»Wir müssen miteinander reden. Es geht um Leben und Tod.

Nein... um mehr als Leben und Tod.«

»Was hast du nur angestellt?« sagte sie. »Sieh nur deine Hand an.«

Seine Versuche, die Hand zu säubern, waren bestenfalls oberflächlich gewesen, weil er so zimperlich war und die Rindenstücke kaum aus dem Fleisch ziehen konnte.

»Das gehört alles dazu«, sagte er. »Wenn du schon nicht herauskommen willst, dann laß mich rein.«

»Ich kann nicht.«

»Bitte. Laß mich rein.«

Gab sie wegen seiner Verletzung oder wegen seiner Worte nach? Wie auch immer, sie machte die Tür auf. Er wollte sie in die Arme nehmen, aber sie schüttelte mit einem so entsetzten Gesichtsausdruck den Kopf, daß er zurückwich.

»Geh nach oben«, sagte sie, und jetzt flüsterte sie nicht einmal mehr, sondern hauchte die Worte nur noch.

»Wohin?« erwiderte er.

»Zweite Tür links«, sagte sie und war gezwungen, bei dieser 298

Anweisung etwas lauter zu sprechen. »Mein Zimmer. Rosa Tür. Warte, bis ich das Essen hineingebracht habe.«

Er hätte sie so gerne geküßt. Aber er ließ sie mit ihren Vorbereitungen weitermachen. Sie ging mit einem Blick in seine Richtung ins Wohnzimmer. Howie hörte einen

Willkommensgruß von dem Besucher, was er als sein

Stichwort nahm, aus der Küche zu schlüpfen. Es folgte ein Augenblick der Gefahr, als er - von der Wohnzimmertür aus sichtbar - zögerte, bis er die Treppe fand. Dann ging er hinauf und hoffte, das Gespräch unten würde seine Schritte übertönen.

Der Rhythmus des Gesprächs änderte sich nicht. Er kam ohne Zwischenfälle zur rosa Tür und suchte Zuflucht dahinter.

Jo-Beths Schlafzimmer! Er hätte nie zu hoffen gewagt, daß er einmal hier stehen würde, inmitten dieser Pastellfarben, und das Bett sehen würde, wo sie schlief, das Handtuch, mit dem sie sich nach dem Duschen abtrocknete, und ihre Unterwäsche.

Als sie schließlich die Treppe heraufkam und hinter ihm das Zimmer betrat, kam er sich wie ein Dieb vor, der beim Stehlen erwischt worden ist. Sie spürte seine Verlegenheit wie eine fiebrige Krankheit und vermied es, ihm in die Augen zu sehen.

»Es ist so durcheinander«, sagte sie leise.

»Schon gut«, sagte er. »Du hast mich nicht erwartet.«

»Nein.« Sie traf keinerlei Anstalten, ihn zu umarmen. Sie lä-

chelte nicht einmal. »Mama würde durchdrehen, wenn sie wüßte, daß du hier bist. Sie hat immer recht gehabt, wenn sie sagte, daß im Grove schreckliche Dinge vor sich gehen.

Gestern nacht war etwas hier, Howie. Um mich und Tommy-Ray zu holen.«

»Der Jaff?«

»Du kennst ihn?«

»Auch zu mir ist etwas gekommen. Oder besser gesagt, hat mich zu sich gerufen. Er heißt Fletcher. Er sagt, er ist mein Vater.«

»Glaubst du ihm?«

299

»Ja«, sagte Howie. »Ich glaube ihm.«

Jo-Beths Augen füllten sich mit Tränen. »Nicht weinen«, sagte er. »Begreifst du nicht, was das bedeutet? Wir sind nicht Bruder und Schwester. Was zwischen uns ist, ist nicht falsch.«

»Nur weil wir zusammenwaren, ist das alles passiert«, sagte sie. »Ist dir das nicht klar? Wenn wir einander nicht kennengelernt hätten...«

»Haben wir aber.«

»Wenn wir einander nicht kennengelernt hätten, wären sie nie von dort unten, wo sie waren, heraufgekommen.«

»Ist es nicht besser, wenn wir die Wahrheit über sie wissen -

über uns selbst? Ihr verdammter Krieg ist mir scheißegal. Und ich werde nicht zulassen, daß er uns auseinanderbringt.«

