetzt die Pulsadern aufschneiden. Richtet nicht zu streng über mich, bat sie. Ich wollte in meinem ganzen Leben niemandem weh tun.

Der Brief wurde von den Eltern dahingehend interpretiert, daß die Mädchen tatsächlich von jemandem angegriffen und vergewaltigt worden waren und daß sie die Identität des Täters oder der Täter aus unerfindlichen Gründen geheimgehalten hatten.

Da Carolyn tot, Arleen wahnsinnig und Trudi nach Chicago gezogen war, blieb es Joyce McGuire überlassen, die ganze Wahrheit zu enthüllen, ohne Auslassungen oder Ausschmük-kungen, und die Geschichte vom Bund der Jungfrauen zu Grabe zu tragen. Anfangs weigerte sie sich. Sie behauptete, sie könne sich überhaupt nicht erinnern, was an jenem Tag geschehen war. Das traumatische Erlebnis hatte sämtliche Erinnerun-120

gen verdrängt.

Aber damit gaben sich weder die Hotchkiss' noch die

Farrells zufrieden. Sie übten über Joyce' Vater zunehmenden Druck auf das Mädchen aus. Dick McGuire war kein kräftiger Mann, weder geistig noch körperlich, und seine Kirche erwies sich in dieser Frage als überhaupt nicht hilfreich und stellte sich auf die Seite der Nicht-Mormonen gegen das Mädchen.

Die Wahrheit mußte ans Licht kommen.

Um zu verhindern, daß die Verbohrten ihrem Vater noch mehr Leid zufügten, als sie dies schon getan hatten, sprach Joyce schließlich. Es war eine seltsame Szene. Die sechs Eltern und Pastor John, der seelische Führer der Mormonengemeinde im Grove und Umgebung, saßen im Eßzimmer der McGuires und hörten dem blassen, hageren Mädchen zu, das mit beiden Händen nacheinander erst eine und dann die andere Krippe wiegte, um die beiden Kinder schlafen zu legen, von deren Empfängnis sie erzählte.

Zuerst warnte sie die Zuhörer, daß ihnen nicht gefallen würde, was sie zu sagen hatte.

Dann rechtfertigte sie ihre Warnung mit der tatsächlichen Geschichte. Sie erzählte alles von Anfang an: der Spaziergang; der See; das Schwimmen; die Wesenheiten, die im Wasser um ihre Körper gekämpft hatten; ihre Flucht; ihre Leidenschaft für Randy Krentzman - dessen Familie den Grove schon vor Monaten verlassen hatte, wahrscheinlich aufgrund eines stillen Ge-ständnisses seinerseits; der Wunsch, den sie mit den anderen Mädchen teilte, so schnell und sicher wie möglich schwanger zu werden...

»Also ist Randy Krentzman für alles verantwortlich?« fragte Carolyns Vater.

»Der?« sagte sie. »Dazu wäre er nicht fähig gewesen.«

»Wer dann?«

»Du hast versprochen, die ganze Geschichte zu erzählen«, erinnerte der Pastor sie.

121

»Das werde ich auch«, antwortete sie. »Soweit ich sie weiß.

Randy Krentzman war meine Wahl. Wir wissen alle, wie

Arleen die Sache angepackt hat. Ich bin sicher, Carolyn hat einen anderen gefunden. Und Trudi auch. Wißt ihr, die Väter waren überhaupt nicht wichtig. Sie waren nur Männer.«

»Willst du damit sagen, daß der Teufel in dir ist, Kind?«

fragte der Pastor.

»Nein.«

»Dann in den Kindern?«

»Nein. Nein.« Sie wiegte jetzt beide Wiegen, mit jeder Hand eine. »Jo-Beth und Tommy-Ray sind nicht besessen. Jedenfalls nicht so, wie Sie meinen. Sie sind einfach nicht Randys Kinder.

Vielleicht haben sie etwas von seinem guten Aussehen...« Sie gestattete sich ein sanftes Lächeln, »... das würde mir gefallen«, sagte sie. »Weil er so hübsch war. Aber der Geist, der sie gezeugt hat, ist in dem See.«

»Es gibt keinen See«, erwähnte Arleens Vater.

»An jenem Tag gab es einen. Und vielleicht gibt es wieder einen, wenn es stark genug regnet.«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

Ob er Joyce glaubte oder nicht, Farrell hielt Wort. Er und Hotchkiss brachten rasch genügend Mittel auf, damit sie die Zugänge zu den Höhlen versiegeln lassen konnten. Die meisten Spender unterschrieben nur einen Scheck, damit sie Farrell schnellstmöglich wieder loswurden. Seit seine Prinzessin wahnsinnig geworden war, hatte er die Anziehungskraft einer tickenden Bombe.

Im Oktober, knapp fünfzehn Monate nach dem

Schwimmausflug der Mädchen, wurde die Spalte zubetoniert.

Sie sollten noch einmal dorthin gehen, aber erst viele Jahre später.

Bis dahin konnten die Kinder von Palomo Grove friedlich spielen.

122

Dritter Teil

Freie Geister

I

William Witt kaufte im Verlauf der folgenden siebzehn Jahre, während er zum Mann heranwuchs, Hunderte erotischer Magazine und Filme, anfangs per Post, später persönlich in Los Angeles, wohin er einzig zu diesem Zwecke fuhr, und er bevorzugte stets diejenigen, bei denen er noch etwas vom Leben hinter der Kamera mitbekam. Manchmal konnte man den Kameramann - nebst Ausrüstung und allem - in einem Spiegel hinter den Darstellern sehen. Manchmal sah man die Hand eines Technikers oder Aufreizers - jemand, der

eingestellt wurde, um die Darsteller in Drehpausen erregt zu halten - am Bildrand, wie die Gliedmaßen eines Liebhabers, der soeben aus dem Bett vertrieben worden war.

Solche offensichtlichen Fehler kamen vergleichsweise selten vor. Wesentlich häufiger - und für William viel verräterischer -

waren subtilere Spuren der Wirklichkeit hinter der Szene, die er beobachtete. Manchmal war ein Darsteller, dem eine Vielzahl von Sünden dargeboten wurden, nicht sicher, welche Öffnung er zuerst beglücken sollte, und er sah in die Kamera, um sich Rat zu holen; manchmal wurde hastig ein Bein

weggezogen, weil der Allmächtige hinter der Kamera brüllte, daß es die wesentlichen Ereignisse verdeckte.

Bei solchen Gelegenheiten, wenn die Fiktion, die ihn erregte

- und die eigentlich nicht ganz Fiktion war, denn hart war hart und ließ sich nicht vortäuschen -, bloßgestellt wurde, dachte William, daß er Palomo Grove besser verstand. Etwas

existierte hinter dem Leben des Ortes und dirigierte die täglichen Belange so selbstlos, daß niemand außer ihm wußte, daß es überhaupt da war. Und selbst er konnte es vergessen.

123

Monate konnten vergehen, und er ging seinen Geschäften nach

- er war Makler -, ohne an die verborgene Hand zu denken.

Und dann sah er etwas, wie in den Pornos. Vielleicht einen Gesichtsausdruck eines der älteren Einwohner oder einen Riß im Straßenbelag oder Wasser, das von einem überschwemmten Rasen den Hügel herunterfloß. Das alles reichte aus, ihn an den See und an den Bund zu erinnern, und er wußte, diese Stadt war nicht mehr als eine Fiktion - eigentlich nicht ganz Fiktion, denn Fleisch war Fleisch und ließ sich nicht vortäuschen - und er ein Darsteller in ihrer seltsamen Geschichte.

Diese Geschichte war ohne dramatische Vorfälle wie den mit dem Bund der Jungfrauen in den Jahren seit Abschottung der Höhlen weitergegangen. Obwohl der Grove eine

ausgezeichnete Stadt war, gedieh der Ort, und Witt mit ihm. Da Los Angeles an Größe und Wohlstand wuchs, wurden die

Städtchen in Simi Valley, darunter auch der Grove, zu Schlafstätten der Großstadt. Ende der siebziger Jahre stiegen die Grundstückspreise des Ortes schwindelerregend an, etwa zu der Zeit, als William in das Geschäft einstieg. Sie stiegen erneut, besonders in Windbluff, als mehrere weniger

bedeutende Stars beschlossen, ein Haus am Hill zu kaufen, was dem Ambiente einen bis dato unbekannten Reiz verschaffte.

Das größte Haus, eine palastähnliche Residenz mit herrlicher Aussicht über die Stadt und das Tal dahinter, kaufte der Komiker Buddy Vance, der zu der Zeit die Sendung mit der höchsten Einschaltquote aller Sender hatte. Etwas weiter unten ließ der Cowboy-Darsteller Raymond Cobb ein Haus abreißen und eine geräumige Ranch mit Pool in Form eines Sheriffsterns bauen. Zwischen dem Haus von Vance und dem von Cobb lag ein fast völlig von Bäumen verborgenes Gebäude, in dem der Stummfilmstar Helena Davis wohnte - die zu ihrer Zeit die Schauspielerin Hollywoods war, über die man am meisten getratscht hatte. Sie war jetzt Ende Siebzig und lebte völlig 124

zurückgezogen, was immer wieder zu wilden Gerüchten im Grove führte, wenn ein junger Mann auftauchte - immer einen Meter achtzig groß, immer blond - und verkündete, daß er ein Freund von Miß Davis war. Ihre Anwesenheit brachte dem Haus seinen Spitznamen ein: Sündenpfuhl.

Es wurden auch andere Dinge von Los Angeles importiert.

Im Einkaufszentrum machte ein Gymnastikstudio auf, das bald überfüllt war. Chinesische Restaurants kamen in Mode, was dazu führte, daß zwei eröffneten, die beide so gut besucht waren, daß sie den Konkurrenzkampf überlebten.

Kunstgeschäfte machten auf, die Art Deco, amerikanische Naive und simplen Kitsch feilboten. Die Nachfrage nach Verkaufsräumen war so groß, daß das Einkaufszentrum einen zweiten Stock anbaute. Geschäfte, die sich früher nie im Grove hätten halten können, wurden plötzlich unentbehrlich. Zubehör für Swimmingpools, Maniküre- und Bräunungsstudios, eine Karateschule.

Ab und zu kam es vor, daß ein Neuankömmling, der auf eine Pediküre wartete, oder jemand in der Zoohandlung, während sich die Kinder zwischen drei verschiedenen Chinchillaarten entscheiden mußten, Gerüchte über die Stadt erwähnte, die er gehört hatte. War hier nicht einmal vor Jahren etwas

vorgefallen? War ein alteingesessener Anwohner in der Nähe, so wurde die Unterhaltung rasch in weniger verfängliche Bereiche gelenkt. Obwohl in den dazwischenliegenden Jahren eine neue Generation herangewachsen war, herrschte unter den Ureinwohnern, wie sie sich selbst gerne nannten, immer noch die Meinung vor, daß man den Bund der Jungfrauen besser vergaß.

Aber es gab Menschen in der Stadt, die ihn nie vergessen konnten. William war selbstverständlich einer von ihnen. Das Leben der anderen verfolgte er immer noch. Joyce McGuire, eine stille, sehr religiöse Frau, die Tommy-Ray und Jo-Beth ohne Vater großgezogen hatte. Ihre Eltern waren ein paar Jahre 125

vorher nach Florida gezogen und hatten das Haus ihrer Tochter und den Enkelkindern überlassen. Sie blieb praktisch

unsichtbar hinter seinen Mauern. Hotchkiss, dessen Frau ihn wegen eines Anwalts aus San Diego verlassen hatte, der siebzehn Jahre älter als er selbst war, hatte nie verwunden, daß sie ihn verlassen hatte. Die Familie Farrell, die aus der Stadt weggezogen war, nach Thousand Oaks, um festzustellen, daß ihr ihr Ruf vorausgeeilt war. Sie waren schließlich nach Louisiana gezogen und hatten Arleen mitgenommen. Diese hatte sich nie wieder richtig erholt. William hatte gehört, es wäre eine gute Woche, wenn sie mehr als zehn Worte

aneinanderreihen konnte. Jocelyn Farrell, ihre jüngere Schwester, hatte geheiratet und war nach Blue Spruce zu-rückgekehrt. Er sah sie ab und zu, wenn sie Freunde in der Stadt besuchen kam.

Die Familien waren Teil der Geschichte von Palomo Grove; und obwohl William allen freundlich zunickte, wenn er ihnen begegnete - den McGuires, Jim Hotchkiss, sogar Jocelyn Farrell -, wurde doch nie ein Wort zwischen ihnen gewechselt.

Was auch nicht nötig war. Sie wußten alle, was sie wußten.

Und weil sie es wußten, lebten sie in ständiger Erwartung.

126

II

l

Der junge Mann war praktisch monochrom, das schulterlange, im Nacken wellige Haar schwarz, die Augen hinter der dunklen Brille dunkel, die Haut so weiß, daß er schwerlich Kalifornier sein konnte. Die Zähne waren noch weißer, aber er lächelte selten. Redete, nebenbei, auch nicht viel. Er stotterte in Gesellschaft anderer.

Sogar das Pontiac Kabrio, das er vor dem Einkaufszentrum parkte, war weiß, aber Salz und Schnee von einem Dutzend Wintern in Chicago hatten die Karosserie rostig werden lassen.

Es hatte ihn quer durch das Land gebracht, aber unterwegs war es ein paarmal dicht dran gewesen, den Geist aufzugeben. Der Zeitpunkt rückte näher, da er es auf die Felder führen und ihm den Gnadenschuß geben mußte. Falls die Einwohner derweil einen Beweis dafür brauchten, daß sich ein Fremder in der Stadt aufhielt, mußten sie nur die Reihe der Automobile entlang sehen.

Oder ihn ansehen. Er kam sich in seiner Cordhose und der zerschlissenen Jacke - zu lange Ärmel, zu eng über der Brust, wie jede Jacke, die er jemals gekauft hatte - hoffnungslos fehl am Platze vor. Dies war eine Stadt, wo sie den Wert eines Menschen nach dem Firmenaufdruck auf seinen Turnschuhen einschätzten. Er hatte keine Turnschuhe an; er trug schwarze Schnürschuhe, die er tagein, tagaus anhatte, bis sie

auseinanderfielen, und dann kaufte er sich ein identisches Paar.

Fehl am Platze oder nicht, er war aus gutem Grund hier, und je schneller er sich daranmachte, desto besser würde er sich fühlen. Zuerst mußte er sich orientieren. Er wählte einen Joghurtladen, weil das der am wenigsten besuchte in der Straße war, und ging hinein. Er wurde von der anderen Seite des Tresens so herzlich begrüßt, daß er fast dachte, er wäre erkannt 127

worden.

»Hi! Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich... bin fremd hier«, sagte er. Dumme Bemerkung, dachte er. »Ich meine, kann ich hier... kann ich hier irgendwo eine Karte kaufen?«

»Sie meinen von Kalifornien?«

»Nein. Palomo Grove«, sagte er mit bemüht kurzen Sätzen.

So stammelte er nicht gar so sehr.

Das Grinsen auf der anderen Seite des Tresens wurde breiter.

»Da brauchen Sie keine Karte«, lautete die Antwort. »So groß ist die Stadt nicht.«

»O. K. Wie ist es mit einem Hotel?«

»Klar. Kein Problem. Es gibt eins ganz in der Nähe. Oder ein neues, in Stillbrook Village.«

»Welches ist das billigste?«

»Das Terrace. Zwei Minuten Fahrt von hier, hinten um das Einkaufszentrum herum.«

»Klingt gut.«

Das Lächeln, das er als Antwort bekam, sagte: Alles hier ist gut. Er hätte es beinahe auch glauben können. Die polierten Autos glänzten auf dem Parkplatz; die Hinweisschilder zum hinteren Teil des Einkaufskomplexes glänzten; die

Motelfassade - mit einem Schild versehen, Willkommen in Palomo Grove, dem blühenden Hafen - war so bunt bemalt wie ein Zeichentrickfilm am Samstagvormittag. Als er das Zimmer hatte, war er froh, daß er die Jalousie herunterziehen, den Tag fernhalten und ein wenig herumlungern konnte.

Der letzte Abschnitt der Fahrt hatte ihn erschöpft, daher beschloß er, sein System mit ein paar Übungen und einer Dusche wieder auf Vordermann zu bringen. Die Maschine, wie er seinen Körper nannte, war zu lange im Fahrersitz gewesen; sie brauchte eine Überarbeitung. Er wärmte sich mit zehn Minuten Schattenboxen auf, einer Kombination aus Tritten und

Schlägen, gefolgt von seinem Lieblingscocktail spezieller 128

Kicks: Axt, Sichelsprung, Sprunghaken und Sprung mit

seitlichen Kicks. Wie üblich heizte das Aufwärmen der Muskeln auch seinen Verstand an. Als er bei seinen

Kniebeugen und Klappmessern angelangt war, fühlte er sich bereit, es mit halb Palomo Grove aufzunehmen, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, deretwegen er hierhergekommen war.

Die lautete: Wer ist Howard Katz? Ich war als Antwort nicht ausreichend. Ich, das war nur die Maschine. Er brauchte mehr Informationen.

Wendy hatte diese Frage während der langen nächtlichen Unterhaltung gestellt, die schließlich dazu führte, daß sie ihn verlassen hatte.

»Ich mag dich, Howie«, sagte sie. »Aber ich kann dich nicht lieben. Und weißt du, warum? Weil ich dich nicht kenne.«

»Weißt du, was ich bin?« hatte Howie geantwortet. »Ein Mann mit einem Loch in der Mitte.«

»Ein unheimlicher Ausdruck.«

»Ein unheimliches Gefühl.«

Unheimlich, aber wahr. Wo andere sich ihrer Identität als Menschen bewußt waren - Ambitionen, Meinungen, Religion hatten -, hatte er nur diese bemitleidenswerte Unschärfe. Wer ihn kannte - Wendy, Richie, Lem -, hatte Geduld mit ihm. Sie hörten sich trotz Stammeln und Stottern an, was er zu sagen hatte, und schienen Wert auf seine Meinung zu legen. (Du bist mein heiliger Narr, hatte Lem einmal zu Howie gesagt; eine Bemerkung, über die Howie heute noch nachdachte.) Aber für den Rest der Welt war er der Tölpel Katz. Sie hänselten ihn nicht offen - er war so durchtrainiert, daß es nicht einmal Schwergewichte im Zweikampf gegen ihn aufnehmen konnten

-, aber er wußte, was sie hinter seinem Rücken sagten, und das lief immer auf dasselbe hinaus: Katz hatte eine Schraube locker.

Daß Wendy ihn schließlich auch im Stich gelassen hatte, 129

konnte er nicht mehr ertragen. Er war so verletzt gewesen, daß er sich nicht herausgetraut hatte, und hatte fast eine Woche lang über das Gespräch nachgedacht. Plötzlich war ihm die Lösung klargeworden. Wenn es einen Ort auf der Welt gab, wo er das Wie und Warum seiner Existenz ergründen konnte, dann sicher die Stadt, in der er geboren wurde.

Er hob die Jalousie und sah ins Licht hinaus. Es war

perlmuttfarben; die Luft roch mild. Er konnte sich nicht vorstellen, warum seine Mutter dieses herrliche Fleckchen verlassen hatte und statt dessen die bitterkalten Winter und sengenden Sommer in Chicago erduldete. Und nach ihrem Tod

- ganz unerwartet, im Schlaf -, würde er das Geheimnis alleine ergründen müssen; und wenn er es ergründete, würde er vielleicht das Loch ausfüllen, das die Maschine quälte.

Gerade als sie vor der Tür stand, rief Mama oben aus ihrem Zimmer herunter - ein Zeitpunkt, der so perfekt war wie immer.

»Jo-Beth? Bist du da? Jo-Beth?«

Immer derselbe erschöpfte Tonfall, der zu warnen schien: Hab mich lieb, weil ich morgen vielleicht nicht mehr da bin.

Vielleicht schon in der nächsten Stunde nicht mehr.

»Liebes, bist du noch da?«

»Das weißt du doch, Mama.«

»Kann ich mit dir reden?«

»Ich komme zu spät zur Arbeit.«

»Nur eine Minute. Bitte. Was ist schon eine Minute?«

»Ich komme. Reg dich nicht auf. Ich komme ja.«

Jo-Beth ging nach oben. Wie oft am Tag legte sie diesen Weg zurück? Ihr Leben wurde in Stufen gezählt, die sie hinauf und hinab, hinauf und hinab ging.

»Was ist denn, Mama?«

Joyce McGuire lag in ihrer üblichen Haltung: auf dem Sofa neben dem offenen Fenster, mit einem Kissen unter dem Kopf.

130

Sie sah nicht krank aus; war es aber fast immer. Die

Spezialisten kamen, untersuchten sie, verlangten ihr Honorar und gingen achselzuckend wieder. Keine körperlichen Leiden, sagten sie. Gesundes Herz, gesunde Lungen, gesunde

Wirbelsäule. Zwischen den Ohren war sie krank. Aber das wollte Mama nicht hören. Mama hatte einmal ein Mädchen gekannt, das wahnsinnig geworden und in ein Krankenhaus gebracht worden war, aus dem sie nie wieder herauskam.

Deshalb hatte sie vor dem Wahnsinn mehr Angst als vor allem anderen. Sie duldete nicht, daß das Wort in ihrem Haus auch nur ausgesprochen wurde.

»Sagst du dem Pastor, daß er mich anrufen soll?« sagte Joyce. »Vielleicht kommt er heute abend her.«

»Es ist ein sehr beschäftigter Mann, Mama.«

»Für mich ist er nicht zu beschäftigt«, sagte Joyce. Sie war neununddreißig Jahre alt, benahm sich aber wie eine doppelt so alte Frau. Sie hob den Kopf stets langsam vom Kissen, als wäre jeder Zentimeter ein Triumph für die Schwerkraft; ihre Hände und Lider zitterten; in ihrer Stimme schwang ein ständiges Seufzen mit. Sie hatte sich selbst die Rolle einer Bilderbuch-Schwindsüchtigen zugedacht, und davon ließ sie sich durch bloße medizinische Gutachten nicht abbringen. Sie kleidete sich, dieser Rolle entsprechend, in Krankenzimmer-Pastellfarben; sie ließ ihr Haar, das brünett war, lang wachsen und nicht modisch frisieren oder hochstecken. Sie legte kein Make-up auf, was den Eindruck einer Frau, die am Rand des Abgrunds wankt, weiter betonte. Alles in allem war Jo-Beth froh, daß Mama sich nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen ließ. Die Leute würden reden. Aber dafür war sie hier, im Haus, und rief ihre Tochter die Treppe hinauf und hinunter, hinauf und hinunter.

Wenn Jo-Beths Zorn, so wie jetzt, das Ausmaß erreichte, daß sie schreien mochte, dann vergegenwärtigte sie sich, daß Mama ihre Gründe für diese Zurückgezogenheit hatte. Das Leben als 131

ledige Mutter, die ihr Kind in einer so kritischen Gemeinde wie dem Grove alleine großzog, war nicht leicht gewesen. Ihr Zustand war die Folge von Bevormundung und Demütigungen.

»Ich sage Pastor John, daß er dich anrufen soll«, sagte Jo-Beth. »Hör zu, Mama, ich muß gehen.«

»Ich weiß, Liebes, ich weiß.«

Jo-Beth drehte sich zur Tür um, aber Joyce rief ihr nach.

»Kein Kuß?« sagte sie.

»Mama...«

»Du küßt mich sonst immer.«

Jo-Beth ging pflichtschuldig zum Fenster zurück und küßte ihre Mutter auf die Wange.

»Gib auf dich acht«, sagte Joyce.

»Mir geht es gut.«

»Es gefällt mir nicht, wenn du so spät arbeitest.«

»Hier ist nicht New York, Mama.«

Joyce sah zum Fenster, durch das sie die Welt beobachtete.

»Einerlei«, sagte sie mit düsterer Stimme. »Man ist nirgends sicher.«

Das waren altbekannte Worte. Jo-Beth hatte sie in der einen!

oder anderen Version seit ihrer Kindheit gehört. Die Welt war ein Teil des Todes, das von Gesichtern heimgesucht wurde, die zu unaussprechlichem Bösen fähig waren. Das war der hauptsächliche Trost, den Pastor John Mama gab. Sie waren sich darin einig, daß der Teufel auf der Welt war; in Palomo Grove.

»Wir sehen uns morgen früh«, sagte Jo-Beth.

»Ich hab' dich lieb, Kleines.«

»Ich dich auch, Mama.«

Jo-Beth machte die Tür auf und ging nach unten.

»Schläft sie?«

Tommy-Ray stand unten an der Treppe.

»Nein.«

»Verdammt.«

»Du sollstest reingehen und nach ihr sehen.«

132

»Das weiß ich. Aber sie wird mir wegen Mittwoch die Hölle heiß machen.«

»Du warst betrunken«, sagte sie. »Schnaps, das hat sie mehrmals gesagt. Stimmt das?«

»Was glaubst du denn? Wenn wir wie normale Kinder

aufgezogen worden wären, mit Alkohol im Haus, wäre es mir nicht so sehr zu Kopf gestiegen.«

»Also ist es ihre Schuld, daß du betrunken warst?«

»Du mußt auch noch auf mir herumhacken, was? Scheiße, jeder hackt auf mir herum.«

Jo-Beth lächelte und legte ihrem Bruder die Arme um die Schultern. »Nein, Tommy, ganz und gar nicht. Alle denken, daß du toll bist, das weißt du doch.«

»Du auch?«

»Ich auch.«

Sie küßte ihn sachte, dann ging sie zum Spiegel und

überprüfte ihr Äußeres.

»Bildschön«, sagte er und trat neben sie. »Wir beide.«

»Dein Ego«, sagte sie, »wird immer schlimmer.«

»Darum liebst du mich ja«, sagte er und betrachtete ihre beiden Spiegelbilder. »Werde ich dir immer ähnlicher, oder du mir?«

»Keins von beidem.«

»Schon mal zwei Gesichter gesehen, die sich ähnlicher sind?«

Sie lächelte. Sie hatten wirklich eine außergewöhnliche Ähnlichkeit. Tommy-Rays zierlicher Körperbau paßte zu ihrer Zerbrechlichkeit. Sie mochte nichts lieber, als Hand in Hand mit ihrem Bruder spazierenzugehen, weil sie wußte, sie hatte einen Begleiter neben sich, wie ihn sich kein Mädchen attraktiver wünschen konnte, und sie wußte, daß er ebenso empfand.

Sogar die erzwungenen Schönheiten des Venice Strandwegs drehten die Köpfe nach ihnen um.

Aber in den vergangenen Monaten waren sie nicht

133

zusammen ausgegangen. Sie hatte Spätschicht im Steak House gehabt, er war mit seinen Kumpels am Strand gewesen: Sean, Andy und der Rest. Der Kontakt fehlte ihr.

»Hast du dich in den vergangenen Tagen manchmal seltsam gefühlt?« fragte er plötzlich unvermittelt.

»Inwiefern seltsam?«

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich liegt es nur an mir. Ich fühle mich, als würde alles dem Ende entgegengehen.«

»Der Sommer steht vor der Tür. Alles fängt erst an.«

»Ja, ich weiß... aber Andy ist aufs College. Sean hat eine Freundin in L. A., die er eifersüchtig hütet. Ich weiß nicht. Ich muß hier warten, aber ich habe keine Ahnung, worauf.«

»Dann mach es eben nicht!«

»Was?«

»Warten. Fahr irgendwohin.«

»Das würde ich gerne. Aber...« Er studierte ihr Gesicht im Spiegel. »Stimmt es? Du fühlst dich nicht... seltsam?«

Sie erwiderte seinen Blick, war aber nicht sicher, ob sie zugeben wollte, daß sie merkwürdige Träume hatte, in denen sie von der Flut fortgespült wurde und ihr ganzes Leben ihr vom Ufer zuwinkte. Aber wenn sie sich nicht Tommy

anvertraute, den sie liebte und dem sie mehr als jedem anderen Wesen vertraute, wem dann?

»O. K. Ich gebe es zu«, sagte sie. »Ich spüre etwas.«

»Was?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht warte ich auch.«

»Weißt du, worauf?«

»Nee.«

»Ich auch nicht.«

»Sind wir nicht ein tolles Paar?«

Sie dachte über die Unterhaltung mit Tommy nach, während sie zum Einkaufszentrum fuhr. Er hatte, wie immer, ihre 134

gemeinsamen Empfindungen in Worte gefaßt. Die

vergangenen paar Wochen waren mit Erwartung aufgeladen gewesen. Bald würde etwas geschehen. Ihre Träume wußten das. Ihr Innerstes wußte es. Sie hoffte, daß es sich nicht verspätete, denn sie stand kurz vor dem Punkt, an dem sie die Geduld verlieren würde - mit Mama, dem Grove, ihrem Job im Steak House. Es war ein Wettlauf zwischen der Zündschnur ihrer Selbstbeherrschung und dem Etwas am Horizont. Wenn es bis zum Sommer nicht eingetroffen war - was immer es war, und wie unwahrscheinlich auch immer - würde sie sich

aufmachen und danach suchen.

2

Howie fiel auf, daß in dieser Stadt kaum jemand zu Fuß zu gehen schien. Während seines dreiviertelstündigen

Spaziergangs den Hügel hinauf und hinunter war er nur fünf Fußgängern begegnet, und alle hatten Hunde oder Kinder im Schlepptau gehabt, um ihren Müßiggang zu rechtfertigen. So kurz sein Ausflug war, er führte ihn doch zu einem schönen Aussichtspunkt, wo er sich ein Bild von der Anlage der Stadt machen konnte. Und er machte ihn hungrig.

Fleisch für den Desperado, dachte er und entschied sich von allen Restaurants im Einkaufszentrum für Butrick's Steak House. Es war nicht groß und kaum mehr als halb voll. Er setzte sich an einen Tisch am Fenster, schlug eine zerlesene Ausgabe von Hesses Siddharta auf und setzte seinen Kampf mit dem Text fort, einer deutschen Originalausgabe. Das Buch hatte seiner Mutter gehört, die es viele Male gelesen hatte -

obwohl er sich nicht erinnern konnte, daß sie jemals ein Wort in der Sprache ausgesprochen hatte, die sie offenbar fließend beherrschte. Er nicht. Das Buch zu lesen war wie ein inneres Stottern; er suchte nach dem Sinn, fand ihn und verlor ihn 135

gleich wieder.

»Etwas zu trinken?« fragte ihn die Kellnerin.

Er wollte gerade ›Coke‹ sagen, als sich sein ganzes Leben änderte.

Jo-Beth trat über die Schwelle von Butrick's, wie sie es die letzten sieben Monate über drei Abende pro Woche getan hatte, aber heute war es, als wäre das alles lediglich eine Probe für das heutige Eintreten gewesen; das Umdrehen; den

Augenkontakt mit dem jungen Mann, der an Tisch fünf saß. Sie studierte ihn mit einem einzigen Blick. Sein Mund war halb offen. Er trug eine Nickelbrille. Er hatte ein Buch in der Hand.

Den Namen des jungen Mannes wußte sie nicht, konnte sie nicht wissen. Sie hatte ihn vorher noch nie gesehen. Und doch sah er sie mit demselben Ausdruck des Wiedererkennens an, den sie, wie sie wußte, ebenfalls zur Schau stellte. Dieses Gesicht zu sehen, dachte er, war, als würde er neu geboren werden. Als käme er von einem sicheren Ort in ein

atemberaubendes Abenteuer. Es gab nichts Schöneres auf der Welt als die sanfte Rundung ihrer Lippen, als sie ihm zu-lächelte.

Und sie lächelte wie bei einem perfekten Flirt. Hör auf, sagte sie zu sich, sieh weg! Er wird denken, daß du den Verstand verloren hast, ihn so anzustarren. Aber er starrt dich ja auch an, oder nicht?

Ich sehe sie an, so lange sie mich ansieht.

... so lange er mich ansieht...

»Jo-Beth!«

Der Ruf kam aus der Küche. Sie blinzelte.

»Sagten Sie Coke?« fragte ihn die Kellnerin.

Jo-Beth sah zur Küche - Murray rief nach ihr, sie mußte gehen -, dann wieder zu dem Jungen mit dem Buch. Er sah sie immer noch starr an.

»Ja«, sah sie ihn sagen.

Sie wußte, das Wort war für sie. Ja, geh, sagte er. Ich werde 136

auf dich warten.

Sie nickte und ging.

Die ganze Begegnung hatte vielleicht fünf Sekunden

gedauert, aber sie zitterten beide.

In der Küche spielte Murray wie üblich den Märtyrer.

»Wo bist du gewesen?«

»Zwei Minuten zu spät, Murray.«

»Ich sage zehn. In der Ecke sitzen drei Personen. Das ist dein Tisch.«

»Ich ziehe die Schürze an.«

»Beeil dich.«

Howie beobachtete die Küchen tür, bis sie wieder

herauskam; Siddhartha hatte er vergessen. Als sie herauskam, sah sie nicht in seine Richtung, sondern ging zu einem Tisch am anderen Ende des Restaurants. Es kümmerte ihn nicht, daß sie nicht hersah. Dieser erste Blickwechsel hatte ein gegenseitiges Verstehen ausgelöst. Er würde die ganze Nacht warten, wenn es sein mußte, und den ganzen morgigen Tag über, falls erforderlich, bis sie mit ihrer Arbeit fertig war und ihn wieder ansah.

In der Dunkelheit unter Palomo Grove hielten die Erzeuger dieser Kinder einander immer noch fest, wie immer, seit sie zur Erde gestürzt waren, weil keiner bereit war, die Freiheit des anderen zu riskieren. Selbst als sie aufgestiegen waren, um die Badenden zu berühren, hatten sie es gemeinsam getan, wie an der Hüfte zusammengewachsene Zwillinge. Fletcher hatte die Absichten des Jaff an jenem Tag nur schwerfällig begriffen. Er hatte gedacht, der Mann wollte seine verderbten Terata aus den Mädchen ziehen. Aber seine Böswilligkeit war ambitionierter gewesen. Er hatte die Zeugung von Kindern im Sinn, und Fletcher hatte, so verabscheuenswert es war, dasselbe tun müssen. Er war nicht stolz auf seinen Überfall. Und als sie Nachrichten von den Folgen ihres Tuns erhalten hatten, hatte er 137

sich noch mehr geschämt. Einmal hatte er mit Raul am Fenster gesessen und hatte davon geträumt, Himmel zu sein. Statt dessen hatte sein Krieg mit dem Jaff ihn gezwungen,

Unschuldige zu verderben, deren Zukunft er mit einer einzigen Berührung zunichte gemacht hatte. Der Jaff fand nicht wenig Freude an Fletchers Gewissensbissen. In den Jahren, die sie in Dunkelheit verbrachten, hatte Fletcher häufig gespürt, wie sich die Gedanken seines Gegners den Kindern zuwandten, die sie gemacht hatten, und er hatte sich gefragt, welches von ihnen als erstes kommen würde, um seinen wirklichen Vater zu retten.

Zeit war nicht mehr dasselbe für sie wie vor dem Nuncio. Sie hatten keinen Hunger und brauchten keinen Schlaf. Sie waren vereint wie Liebende und warteten im Fels. Manchmal konnten sie Stimmen von oben hören, die durch Durchgänge hallten, welche aufgrund von subtilen, aber stetigen Bewegungen in der Erde entstanden. Aber diese Bruchstücke boten keinerlei Informationen, wie es um ihre Kinder stand, mit denen sie bestenfalls schwachen geistigen Kontakt hatten. Jedenfalls war das bisher so gewesen.

Heute nacht waren ihre Nachkommen einander begegnet,

und plötzlich war der Kontakt klar, als hätten ihre Kinder etwas von ihrer eigenen Natur begriffen, als sie ihre perfekten Gegenstücke sahen, und ihren Geist unwissentlich ihren Schöpfern geöffnet. Fletcher geriet in den Kopf eines Jungens, der sich Howard nannte, der Sohn von Trudi Katz. Er sah durch die Augen des Jungen das Kind des Gegners, so wie der Jaff Howie durch die Augen seiner Tochter sehen konnte.

Dies war der Augenblick, auf den sie gewartet hatten. Der Krieg, den sie über halb Amerika hinweg geführt hatten, hatte sie beide erschöpft. Aber jetzt waren ihre Kinder auf der Welt, um an ihrer Stelle zu kämpfen; um den Krieg zu beenden, der seit zwei Jahrzehnten unentschieden war. Diesesmal würde der Kampf bis zum Tod gehen.

138

Hatten sie gedacht. Jetzt verspürten Fletcher und der Jaff zum erstenmal in ihrem Leben denselben Schmerz - gleich einem einzigen Dorn, der durch ihre beiden Seelen getrieben wurde.

Das war kein Krieg, verdammt. Das hatte überhaupt nichts mit Krieg zu tun.

»Keinen Hunger mehr?« wollte die Kellnerin wissen.

»Muß wohl so sein«, antwortete Howie.

»Soll ich abräumen?«

»Ja.«

»Noch einen Kaffee? Dessert?«

»Eine Cola.«

»Eine Cola.«

Jo-Beth war in der Küche, als Beverly mit dem Teller herein kam.

»Gutes Steak verschwendet«, sagte Beverly.

»Wie heißt er?« wollte Jo-Beth wissen.

»Bin ich eine Auskunftei? Ich habe ihn nicht gefragt.«

»Geh ihn fragen.«

»Frag du doch. Er will noch eine Cola.«

»Danke. Kümmerst du dich um meinen Tisch?«

»Nenn mich Amor.«

Es war Jo-Beth gelungen, sich eine halbe Stunde auf ihre Arbeit zu konzentrieren und den Jungen nicht anzusehen: genug war genug. Sie schenkte eine Cola ein und trug sie hinaus. Zu ihrem Entsetzen war der Tisch verlassen. Sie hätte das Glas beinah fallen lassen; beim Anblick des leeren Stuhls wurde ihr körperlich übel. Dann sah sie aus dem Augenwinkel, wie er aus der Toilette kam und wieder zu seinem Tisch ging.

Er sah sie und lächelte. Sie ging zu dem Tisch und mißachtete unterwegs zwei Rufe nach ihr. Sie wußte bereits, welche Frage sie zuerst stellen würde: Sie ging ihr von Anfang an im Kopf herum. Aber er kam ihr mit demselben Anliegen zuvor.

»Kennen wir uns?«

139

Und sie kannte die Antwort natürlich.

»Nein«, sagte sie.

»Nur, wenn du... du... du...« Er stolperte über das Wort, seine Kiefermuskeln arbeiteten, als würde er Kaugummi kauen.

»... du...« wiederholte er ständig, »... du...«

»Ich habe dasselbe gedacht«, sagte sie und hoffte, es würde ihn nicht beleidigen, daß sie seinen Gedanken zu Ende führte.

Anscheinend nicht. Er lächelte ihr zu, sein Gesicht wurde entspannter.

»Seltsam«, sagte sie. »Du bist nicht aus dem Grove, oder?«

»Nein. Chicago.«

»Ein weiter Weg.«

»Aber ich kam hier zur Welt.«

»Wirklich?«

»Ich heiße Howard Katz. Howie.«

»Ich bin Jo-Beth...«

»Wann hast du hier Feierabend?«

»Gegen elf. Gut, daß du heute hergekommen bist. Ich arbeite nur montags, mittwochs und freitags hier.«

»Wir hätten einander gefunden«, sagte er so überzeugt, daß ihr zum Weinen zumute war.

»Ich muß wieder arbeiten«, sagte sie zu ihm.

»Ich warte«, antwortete er.

Zehn nach elf verließen sie Butrick's gemeinsam. Die Nacht war warm, aber nicht angenehm, luftig warm, sondern schwül.

»Warum bist du in den Grove gekommen?« fragte sie ihn, während sie zum Auto gingen.

»Um dich kennenzulernen.«

Sie lachte.

»Warum nicht?« sagte er.

»Also gut. Und warum bist du weggegangen?«

»Meine Mutter zog nach Chicago, als ich erst ein paar Wochen alt war. Sie hat kaum von der alten Heimatstadt 140

gesprochen. Und wenn, dann so, als würde sie von der Hölle sprechen. Ich schätze, ich wollte mich selbst überzeugen.

Vielleicht, um sie und mich ein wenig besser zu verstehen.«

»Ist sie noch in Chicago?«

»Sie ist tot. Vor zwei Jahren gestorben.«

»Wie traurig. Und was ist mit deinem Vater?«

»Ich habe keinen. Nun... ich meine... ist... ist...« Er fing an zu stottern, kämpfte dagegen und siegte. »Ich habe ihn nie kennengelernt«, sagte er.

»Es wird immer unheimlicher.«

»Warum?«

»Bei mir ist es genauso. Ich weiß auch nicht, wer mein Vater ist.«

»Ist auch nicht so wichtig, oder?«

»Früher schon. Heute nicht mehr so sehr. Weißt du, ich habe einen Zwillingsbruder. Tommy-Ray. Er war immer für mich da. Du mußt Tommy-Ray kennenlernen. Wirst ihn mögen. Wie alle.«

»Wie dich. Ich wette, alle... alle... alle mögen dich auch.«

»Das heißt?«

»Du bist wunderschön. Ich werde Konkurrenz von der Hälfte aller Jungs im Ventura County haben, nicht?«

»Nee.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Oh, sie betrachten die Auslage. Fassen aber nichts an.«

»Ich auch?«

Sie blieb stehen. »Ich kenne dich nicht, Howie. Oder besser, ich kenne dich, und doch auch wieder nicht. Als ich dich im Steak House gesehen habe, habe ich dich von irgendwoher gekannt. Nur war ich nie in Chicago, und du warst nicht mehr im Grove seit...« Sie runzelte plötzlich die Stirn. »Wie alt bist du?« sagte sie.