Er ergriff mit der unverletzten linken Hand ihre rechte. Sie wehrte sich nicht und ließ sich von seinem sanften Druck näher ziehen. »Wir müssen Palomo Grove verlassen«, sagte er. »Zusammen. Irgendwohin, wo sie uns nicht finden können.«

»Was ist mit Mama? Tommy-Ray ist fort, Howie. Das hat sie selbst gesagt. Sie hat nur noch mich.«

»Was kannst du ihr nützen, wenn dich der Jaff bekommt?«

argumentierte Howie. »Wenn wir jetzt gehen, haben unsere Väter nichts mehr, weswegen sie kämpfen können.«

»Es geht nicht nur um uns«, erinnerte Jo-Beth ihn.

»Nein, du hast recht«, gestand er und erinnerte sich, was ihm Fletcher gesagt hatte. »Es geht um diesen Ort der Essenz.« Er hielt ihre Hand fester. »Wir waren dort, du und ich. Fast. Ich will diese Reise zu Ende bringen...«

»Ich verstehe nicht.«

»Das wirst du. Wenn wir gehen, werden wir wissen, was für eine Reise es ist. Es wird wie ein Wachtraum sein.« Beim Sprechen fiel ihm auf, daß er nicht einmal gestottert hatte.

»Wir sollen einander hassen, weißt du? Das war ihr Plan -

Fletchers und des Jaff -, daß wir ihren Krieg fortsetzen. Aber das werden wir nicht.«

300

Sie lächelte zum ersten Mal.

»Nein, das werden wir nicht«, sagte sie.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Ich liebe dich, Jo-Beth.«

»Howie...«

»Du kannst mich nicht mehr hindern. Ich habe es schon gesagt.«

Sie küßte ihn plötzlich, eine knappe, liebliche Bewegung, und er zog sie an seinen Mund, ehe sie zurückweichen konnte, und öffnete das Siegel ihrer Lippen mit der Zunge, die in diesem Augenblick einen Tresor geöffnet hätte, wäre der Geschmack ihres Mundes darin eingeschlossen gewesen. Sie drängte sich mit einer Kraft, die seiner gleichkam, gegen ihn; ihre Zähne berührten einander, ihre Zungen spielten Tauziehen.

Ihre linke Hand, die sie um ihn gelegt hatte, berührte seine verletzte rechte und zog sie an sich. Er konnte ihre Brust trotz des keuschen Kleides und seiner tauben Finger spüren. Er machte sich an den Knöpfen an ihrem Rücken zu schaffen und knöpfte sie so weit auf, daß er seine Haut auf ihre pressen konnte. Sie lächelte an seinen Lippen, und ihre Hand, die ihn dorthin geleitet hatte, wo er ihr wohltun konnte, wanderte zur Vorderseite seiner Jeans. Der Ständer, den er bekommen hatte, als er ihr Bett sah, war vergangen - auf Geheiß der Nerven.

Aber ihre Berührung und ihre Küsse, die mittlerweile zu einer ununterscheidbaren Verschmelzung zweier Münder geworden waren, richteten ihn wieder auf.

»Ich will nackt sein«, sagte er.

Sie nahm die Lippen von seinen.

»Obwohl sie unten sind?« sagte sie.

»Sie sind beschäftigt, nicht?«

»Sie werden stundenlang reden.«

»Wir werden stundenlang brauchen«, flüsterte er.

»Hast du einen... Schutz?«

301

»Wir müssen nichts machen. Ich will nur, daß wir einander anständig berühren können. Haut an Haut.«

Sie sah nicht überzeugt aus, als sie von ihm zurücktrat, aber ihr Handeln strafte ihren Gesichtsausdruck Lügen, denn sie knöpfte das Kleid weiter auf. Er machte sich daran, Jacke und T-Shirt auszuziehen; dann kam die schwierige Aufgabe, den Gürtel der Jeans mit einer praktisch nutzlosen Hand

aufzumachen. Sie kam ihm zu Hilfe und machte es für ihn.

»Es ist heiß hier«, sagte er. »Kann ich ein Fenster

aufmachen?«

»Mama hat alle verriegelt. Damit der Teufel nicht herein kann.«

»Ist er schon«, witzelte Howie.

Sie sah zu ihm auf; ihr Kleid war offen, die Brüste entblößt.