»Vergangenen April achtzehn.«

Sie runzelte die Stirn noch mehr.

141

»Was?« sagte er.

»Ich auch.«

»Hm?«

»Vergangenen April achtzehn. Am vierzehnten.«

»Ich am zweiten.«

»Das ist alles reichlich seltsam, findest du nicht? Ich dachte, daß ich dich kenne. Und du auch.«

»Das macht dich nervös.«

»Sieht man mir das an?«

»Ja. Ich habe... habe noch nie ein Gesicht gesehen, das so...

offen war. Ich möchte es gern küssen.«

Im Fels wanden sich die Geister. Jedes verführerische Wort, das sie gehört hatten, war ein Messerstich gewesen. Aber sie hatten nicht die Macht, die Unterhaltung zu verhindern. Sie konnten nur in den Köpfen ihrer Kinder sitzen und zuhören.

»Küß mich«, sagte sie.

Sie erschauerten.

Howie legte eine Hand auf ihr Gesicht.

Sie erschauerten, bis der Boden um sie herum bebte.

Sie kam einen halben Schritt auf ihn zu und preßte die lächelnden Lippen auf seine.

Bis sich Risse in dem Beton zeigten, der sie vor achtzehn Jahren eingesperrt hatte. Genug! Schrien sie in den Ohren ihrer Kinder, genug! Genug!

»Hast du etwas gespürt?« sagte er.

Sie lachte. »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, die Erde hat gebebt.«

142

III

l

Die Mädchen gingen zweimal zum Wasser hinunter.

Zum zweitenmal am Morgen nach der Nacht, als Howard

Katz mit Jo-Beth McGuire zusammengetroffen war. Ein strahlender Morgen, die schwüle Luft des Vorabends war von einem Wind davongeweht worden, der frische Brisen versprach, die die Nachmittagshitze lindern würden.

Buddy Vance hatte wieder allein in dem Bett geschlafen, das er für drei hatte bauen lassen. Drei in einem Bett - hatte er gesagt (und war unglücklicherweise zitiert worden) -, das war der Schweine-Himmel. Zwei waren eine Ehe; und die Hölle.

Davon hatte er schon so viele gehabt, um zu wissen, daß es nichts für ihn war, aber es hätte den herrlichen Morgen noch herrlicher gemacht, wenn er gewußt hätte, daß eine Frau an dessen Ende auf ihn wartete, selbst wenn es eine Ehefrau war.

Es hatte sich herausgestellt, daß seine Beziehung mit Ellen so pervers war, daß sie nicht von Dauer sein konnte; er würde sie bald entlassen müssen. Das leere Bett machte zumindest seine neue morgendliche Pflichtübung leichter. Da niemand ihn dazu verführen konnte, sich wieder auf die Matratze zu fläzen, fiel es ihm nicht ganz so schwer, die Joggingausrüstung anzuziehen und die Straße den Hügel hinunterzulaufen.

Buddy war vierundfünfzig, doch beim Joggen fühlte er sich doppelt so alt. Aber zu viele seiner Altersgenossen waren in letzter Zeit weggestorben, sein zeitweiliger Agent Stanley Goldhammer war der letzte Dahingeschiedene, und sie alle waren an denselben Ausschweifungen gestorben, nach denen er immer noch durch und durch süchtig war. Zigarren, Fusel, Stoff. Von all seinen Lastern waren Frauen noch das

gesündeste, doch selbst sie waren ein Vergnügen, das er heutzutage nur noch in Maßen genießen konnte. Er konnte 143

nicht mehr die ganze Nacht hindurch vögeln, wie er es als Dreißigjähriger gekonnt hatte. In jüngster Zeit hate er es ein paarmal überhaupt nicht gebracht - ein traumatisches Erlebnis.

Ein Versagen, dessentwegen er den Arzt aufgesucht und ein Leistungsmittel verlangt hatte, koste es, was es wolle.

»So etwas gibt es nicht«, hatte Tharp gesagt. Er behandelte Buddy seit seiner Zeit beim Fernsehen, als die Buddy Vance Show allwöchentlich die höchsten Einschaltquoten gehabt hatte und ein Witz, den er um acht erzählte, am nächsten Morgen von jedem Amerikaner weitererzählt wurde. Tharp kannte den Mann, der einmal als der komischste Mann der Welt

bezeichnet worden war, durch und durch.

»Du treibst Raubbau mit deinem Körper, Buddy, und zwar jeden Tag. Und du sagst, du willst nicht sterben. Du willst noch mit hundert in Vegas auftreten.«

»Richtig.«

»Bei deinem derzeitigen Lebenswandel gebe ich dir noch zehn Jahre. Wenn du Glück hast. Du hast Übergewicht und zuviel Streß. Ich habe schon gesündere Leichen gesehen.«

»Ich mache die Witze, Lou.«

»Ja, und ich fülle die Totenscheine aus. Also unternimm etwas, sonst gehst du denselben Weg wie Stanley.«

»Meinst du, darüber denke ich nicht nach?«

»Das weiß ich, Bud. Das weiß ich.«

Tharp stand auf und kam auf Buddys Seite des Schreibtischs.

An der Wand hingen gerahmte Fotos der Stars, die er beraten und behandelt hatte. So viele berühmte Namen. Die meisten tot: zu viele vor ihrer Zeit. Der Ruhm hatte seinen Preis.

»Ich bin froh, daß du zur Vernunft kommst. Wenn es dir wirklich ernst ist...«

»Ich bin hier, oder nicht? Soll ich denn noch ernster werden?

Du weißt, wie sehr ich es verabscheue, darüber zu reden. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen Witz über den Tod gemacht, Lou. Weißt du das? Nicht einmal. Alles andere. Alles.

144

Aber darüber nicht!«

»Früher oder später muß man sich ihm stellen.«

»Dann später.«

»O. K., ich habe hier ein Gesundheitsprogramm für dich erstellt. Diät; Übungen; Training. Ich will dir aber gleich sagen, Buddy, es wird keine angenehme Lektüre werden!«

»Irgendwo habe ich mal gehört: Wer lacht, lebt länger.«

»Zeig mir, wo steht, daß Komiker ewig leben, dann zeige ich dir ein Grab mit einer Narrenkappe darauf.«

»Ja. Wann soll ich anfangen?«

»Heute. Wirf den Whiskey und die Süßigkeiten weg und versuch ab und zu einmal, in deinem Pool zu schwimmen.«

»Der muß gereinigt werden.«

»Dann laß ihn reinigen.«

Das war der einfache Teil. Buddy ließ Helen beim Pool-Service anrufen, sobald er zu Hause war, und die schickten am nächsten Tag jemanden vorbei. Das Gesundheitsprogramm erwies sich, wie Tharp gesagt hatte, als härterer Brocken; aber wenn seine Willenskraft nachließ, dann dachte er daran, wie er morgens manchmal im Spiegel aussah, und an die Tatsache, daß er seinen Schwanz nur noch sehen konnte, wenn er den Bauch so heftig einzog, daß es weh tat. Wenn die Eitelkeit nichts mehr half, dachte er an den Tod, aber nur als allerletzte Möglichkeit.

Er war stets ein Frühaufsteher gewesen, daher fiel ihm das morgendliche Aufstehen nicht schwer. Die Gehwege waren verlassen, und er lief häufig - so wie heute - den Hügel hinunter und durch East Grove in den Wald, wo der Boden den Füßen nicht so weh tat wie der Beton und sein Atem von Vogelzwitschern untermalt wurde. An solchen Tagen war der Weg immer eine Einbahnstraße; er ließ Jose Luis die

Limousine den Hügel hinunterfahren und mit Handtüchern und Eistee im Wagen an der Stelle warten, wo er aus dem Wald herauskam. Dann legten sie den Weg nach Coney Eye, wie er 145

sein Haus getauft hatte, auf die einfache Weise zurück: fahrend. Gesundheit war eines; Masochismus, zumindest in der Öffentlichkeit, wieder etwas anderes.

Das Laufen hatte noch andere Vorteile, außer dem, daß es seinen Bauch straffte. Er hatte eine Stunde Zeit, über alles nachzudenken, was ihm durch den Kopf ging. Heute dachte er unweigerlich an Rochelle. Die Scheidung würde diese Woche rechtsgültig werden, und damit gehörte seine sechste Ehe der Vergangenheit an. Von den sechs war sie die zweitkürzeste.

Die kürzeste war seine Sechsundvierzig-Tage-Ehe mit Shashi gewesen; sie hatte mit einem Schuß geendet, der so dicht an seinen Eiern vorbeigegangen war, daß ihm heute noch der kalte Schweiß ausbrach, wenn er nur daran dachte. Nicht, daß er in dem Jahr, das sie verheiratet waren, mehr als einen Monat mit Rochelle verbracht hatte. Nach den Flitterwochen und ihren wenigen Überraschungen hatte sie sich nach Fort Worth zurückgezogen und ihre Alimente ausgerechnet. Sie hatten von Anfang an nicht zueinander gepaßt. Das hätte ihm schon klar sein müssen, als sie zum erstenmal nicht über seine Witze gelacht hatte, und das war nebenbei auch das erstemal gewesen, daß sie seine Witze überhaupt gehört hatte. Doch sie war von allen seinen Frauen körperlich die attraktivste gewesen. Ihre Miene war aus Stein, aber der Bildhauer war ein Genie gewesen. Er dachte an ihr Gesicht, als er vom Gehweg herunter in den Wald lief. Vielleicht sollte er sie anrufen; sie bitten, zu einem letzten Versuch nach Coney zurückzukommen. Das hatte er schon einmal gemacht, bei Diane, und sie hatten die besten zwei Monate ihrer gemeinsamen Jahre miteinander verbracht, bevor alte Abneigungen wieder die Oberhand gewonnen hatten. Aber das war Diane gewesen; dies war Rochelle. Es war sinnlos, Verhaltensmuster von einer Frau auf eine andere zu projizieren. Sie waren alle so wunderbar verschieden. Im Vergleich dazu waren Männer ein langweiliger Haufen: tumb und einfallslos. Beim nächstenmal wollte er als 146

Lesbe auf die Welt kommen.

Er hörte Gelächter in der Ferne; zweifellos das Kichern junger Mädchen. Ein seltsamer Laut so früh am Morgen. Er blieb stehen und lauschte, aber plötzlich war kein Laut mehr zu hören, nicht einmal Vogelzwitschern. Nur innere Geräusche konnte er hören: die angestrengten Funktionen seines Körpers.

Hatte er sich das Lachen nur eingebildet? Das war gut möglich; immerhin dachte er ausschließlich an Frauen. Doch als er sich gerade abwenden und das Dickicht wieder seiner Stille überlassen wollte, hörte er das Kichern wieder; gleichzeitig veränderte sich die Szene um ihn herum beinahe

halluzinatorisch. Das Geräusch schien den ganzen Wald zu beleben. Es zauberte Bewegung in die Blätter und machte den Sonnenschein heller. Mehr noch: Es veränderte sogar die Richtung der Sonne. In der Stille war das Licht fahl gewesen, sein Ursprung noch tief im Osten. Nach dem Stichwort des Kicherns wurde es nachmittäglich hell und strahlte auf die aufwärts gerichteten Blätter der Bäume herab.

Buddy glaubte seinen Augen weder, noch mißtraute er

ihnen; er stand einfach vor der Erscheinung wie vor weiblicher Schönheit: gebannt. Erst als das Lachen zum drittenmal ertönte, bekam er die Richtung mit, aus der es kam, und lief unter dem immer noch strahlenden Lichtschein dorthin.

Ein paar Meter weiter sah er vor sich Bewegungen zwischen den Bäumen. Nackte Haut. Ein Mädchen, das die Unterwäsche auszog. Hinter ihr stand ein anderes Mädchen, eine faszinierende, attraktive Blondine, die dasselbe tat. Er wußte instinktiv, daß sie nicht real waren, aber er ging dennoch vorsichtig weiter, weil er Angst hatte, er könnte sie erschrecken. Konnte man Illusionen erschrecken? Das wollte er nicht riskieren, besonders nicht, wo es soviel Schönes zu sehen gab. Das blonde Mädchen zog sich als letzte aus. Er zählte drei andere, die bereits in einen See wateten, der am Rande des Greifbaren flackerte. Seine Wellen warfen Lichtspiegelungen über das 147

Gesicht der Blonden - Arleen nannten sie sie, als sie etwas zum Ufer riefen. Er schlich sich von Baum zu Baum, bis er noch zehn Schritte vom Ufer des Sees entfernt war. Arleen stand mittlerweile bis zu den Schenkeln drinnen. Sie hatte sich gebückt, um Wasser über den Körper zu spritzen, aber dieses Wasser war so gut wie unsichtbar. Die Mädchen, die weiter drinnen waren als sie und bereits schwammen, schienen in der Luft zu schweben.

Gespenster, dachte er vage; das sind Gespenster. Ich sehe die Vergangenheit, die nochmals vor mir abgespielt wird. Dieser Gedanke trieb ihn aus seinem Versteck. Wenn seine

Vermutung richtig war, konnten sie jeden Augenblick wieder verschwinden, und er wollte ihre Schönheit in vollen Zügen genießen, bevor das geschah.

Im Gras, wo er stand, war keine Spur von den

Kleidungsstücken zu sehen, die sie abgelegt hatten, und keinerlei Anzeichen, daß sie ihn hier stehen sahen, wenn die eine oder andere zum Ufer zurückblickte.

»Schwimm nicht so weit«, rief eine des Quartetts ihrer Ge-fährtin zu. Diese achtete nicht auf den Rat. Das Mädchen bewegte sich weiter vom Ufer weg und spreizte beim

Schwimmen die Beine, schloß sie, spreizte sie wieder. Er konnte sich nicht erinnern, daß er, seit den ersten feuchten Träumen seiner Pubertät, etwas dermaßen Erotisches erlebt hatte wie diese Geschöpfe, die in der schimmernden Luft schwebten, wobei das Element, das sie umgab, ihre Umrisse weich zeichnete, aber nicht so sehr, daß er nicht jede kleinste Einzelheit hätte erkennen können.

»Warm!« rief die Abenteuerlustige, die ein gutes Stück von ihm entfernt Wasser trat. »Es ist warm hier draußen!«

»Machst du Witze?«

»Komm doch selber her!«

Ihre Worte inspirierten Buddy noch mehr. Er hatte soviel gesehen. Wagte er es auch, jetzt zu berühren? Wenn sie ihn nicht 148

sehen konnten - und das war offensichtlich -, konnte es da schaden, wenn er so nahe zu ihnen ging, daß er ihnen mit der Hand über den Rücken streichen konnte?

Das Wasser gab kein Geräusch von sich, als er in den See trat; und er spürte auch keine Berührung an Knöcheln und Schienbeinen, als er weiter hineinwatete. Aber Arleen trug es ausgezeichnet. Sie schwebte an der Oberfläche des Sees, das Haar trieb um ihren Kopf, und ihre Schwimmstöße entfernten sie weiter von ihm. Er folgte ihr, und da das Wasser ihm keinen Widerstand entgegensetzte, hatte er die Entfernung zwischen sich und dem Mädchen innerhalb von Sekunden zurückgelegt.

Er hatte die Arme ausgestreckt und nur Augen für ihre rosa Schamlippen, während sie sich mit Schwimmbewegungen

weiter entfernte.

Die Abenteuerlustige rief etwas, aber er achtete nicht auf ihre Aufregung. Er konnte nur noch daran denken, Arleen anzufassen. Sie mit der Hand zu berühren, ohne daß sie Einwände erhob, sondern einfach weiterschwamm, während er mit ihr machte, was er wollte. In seiner Hast blieb er mit dem Fuß an etwas hängen. Er fiel, das Gesicht voraus, während er die Hände noch nach dem Mädchen ausgestreckt hatte. Der Aufprall brachte ihn wieder soweit zur Vernunft, daß er die Schreie aus dem tieferen Wasser interpretieren konnte. Es waren keine Freudenschreie mehr, sondern Angstschreie. Er hob den Kopf vom Boden. Die beiden Schwimmerinnen am

weitesten draußen strampelten in der Luft und reckten die Gesichter himmelwärts.

»Mein Gott«, sagte er.

Sie ertranken. Vor Augenblicken hatte er sie Gespenster genannt, ohne daran zu denken, was der Name bedeutete. Nun sah er die schreckliche Wahrheit. Die Badenden waren in diesem Wasser zu Schaden gekommen. Er hatte Toten

nachspioniert.

Von Abscheu vor sich selbst erfüllt, wollte er sich entfernen, 149

aber eine perverse Verpflichtung gegenüber dieser Tragödie hielt ihn fest.

Inzwischen waren alle vier vom selben Strudel erfaßt, schlugen heftig in der Luft um sich und bekamen immer dunklere Gesichter, während sie nach Luft rangen. Wie war das möglich? Es sah aus, als würden sie in eineinhalb Meter tiefem Wasser ertrinken. Hatte eine Strömung sie ergriffen? Das schien in so flachem und so ruhigem Wasser unwahrscheinlich.

»Helft ihnen...«, hörte er sich selbst sagen. »Warum hilft ihnen denn niemand?«

Er ging auf sie zu, als könnte er sie selbst unterstützen.

Arleen war ihm am nächsten. Die Schönheit war aus ihrem Gesicht gewichen. Es wurde von Verzweiflung und Entsetzen verzerrt. Plötzlich schienen ihre aufgerissenen Augen etwas im Wasser unter ihren Füßen zu sehen. Sie hörte auf, sich zu wehren, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck vollkommener Unterwerfung an. Sie gab das Leben auf.

»Nicht«, murmelte Buddy und griff nach ihr, als könnten Arme sie aus der Vergangenheit heben und wieder ins Leben tragen. In dem Augenblick, als er Körperkontakt mit dem Mädchen hatte, wußte er, daß die Sache für sie beide fatal enden würde. Aber sein Bedauern kam zu spät. Der Boden unter ihnen bebte. Er sah nach unten. Dort erblickte er nur eine dünne Erdschicht, in der kümmerliches Gras wuchs. Unter dem Boden grauer Fels; oder war es Beton? Ja! Beton! Hier war ein Loch im Boden versiegelt worden, aber das Siegel brach vor seinen Augen; der Beton bekam immer breitere Risse. Er sah zum Ufer des Sees und festem Boden zurück, aber zwischen ihm und der Sicherheit hatte sich bereits ein Spalt aufgetan, in den einen Meter von seinen Zehen entfernt ein Stück Beton verschwand. Eisige Luft stieg von unten empor.

Er sah zu den Schwimmenden, aber die Fata Morgana verblaßte. Er sah auf allen vier Gesichtern denselben Ausdruck; nach hinten gedrehte Augen, in denen nur noch das Weiß zu 150

sehen war, und offene Münder, die bereitwillig den Tod tranken. Sie waren nicht in flachem Wasser gestorben, wurde ihm jetzt klar. Als sie zum Schwimmen hierhergekommen waren, war dies eine Grube gewesen, die die Mädchen

verschluckt hatte, wie sie nun ihn verschlucken würde: sie mit Wasser, ihn mit Trugbildern.

Er fing an, um Hilfe zu schreien, als der Boden immer stärker bebte und der Beton zwischen seinen Füßen zu Staub zermalmt wurde. Vielleicht würde ihn ein anderer

frühmorgendlicher Jogger hören und ihm zu Hilfe eilen. Aber schnell; es mußte schnell sein.

Sollte das ein Witz sein? Ausgerechnet von ihm, einem Witzereißer. Niemand würde kommen. Er würde sterben.

Wegen seiner Geilheit würde er sterben.

Die Spalte zwischen ihm und dem sicheren Boden war deutlich breiter geworden, aber er hatte nur eine Hoffnung auf Rettung, nämlich zu springen. Er mußte sich beeilen, bevor der Beton unter ihm in die Tiefe stürzte und ihn mit sich riß. Jetzt oder nie.

Er sprang. Und es war ein guter Sprung. Ein paar Zentimeter mehr, und er hätte es geschafft. Aber die paar waren entscheidend. Er griff in die Luft, verfehlte sein Ziel, und fiel.

Eben noch schien ihm die Sonne auf den Kopf. Im nächsten Augenblick Dunkelheit, eisige Dunkelheit, durch die er von Betonbrocken, die wie er nach unten stürzten, begleitet fiel. Er hörte, wie sie gegen Felsvorsprünge schlugen, doch dann wurde ihm klar, daß er dieses Geräusch erzeugte. Er konnte hören, wie seine Knochen und der Rücken brachen, während er stürzte. Und stürzte und stürzte.

151

2

Der Tag fing für Howie früher an, als ihm nach so wenig Schlaf lieb war; aber als er aufgestanden war und seine Übungen machte, freute er sich, daß er wach war. Es wäre ein Verbrechen gewesen, an einem so schönen Morgen im Bett liegen zu bleiben. Er holte sich ein Mineralwasser aus dem Getränkeautomaten und setzte sich ans Fenster, wo er den Himmel betrachtete und überlegte, was der Tag bringen mochte.

Lügner; er dachte überhaupt nicht an den Tag. An Jo-Beth; nur an Jo-Beth. Ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Stimme, ihre Haut, ihr Geruch, ihre Geheimnisse. Er betrachtete den Himmel und sah sie, und war besessen.

Für ihn war es das erstemal. Er hatte noch nie so heftige Empfindungen gehabt wie die, von denen er jetzt besessen war.

Er war zweimal in der Nacht schweißgebadet aufgewacht. Er konnte sich nicht an die Träume erinnern, die dafür verantwortlich waren, aber sie kam ganz sicher darin vor. Wie konnte es anders sein? Er mußte sie finden. Jede Stunde, die er ohne ihre Gesellschaft verbrachte, war vergeudet; wenn er sie nicht sah, war er blind, wenn er sie nicht berühren konnte, ohne Gefühl.

Als sie sich gestern abend verabschiedet hatten, hatte sie ihm gesagt, daß sie abends im Butrick's arbeitete und tagsüber in einer Buchhandlung. Bei der Größe des Einkaufszentrums dürfte es ihm eigentlich nicht so schwerfallen, ihren Arbeitsplatz zu finden. Er kaufte eine Tüte Krapfen, um das Loch zu stopfen, das entstanden war, weil er gestern abend nichts gegessen hatte. An das andere Loch, das auszufüllen er hergekommen war, dachte er überhaupt nicht. Er schlenderte an den Geschäften entlang und suchte nach ihrem Laden. Er fand ihn zwischen einem Hundesalon und einem Maklerbüro. Wie viele umliegende Geschäfte, war auch er noch geschlossen; auf einem Schild an der Tür stand, daß es noch eine

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Dreiviertelstunde dauern würde, bis geöffnet wurde.

Er setzte sich ins Sonnenlicht, das immer wärmer wurde, aß und wartete.

Kaum hatte sie die Augen geöffnet, sagten alle ihre Instinkte ihr, sie sollte die Arbeit sausen lassen und Howie suchen. Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren immer wieder durch ihre Träume gespukt und hatten sich dabei ständig subtil ver-

ändert, als wären sie alternative Wirklichkeiten, einige wenige aus einer unendlichen Zahl von Möglichkeiten, die derselben Begegnung entsprangen. Sie konnte sich aber unter allen Möglichkeiten keine vorstellen, in der er nicht vorkam. Er war dagewesen und hatte von ihrem ersten Atemzug an auf sie gewartet; das wußten ihre Zellen mit Bestimmtheit. Sie und Howie gehörten auf eine unzweifelhafte Weise zueinander.

Sie wußte genau, hätte eine ihrer Freundinnen derlei Rühr-seligkeiten von sich gegeben, hätte sie selbst sie als lächerlich abgetan. Was nicht heißen sollte, daß sie nicht schon Tränen vergossen und das Radio lauter gestellt hatte, wenn ein bestimmtes Liebeslied gespielt wurde. Doch ihr war schon beim Zuhören klar gewesen, daß es sich lediglich um eine Ablenkung von einer unmelodischen Wirklichkeit handelte. Sie sah jeden Tag ihres Lebens ein perfektes Opfer dieser Wirklichkeit.

Ihre Mutter, die wie eine Gefangene lebte - dieses Hauses und der Vergangenheit gleichermaßen - und von Hoffnungen

sprach, wenn sie überhaupt die Energie zum Sprechen aufbringen konnte, die sie gehabt und mit ihren Freundinnen geteilt hatte. Bisher hatte dieser Anblick ausgereicht, Jo-Beths romantische Ambitionen, überhaupt alle Ambitionen, im Zaum zu halten.

Aber das, was zwischen ihr und dem Jungen aus Chicago gewesen war, würde nicht dasselbe Ende nehmen wie die große Liebe ihrer Mutter - sie selbst verlassen, und der fragliche Mann so verabscheut, daß sie es nicht über sich bringen 153

konnte, seinen Namen auszusprechen. Wenn sie in der Sonn-tagsschule, die sie immer pflichtschuldig besucht hatte, etwas gelernt hatte, dann die Erkenntnis, daß Offenbarungen dann und dort kamen, wo man am wenigsten mit ihnen rechnete. Zu Joseph Smith auf einer Farm in Palmyra, New York; die Nachricht aus dem Buch Mormon, die ihm ein Engel überbracht hatte. Warum zu ihr dann nicht unter nicht weniger vielversprechenden Umständen? Butrick's Steak House betreten; mit einem Mann, den sie von überall und nirgends kannte, auf einem Parkplatz stehen?

Tommy-Ray war in der Küche; sein kritischer Blick war so durchdringend wie der Geruch des Kaffees, den er kochte. Er sah aus, als hätte er in den Kleidern geschlafen.

»Spät geworden?« sagte sie.

»Für uns beide.«

»Nicht besonders«, sagte sie. »Ich war vor Mitternacht zu Hause.«

»Aber du hast nicht geschlafen«

»Manchmal, manchmal nicht.«

»Du warst wach. Ich habe dich gehört.«

Sie wußte, das war unwahrscheinlich. Ihre Schlafzimmer befanden sich an entgegengesetzten Enden des Hauses, und der Weg zum Badezimmer führte ihn nicht in Hörweite zu ihrem.

»Und?« sagte er.

»Und was?«

»Sprich.«

»Tommy?« Sein aufgebrachtes Verhalten ging ihr auf die Nerven. »Was ist denn mit dir los?«

»Ich habe dich gehört«, sagte er. »Ich habe dich die ganze Nacht hindurch gehört. Gestern nacht ist etwas mit dir geschehen, nicht?«

Er konnte nichts von Howie wissen. Nur Beverly hatte eine Ahnung, was gestern abend im Steak House geschehen war, und sie hätte noch keine Zeit gehabt, Gerüchte in die Welt zu 154

setzen, selbst wenn sie die Absicht gehabt hätte, was unwahrscheinlich war. Sie hatte eigene Geheimnisse, die sie gewahrt wissen wollte. Außerdem, was gab es schon zu

erzählen? Daß sie einem Kunden schöne Augen gemacht hatte?

Daß sie ihn auf dem Parkplatz geküßt hatte? Sollte das für Tommy-Ray eine Rolle spielen?

»Gestern nacht ist etwas geschehen«, wiederholte er. »Ich habe eine Art Veränderung gespürt. Aber worauf immer wir gewartet haben... zu mir ist es nicht gekommen. Also muß es zu dir gekommen sein, Jo-Beth. Was immer es ist, es ist zu dir gekommen.«

»Schenkst du mir einen Kaffee ein?«

»Antworte mir.«

»Was?«

»Was ist passiert?«

»Nichts.«

»Du lügst«, sagte er mehr verblüfft als erbost. »Warum lügst du mich an?«

Das war eine berechtigte Frage. Sie schämte sich nicht wegen Howie oder dem, was sie für ihn empfand. Sie hatte jeden Sieg und jede Niederlage ihrer achtzehn Jahre mit Tommy-Ray geteilt. Er würde das Geheimnis weder Mama

noch Pastor John verraten. Aber er warf ihr seltsame Blicke zu; sie konnte sie nicht richtig deuten. Und dann das Gerede, daß er sie die ganze Nacht hindurch gehört hatte. Hatte er an der Tür gelauscht?

»Ich muß ins Geschäft«, sagte sie. »Sonst komme ich

wirklich zu spät.«

»Ich komme mit dir«, sagte er.

»Weshalb?«

»Nur mitfahren.«

»Tommy...«

Er lächelte sie an. »Was ist schlimm daran, wenn du deinen Bruder mitnimmst?« sagte er. Sie hätte sich fast von der 155

Vorstellung überzeugen lassen, bis sie zustimmend nickte und sah, wie das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand.

»Wir müssen einander vertrauen«, sagte er, als sie im Auto und unterwegs waren. »Wie immer.«

»Das weiß ich.«

»Weil wir gemeinsam stark sind, richtig?« Er sah mit glasigen Augen zum Fenster hinaus. »Und momentan muß ich mich stark fühlen.«

»Du mußt dich mal wieder richtig ausschlafen. Soll ich dich zurückfahren? Es ist mir gleich, ob ich zu spät komme.«

Er schüttelte den Kopf. »Kann das Haus nicht ausstehen«, sagte er.

»Wie kannst du so etwas sagen.«

»Es stimmt. Wir können es beide nicht ausstehen. Es macht mir Alpträume.«

»Das ist nicht das Haus, Tommy.«

»Doch. Das Haus und Mama und diese verfluchte Stadt!

Sieh dich doch um!« Plötzlich hatte er unvermittelt einen Wutanfall. »Sieh dir diese Scheiße an! Willst du nicht auch den ganzen verfluchten Ort dem Erdboden gleichmachen?« In dem engen Auto war seine Lautstärke nervenzerfetzend. »Ich weiß es«, sagte er und sah sie mit jetzt wilden und aufgerissenen Augen an. »Lüg mich nicht an, kleine Schwester.«

»Ich bin nicht deine kleine Schwester, Tommy«, sagte sie.

»Ich bin fünfunddreißig Sekunden älter«, sagte er. Das war immer ein Scherz zwischen ihnen gewesen. Und plötzlich war es zum Machtspiel geworden. »Fünfunddreißig Sekunden

länger in diesem Scheißloch.«

»Hör auf, dummes Zeug zu reden«, sagte sie und brachte das Auto ruckartig zum Stillstand. »Ich muß mir das nicht anhören.

Du kannst aussteigen und zu Fuß gehen.«

»Soll ich auf der Straße schreien?« sagte er. »Das mache ich.

Glaub mir. Ich schreie, bis ihre beschissenen Häuser einstürzen!«

156

»Du benimmst dich wie ein Arschloch!« sagte sie.

»Nun, das ist ein Wort, das ich nicht so oft von dir höre«, sagte er voll verschmitzter Befriedigung. »Heute morgen sind wir beide nicht ganz wir selbst.«

Er hatte recht. Sie ließ sich von seinem Wutausbruch reizen wie noch niemals zuvor. Sie waren Zwillinge und sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, aber er war immer der unverhohlen rebellischere gewesen. Sie hatte die folgsame Tochter gespielt und die Verachtung verborgen, die sie gegenüber der

Scheinheiligkeit des Grove empfand, deren Opfer Mama war und dessen Billigung sie doch so sehr brauchte. Manchmal beneidete sie Tommy-Ray um seine unverhohlene Verachtung und hätte Widersachern gerne so wie er ins Gesicht gespuckt, mit dem Wissen, daß nach einem Lächeln alles verziehen wurde. Er hatte es all die Jahre leicht gehabt. Seine Tirade gegen die Stadt war Narzißmus; er war in sich selbst als Rebell verliebt. Und damit verdarb er ihr einen Morgen, den sie genießen wollte.

»Wir reden heute abend, Tommy«, sagte sie.

»Ja?«

»Das habe ich eben gesagt.«

»Wir müssen einander helfen.«

»Ich weiß.«

»Besonders jetzt.«

Er war plötzlich ruhig, als wäre die gesamte Wut mit einem einzigen Atemzug aus ihm entwichen, und damit seine Energie.

»Ich habe Angst«, sagte er ganz leise.

»Du mußt keine Angst haben, Tommy. Du bist nur müde.

Du solltest heimgehen und schlafen.«

»Ja.«

Sie waren beim Einkaufszentrum angekommen. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, das Auto zu parken. »Fahr nach Hause«, sagte sie. »Lois wird mich heute abend heimbringen.«

Als sie aus dem Auto aussteigen wollte, hielt er sie fest und 157

packte sie so heftig, daß es weh tat.

»Tommy...«, sagte sie.

»War das dein Ernst?« sagte er. »Ich muß keine Angst haben?«

»Nein«, sagte sie.

Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen.

»Ich vertraue dir«, sagte er und hielt die Lippen ganz dicht an ihre. Sie konnte nur sein Gesicht sehen; er hielt mit der Hand ihren Arm, als wäre sie sein Eigentum.

»Genug, Tommy«, sagte sie und riß sich los. »Geh nach Hause.«

Sie stieg aus, schlug die Autotür heftig zu und drehte sich ganz bewußt noch einmal um.

»Jo-Beth.«

Howie stand vor ihr. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, als sie ihn nur ansah. Hinter sich hörte sie ein Auto hupen, drehte sich um und stellte fest, daß Tommy-Ray nicht losgefahren war; er versperrte mehreren anderen Fahrzeugen den Weg. Er sah sie an, griff zur Tür, stieg aus. Das Hupen wurde lauter. Jemand schrie ihn an, er solle wegfahren, aber er achtete nicht darauf. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Jo-Beth. Es war zu spät, Howie ein Zeichen zu geben, daß er verschwinden soll. Tommy-Rays Gesichtsausdruck machte deutlich, daß ihm Howies Begrüßungslächeln alles gesagt hatte.

Sie sah zu Howie und empfand äscherne Verzweiflung.

»Sieh mal einer an«, hörte sie Tommy-Ray hinter sich sagen.

Es war mehr als Verzweiflung: Es war Angst.

»Howie...«, begann sie.

»Herrgott, war ich dumm«, fuhr Tommy-Ray fort.

Sie versuchte zu lächeln, als sie sich zu ihm umdrehte.

»Tommy«, sagte sie, »darf ich dir Howie vorstellen.«

Sie hatte Tommys Gesicht noch niemals so gesehen wie

jetzt; hatte keine Ahnung gehabt, daß die vergötterten Züge zu einer solchen Bösartigkeit fähig waren.

158

»Howie?« fragte er. »Wie Howard?«

Sie nickte und sah Howie wieder an. »Das ist mein Bruder«, sagte sie. »Mein Zwillingsbruder. Howie, das ist Tommy-Ray.«

Beide Männer gingen einen Schritt vor, um sich die Hände zu schütteln, wodurch sie gleichzeitig in ihr Gesichtsfeld traten.

Die Sonne schien gleichermaßen auf beide, aber sie

schmeichelte Tommy-Ray nicht, trotz seiner Bräune. Unter dem gesunden Äußeren, das er zur Schau stellte, wirkte er krank; die Augen eingesunken und stumpf, die Haut zu straff über Wangenknochen und Schläfen gespannt. Er sieht tot aus, dachte sie. Tommy-Ray sieht tot aus.

Howie streckte die Hand aus, aber Tommy-Ray achtete nicht darauf und wandte sich unvermittelt an seine Schwester.

»Später«, hauchte er kaum hörbar.

Sein Murmeln wurde beinahe vom Toben der Beschwerden

hinter ihm übertönt, aber sein drohender Tonfall entging ihr nicht. Nachdem er gesprochen hatte, drehte er sich um und ging zum Wagen zurück. Sie konnte sein einnehmendes

Lächeln nicht sehen, aber sie konnte es sich vorstellen. Mr.

Sonnenschein, der die Arme in spöttischer Unterwürfigkeit hob und wußte, daß seine Gegner keine Hoffnung hatten.

»Was sollte das?« fragte Howie.

»Weiß ich auch nicht genau. Er ist seltsam seit...«

Sie wollte sagen, seit gestern, aber sie hatte vor wenigen Augenblicken einen Makel seiner Schönheit gesehen, der schon immer dagewesen sein mußte, nur hatte sie ihn - wie der Rest der Welt - in ihrer Faszination nicht sehen können.

»Braucht er Hilfe?« fragte Howie.

»Ich denke, wir lassen ihn am besten in Ruhe.«

»Jo-Beth!« rief jemand. Eine Frau in mittleren Jahren kam auf sie zu, deren Kleidung - wie das Gesicht - bis zur Unscheinbarkeit schlicht waren.

»War das Tommy-Ray?« fragte sie, während sie näher kam.

159

»Ja.«

»Er bleibt nie länger.« Sie blieb einen Meter von Howie entfernt stehen und betrachtete ihn mit einem etwas verwirrten Gesichtsausdruck. »Kommst du in den Laden, Jo-Beth?« fragte sie, ohne den Blick von Howie abzuwenden. »Wir sind schon zu spät.«

»Ich komme.«

»Kommt dein Freund auch mit?« fragte die Frau vielsagend.

»O ja... tut mir leid... Howie... das ist Lois Knapp.«

»Mrs.«, fügte die Frau hinzu, als wäre ihr verheirateter Zustand ein Talisman gegen fremde junge Männer.

»Lois... das ist Howie Katz.«

»Katz?« antwortete Mrs. Knapp. »Katz?« Sie wandte sich von Howie ab und sah auf die Uhr. »Fünf Minuten zu spät«, sagte sie.

»Kein Problem«, sagte Jo-Beth. »Vor zwölf kommt eh nie ein Kunde.«

Mrs. Knapp zeigte sich schockiert über diese Indiskretion.

»Die Arbeit des Herrn sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen«, bemerkte sie. »Bitte beeile dich.« Dann stakste sie davon.

»Komische Person«, kommentierte Howie.

»Nicht so schlimm, wie sie aussieht.«

»Das wäre auch schwer.«

»Ich gehe jetzt besser.«

»Warum?« sagte Howie. »Es ist so ein schöner Tag. Wir könnten irgendwohin gehen. Bei dem Wetter etwas Schönes unternehmen.«

»Morgen wird auch ein schöner Tag sein. Und übermorgen, und am Tag darauf. Wir sind hier in Kalifornien, Howie.«

»Komm trotzdem mit mir.«

»Ich will erst versuchen, mit Lois Frieden zu schließen. Ich will nicht bei jedem auf der schwarzen Liste stehen. Das würde Mama verärgern.«

160

»Also wann?«

»Wann was?«

»Wann hast du Zeit?«

»Du gibst nicht auf, was?«

»Nee.«

»Ich werde Lois sagen, daß ich heute nachmittag nach Hause und mich um Tommy-Ray kümmern muß. Ich sage ihr, er ist krank. Das ist nur halb gelogen. Dann komme ich ins Motel.

Wie ist das?«

»Versprochen?«

»Versprochen.« Sie ging ein Stück weg, dann sagte sie:

»Was ist denn?«

»Du möchtest mich nicht... nicht in aller Öffentlichkeit küssen, hm?«

»Ganz sicher nicht.«

»Und wenn wir allein sind?«

Sie winkte halbherzig ab, während sie weiterging.

»Sag einfach ja.«

»Howie.«

»Sag einfach ja.«

»Ja.«

»Siehst du? War doch ganz einfach.«

Am Vormittag, als sie und Lois Eiswasser in dem sonst verlassenen Laden schlürften, sagte die ältere Frau: »Howard Katz.«

»Was ist mit ihm?« fragte Jo-Beth und richtete sich auf eine Belehrung über den Umgang mit dem anderen Geschlecht ein.

»Mir ist nicht eingefallen, woher ich den Namen kenne.«

»Und jetzt wissen Sie es wieder?«

»Eine Frau, die im Grove lebte. Ist lange her«, sagte sie, dann wischte sie mit einer Serviette einen Wasserring vom Tisch. Ihr Schweigen und die Konzentration, mit der sie den Wasserring wegwischte, deuteten an, daß sie das Thema mit 161

Freuden fallenlassen würde, sollte Jo-Beth beschließen, es nicht weiter zu verfolgen. Aber sie fühlte sich verpflichtet, das Thema anzusprechen. Warum?

»War sie eine Freundin von Ihnen?« fragte Jo-Beth.

»Nicht von mir.«

»Von Mama?«

»Ja«, sagte Lois, die immer noch wischte, obwohl der Tisch längst trocken war.

»Ja. Sie war eine Freundin deiner Mama.«

Plötzlich war alles klar.

»Eine von den vier«, sagte Jo-Beth. »Sie war eine von den vier.«

»Ich glaube schon.«

»Und hatte sie Kinder?«

»Weißt du, ich kann mich nicht erinnern.«

So eine ausweichende Antwort war die größte Annäherung an eine Lüge, deren eine so zimperliche Frau wie Lois fähig war. Jo-Beth sprach sie darauf an.

»Sie erinnern sich«, meinte sie. »Bitte sagen Sie es mir.«

»Ja. Ich glaube, ich erinnere mich. Sie hatte einen Jungen.«

»Howard.«

Lois nickte.

»Sicher?« fragte Jo-Beth.

»Ja. Sicher.«

Jetzt schwieg Jo-Beth, während sie in Gedanken versuchte, die Ereignisse der vergangenen Tage im Licht dieser neuen Enthüllung zu sehen. Was hatten ihre Träume, Howies

Rückkehr und Tommy-Rays Krankheit miteinander und mit dem Badeausflug zu tun, der, wie sie in zehn verschiedenen Versionen gehört hatte, mit Tod, Wahnsinn und Kindern geendet hatte?

Vielleicht wußte Mama es.