»Sag das nicht«, sagte sie. Ihre Hände bedeckten

unwillkürlich ihre Nacktheit.

»Du glaubst doch nicht, daß ich der Teufel bin«, sagte er, »...

oder doch?«

»Ich weiß nicht, ob etwas, das mir so... so...«

»Sag es.«

»... so verboten vorkommt... gut für meine Seele sein kann«, antwortete sie vollkommen ernst.

»Wirst schon sehen«, sagte er und kam auf sie zu. »Ich verspreche es dir. Wirst schon sehen.«

»Ich glaube, ich sollte mit Jo-Beth sprechen«, sagte Pastor John. Er hatte aufgehört, Mrs. McGuire geduldig zuzuhören, als sie anfing, von der Bestie zu sprechen, die sie vor vielen Jahren vergewaltigt hatte und die jetzt angeblich

zurückgekommen war und ihren Sohn mitgenommen hatte.

Über Abstraktionen zu beten, war eines - das trieb die weiblichen Anhänger scharenweise zu ihm -, aber wenn das Gespräch eine Wendung zum Wahnsinnigen nahm, war ein

diplomatischer Rückzug angebracht. Mrs. McGuire stand 302

eindeutig kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Er brauchte eine Anstandsdame, sonst fing sie vielleicht an, alle möglichen Arten überhitzten Wahnsinns von sich zu geben. So etwas war schon vorgekommen. Er wäre nicht der erste Mann Gottes, der einer Frau im gewissen Alter zum Opfer fiel.

»Ich will nicht, daß Jo-Beth mehr als ohnedies schon über die ganze Sache nachdenkt«, lautete die Antwort. »Die Kreatur, die sie in mir gezeugt hat...«

»Ihr Vater war ein Mensch, Mrs. McGuire.«

»Das weiß ich«, sagte sie, und die Herablassung in seiner Stimme entging ihr nicht. »Aber Menschen bestehen aus Fleisch und Seele.«

»Gewiß.«

»Der Mann hat ihr Fleisch gemacht. Und wer hat ihre Seele gemacht?«

»Gott im Himmel«, sagte er und war dankbar, daß sie sich wieder auf sicherem Boden bewegten. »Und Er hat auch ihr Fleisch gemacht - durch den Mann Ihrer Wahl. Möget ihr deshalb vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. «

»Es war nicht Gott«, antwortete Joyce. »Das weiß ich genau.

Der Jaff ist nicht Gott. Sie sollten ihn sehen. Dann würden Sie es verstehen.«

»Wenn er existiert, dann ist er ein Mensch, Mrs. McGuire.

Und ich glaube, ich sollte mit Jo-Beth über seinen Besuch sprechen, wenn er tatsächlich hier war.«

»Er war hier!« sagte sie zunehmend aufgeregter.

Er stand auf und entfernte die Hand der Wahnsinnigen von seinem Ärmel.

»Ich bin sicher, Jo-Beth hat ein paar wertvolle Einsichten...«, sagte er und wich einen Schritt zurück. »Ich werde sie holen.«

»Sie glauben mir nicht«, sagte Joyce. Sie schrie beinahe und war den Tränen nahe.

»Aber sicher! Trotzdem... lassen Sie mich einen Moment mit 303

Jo-Beth reden. Ist sie oben? Ich glaube schon. Jo-Beth! Bist du da? Jo-Beth?«

»Was will er denn?« sagte sie und unterbrach ihren Kuß.

»Achte nicht auf ihn«, sagte Howie.

»Und wenn er kommt, um nach mir zu sehen?«

Sie stand auf, schwang die Beine über den Bettrand und lauschte den Schritten des Pastors auf der Treppe. Howie drückte das Gesicht gegen ihren Rücken, griff unter ihrer Achsel hindurch - seine Hand wurde feucht von

herabrinnenden Schweißtröpfchen - und berührte sanft ihre Brust. Sie gab ein leises, beinahe resigniertes Seufzen von sich.

»Wir dürfen nicht...«, murmelte sie.

»Er kommt nicht herein.«

»Ich höre ihn.«

»Nein.«

»Doch«, zischte sie.

Wieder der Ruf von unten: »Jo-Beth! Ich hätte gerne einmal mit dir gesprochen. Und deine Mutter auch.«

»Ich muß mich anziehen«, sagte sie. Sie kramte ihre Kleidungsstücke zusammen. Während er sie beobachtete, ging Howie ein erfreulich perverser Gedanke durch den Kopf: daß sie in ihrer Eile seine Unterwäsche anzog statt ihrer und umgekehrt. Seinen Schwanz in von ihrer Fotze geheiligten, parfümierten, befeuchteten Stoff zu schieben, würde ihn in dem Zustand halten, in dem er war: so steif, daß es weh tat, und zwar bis zum Jüngsten Tag.

Und würde sie nicht geil aussehen, wenn man ihren Schlitz hinter dem Schlitz seiner Unterhose erahnen konnte? Nächstes Mal, versprach er sich. Von nun an würde es kein Zögern mehr geben. Sie hatte den Desperado in ihr Bett gelassen. Obwohl sie nur die Körper aneinander gepreßt hatten, hatte diese Einladung alles verändert, was zwischen ihnen war. So frustrierend es war, ihr beim Anziehen zuzusehen, nachdem sie 304

sich gerade erst ausgezogen hatten, die Tatsache, daß sie nackt zusammengewesen waren, reichte als Erinnerung aus.

Er hob Jeans und T-Shirt auf und sah ihr zu, wie sie ihm zusah, wie er die Maschine bekleidete.

Er dachte über den Gedanken nach und veränderte ihn. Knochen und Muskeln, die er bewohnte, waren keine Maschinen.

Sie waren ein Körper, und der war empfindlich. Seine Hand tat weh; sein Ständer tat weh; sein Herz tat weh, jedenfalls vermittelte ihm ein Druck in der Brust das Gefühl von Herzschmerzen. Er war zu zart für eine Maschine und wurde zu sehr geliebt.

Sie hielt einen Augenblick inne mit dem, was sie tat, und sah zum Fenster.

»Hast du das gehört?« sagte sie.

»Nein. Was?«

»Jemand hat gerufen.«

»Der Pastor?«

Sie schüttelte den Kopf, als ihr klarwurde, daß die Stimme, die sie gehört hatte - und noch hörte - nicht vor dem Haus oder dem Zimmer war, sondern in ihrem Kopf.

»Der Jaff«, sagte sie.

Von Protesten ausgelaugt, ging Pastor John zur Spüle, nahm ein Glas, drehte den Wasserhahn auf, bis das Wasser kalt floß, füllte das Glas und trank. Es war fast zehn. Zeit, diesen Besuch zu beenden, ob er die Tochter gesehen hatte oder nicht. Er hatte so viel über die Dunkelheit in der menschlichen Seele geredet, daß er fürs erste genug hatte. Er schüttete den Rest Wasser aus, sah auf und erblickte sein Spiegelbild im Glas. Während er noch selbstverliebt und bewundernd hinsah, bewegte sich draußen etwas in der Nacht. Er legte das Glas in die Spüle.

Dort rollte es auf dem Rand hin und her.

»Pastor?«

Joyce McGuire tauchte hinter ihm auf.

305

»Schon gut«, sagte er, war aber nicht sicher, wen er damit beruhigen wollte. Die Frau hatte ihm mit ihren albernen Hirngespinsten ganz durcheinandergebracht. Er sah wieder zum Fenster hinaus.

»Ich habe gedacht, ich hätte jemand in Ihrem Garten

gesehen«, sagte er. »Aber da ist niemand...«

Da! Da! Eine blasse, verschwommene Masse kam auf das Haus zu.

»Nein, ist es nicht«, sagte er.

»Was nicht?«

»Es ist nicht gut«, antwortete er und wich einen Schritt von der Spüle zurück. »Es ist überhaupt nicht gut.«

»Er ist zurückgekommen«, sagte Joyce.

Als allerletzte Antwort auf der Welt wollte er ja sagen, daher blieb er still, wich noch einen Schritt vom Fenster zurück, dann noch einen, und schüttelte verneinend den Kopf. Es sah seinen Trotz. Er sah, daß es ihn sah. Es kam begierig, seine Hoffnung zunichte zu machen, aus dem Schatten und machte seine Erscheinung deutlich.

»Allmächtiger Gott«, sagte er. » Was ist das?«

Er hörte, wie Joyce McGuire hinter ihm zu beten anfing.

Nichts Vorgefertigtes - wer würde ein Gebet in Erwartung von so etwas schreiben? -, sondern ein Strom von Fürbitten.