162

3

Jose Luis, der Chauffeur von Buddy Vance, wartete fünfzig Minuten am vereinbarten Treffpunkt, dann kam er zur

Überzeugung, daß sein Boß wieder zu Fuß zurückgekehrt sein mußte. Er rief Coney via Autotelefon an. Ellen war daheim, aber der Boß nicht. Sie beratschlagten, was zu tun sei, dann kamen sie überein, daß er bis zur vollen Stunde mit dem Auto warten und dann den Weg zurückfahren sollte, den der Boß am wahrscheinlichsten einschlagen würde. Er war unterwegs nirgends zu sehen. Und er war auch nicht zu Fuß nach Hause gekommen. Sie unterhielten sich erneut über die

Möglichkeiten, wobei Jose Luis taktvoll die wahrscheinlichste unausgesprochen ließ: daß Buddy unterwegs einer Frau

begegnet war. Er war seit sechzehn Jahren im Dienst von Mr.

Vance und wußte: Die Fähigkeiten seines Bosses bei Frauen grenzten ans Übernatürliche. Er würde nach Hause kommen, wenn er seine Magie gewirkt hatte.

Buddy empfand keine Schmerzen. Dafür war er dankbar, aber er gab sich keiner Täuschung hin, was das zu bedeuten hatte.

Sein Körper war sicherlich so zerschmettert, daß das Gehirn einfach vor Schmerzen einen Kurzschluß bekommen und

sämtliche Stecker herausgezogen hatte.

Die Dunkelheit, die ihn umgab, war ohne Eigenheiten; sie machte ihn nur wirkungsvoll blind. Vielleicht waren auch seine Augen nicht mehr da, auf dem Weg nach unten aus dem Kopf herausgeplatzt. Was immer der Grund sein mochte, er

schwebte frei von Empfindungen oder Augenlicht, und

während er schwebte, überlegte er. Zuerst, wie lange Luis brauchen würde, bis er merkte, daß sein Boß nicht nach Hause kommen würde: höchstens zwei Stunden. Sein Weg durch den Wald würde nicht schwer zu verfolgen sein; und wenn sie die Spalte gefunden hatten, würden sie sich denken können, in 163

welcher Gefahr er schwebte. Bis zum Nachmittag würden sie auf der Suche nach ihm heruntergestiegen sein. Am

Spätnachmittag würden sie ihn wieder oben haben, wo seine Verletzungen versorgt werden würden.

Vielleicht war es schon Mittag.

Er konnte das Verrinnen der Zeit nur anhand seines eigenen Herzschlags abschätzen, den er im Kopf hören konnte. Er fing an zu zählen. Wenn er ein Gefühl dafür bekommen konnte, wie lange eine Minute dauerte, konnte er sich an diese Zeitspanne halten und würde nach sechzig solcher Spannen wissen, daß er eine Stunde gelebt hatte. Aber er hatte kaum angefangen zu zählen, da fing sein Kopf eine ganz andere Rechnung an.

Wie lange habe ich gelebt, dachte er. Nicht geatmet, nicht existiert, sondern tatsächlich gelebt? Vierundfünfzig Jahre seit meiner Geburt: Wie viele Wochen waren das? Wie viele

Stunden? Vielleicht sollte man es Jahr für Jahr aufrollen; das war einfacher. Ein Jahr hatte dreihundertsechzig Tage, plus minus ein paar. Angenommen, er hatte ein Drittel davon geschlafen. Hundertzwanzig Tage im Schlummerland. O Gott, die Augenblicke schwanden bereits. Eine halbe Stunde täglich auf dem Klo oder beim Pinkeln. Das machte wieder

siebeneinhalb Tage im Jahr, nur für Ausscheidung. Und Duschen und Rasieren noch einmal zehn Tage; Essen wieder dreißig oder vierzig; das alles mit vierundfünfzig Jahren multipliziert...

Er fing an zu schluchzen. Holt mich hier raus, murmelte er, bitte, lieber Gott, bring mich von hier weg, und ich werde leben, wie ich noch nie gelebt habe, ich werde jede Stunde, jede Minute - sogar beim Schlafen oder Scheißen - versuchen zu verstehen, damit ich nicht mehr so hilflos bin, wenn die nächste Dunkelheit kommt.

Um elf stieg Luis ins Auto und fuhr den Hügel hinab, um zu sehen, ob er den Boß irgendwo auf der Straße finden konnte.

164

Da das erfolglos blieb, fuhr er zum Food Stop im

Einkaufszentrum, wo sie ein Sandwich zu Ehren von Mr.

Vance getauft hatten - das schmeichelnderweise fast nur aus Fleisch bestand -, dann zum Schallplattenladen, wo der Boß ab und zu Platten im Gesamtwert von tausend Dollar kaufte.

Während er sich mit Ryder, dem Besitzer, unterhielt, kam ein Kunde herein und erzählte jedem, den es interessierte, daß in East Grove die Kacke ernsthaft am Dampfen war, ob

möglicherweise jemand erschossen wurde?

Bis Luis eintraf, war die Straße zum Wald für den Verkehr gesperrt, ein Polizist leitete den Verkehr um.

»Kein Durchkommen«, sagte er zu Luis. »Die Straße ist gesperrt.«

»Was ist passiert? Wer ist erschossen worden?«

»Niemand ist erschossen worden. Nur ein Riß in der Straße.«

Inzwischen war Luis aus dem Auto ausgestiegen und sah an den Polizisten vorbei in den Wald.

»Mein Boß«, sagte er und wußte, daß er nicht aussprechen mußte, wem die Limousine gehörte, »ist heute morgen hier gelaufen.«

»Und?«

»Er ist nicht zurückgekommen.«

»O Scheiße. Folgen Sie mir.«

Sie gingen schweigend zwischen den Bäumen dahin, nur ab und zu kamen kaum verständliche Botschaften über das

Funkgerät des Polizisten, auf die er aber gar nicht achtete, bis sich das Dickicht zu einer Lichtung öffnete. Mehrere Polizisten stellten Absperrungen auf, die verhindern sollten, daß jemand dorthinging, wohin Luis jetzt geführt wurde. Der Boden unter seinen Füßen war rissig, und die Risse wurden breiter, während der Polizist ihn zum Chief führte, der den Boden betrachtete.

Jose Luis wußte lange bevor er zu der Stelle kam, was vor ihm lag. Der Riß in der Straße und die Risse, über die er gegangen war, waren die Folge einer größeren Katastrophe: einer drei 165

Meter breiten Spalte, die in alles verschlingende Dunkelheit hinabführte.

»Was will der hier?« wollte der Chief wissen und deutete auf Luis. »Die Sache soll geheim bleiben.«

»Buddy Vance«, sagte der Polizist zu ihm.

»Was ist mit dem?«

»Er wird vermißt«, sagte Luis.

»Er war joggen...«, erklärte der Polizist.

»Lassen Sie ihn erzählen«, sagte der Chief.

»Er läuft hier jeden Morgen. Aber heute ist er nicht

zurückgekommen.«

»Buddy Vance?« sagte der Chief. »Der Komiker?«

»Ja.«

Der Chief sah von Jose Luis weg in die Spalte.

»Großer Gott«, sagte er.

»Wie tief?« fragte Jose Luis.

»Hm?«

»Die Spalte.«

»Das ist keine Spalte. Das ist ein verdammter Abgrund. Ich habe vor einer Minute einen Stein hinuntergeworfen. Ich warte immer noch darauf, daß er unten ankommt.«

Die Erkenntnis, daß er allein war, dämmerte Buddy langsam, wie eine Erinnerung, die aus dem Schlick auf dem Grund seines Gehirns aufgewirbelt wurde. Er hielt es sogar zuerst für eine Erinnerung, die an einen Sandsturm, in den er während seiner dritten Flitterwochen in Ägypten einmal geraten war.

Aber in diesem Mahlstrom war er, anders als damals, verirrt und ohne Führer. Und es war kein Sand, der seinen Augen stechend das Sehvermögen wiedergab, und auch kein Wind, der ihm mit seinem Tosen die Ohren öffnete. Es war eine völlig andere Urgewalt, die nicht so natürlich wie ein Sturm war und, wie kein Sturm zuvor, hier in diesem Schacht aus Fels festgehalten wurde. Er sah das Loch, in das er gestürzt war, 166

zum erstenmal, es erstreckte sich über ihm zu einem Himmel ohne Sonne, der so weit entfernt war, daß er Buddy nicht trösten konnte. Welche Gespenster diesen Ort auch immer heimsuchen wollten und sich gerade vor seinen Augen

manifestierten, sie stammten ganz bestimmt aus einer Zeit, bevor die menschliche Rasse ein Funkeln im Auge der

Evolution gewesen war. Ehrfurchtgebietende einfache Wesen; Mächte aus Feuer und Eis.

Er lag gar nicht so falsch; und doch auch wieder

vollkommen falsch. Die Gestalten, die wenige Meter von ihm entfernt aus der Dunkelheit hervorkamen, glichen eben noch Menschen wie ihm, und im nächsten Augenblick waren sie unbändige Energien, die wie Champions in einem Krieg der Schlangen, welche ihre Völker geschickt hatten, damit sie sich gegenseitig erwürgten, umeinander geschlungen waren. Die Vision belebte seine Nerven ebenso wie die Sinne. Die Schmerzen, die ihm bisher erspart geblieben waren, drangen in sein Bewußtsein, das Rinnsal wurde zuerst zum Bach und dann zur Sturzflut. Ihm war, als läge er auf Messern, deren Klingen zwischen seine Rückenwirbel schnitten und die Eingeweide aufspießten.

Er war zu schwach, um auch nur zu stöhnen, und konnte nur ein stummer, leidender Zeuge des Schauspiels vor ihm sein; und er konnte nur hoffen, daß Rettung oder der Tod schnell kamen und ihn aus seinem Schmerz erlösten. Am besten der Tod, dachte er. Ein gottloser Hurensohn wie er durfte nicht auf Erlösung hoffen, es sei denn, die heiligen Bücher irrten sich und Ehebrecher, Trunkenbolde und Gotteslästerer kamen ins Paradies. Lieber der Tod; aus und vorbei. Der Witz war vorüber.

Ich will sterben, dachte er.

Kaum hatte er diese Absicht gedacht, wandte sich ihm eine der vor ihm kämpfenden Wesenheiten zu. Er sah ein Gesicht in dem Sturm. Es war bärtig, die Gesichtszüge so voller

167

Emotionen, daß der zugehörige Körper zwergenhaft wie der eines Fötus wirkte: aufgeblähter Schädel, hervorquellende Augen. Buddys Entsetzen, als es ihn ansah, war nichts verglichen mit dem, als es die Arme nach ihm ausstreckte. Er wollte sich in eine Nische verkriechen und den Fingern des Geistes entkommen, aber sein Körper ließ sich weder durch Lockungen noch durch Drohungen dazu bewegen.

»Ich bin der Jaff«, hörte er den bärtigen Geist sagen. »Gib mir deinen Verstand, ich will Terata.«

Als die Fingerspitzen über Buddys Gesicht strichen, spürte er, wie reine Energie, so weiß wie ein Blitz, Kokain oder Samen, durch seinen Kopf in den Körper floß. Und damit kam die Erkenntnis, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er bestand nicht nur aus dem zerschundenen Fleisch und den gebrochenen Knochen. So unmoralisch er war, er hatte etwas in sich, das der Jaff jetzt beanspruchte; eine Ecke seines Wesens, von der dieser Geist profitieren konnte. Er hatte es Terata genannt.

Buddy hatte keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete. Aber er spürte deutlich das Entsetzen, als der Geist in ihn eindrang.

Seine Berührung war ein Blitz, der sich in die Tiefe seiner Seele bohrte. Und auch eine Droge, die Bilder dieses

Eindringens vor seinem geistigen Auge tanzen ließ. Und Sperma? Auch das, denn wie sonst hätte ein Leben, das er nie gehabt hatte, ein aus der Vergewaltigung des Jaff in seinem Inneren geborenes Geschöpf, jetzt aus ihm herauskommen können?

Er erblickte es im Vorübergehen. Es war blaß und primitiv.

Kein Gesicht, aber wuselnde Beine im Dutzend. Auch keinen Verstand; es konnte nur tun, was der Jaff befahl. Das bärtige Gesicht lachte, als es das Geschöpf sah. Der Geist ließ Buddy los, der andere Arm gab seinen Gegner frei, und dann ritt er auf dem Terata den Felsschacht empor zur Sonne.

Der zurückbleibende Kämpfer taumelte rückwärts gegen die Wand der Höhle. Buddy konnte den liegenden Mann sehen. Er 168

sah weniger wie ein Krieger aus als sein Gegner, demzufolge hatte ihn die Auseinandersetzung auch mehr mitgenommen.

Sein Körper war zerschunden, der Gesichtsausdruck völlig erschöpft. Er sah den Felsschacht hinauf.

»Jaffe!« rief er, und sein Ruf rüttelte Staub von den Simsen, gegen die Buddy bei seinem Sturz geprallt war. Keine Antwort kam aus dem Schacht. Der Mann sah zu Buddy und kniff die Augen zusammen.

»Ich bin Fletcher«, sagte er mit singender Stimme. Er kam auf Buddy zu, und ein schwacher Lichtschein folgte ihm.

»Vergiß deine Schmerzen.«

Buddy gab sich allergrößte Mühe zu sagen: Hilf mir, aber das war nicht nötig. Fletchers Anwesenheit allein linderte die Schmerzen, die er empfand.

»Fantasiere mit mir«, sagte Fletcher. »Deinen innigsten Wunsch.«

Sterben, dachte Buddy.

Der Geist hörte den unausgesprochenen Wunsch.

»Nein«, sagte er. »Bitte nicht den Tod. Denk nicht an den Tod. Damit kann ich mich nicht bewaffnen.«

Dich bewaffnen? dachte Buddy.

»Gegen den Jaff.«

Was seid ihr?

»Einst Menschen. Jetzt Geister. Auf ewig Feinde. Du mußt mir helfen. Ich brauche das letzte Quentchen deines

Verstandes, sonst muß ich nackt gegen ihn in den Krieg ziehen.«

Tut mir leid, ich habe schon alles gegeben, dachte Buddy.

Du hast gesehen, wie er es genommen hat. Und nebenbei, was war dieses Ding?

»Das Terata? Deine Fleisch gewordenen Urängste. Er reitet darauf in die Welt hinaus.« Fletcher sah wieder den Schacht hinauf. »Aber er wird noch nicht zur Oberfläche vordringen.

Der Tag ist zu hell für ihn.«

169

Ist es schon Tag?

»Ja.«

Woher weißt du das?

»Die Bewegung der Sonne berührt mich selbst hier unten noch. Ich wollte Himmel sein, Vance. Statt dessen habe ich zwei Jahrzehnte in Dunkelheit gelebt und hatte den Jaff am Hals. Jetzt hat er den Krieg wieder nach oben verlagert, und ich brauche Armeen gegen ihn, die ich aus deinem Kopf holen kann.«

Da ist nichts mehr, sagte Buddy. Ich bin am Ende.

»Die Essenz muß erhalten werden«, sagte Fletcher.

Essenz?

»Das Meer der Träume. Du wirst seine Insel sehen, wenn du stirbst. Sie ist wunderschön; ich beneide dich um die Freiheit, diese Welt zu verlassen...«

Du meinst den Himmel? dachte Buddy. Du sprichst vom

Himmel? Wenn ja, da habe ich keine Chance.

»Himmel, das ist nur eine Geschichte, die an den Ufern von Ephemeris erzählt wird. Es gibt Hunderte, und du wirst sie alle erfahren. Also hab keine Angst. Gib mir nur etwas von deinem Verstand, damit die Essenz geschützt werden kann.«

Vor wem?

»Dem Jaff, wem sonst?«

Buddy war nie ein nennenswerter Träumer gewesen. Wenn er schlief und nicht betrunken oder auf Drogen war, dann schlief er wie ein Mann, der jeden Tag bis zur Erschöpfung auslebte. Nach einem Auftritt oder einem Fick oder beidem schlief er einen Schlaf, der die Generalprobe für das große Vergessen war, das jetzt auf ihn wartete. Die Angst vor der Auslöschung war eine Stütze für seinen gebrochenen Rücken, und er bemühte sich, den Sinn von Fletchers Worten zu erfassen. Ein Meer; ein Ufer; ein Ort der Geschichten, wo der Himmel nur eine von vielen Möglichkeiten war? Wie hatte er sein ganzes Leben leben und diesen Ort niemals kennenlernen 170

können?

»Du hast ihn kennengelernt«, erklärte Fletcher ihm. »Du bist zweimal in deinem Leben in der Essenz geschwommen. In der Nacht, als du geboren wurdest, und in der Nacht, als du zum erstenmal neben dem Wesen lagst, das du am meisten in deinem Leben geliebt hast. Wer war das, Buddy? Du hast so viele Frauen gehabt, nicht? Welche hat dir am meisten bedeutet? Oh... aber natürlich. Letztendlich gab es nur eine.

Habe ich recht? Deine Mutter.«

Woher, zum Teufel, weißt du das?

»Sagen wir, gut geraten...«

Lügner!

»Also gut, ich wühle ein wenig in deinen Erinnerungen. Verzeih mir mein Eindringen. Ich brauche Hilfe, Buddy, sonst hat mich der Jaff besiegt. Das möchtest du doch nicht.«

Nein, das möchte ich nicht.

»Fantasiere für mich, denk nach. Gib mir mehr als Bedauern, aus dem ich mir Verbündete machen kann. Wer sind deine Helden?«

Helden?

»Stell sie dir vor, für mich.«

Komiker! Allesamt.

»Eine Armee von Komikern? Warum nicht?«

Dieser Gedanke brachte Buddy zum Lächeln. Ja, warum eigentlich nicht? Hatte er nicht auch einmal geglaubt, daß seine Kunst das Böse aus der Welt tilgen könnte? Vielleicht hatte eine Armee heiliger Narren mit Gelächter Erfolg, wo Bomben versagt hatten. Eine süße, lächerliche Vision. Komiker auf dem Schlachtfeld, die den Gewehren die entblößten Ärsche

entgegenstreckten und den Generälen Gummihähnchen auf die Köpfe schlugen; grinsendes Kanonenfutter, das Politiker mit Witzen besiegte und Friedensverträge mit Zaubertinte

unterschrieb.

Sein Lächeln wurde zu Gelächter.

171

»Bewahre diesen Gedanken«, sagte Fletcher und griff in Buddys Verstand.

Das Lachen tat weh. Nicht einmal Fletchers Berührung

konnte die neuerlichen Krämpfe in Buddys Körper eindämmen.

»Stirb nicht!« sagte Fletcher. »Noch nicht! Für die Essenz, noch nicht!«

Aber sein Bemühen war vergeblich. Gelächter und

Schmerzen hielten Buddy von Kopf bis Fuß gepackt. Er sah den Geist über sich an, während ihm Tränen über die Wangen liefen.

Tut mir leid, dachte er. Kann mich nicht konzentrieren. Will nicht...

Gelächter schüttelte ihn.

... hättest mich nicht bitten sollen, mich zu erinnern.

»Einen Augenblick!« sagte Fletcher. »Mehr brauche ich nicht.«

Zu spät. Das Leben wich aus ihm, und für Fletcher blieben nur Rauchgebilde zurück, die so schwach waren, daß er sie nicht gegen den Jaff einsetzen konnte.

»Verflucht!« sagte Fletcher und schrie den Leichnam an, wie er - vor so langer Zeit - einmal Jaffe angeschrien hatte, als dieser auf dem Boden der Misión de Santa Catrina lag.

Diesmal konnte er kein Leben aus dem Leichnam pressen.

Buddy war nicht mehr. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, der tragisch und komisch zugleich war, und das war nur mehr als recht. So hatte er sein Leben gelebt. Und mit seinem Tod hatte er Palomo Grove eine Zukunft gesichert, in der es von solchen Widersprüchen wimmelte.

172

4

In den nächsten Tagen sollte die Zeit zahllose Tricks im Grove anwenden, aber sicher war keiner so frustrierend für das Opfer wie die Zeitspanne zwischen Howies Abschied von Jo-Beth und dem Augenblick, da er sie wiedersehen sollte. Die Minuten dehnten sich zu Stunden; die Stunden schienen so lange, als könnte man eine Generation hervorbringen. Er lenkte sich ab, so gut es ging, indem er nach dem Haus seiner Mutter suchte.

Schließlich war er mit dieser Absicht hierhergekommen: seine eigene Natur besser zu verstehen, indem er sich eingehender mit dem Stammbaum der Familie auseinandersetzte. Bisher hatte er die Verwirrung freilich nur noch vertieft. Er hatte nicht gedacht, daß er zu Empfindungen wie gestern abend fähig war

- die er jetzt nur noch stärker empfand. Diese brausende, unvernünftige Überzeugung, daß alles auf der Welt gut war und niemals schlecht gemacht werden konnte. Die Tatsache, daß die Zeit so schleppend verging, konnte seinen Optimismus nicht dämpfen; es war lediglich ein Spiel, das die Wirklichkeit mit ihm spielte, um die absolute Autorität seiner

Empfindungen zu bestätigen.