»Jesus hilf uns! Herr, hilf uns! Bewahre uns vor Satan! Bewahre uns vor den Gottlosen!«

»Hör doch!« sagte Jo-Beth. »Das ist Mama.«

»Ich höre es.«

»Etwas stimmt nicht!«

Als sie durchs Zimmer ging, sprang Howie an ihr vorbei und stellte sich mit dem Rücken vor die Tür.

»Sie betet nur.«

»Aber anders als sonst.«

»Küß mich.«

»Howie?«

306

»Wenn sie betet, ist sie beschäftigt. Wenn sie beschäftigt ist, kann sie warten. Ich nicht. Ich habe keine Gebete, Jo-Beth. Ich habe nur dich.« Dieser Wortschwall überraschte ihn selbst, noch während er ihn aussprach. »Küß mich, Jo-Beth.«

Als sie sich zu ihm beugte, um genau das zu tun, zerschellte das Fenster unten, und Mamas Gast stieß einen Schrei aus, bei dem Jo-Beth Howie beiseite stieß und die Tür aufriß.

»Mama!« rief sie. »Mama!«

Manchmal irrte sich ein Mensch. Da er in Unwissenheit geboren wurde, war das unvermeidlich. Aber durch diese Unwissenheit zu sterben, obendrein auf brutale Weise, schien unfair zu sein. Pastor John hielt sich das blutige Gesicht und empfand ein halbes Dutzend ähnlicher Beschwerden, während er durch die Küche kroch - so weit von dem zertrümmerten Fenster und dem, was es zertrümmert hatte, weg, wie ihn seine zitternden Glieder trugen. Wie war es möglich, daß er in so eine verzweifelte Lage gekommen war? Sein Leben war nicht völlig frei von Schuld, aber seine Sünden waren keineswegs groß, und er hatte dem Herrn Abbitte geleistet. Er hatte die Vaterlosen und Witwen in der Stunde ihrer Not besucht, wie es das Evangelium gebot, er hatte sein Möglichstes getan, sich nicht von der Welt beflecken zu lassen. Dennoch kamen die Dämonen zu ihm. Er hörte sie, aber er hatte die Augen zugemacht. Ihre Myriaden Beine erzeugten ein Tohuwabohu, als sie über den Fenstersims, die Spüle und das dort gestapelte Geschirr kamen. Er hörte ihre feuchten Körper auf die Bodenkacheln klatschen, als ihre Massen den Boden

überfluteten und sich darauf ausbreiteten - auf Geheiß der Gestalt, die er draußen erblickte (Der Jaff! Der Jaff!), die sie an ihrem Körper getragen hatte wie ein Imker, der zu sehr in seine Bienen verliebt ist.

Mrs. McGuire hatte aufgehört zu beten. Vielleicht war sie tot; das erste Opfer. Und vielleicht würde ihnen das genügen, 307

so daß sie ihn verschonten. Das war ein Gebet, für das es sich lohnte, nach Worten zu suchen. Bitte, lieber Gott, murmelte er und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Bitte, lieber Gott, mach sie blind, damit sie mich nicht sehen, taub, damit sie mich nicht hören, nur Du allein sollst mein Flehen hören und verzeihend auf mich herunterblicken. Welt ohne Ende...

Seine Bitte wurde von einem heftigen Klopfen an der Hintertür unterbrochen, dann wurde die Stimme von Tommy-Ray, dem verlorenen Sohn, laut.

»Mama? Kannst du mich hören? Mama? Laß mich rein, ja?

Laß mich rein, ich schwöre, ich halte sie auf. Ich schwöre es.

Aber du mußt mich hineinlassen.«

Pastor John hörte Mrs. McGuire als Antwort schluchzen, doch daraus wurde sofort, ohne Vorwarnung, ein Heulen. Sie lebte noch; und war wütend.

»Wie kannst du es wagen!« schrie sie. » Wie kannst du es wagen!«

Sie machte einen solchen Lärm, daß er die Augen aufschlug.

Der Zustrom der Dämonen vom Fenster hatte aufgehört. Das heißt, sie kamen nicht mehr näher, aber es herrschte immer noch Bewegung in dem blassen Teppich. Fühler winkten, Gliedmaßen machten sich für neue Befehle bereit, Augen glotzten auf Stielen. Sie hatten nichts an sich, das er kannte; und dennoch kannte er sie alle. Er wagte nicht, sich zu fragen, wie oder woher er sie kennen konnte.