Und zu diesem Trick kam ein weiterer, noch subtilerer. Als er zum Haus kam, in dem seine Mutter gelebt hatte, war es auf fast übernatürliche Weise unverändert, genau wie auf den Fotos, die er davon gesehen hatte. Er stand mitten auf der Straße und betrachtete es. Es herrschte kein Verkehr, und kein Fußgänger war unterwegs. Diese Ecke des Grove verharrte in vormittäglicher Trägheit, und ihm war beinahe zumute, als könnte seine Mutter, wieder zum Kind geworden, am Fenster erscheinen und ihn ansehen. Ohne die Ereignisse des

vergangenen Abends wären ihm diese Gedanken vielleicht gar nicht gekommen. Das wundersame Wiedererkennen, als sie einander gestern abend in die Augen gesehen hatten, sein Gefühl, das er gehabt hatte - und noch hatte -, daß seine 173

Begegnung mit Jo-Beth eine Wonne gewesen war, die

irgendwo gewartet hatte - das alles brachte seinen Verstand dazu, Muster zu erschaffen, an die er sich vorher nie heran-gewagt haben würde, und diese Möglichkeit (ein Ort, von dem ein tiefer verborgenes Selbst das Wissen um Jo-Beth bezogen und um ihr kurz bevorstehendes Erscheinen gewußt hatte), wäre noch vierundzwanzig Stunden vorher völlig außerhalb seines Vermögens gewesen. Wieder eine Schleife. Die

Geheimnisse ihres Zusammentreffens hatten ihn in Gefilde der Mutmaßungen geführt, welche von Liebe zu Physik zu

Philosophie und wieder zurück zur Liebe geführt hatten, und zwar auf eine Weise, daß Kunst und Wissenschaft

ununterscheidbar geworden waren.

Und auch das geheimnisvolle Gefühl, während er hier vor dem Haus seiner Mutter stand, ließ sich nicht vom Geheimnis des Mädchens trennen. Haus, Mutter und Zusammentreffen waren eine einzige außergewöhnliche Geschichte. Und er selbst der gemeinsame Faktor.

Er entschied sich dagegen, an die Tür zu klopfen -

schließlich, wieviel konnte er von dem Haus noch erfahren? -

und wollte gerade umkehren, als er einer Eingebung folgte und statt dessen weiter den Hügel hinauf bis zum Gipfel ging. Dort stellte er zu seinem Erstaunen fest, daß er eine Aussicht über ganz Palomo Grove hatte - nach Osten über das

Einkaufszentrum, bis zum Stadtrand, der in dichten Wald überging. Jedenfalls ziemlich dichten; an manchen Stellen wies das Blattwerk Lücken auf, und in einer solchen Lücke schien sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt zu haben.

Lampen waren kreisförmig aufgestellt worden, sie erhellten etwas, das er aufgrund der großen Entfernung nicht erkennen konnte. Drehten sie da unten einen Film? Er hatte den Vormittag so sehr in einer Art Trance verbracht, daß ihm auf dem Weg hierher überhaupt nichts aufgefallen war; er hätte auf der Straße an allen Stars vorbeigehen können, die einmal einen 174

Oscar gewonnen hatten, und hätte es nicht einmal bemerkt.

Während er beobachtend dastand, hörte er ein Flüstern. Er drehte sich um. Die Straße hinter ihm war verlassen. Nicht einmal hier, auf der Kuppe des Hügels seiner Mutter, wehte ein Wind, der das Geräusch zu ihm hätte tragen können. Und doch hörte er es erneut; ein Geräusch so dicht an seinem Ohr, daß es beinahe in seinem Kopf selbst zu sein schien. Die Stimme war leise. Sie sprach nur zwei Silben aus, die zu einem Kollier aus Lauten aufgereiht waren.

- ardhowardhowardhow -

Es erforderte keinen Kurs in Logik, dieses Ereignis mit den Vorkommnissen unten im Wald in Verbindung zu bringen.

Aber er konnte nicht so tun, als verstünde er die Vorgänge, die rings um ihn herum am Werk waren.

Der Grove gehorchte offenbar seinen eigenen Gesetzen, und er hatte von seinen Rätseln schon soviel profitiert, daß er künftigen Abenteuern nicht den Rücken kehren konnte. Wenn die Suche nach einem Steak ihn zur Liebe seines Lebens führen konnte, was konnte es ihm bringen, wenn er einem Flüstern folgte?

Es war nicht schwer, zum Wald hinunterzugelangen.

Während er den Weg zurücklegte, hatte er das merkwürdige Gefühl, daß die ganze Stadt dorthinführte; daß der Hügel eine schiefe Ebene war und alles, was sich darauf befand, jeden Moment in den Schlund der Erde hinabrutschen konnte. Dieser Eindruck wurde verstärkt, als er schließlich den Wald erreicht hatte und sich erkundigte, was los war. Niemand schien es ihm sagen zu wollen, bis ein Kind krähte:

»Da ist ein Loch im Boden, und das hat ihn ganz

verschluckt.«

»Wen verschluckt?« wollte Howie wissen. Aber nicht der Junge antwortete, sondern die Frau, die bei ihm war.

»Buddy Vance«, sagte sie. Nun war Howie nicht schlauer als vorher, und man schien ihm seine Unwissenheit anzusehen, 175

denn die Frau hatte weitere Informationen parat. »Er war Fernsehstar«, sagte sie. »Komischer Bursche. Mein Mann mag ihn sehr.«

»Haben sie ihn schon heraufgeholt?«

»Noch nicht.«

»Macht nix«, warf der Junge ein. »Der ist sowieso tot.«

»Stimmt das?« fragte Howie.

»Sicher«, antwortete die Frau.

Plötzlich hatte die ganze Szene eine andere Perspektive.

Diese Leute waren nicht hier, um zuzusehen, wie ein Mann dem Tod von der Schippe sprang. Sie wollten den Leichnam sehen, wenn er in den Krankenwagen geladen wurde. Sie wollten nur sagen können: Ich war dabei, als sie ihn

heraufgeholt haben. Ich habe ihn unter dem Leichentuch gesehen. Ihr morbides Gebaren, noch dazu an so einem Tag voller Möglichkeiten, stieß ihn ab. Wer immer seinen Namen gerufen hatte, jetzt rief er ihn nicht mehr; und wenn, war die lauernde Präsenz der Menge stärker. Es hatte keinen Zweck, wenn er blieb, warteten doch Augen darauf, ihn zu sehen, und Lippen, ihn zu küssen. Er kehrte den Bäumen und demjenigen, der ihn gerufen hatte, den Rücken zu und ging wieder ins Motel zurück, um dort darauf zu warten, bis Jo-Beth kam.

176

IV

Nur Abernethy redete Grillo mit Vornamen an. Für Saralyn war er, von dem Tag an, als sie sich kennengelernt, bis zu der Nacht, als sie sich getrennt hatten, immer Grillo gewesen; ebenso für alle Kollegen und Freunde. Für seine Feinde - und welcher Journalist, besonders ein in Ungnade gefallener, hatte nicht seine Feinde? - war er manchmal der Scheißkerl Grillo, oder Grillo, der Moralapostel, aber eben immer Grillo.

Nur Abernethy sagte: »Nathan?«

»Was wollen Sie?«

Grillo war gerade unter der Dusche hervorgekommen, doch kaum hatte er Abernethys Stimme gehört, hätte er sich am liebsten gleich wieder abschrubben wollen.

»Was machen Sie zu Hause?«

»Ich arbeite«, log Grillo. Gestern nacht war es spät

geworden. »Der Artikel über die Umweltverschmutzung,

erinnern Sie sich?«

»Vergessen Sie's. Es ist etwas passiert, und ich möchte, daß Sie hingehen. Buddy Vance - der Komiker - ist

verschwunden.«

»Wann?«

»Heute morgen.«

»Wo?«

»Palomo Grove. Kennen Sie das?«

»Nur dem Namen nach.«

»Sie versuchen, ihn auszugraben. Es ist jetzt Mittag. Wann können Sie dort sein?«

»Eine Stunde. Höchstens neunzig Minuten. Was ist denn daran so interessant?«

»Sie sind zu jung. Sie erinnern sich nicht mehr an die Buddy Vance Show.«

»Ich habe die Wiederholungen gesehen.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Nathan, mein Junge...« Von 177

allen Anwandlungen Abernethys haßte Grillo die altväterliche am meisten. »... hat die Buddy Vance Show die Bars leergefegt.

Er war ein großer Mann und ein großer Amerikaner.«

»Sie wollen also einen Tränendrüsendrücker?«

»Nein, verdammt. Ich will Nachrichten über seine Frauen, den Alkohol, und warum er im Ventura County endete, wo er doch früher in einer drei verdammte Blocks langen Limousine durch Burbank kutschiert ist.«

»Mit anderen Worten, den Dreck.«

»Es waren Drogen im Spiel, Nathan«, sagte Abernethy.

Grillo konnte sich den gespielt ernsten Gesichtsausdruck des Mannes vorstellen. »Unsere Leser müssen das wissen.«

»Die wollen den Dreck, und Sie auch«, sagte Grillo.

»Verklagen Sie mich«, sagte Abernethy. »Aber setzen Sie einfach Ihren Hintern in Bewegung.«

»Und wir wissen nicht einmal, wo er ist? Angenommen, er ist einfach abgehauen?«

»Oh, sie wissen, wo er ist«, sagte Abernethy. »Sie

versuchen, den Leichnam in den nächsten paar Stunden

heraufzuholen.«

»Heraufzuholen? Sie meinen, er ist ertrunken?«

»Ich meine, er ist in ein Loch gefallen.«

Komiker, dachte Grillo. Machen einfach alles für einen Lacher.

Aber es war nicht komisch. Als er zu Abernethys fröhlicher Truppe gestoßen war, nach dem Debakel in Boston, war das eine Erholung von dem sorgfältig recherchierten Journalismus gewesen, mit dem er sich einen Namen gemacht und der ihn schließlich zu Fall gebracht hatte. Die Vorstellung, für ein Skandalblatt mit kleiner Auflage wie den County Reporter zu arbeiten, schien eine Erleichterung zu sein. Abernethy war ein scheinheiliger Heuchler, ein wiedergeborener Christ, für den Vergebung ein unanständiges Wort war. Die Artikel, die er bei 178

Grillo in Auftrag gab, waren mühelos zu recherchieren und noch müheloser zu schreiben, denn für die Leserschaft des Reporters sollten die Artikel nur einen einzigen Zweck erfüllen: Neid aus der Welt zu schaffen. Sie wollten

Geschichten über Leid bei den großen Tieren; die Kehrseite des Ruhms. Abernethy kannte seine Gemeinde gut. Er brachte sogar seine Biographie ins Spiel und trat in seinen Editorials die Bekehrung vom Alkoholiker zum Fundamentalisten breit.

Nüchtern und voll auf Gott abgefahren, so beschrieb er sich immer selbst. Diese heilige Sanktionierung ermöglichte ihm, den Dreck, den er herausgab, mit einem strahlenden Lächeln zu erdulden, und gestattete seinen Lesern, sich ohne

Schuldgefühle darin zu suhlen. Sie lasen Geschichten von den Folgen der Sünde. Was konnte christlicher sein?

Für Grillo war der Witz schon längst nicht mehr komisch. Er hatte nicht nur einmal, sondern hundertmal daran gedacht, zu Abernethy zu sagen, daß er sich verpissen sollte, aber wo sollte er, ein zum Narren gemachter Star-Reporter, einen Job bekommen, wenn nicht bei einem kleinen Blatt wie dem Reporter! Er hatte schon daran gedacht, den Beruf zu wechseln, aber er hatte weder den Wunsch noch die Fähigkeiten, etwas anderes zu machen. Er hatte, soweit er sich zurückerinnern konnte, der Welt Nachrichten über sich selbst präsentieren wollen. Diese Funktion hatte etwas Essentielles. Er konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu machen. Die Welt kannte sich selbst nicht besonders gut. Sie brauchte Menschen, die ihr die Geschichte ihres Lebens Tag für Tag erzählen, wie sollte sie sonst aus ihren Fehlern lernen? Er hatte einen solchen Fehler in die Schlagzeilen gebracht - Korruption im Senat -, als er herausfand (sein Magen drehte sich heute noch um, wenn er nur daran dachte), daß ihm die Gegner seines Opfers eine Falle gestellt und seine Position als Vertreter der Presse dazu benützt hatten, einen unschuldigen Namen in den Dreck zu ziehen. Er hatte sich entschuldigt, einen Bückling gemacht und um seine 179

Entlassung gebeten. Die Angelegenheit war schnell vergessen worden, denn neue Schlagzeilen verdrängten die, die er selbst geschrieben hatte. Politiker würden, wie Skorpione und Küchenschaben, noch da sein, wenn Atombomben die

Zivilisation in Schutt und Asche gelegt hatten. Aber

Journalisten waren empfindlich. Ein Fehler, und ihre

Glaubwürdigkeit war dahin. Er war nach Westen geflohen, bis zum Pazifik. Er hatte überlegt, ob er sich dort ertränken sollte, sich aber statt dessen dafür entschieden, für Abernethy zu arbeiten. Das war, wie sich immer mehr herausstellte, ein Fehler gewesen.

Mach das Beste daraus, sagte er sich jeden Tag, von hier aus kann es nur noch aufwärts gehen.

Der Grove überraschte ihn. Er wies sämtliche hervorstechende Merkmale einer auf dem Reißbrett entworfenen Stadt auf - das zentrale Einkaufszentrum, die an den Himmelsrichtungen orientierten Ortsteile, die Ordnung der Straßen -, aber der Stil der Häuser bot willkommene Abwechslung, und es herrschte allgemein das Gefühl vor, als hätte die Stadt geheime Gefilde - vielleicht deshalb, weil sie teilweise auf einem Hügel erbaut worden war.

Wenn der Wald selbst Geheimnisse barg, so waren diese vom Ansturm der Schaulustigen niedergetrampelt worden, die die Exhumierung sehen wollten. Grillo zeigte seinen

Presseausweis und stellte einem Polizisten an der Absperrung ein paar Fragen. Nein, es war unwahrscheinlich, daß der Leichnam demnächst geborgen werden würde; er mußte erst gefunden werden. Und Grillo konnte auch mit keinem

Verantwortlichen des Unternehmens sprechen. Kommen Sie später wieder, wurde ihm vorgeschlagen. Das schien ein guter Rat zu sein. Es herrschte kaum Aktivität an der Spalte. Obwohl Seile verschiedener Art am Boden lagen, schien niemand Gebrauch davon zu machen. Er beschloß, das Risiko

180

einzugehen und den Schauplatz zu verlassen, um ein paar Anrufe zu erledigen. Er begab sich zum Einkaufszentrum und einer öffentlichen Telefonzelle. Als erstes rief er Abernethy an, meldete, daß er vor Ort eingetroffen war, und erkundigte sich, ob der Fotograf schon losgeschickt worden war. Abernethy war außer Haus. Grillo hinterließ eine Nachricht. Mit seinem zweiten Anruf hatte er mehr Glück. Der Anrufbeantworter begann mit seiner vertrauten Botschaft...

»Hi. Sie sind mit Tesla und Butch verbunden. Wenn Sie den Hund sprechen wollen - ich bin nicht da. Wenn Sie Butch wollen...« Doch dann ging Tesla selbst an den Apparat.

»Hallo.«

»Ich bin's, Grillo.«

»Grillo? Verdammt, sei still, Butch! Tut mir leid, Grillo, er versucht...« Der Hörer wurde weggelegt, dann folgte eine Menge Aufhebens, schließlich kam Tesla atemlos wieder ans Telefon. »Dieses Tier. Warum habe ich ihn nur genommen, Grillo?«

»Er war der einzige Mann, der mit dir zusammenleben

wollte.«

»Blöder Hund.«

»Deine Worte.«

»Habe ich das gesagt?«

»Du hast das gesagt.«

»Hatte ich ganz vergessen! Ich habe Neuigkeiten, Grillo. Ich habe einen Vertrag für eines der Drehbücher. Der Film, den ich letztes Jahr geschrieben habe, der nicht realisiert wurde? Sie wollen, daß ich ihn umschreibe. Es soll im Weltraum spielen.«

»Machst du es?«

»Warum nicht? Ich brauche eine Produktion. Keiner wird das schwergewichtige Material bringen, wenn ich keinen Hit habe. Also scheiß auf die Kunst; ich werde so derb sein, wie sie es nur haben wollen. Und komm mir gar nicht erst mit der ganzen Scheiße von wegen künstlerischer Integrität. Ein 181

Mädchen muß leben.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Also«, sagte sie, »was gibt's Neues?«

Darauf gab es viele Antworten: eine ganze Litanei. Er konnte ihr erzählen, wie ihm sein Friseur mit einer Handvoll blonder Strähnen lächelnd eröffnet hatte, daß Grillo eine kahle Stelle am Hinterkopf hatte. Oder wie er heute morgen, als er in den Spiegel gesehen hatte, zu dem Ergebnis gekommen war, daß seine langgezogenen, blutarmen Gesichtszüge, von denen er immer gehofft hatte, sie würden einmal zu heroischer

Melancholie werden, schlicht und einfach trübselig aussahen.

Oder daß er immer wieder den Traum hatte, wie er mit

Abernethy und einer Ziege, die Abernethy hielt und die ihn, Grillo, küssen wollte, zwischen zwei Stockwerken im

Fahrstuhl steckenblieb. Aber er behielt die Biographie für sich und sagte nur:

»Ich brauche Hilfe.«

»Paßt.«

»Was weißt du über Buddy Vance?«

»Ist in ein Loch gefallen. Kam im Fernsehen.«

»Und seine Lebensgeschichte?«

»Das ist für Abernethy, nicht?«

»Richtig.«

»Also nur der Dreck.«

»Treffer.«

»Nun, Komiker sind nicht meine starke Seite. Ich habe meinen Abschluß über Sex-Göttinnen gemacht. Aber ich habe nachgeschlagen, als ich die Nachrichten gehört habe. Sechsmal verheiratet; einmal mit einer siebzehnjährigen. Diese Ehe dauerte zweiundvierzig Tage. Seine zweite Frau starb an einer Überdosis...«

Wie Grillo gehofft hatte, wußte Tesla bestens über das Leben und die Ausschweifungen von Buddy Vance Bescheid. Sucht nach Frauen, verbotene Drogen und Ruhm; Fernsehserien; 182

Filme; der Sturz in Ungnade.

»Du kannst mit Gefühl darüber schreiben, Grillo.«

»Danke.«

»Ich liebe dich, nur weil ich dir weh tue. Oder war es umgekehrt?«

»Sehr komisch. Apropos, war er das?«

»Was?«

»Komisch?«

»Vance? Auf seine Art wohl schon. Hast du ihn nie gesehen?«

»Wahrscheinlich schon, vermute ich. Ich kann mich nur nicht an die Darbietung erinnern.«

»Er hatte ein Gummigesicht. Wenn man ihn nur ansah,

mußte man lachen. Und dann seine unheimliche Persönlichkeit.

Halb Idiot und halb Schleimball.«

»Und wie kam es, daß er so erfolgreich bei Frauen war?«

»Der Dreck?«

»Selbstverständlich.«

»Seine enorme Ausstattung.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Der größte Schwanz beim Fernsehen. Das habe ich aus

einer absolut zuverlässigen Quelle.«

»Wer war das?«

»Bitte, Grillo«, sagte Tesla erschüttert. »Höre ich mich wie ein Mädchen an, das klatscht?«

Grillo lachte. »Danke für die Informationen. Ich schulde dir ein Essen.«

»Abgemacht. Heute abend.«

»Sieht so aus, als müßte ich hierbleiben.«

»Dann suche ich dich.«

»Vielleicht morgen, wenn ich noch hier bin. Ich ruf dich an.«

»Wenn nicht, bist du tot.«

»Wenn ich sage, daß ich anrufe, dann rufe ich auch an. Und jetzt geh wieder zu deinen Schiffbrüchigen im Weltraum.«

183

»Mach nichts, was ich nicht auch machen würde. Und

Grillo...«

»Was?«

Bevor sie antwortete, legte sie den Hörer auf und gewann damit zum drittenmal hintereinander das Spiel, wer wen zuerst loswurde, das sie spielten, seit Grillo ihr eines Nachts in angeheiterter Stimmung einmal verraten hatte, daß er

Abschiede haßte.

184

V

l

»Mama?«

Sie saß wie üblich am Fenster.

»Pastor John ist gestern abend nicht gekommen, Jo-Beth.

Hast du ihm Bescheid gesagt, wie du es versprochen hast?« Sie deutete den Gesichtsausdruck ihrer Tochter richtig. »Nein«, sagte sie. »Wie konntest du das vergessen?«

»Tut mir leid, Mama.«

»Du weißt, wie sehr ich von ihm abhängig bin. Ich habe gute Gründe dafür, Jo-Beth. Ich weiß, du denkst nicht so, aber ich.«

»Nein. Ich glaube dir. Ich rufe ihn später an. Aber vorher...

muß ich mit dir sprechen.«

»Solltest du nicht im Geschäft sein?« sagte Joyce. »Hast du dich krank gemeldet? Ich habe Tommy-Ray gehört...«

»Mama, hör mir zu. Ich muß dich etwas Wichtiges fragen.«

Joyce machte bereits einen verängstigten Eindruck. »Ich kann jetzt nicht reden«, sagte sie. »Ich brauche den Pastor.«

»Er wird später vorbeikommen. Erstens: Ich muß etwas über eine Freundin von dir wissen.«

Joyce sagte nichts, aber ihr Gesicht war ganz Kümmernis.

Jo-Beth hatte diesen Ausdruck aber schon so häufig gesehen, daß sie sich nicht davon beeindrucken ließ.

»Ich habe gestern einen Jungen kennengelernt, Mama«,

sagte sie und war entschlossen, alles zu sagen. »Er heißt Howard Katz. Seine Mutter war Trudi Katz.«

Joyce' Gesicht streifte die Maske der Kümmernis ab.

Darunter kam ein auf unheimliche Weise zufrieden wirkender Ausdruck zum Vorschein. »Habe ich es nicht gesagt?«

murmelte sie bei sich und drehte den Kopf wieder zum Fenster.

»Was hast du gesagt?«

»Wie könnte es vorbei sein? Wie könnte es vorbei sein?«

185

»Mutter. Bitte erkläre mir das.«

»Es war kein Unfall. Wir wußten alle, daß es kein Unfall war. Sie hatten ihre Gründe.«

»Wer hatte Gründe?«

»Ich brauche den Pastor.«

»Mutter: wer hatte Gründe?«

Joyce stand auf, ohne zu antworten.

»Wo ist er?« fragte sie mit plötzlich lauter Stimme. Sie ging auf die Tür zu. »Ich muß ihn sprechen.«

»Schon gut, Mama! Schon gut! Beruhige dich.«

Unter der Tür drehte sie sich zu Jo-Beth um. Tränen standen ihr in den Augen.

»Du darfst nicht mit Trudis Jungen zusammentreffen«, sagte sie. »Hast du mich verstanden? Du darfst ihn nicht sehen, nicht mit ihm sprechen, nicht einmal an ihn denken. Versprich es mir.«

»Das kann ich nicht versprechen. Es ist albern.«

»Du hast doch nichts mit ihm gemacht, oder?«

»Was meinst du damit?«

»Mein Gott, du hast es getan.«

»Ich habe nichts getan.«

»Lüg mich nicht an!« forderte Mama und ballte die Hände zu knochigen Fäusten. »Du mußt beten, Jo-Beth!«

»Ich will nicht beten. Ich wollte Hilfe von dir, mehr nicht.

Ich brauche keine Gebete.«

»Du bist schon besessen von ihm. Bisher hast du nie so gesprochen.«

»Ich habe auch noch nie so empfunden!« antwortete sie. Sie war gefährlich dicht davor, in Tränen auszubrechen; Wut und Angst vermischten sich. Es war sinnlos, Mama zuzuhören, sie würde nur nach Gebeten schreien. Jo-Beth ging so nachdrücklich zur Tür, daß Mama klar war, sie würde sich nicht aufhalten lassen. Kein Widerstand wurde ihr entgegengesetzt. Mama trat beiseite und ließ sie gehen, aber während sie die Treppe 186

hinunterschritt, rief sie ihr nach:

»Jo-Beth, komm zurück! Ich bin krank, Jo-Beth! Jo-Beth!

Jo-Beth!«

Howie machte die Tür auf und sah seine in Tränen

aufgelöste Schönheit vor sich.

»Was ist denn los?« fragte er und bat sie herein.

Sie legte die Hände vors Gesicht und schluchzte. Er nahm sie in die Arme. »Schon gut«, sagte er, »so schlimm kann es gar nicht sein.« Das Schluchzen wurde immer leiser, bis sie sich von ihm löste, verloren mitten im Zimmer stand und sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen wischte.

»Tut mir leid«, sagte sie.

»Was ist denn passiert?«

»Das ist eine lange Geschichte. Sie reicht weit zurück. Bis zu deiner und meiner Mutter.«

»Sie kannten einander?«

Sie nickte. »Sie waren die besten Freundinnen.«

»Also stand es in den Sternen«, sagte er lächelnd.

»Ich glaube, Mama sieht es nicht so.«

»Warum nicht? Der Sohn ihrer besten Freundin...«

»Hat dir deine Mutter je gesagt, warum sie den Grove verlassen hat?«

»Sie war nicht verheiratet.«

»Mama auch nicht.«

»Vielleicht war sie zäher als meine...«

»Nein, ich meine damit: Vielleicht ist es mehr als ein Zufall.

Ich habe mein Leben lang Gerüchte gehört, was vor meiner Geburt passiert ist. Über Mama und ihre Freundinnen.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Ich weiß nur Bruchstücke. Sie waren vier. Deine Mutter; meine; ein Mädchen namens Carolyn Hotchkiss, deren Vater noch im Grove lebt, und noch eine. Ihren Namen habe ich vergessen. Arleen irgendwer. Sie wurden angegriffen.

187

Vergewaltigt, glaube ich.«

Howies Lächeln war schon lange verschwunden.

»Mutter?« sagte er leise. »Warum hat sie nie etwas gesagt?«

»Wer würde seinem Kind schon erzählen, daß es auf diese Weise empfangen wurde?«

»Herrgott«, sagte Howie. »Vergewaltigt...«

»Vielleicht irre ich mich«, sagte Jo-Beth und sah zu Howie auf.

Sein Gesicht war verkniffen, als wäre er gerade geschlagen worden.

»Ich habe mein ganzes Leben mit diesen Gerüchten gelebt, Howie. Ich habe gesehen, wie Mama durch sie fast in den Wahnsinn getrieben wurde. Sie sprach ununterbrochen vom Teufel. Ich hatte immer schreckliche Angst, wenn sie davon sprach, daß Satan ein Auge auf mich geworfen hatte. Ich habe gebetet, unsichtbar zu sein, damit er mich nicht sehen kann.«

Howie nahm die Brille ab und warf sie aufs Bett.

»Ich habe dir nicht gesagt, warum ich hierhergekommen bin, oder?« sagte er. »Ich glaube... glaube... glaube, es wird Zeit da-für. Ich bin hergekommen, weil ich nicht die leiseste Ahnung habe, wer oder was ich bin. Ich wollte alles über den Grove herausfinden, und warum meine Mutter vertrieben wurde.«

»Und jetzt wünschst du dir, du wärst nie gekommen.«

»Nein. Wenn ich nicht gekommen wäre, hätte ich dich nicht kennengelernt. Hätte mich nicht... nicht... nicht... verliebt.«

»In jemanden, der möglicherweise deine Schwester ist?«

Der verkniffene Gesichtsausdruck wurde weicher. »Nein«, sagte er. »Das kann ich nicht glauben.«

»Ich habe dich in dem Augenblick erkannt, als ich Butrick's betreten habe. Du hast mich auch erkannt. Warum?«

»Liebe auf den ersten Blick.«

»Schön wär's.«

»Das empfinde ich. Und du empfindest es auch. Ich weiß es.

Du hast es selbst gesagt.«

188

»Das war vorher.«

»Ich liebe dich, Jo-Beth.«

»Das kannst du nicht. Du kennst mich überhaupt nicht.«

»Doch! Und ich werde nicht wegen einer Vermutung aufgeben. Wir wissen nicht, ob das alles stimmt.« Sein Stottern ging in dem heftigen Ausbruch völlig unter. »Es könnten alles Lügen sein, richtig?«

»Möglich«, gab sie zu. »Aber warum sollte jemand so eine Geschichte erfinden? Warum haben uns unsere Mütter nie gesagt, wer unsere Väter waren?«

»Wir werden es herausfinden.«

»Von wem?«

»Frag deine Mama.«

»Das habe ich schon versucht.«

»Und?«

»Sie hat mir gesagt, ich solle nicht in deine Nähe gehen.

Nicht einmal an dich denken...«

Ihre Tränen waren getrocknet, während sie die Geschichte erzählt hatte. Jetzt flossen sie wieder, als sie an Mama dachte.

»Aber ich kann es doch nicht unterdrücken, oder?« sagte sie und wandte sich damit genau an den um Hilfe, mit dem ihr der Umgang verboten worden war.

Als er sie ansah, wünschte sich Howie, er wäre der heilige Narr, als den Lem ihn immer bezeichnet hatte. Er wollte die Redefreiheit haben, die nur Idioten, Tieren und Babys zugestanden wird; er wollte mit ihr schmusen und sie lecken und nicht weggestoßen werden. Es war nicht auszuschließen, daß sie tatsächlich seine Schwester war, aber seine Libido setzte sich über Tabus hinweg.

»Ich sollte besser gehen«, sagte sie, als könnte sie seine Erregung spüren. »Mama will mit dem Pastor reden.«

»Vielleicht ein paar Gebete sprechen, damit ich wieder verschwinde, meinst du?«

»Das ist nicht fair.«

189

»Bitte bleib noch eine Weile«, flehte er. »Wir müssen nicht reden. Wir müssen gar nichts machen. Bleib einfach.«

»Ich bin müde.«

»Dann schlafen wir.«

Er streckte die Hand aus und berührte ganz sanft ihr Gesicht.

»Wir haben gestern nacht beide nicht ausreichend

geschlafen«, sagte er.

Sie seufzte und nickte.

»Vielleicht klärt sich alles auf, wenn wir es einfach dabei be-wenden lassen.«

»Das hoffe ich.«

Er entschuldigte sich und ging ins Bad, um die Blase zu leeren. Als er zurückkam, hatte sie die Schuhe ausgezogen und lag auf dem Bett.

»Platz für zwei?« sagte er.

Sie murmelte eine Zustimmung. Er legte sich neben sie und versuchte, nicht an das zu denken, was sie in seiner Vorstellung zwischen diesen Laken machen würden.

Sie seufzte wieder.

»Alles wird gut«, sagte er. »Schlaf jetzt.«

2

Als Grillo wieder in den Wald kam, war der Großteil des Publikums von Buddy Vance' letztem Auftritt weggegangen. Offenbar waren sie zu dem Ergebnis gekommen, daß es sich nicht lohnte, auf ihn zu warten. Und da die Schaulustigen sich verzogen hatten, waren die Wachen an den Absperrungen nachlässig geworden. Grillo trat über das Seil und ging auf den Polizisten zu, der den Einsatz zu leiten schien. Er stellte sich vor und er-klärte, was er machte.

»Ich kann Ihnen nicht viel erzählen«, sagte der Mann als Antwort auf Grillos Frage. »Wir haben mittlerweile vier 190

Bergsteiger unten, aber Gott allein weiß, wie lange es dauern kann, bis die Leiche hochgebracht wird. Wir haben sie noch nicht einmal gefunden. Und Hotchkiss hat uns gesagt, daß dort unten alle möglichen unterirdischen Flüsse sind. Der Leichnam könnte inzwischen in den Pazifik gespült worden sein.«

»Arbeiten Sie die Nacht durch?«

»Sieht so aus, als müßten wir das.« Er sah auf die Uhr. »Es wird schätzungsweise noch vier Stunden hell sein. Dann müssen wir uns auf die Lampen verlassen.«

»Hat schon einmal jemand diese Höhlen erforscht?« fragte Grillo. »Gibt es Karten davon?«

»Nicht, daß ich wüßte. Fragen Sie besser Hotchkiss. Er ist der Mann in Schwarz da drüben.« Grillo stellte sich erneut vor.

Hotchkiss war ein großer, grimmiger Mann mit dem faltigen Aussehen von jemand, der viel abgenommen hat.

»Man hat mir gesagt, daß Sie der Höhlenfachmann sind«, sagte Grillo.

»Nur durch Zufall«, antwortete Hotchkiss. »Es ist einfach so, daß niemand sie besser kennt.« Er sah Grillo nicht einen Augenblick an, statt dessen glitten seine Augen immer hin und her. »Was unter uns ist... darüber denken die Leute nicht gerne nach.«

»Aber Sie schon?«

»Ja.«

»Und Sie haben es irgendwie studiert?«

»Nur als Amateur«, erklärte Hotchkiss. »Es gibt Themen, die packen einen einfach. Das hat mich eben gepackt.«

»Waren Sie schon selbst unten?«

Hotchkiss wich von seinem Verhaltensmuster ab und sah Grillo volle zwei Sekunden an, bevor er sagte: »Diese Höhlen waren bis zu diesem Augenblick versiegelt, Mr. Grillo. Ich selbst habe sie vor vielen Jahren versiegeln lassen. Sie waren -

sind - eine Gefahr für Unschuldige.«

Unschuldige, dachte Grillo. Was für eine seltsame 191

Wortwahl.

»Der Polizist, mit dem ich gesprochen habe...«

»Spilmont.«

»Richtig. Er sagte, es gibt Flüsse da unten.«

»Da unten gibt es eine ganze Welt, Mr. Grillo, über die wir so gut wie nichts wissen. Und die verändert sich ständig. Klar, es gibt Flüsse, aber auch jede Menge anderes. Ganze

Gattungen, die noch nie das Licht der Sonne gesehen haben.«

»Klingt nicht sehr fröhlich.«

»Sie passen sich an«, sagte Hotchkiss. »Wie wir alle. Sie leben mit ihren Beschränkungen. Schließlich leben wir alle auf einer Bruchstelle, die sich jeden Moment auftun könnte. Wir haben uns daran gewöhnt.«

»Ich versuche, nicht daran zu denken.«

»Das ist Ihre Methode.«

»Und Ihre?«

Hotchkiss lächelte verkniffen und machte dabei halb die Augen zu.

»Ich habe vor ein paar Jahren überlegt, ob ich den Grove verlassen sollte. Für mich verknüpfen sich... schlimme Erinnerungen damit.«

»Aber Sie sind geblieben.«

»Ich habe herausgefunden, daß ich die Summe meiner Kompromisse bin«, antwortete er. »Wenn die Stadt geht, dann gehe ich mit ihr.«

»Wenn? «

»Palomo Grove ist auf schlechtem Land gebaut. Der Boden unter unseren Füßen scheint fest zu sein, aber er verschiebt sich ständig.«

»Also könnte die ganze Stadt den Weg von Buddy Vance gehen? Wollten Sie das damit sagen?«

»Sie können mich zitieren, wenn Sie meinen Namen nicht nennen.«

»Einverstanden.«

192

»Haben Sie, was Sie brauchen?«

»Mehr als genug.«

»Das gibt es nicht«, bemerkte Hotchkiss. »Nicht bei schlechten Nachrichten. Entschuldigen Sie mich, ja?«

Um die Spalte herum herrschte plötzlich hektische Regsam-keit. Hotchkiss, der Grillo einen Knüller für seine Schlagzeile geliefert hatte, auf die jeder Komiker neidisch sein würde, ging hinüber, um die Bergung von Buddy Vance zu beaufsichtigen.

Tommy-Ray lag in seinem Zimmer und schwitzte. Er war aus dem Sonnenlicht gekommen, hatte die Fenster zugemacht und die Vorhänge zugezogen. Da er das Zimmer so abschottete, verwandelte es sich in einen Backofen, aber Hitze und Dunkelheit gefielen ihm. In ihrer Umarmung fühlte er sich nicht so allein und entblößt, wie er sich in der hellen, klaren Luft des Grove gefühlt hatte. Hier konnte er seine eigenen Säfte riechen, die aus den Poren quollen; seinen eigenen schalen Atem, der aus seinem Hals kam und sich über sein Gesicht senkte. Wenn Jo-Beth ihn betrogen hatte, mußte er sich eine neue Gesellschaft suchen, und wo sollte er besser anfangen als bei sich selbst?

Er hatte gehört, wie sie am Nachmittag ins Haus gekommen war und mit Mama gestritten hatte, aber er hatte sich nicht be-müht, den Wortwechsel zu verstehen. Wenn ihre erbärmliche Romanze bereits auseinanderfiel - und was sonst sollte ihr Schluchzen auf der Treppe bedeuten? -, war das ihre eigene verdammte Schuld. Er hatte Wichtigeres zu tun.

Während er in der Hitze dalag, suchten die seltsamsten Bilder seinen Kopf heim. Sie alle stiegen aus einer Dunkelheit auf, der das abgedunkelte Zimmer nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Lag es vielleicht daran, daß sie noch unvollständig waren? Bruchstücke eines Plans, den er

verzweifelt begreifen wollte, der ihm aber dennoch immer wieder entglitt? Blut kam darin vor; Fels kam darin vor; eine 193

blasse, wabernde Kreatur kam darin vor, bei deren Anblick sich ihm der Magen umdrehte. Und ein Mann, den er nicht erkennen konnte, der aber, wenn er nur genügend schwitzte, deutlich vor ihm erstehen würde.

Und wenn das geschah, würde das Warten ein Ende haben.

Zuerst drang ein Warnruf aus der Spalte. Die Mannschaft um die Öffnung herum, einschließlich Spilmont und Hotchkiss, be-mühte sich, die Männer heraufzuziehen, aber was sich unten abspielte, schien so gewaltig zu sein, daß es sich von der Oberfläche nicht kontrollieren ließ. Der Polizist, der am dichtesten am Abgrund stand, schrie plötzlich auf, als sich das Seil um seine Hand straffte und er wie ein Fisch an der Angel auf die Öffnung zugezogen wurde. Spilmont rettete ihn, indem er den Mann so lange an den Füßen festhielt, daß dieser die Handschuhe abstreifen konnte. Während beide zu Boden stürzten, wurden die Schreie von unten lauter; Warnungen von oben mischten sich darunter.

» Es öffnet sich!« schrie jemand. »Großer Gott, es öffnet sich!« Grillo war ein Feigling, bis er Schlagzeilen witterte.

Dann war er bereit, sich allem in den Weg zu stellen. Er drängte sich an Hotchkiss und dem Polizisten vorbei, damit er besser sehen konnte, was los war. Niemand hielt ihn auf; alle mußten an ihre eigene Sicherheit denken. Staub stieg aus der klaffenden Öffnung empor und nahm den Männern an den

Seilen, von denen das Leben der Klettergruppe abhing, die Sicht. Vor seinen Augen wurde einer davon auf den Abgrund zugezogen, aus dem Schreie ertönten, die auf ein Massaker hindeuteten. Grillo schrie selbst, als der Boden direkt unter seinen Füßen zu Staub zerfiel. Jemand warf sich an Grillo vorbei in das Wirrwarr und versuchte, den Mann hochzuziehen, aber es war zu spät. Das Seil wurde straff. Er wurde in die Tiefe gerissen, sein Retter, der versagt hatte, lag mit dem Gesicht nach unten am Rand der Spalte. Grillo ging auf den 194

Überlebenden zu, obwohl er kaum sehen konnte, ob er festen Boden unter den Füßen hatte oder nicht. Er spürte das Beben, das sich durch seine Beine und die Wirbelsäule fortpflanzte und seine Gedanken in ein Chaos stürzte. Sein Instinkt reichte aus. Er spreizte die Beine, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, und bückte sich nach dem gestürzten Mann. Es war Hotchkiss, der sich beim Sturz das Gesicht aufgeschlagen und einen benommenen Ausdruck hatte. Grillo schrie seinen Namen. Der Mann antwortete, indem er Grillos ausgestreckten Arm ergriff, während der Boden um sie herum aufbrach.

Jo-Beth und Howie lagen nebeneinander auf dem Bett im Motel. Keiner erwachte, aber beide keuchten und bebten wie Liebende, die gerade vor dem Ertrinken gerettet worden waren.

Beide hatten von Wasser geträumt. Von einem dunklen Meer, das sie beide an einen wunderbaren Ort brachte. Aber ihre Reise war unterbrochen worden. Etwas unter ihren träumenden Wesen griff nach ihnen und zerrte sie aus der einlullenden Flut in einen Schacht der Felsen und Schmerzen hinunter. Um sie herum schrien Männer, während sie in den Tod stürzten - von gehorsamen, schlangengleichen Seilen verfolgt.

Irgendwo in dem Chaos hörten sie einander, jeder schluchzte den Namen des anderen, aber sie hatten keine Zeit für eine Wiedervereinigung, denn ihre Abwärtsbewegung wurde

gebremst, eine aufwärts gerichtete Strömung ergriff sie. Sie war eiskalt; die Fluten eines Flusses, der noch nie die Sonne gesehen hatte, aber jetzt in dem Schacht emporstieg und Tote, Träumer und was immer diesen Alptraum sonst noch

bevölkerte, mit sich hinauftrug.

Grillo und Hotchkiss waren vier Meter von der Spalte entfernt, als das Wasser herausschoß, dessen Wucht ausreichte, sie beide umzureißen, während ein eiskalter Regen herniederfiel. Dieser riß Hotchkiss aus seiner Benommenheit. Er packte Grillos Arm 195

und bellte: »Sehen Sie sich das an!«

In der Sturzflut war etwas Lebendiges. Grillo sah es nur einen winzigen Augenblick lang - eine Gestalt oder Gestalten, die menschlich zu sein schienen, aber in seinem inneren Auge einen völlig anderen Eindruck hinterließen, wie das

Nachglühen eines Feuerwerks. Er schüttelte das Bild ab und sah noch einmal hin. Aber was immer er gesehen hatte, war verschwunden.

»Wir müssen hier weg!« hörte er Hotchkiss rufen. Der

Boden riß immer noch weiter auf. Sie zogen einander in die Höhe, wobei sie versuchten, sich mit den Füßen im Schlamm abzustützen, und liefen blind durch Regen und Staub, und sie wußten erst, daß sie die Absperrung erreicht hatten, als sie über das Seil fielen. Einer der Bergsteiger, dem die halbe Hand fehlte, lag an der Stelle, wo die Flut ihn hingespült hatte.

Jenseits des Seils und der Leiche standen Spilmont und eine Anzahl Polizisten im Schutz der Bäume. Hier fiel der Regen nicht so heftig, er prasselte wie ein milder Sommerregen auf den Baldachin des Laubs, während dahinter der Sturm aus der Erde toste.

Tommy-Ray sah schweißgebadet zur Decke und lachte. So eine Fahrt hatte er seit vorletztem Sommer nicht mehr erlebt, in Topanga, als eine ungewöhnliche Strömung für einen

herrlichen Sog gesorgt hatte. Er und Andy und Sean hatten stundenlang gesurft und waren völlig von der Geschwindigkeit berauscht gewesen.

»Ich bin bereit«, sagte er und wischte sich Salzwasser aus den Augen. »Bereit und willig. Komm her und hol mich, wer immer du sein magst.«

Howie lag zusammengerollt und mit zusammengebissenen

Zähnen auf dem Bett und sah wie tot aus. Jo-Beth wich zurück und biß sich auf die Knöchel, um ihrer Panik Herr zu werden; 196

ihre Worte - Lieber Gott, verzeih mir - waren ein gedämpftes Schluchzen. Sie hatten falsch gehandelt, auch nur auf demselben Bett zu liegen. Es war ein Verbrechen gegen die Gesetze des Herrn, so zu träumen, wie sie geträumt hatte - er nackt an ihrer Seite in einem warmen Meer, wo ihre Haare so ineinander verflochten waren, wie sie es sich auch von ihren Körpern wünschte -, und was hatte der Traum gebracht?

Katastrophen! Blut, Felsen und einen schrecklichen Regen, der ihn im Schlaf getötet hatte!

Lieber Gott, verzeih mir...

Er schlug die Augen so plötzlich auf, daß sie ihr Gebet vergaß. Statt dessen rief sie seinen Namen.

»Howie? Du lebst.«

Er befreite sich aus dem Laken und griff nach der Brille neben dem Bett. Er setzte sie auf. Nun konnte er ihren Schrecken deutlich sehen.

»Du hast es auch geträumt«, sagte er.

»Es war nicht wie ein Traum. Es war echt.« Sie zitterte von Kopf bis Fuß. »Was haben wir getan, Howie?«

»Nichts«, sagte er und räusperte sich. »Wir haben nichts getan.«

»Mama hatte recht. Ich hätte nicht...«

»Hör auf«, sagte er, schwang die Beine über den Bettrand und stand auf. »Wir haben nichts Unrechtes getan.«

»Was war das dann?« fragte sie.

»Ein böser Traum.«

»Von uns beiden?«

»Vielleicht war es nicht derselbe«, sagte er in der Hoffnung, sie zu beruhigen.

»Ich schwamm neben dir. Dann war ich unter der Erde.

Männer haben geschrien...«

»Schon gut...«, sagte er.

»Es war derselbe.«

»Ja.«

197

»Siehst du?« sagte sie. »Was zwischen uns ist... ist falsch.

Vielleicht ist es das Werk des Teufels.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Ich weiß nicht, was ich glaube«, sagte sie. Er kam auf sie zu, aber sie hielt ihn mit einer Geste auf Distanz. »Nicht, Howie. Es ist nicht richtig. Wir sollten einander nicht berühren.« Sie ging zur Tür. »Ich muß gehen.«

»Das ist... ist... ist... absurd«, sagte er, aber seine stotternden Worte konnten sie nicht von ihrem Entschluß abbringen. Sie machte sich bereits am Riegel zu schaffen, den er

vorgeschoben hatte, als sie eingetreten war.

»Ich verstehe«, sagte er und beugte sich an ihr vorbei, um die Tür aufzumachen. Da ihm keine tröstenden Worte

einfielen, schwieg er, und sie sagte nur: »Lebwohl.«

»Du läßt uns keine Zeit, das zu überdenken.«

»Ich habe Angst, Howie«, sagte sie. »Du hast recht, ich glaube nicht, daß der Teufel etwas damit zu tun hat. Aber wenn er nicht, wer dann? Weißt du darauf eine Antwort?«

Sie konnte ihre Gefühle kaum im Zaum halten; sie sog Luft ein, als würde sie schlucken, was ihr nicht zu gelingen schien.

Der Anblick ihrer Angst weckte den Wunsch in ihm, sie zu be-rühren; aber was gestern abend gewünscht worden war, war heute verboten.

»Nein«, sagte er ihr. »Keine Antwort.«

Sie griff das Stichwort seiner Antwort auf und ließ ihn unter der Tür stehen. Er sah ihr nach und zählte dabei bis fünf; blieb stehen und ließ sie gehen, obwohl er wußte: Was zwischen ihnen geschehen war, war wichtiger als alles, was er in den achtzehn Jahren erlebt hatte, die er die Luft dieses Planeten atmete. Bei fünf machte er die Tür zu.

198

Vierter Teil

Entscheidende Augenblicke

I

Grillo hatte Abernethy noch nie glücklicher erlebt. Der Mann johlte förmlich, als Grillo ihm erklärte, daß die Buddy-Vance-Story eine Wendung zum Katastrophalen genommen hatte und er dort gewesen war und alles selbst miterlebt hatte.

»Fangen Sie an zu schreiben!« sagte er. »Nehmen Sie sich ein Zimmer in der Stadt - auf meine Kosten -, und fangen Sie an zu schreiben! Ich halte die Titelseite frei.« Falls Abernethy Grillo mit Klischees aus B-Filmen beeindrucken wollte - das klappte nicht. Die Ereignisse bei der Höhle hatten ihn erschöpft. Aber der Vorschlag, er sollte sich ein Zimmer nehmen, war gut. Seine Kleidung war zwar in der Bar

getrocknet, wo er und Hotchkiss Spilmont Bericht erstattet hatten, aber er fühlte sich schmutzig und ausgelaugt.

»Was ist mit diesem Hotchkiss?« sagte Abernethy. »Wie sieht seine Geschichte aus?«

»Ich weiß nicht.«

»Finden Sie es heraus. Und beschaffen Sie mir mehr Hinter-grundmaterial über Vance. Waren Sie schon in seinem Haus?«

»Lassen Sie mir Zeit.«

»Sie sind vor Ort«, sagte Abernethy. »Es ist Ihre Geschichte.

Bleiben Sie dran.«

Er rächte sich, wenn auch nur bescheiden, an Abernethy, indem er das teuerste Zimmer nahm, das das Hotel Palomo in Stillbrook Village zu bieten hatte, sich Champagner und Tatar bestellte und dem Kellner ein so fürstliches Trinkgeld gab, daß der Mann ihn fragte, ob er sich nicht geirrt hatte. Der Alkohol machte ihn beschwingt; seine Lieblingsstimmung, um Tesla anzurufen. Sie war nicht da. Er hinterließ eine Nachricht mit 199

seinem derzeitigen Aufenthaltsort. Dann schlug er die Nummer von Hotchkiss im Telefonbuch nach und rief ihn an. Er hatte gehört, wie der Mann Spilmont ihre Erlebnisse geschildert hatte. Was sie aus der Spalte hatten kommen sehen, war nicht erwähnt worden. Grillo hatte es ebenfalls für sich behalten, und daß Spilmont keine Fragen stellte, sprach dafür, daß niemand so nahe an der Grube gewesen war, um etwas zu sehen. Er wollte seine Unterlagen mit Hotchkiss abgleichen, zog aber eine Niete. Hotchkiss war entweder nicht zu Hause oder ging nicht ans Telefon.

Da in dieser Richtung nichts zu machen war, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf das Haus von Vance. Es war fast neun Uhr abends, aber es konnte nicht schaden, wenn er den Hügel hinaufschlenderte und sich das Anwesen des Toten ansah. Vielleicht gelang es ihm sogar, sich

hineinzuschmeicheln, wenn der Champagner seine Zunge nicht zu schwer gemacht hatte. In gewisser Hinsicht war der Zeitpunkt nicht schlecht gewählt. Heute morgen war Vance der Brennpunkt der Ereignisse im Grove gewesen. Falls seine Verwandten danach lechzten, im Rampenlicht zu stehen - und wer tat das nicht? -, konnten sie sich Zeit lassen und überlegen, wem sie ihre Geschichte am liebsten erzählen wollten. Jetzt stand Vance' Ableben im Schatten einer neueren und größeren Tragödie. Vielleicht würden die trauernden Hinterbliebenen bereitwilliger reden, als sie es heute nachmittag getan haben würden.

Er bedauerte seine Entscheidung, zu Fuß zu gehen. Der Hügel war steiler, als er von unten aussah, und obendrein schlecht beleuchtet. Doch gab es dafür auch einen Ausgleich.

Er hatte die Straße ganz für sich allein und konnte den Gehweg verlassen, mitten auf der Straße gehen und den Sternenhimmel bewundern.

Vance' Anwesen war nicht schwer zu finden. Die Straße hörte am Tor auf. Nach Coney Eye gab es nur noch Himmel.

200

Das Haupttor war unbewacht, aber verschlossen. Doch durch ein Seitentor gelangte er zu einem Weg, der durch einen Säulengang wildwuchernden Immergrüns, das abwechselnd mit grünem, gelbem und rotem Licht angestrahlt wurde, zum Haus selbst führte. Dieses war riesig und vollkommen

eigentümlich; ein Palast, der der Ästhetik des Grove in jeder nur erdenklichen Hinsicht spottete. Keine Spur vom Pseudo-Mediterranen, dem Ranch-Stil, dem spanischen Stil, dem nachgeahmten Tudor oder dem modernen Kolonialstil. Das ganze Haus sah wie eine Jahrmarktsbude aus; die Fassade war in denselben Primärfarben gestrichen, die auch die Bäume anstrahlten, die Fenster von Lichterketten umgeben, die momentan abgeschaltet waren. Coney Eye, wurde Grillo jetzt klar, war ein kleines Stück der Insel; Vance' Hommage an den Karneval. Drinnen brannten Lichter. Er klopfte, weil er sich bewußt war, daß er von Kameras über der Tür beobachtet wurde. Eine Frau orientalischer Herkunft - möglicherweise Vietnamesin - machte auf und informierte ihn, daß Mrs. Vance tatsächlich zu Hause war. Wenn er in der Diele warten wollte, sagte sie ihm, würde sie nachsehen, ob die Hausherrin zu sprechen sei. Grillo dankte ihr und wartete, während sich die Frau nach oben begab.

Wie außen, so innen: ein Tempel des Spaßes. Jeder

Zentimeter der Diele war mit Bildern aller möglichen

Jahrmarktsattraktionen behängt: leuchtend bunte Werbeplakate für Liebestunnel, Geisterbahnen, Karussells,

Kuriositätenkabinette, Ringen, Achterbahnen und mystische Schaukeln. Die Ausführung war größtenteils ungeschlacht - die Arbeit von Künstlern, die genau wußten, daß sie ihre Kunst in den Dienst des Rummels gestellt hatten, was Unsterblichkeit ausschloß. Eingehende Betrachtung schmeichelte den

Abbildungen nicht; ihre bunte Auffälligkeit sollte besser im Strom einer Menschenmenge bewundert werden, nicht unter einem Scheinwerfer. Das hatte auch Vance gewußt. Darum 201

hatte er die Bilder so dicht nebeneinander gehängt, damit das Auge schnellstmöglich von einem zum nächsten gezogen

wurde und nicht zu lange auf Einzelheiten verweilen konnte.

Die Ausstellung, so vulgär sie war, brachte Grillo zum Lächeln, was zweifellos Vance' Absicht gewesen war, ein Lächeln, das verschwand, als Rochelle Vance oben auf der Treppe erschien und langsam herunterkam.

Er hatte in seinem ganzen Leben noch kein makelloseres Gesicht gesehen. Er rechnete bei jedem Schritt, den sie näher kam, damit, daß er einen Makel finden würde, aber er fand keinen. Er vermutete, daß sie karibischer Herkunft war, denn ihre dunklen Züge waren sanft. Sie hatte das Haar straff zurückgekämmt, was die Stirn und die symmetrischen Brauen betonte. Sie trug keinen Schmuck und nur ein schlichtes schwarzes Kleid.

»Mr. Grillo«, sagte sie. »Ich bin Buddys Witwe.« Das Wort hätte trotz der Farbe ihres Kleides nicht unangebrachter sein können. Dies war keine Frau, die von einem tränendurchnäßten Kissen aufgestanden war. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

fragte sie.

»Ich bin Journalist...«

»Das hat Ellen mir gesagt.«

»Ich wollte mich nach Ihrem Mann erkundigen.«

»Es ist etwas spät.«

»Ich war fast den ganzen Nachmittag über im Wald.«

»O ja«, sagte sie. »Sie sind der Mr. Grillo.«

»Pardon?«

»Einer der Polizisten...« Sie wandte sich an Ellen. »Wie hieß er?«

»Spilmont.«

»Spilmont. Er war hier und informierte mich, was geschehen ist. Er erwähnte Ihren großen Heldenmut.«

»So groß war er gar nicht.«

»Ausreichend, daß Sie sich eine nächtliche Ruhe verdient 202

hätten«, sagte sie. »Anstatt zu arbeiten.«

»Ich hätte gerne die Story.«

»Ja. Nun, kommen Sie herein.«

Ellen machte eine Tür links in der Diele auf. Während Rochelle Grillo hineinbegleitete, legte sie die Grundregeln fest.

»Ich werde Ihre Fragen so gut ich kann beantworten, so lange sie Buddys Beruf betreffen.« Sie sprach ohne Akzent.

Möglicherweise eine europäische Ausbildung? »Ich weiß nichts über seine anderen Frauen, also sparen Sie sich die Mühe. Und ich werde auch nicht über seine Süchte spekulie-ren. Möchten Sie Kaffee?«

»Das wäre mir sehr recht«, sagte Grillo und stellte fest, daß ihm wieder passierte, was so oft bei Interviews vorkam: daß er den Tonfall seines Gesprächspartners nachahmte.

»Kaffee für Mr. Grillo, Ellen«, sagte Rochelle und bat ihren Gast, sich zu setzen. »Und Wasser für mich.«

Das Zimmer, das sie betreten hatten, ging über die ganze Länge des Hauses und war zwei Stockwerke hoch; das zweite wurde von einer Galerie gebildet, die an allen vier Wänden verlief. Auch diese waren, wie in der Diele, ein gemaltes Tohuwabohu. Einladungen, Verführungen und Warnungen

rangen um seine Aufmerksamkeit. ›Die Fahrt Ihres Lebens!‹

verkündete ein Plakat bescheiden. ›Soviel Spaß, wie Sie aushalten können!‹ verkündete ein anderes, ›und noch mehr!‹

»Das ist nur ein Teil von Buddys Sammlung«, sagte

Rochelle. »In New York hat er noch mehr. Ich glaube, es ist die größte private Sammlung.«

»Ich wußte nicht, daß überhaupt jemand so etwas sammelt.«

»Buddy hat es die wahre Kunst Amerikas genannt. Was einiges sagt...« Sie verstummte; ihr Mißfallen an dem grellbunten Sammelsurium war offensichtlich. Der Ausdruck hatte auf diesem Gesicht, das keinerlei gestalterische Makel aufwies, einigen Nachdruck.

»Ich nehme an, Sie werden die Sammlung veräußern«, sagte 203

Grillo.

»Das kommt auf das Testament an«, sagte sie. »Möglicherweise gehört sie gar nicht mir; dann kann ich sie auch nicht verkaufen.«

»Sie verbinden keinerlei sentimentale Erinnerungen damit?«

»Ich schätze, das gehört in die Rubrik Privatleben«, sagte sie.

»Ja. Schätze schon.«

»Aber ich bin sicher, Buddys Besessenheit war harmlos.«

Sie stand auf und drückte einen Schalter zwischen zwei Plakaten einer Geisterbahn. Hinter der Glaswand am anderen Ende des Zimmers gingen bunte Lichter an. »Gestatten Sie, daß ich Ihnen alles zeige«, sagte sie, schritt durch das Zimmer und in das Durcheinander der Farben hinaus. Hier waren Stücke versammelt, die so groß waren, daß sie nicht in das Haus paßten. Ein etwa vier Meter hohes geschnitztes Gesicht, dessen gähnendes Maul mit seinen spitzen Zähnen der Eingang zu einer Bude gewesen war. Eine Reklame für die ›Mauer des Todes‹ - was mit Glühbirnen geschrieben war. Eine

lebensgroße Relieflokomotive, die von Skeletten gefahren wurde und aus einem Tunnel herauszukommen schien.

»Mein Gott.« Mehr brachte Grillo nicht heraus.

»Jetzt wissen Sie, warum ich ihn verlassen habe«, sagte Rochelle.

»Das war mir nicht klar«, sagte Grillo. »Sie wohnten nicht hier?«

»Ich habe es versucht«, sagte sie. »Aber sehen Sie sich doch um. Es ist wie ein Spaziergang in Buddys Verstand. Er drückte allem seinen Stempel auf. Jedem. Hier war kein Platz für mich.

Es sei denn, ich wäre bereit gewesen, nach seiner Pfeife zu tanzen.«

Sie sah das riesige Maul an. »Häßlich«, sagte sie. »Finden Sie nicht auch?«

»Ich bin kein Kritiker«, sagte Grillo.

204

»Stößt es Sie nicht ab?«

»Vielleicht, wenn ich einen Kater hätte.«

»Er sagte mir immer, ich hätte keinen Sinn für Humor«, sagte sie. »Weil ich dieses Zeug nicht... amüsant finde.

Tatsache ist, ich fand auch ihn nicht sehr amüsant. Als Liebhaber, ja, da war er großartig. Aber komisch? Nein.«

»Ist das alles inoffiziell?« fragte Grillo.

»Spielt es eine Rolle, wenn ich das sage? Ich hatte soviel schlechte Publicity in meinem Leben, um zu wissen, daß Sie einen Scheißdreck auf meine Privatsphäre geben.«

»Aber Sie erzählen es mir trotzdem.«

Sie wandte sich von dem Maul ab und sah ihn an. »Ja.«

Pause. Dann sagte sie: »Mir ist kalt«, und ging wieder nach drinnen. Ellen schenkte gerade Kaffee ein.

»Lassen Sie«, befahl Rochelle. »Das mache ich selbst.«

Die Vietnamesin verweilte einen Sekundenbruchteil zu lange für eine gehorsame Hausangestellte unter der Tür, ehe sie hinausging.

»Das ist die Story von Buddy Vance«, sagte Rochelle.

»Frauen, Reichtum und Jahrmarkt. Ich fürchte, es gibt nicht schrecklich viel Neues.«

»Wissen Sie, ob er eine Vorahnung hatte?« fragte Grillo, als sie sich wieder gesetzt hatten.

»Zu sterben? Das bezweifle ich. Er dachte normalerweise nicht an solche Sachen. Sahne?«

»Ja, bitte. Und Zucker.«

»Bedienen Sie sich. Würden Ihre Leser so etwas gerne

hören? Daß Buddy seinen Tod im Traum vorhergesehen hat?«

»Es sind schon seltsamere Dinge geschehen«, sagte Grillo, dessen Gedanken unweigerlich wieder zu der Spalte und was daraus hervorgekommen war abschweiften.

»Das glaube ich nicht«, antwortete Rochelle. »Ich sehe nicht viele Zeichen von Wundern. Nicht mehr.« Sie machte die Lichter draußen aus. »Als ich ein Kind war, hat mir mein 205

Großvater beigebracht, andere Kinder zu beeinflussen.«

»Wie?«

»Indem ich einfach daran dachte. Er selbst hatte das sein ganzes Leben lang getan, und er gab es an mich weiter. Es war ganz leicht. Ich konnte Kinder dazu bringen, ihr Eis fallen zu lassen. Sie grundlos zum Lachen bringen. Ich fand nichts dabei. Damals gab es noch Wunder. Sie warteten um die Ecke.

Aber ich habe den Dreh verloren. Wir verlieren ihn alle. Alles verändert sich zum Schlechteren.«

»So schlimm kann Ihr Leben nicht sein«, sagte Grillo. »Ich weiß, Sie trauern...«

»Scheiß auf meinen Kummer«, sagte sie plötzlich. »Er ist tot, und ich bin hier und warte auf seinen letzten Witz.«

»Das Testament?«