»Mach die Tür auf, Mama«, sagte Tommy-Ray wieder. »Ich muß Jo-Beth sprechen.«

»Laß uns in Ruhe.«

»Ich muß sie sehen, und du wirst mich nicht daran hindern«, tobte Tommy-Ray. Seiner Forderung folgte das Splittern von Holz, als er mit dem Fuß gegen die Tür trat. Beide Riegel und das Schloß brachen. Es folgte ein Augenblick des Zögerns.

Dann stieß er behutsam die Tür auf. Seine Augen hatten einen 308

garstigen Schimmer, einen Schimmer, wie Pastor John ihn in den Augen von Menschen kurz vor dem Tode gesehen hatte.

Ein inneres Leuchten erfüllte sie. Bisher hatte er es für Verklärung gehalten. Diesen Fehler würde er nicht wieder machen. Tommy-Ray sah zuerst zu seiner Mutter, die unter der Küchentür stand und sie versperrte, dann zu ihrem Gast.

»Besuch, Mama?« sagte er.

Pastor John schlotterte.

»Sie haben Einfluß auf sie«, sagte Tommy-Ray zu ihm. »Auf Sie hört sie. Sagen Sie ihr, daß sie mir Jo-Beth geben soll, ja?

Das macht es für uns alle einfacher.«

Der Pastor drehte sich zu Joyce McGuire um.

»Gehorchen Sie«, sagte er nur. »Sonst sind wir alle tot.«

»Siehst du, Mama?« lautete Tommy-Rays Antwort. »Rat

vom heiligen Mann. Er weiß, wenn er besiegt ist. Ruf sie herunter, Mama, sonst werde ich wütend, und wenn ich wütend werde, dann werden es auch Papas Freunde. Ruf sie!«

»Nicht nötig.«

Tommy-Ray grinste, als er die Stimme seiner Schwester hörte, deren blitzende Augen und tückisches Lächeln eisig waren.

»Das bist du ja«, sagte er.

Sie stand hinter ihrer Mutter unter der Tür.

»Können wir gehen?« fragte er höflich, und es mußte für alle Welt so aussehen, als wäre er ein Junge, der sein Mädchen zur ersten Verabredung mitnimmt.

»Du mußt mir versprechen, daß du Mama in Ruhe läßt«,

sagte Jo-Beth.

»Das werde ich«, sagte Tommy-Ray im Tonfall eines

Mannes, dem falsche Vorwürfe gemacht wurden. »Ich will Mama nichts zuleide tun. Das weißt du.«

»Wenn du sie in Ruhe läßt... komme ich mit dir.«

Howie hörte auf halbem Weg die Treppe herunter, wie Jo-Beth ihr Versprechen gab, und hauchte ein Nein. Er konnte 309

nicht sehen, welche Schrecken Tommy-Ray mitgebracht hatte, aber er konnte sie hören; es waren die gleichen Geräusche, die sein Kopf in Alpträumen hörte. Geräusche wie Auswurf, wie Keuchen. Er ließ seiner Fantasie genügend Raum, den Text mit Bildern zu versehen; er würde die Wahrheit noch früh genug selbst sehen. Statt dessen ging er noch einen Schritt die Treppe hinunter und konzentrierte sich darauf, wie er Tommy-Ray daran hindern konnte, seine Schwester zu entführen. Er konzentrierte sich so sehr, daß er die Geräusche aus der Küche nicht richtig interpretierte. Aber als er auf der untersten Stufe angekommen war, hatte er einen Plan. Dieser war recht einfach. Soviel Verwirrung zu stiften, wie er nur konnte, und hoffen, daß es Jo-Beth und ihrer Mutter dadurch gelang, sich in Sicherheit zu bringen. Und wenn es ihm beim Amoklaufen gelang, Tommy-Ray einen Schlag zu verpassen, wäre das die Kirsche auf seinen Kuchen; eine zufriedenstellende Kirsche.

Mit diesem Gedanken und dieser Absicht ging er um die Ecke.

Jo-Beth war nicht da. Tommy-Ray war nicht da; und nicht die Schrecken, die mit ihm gekommen waren. Die Tür stand offen, und davor lag Mama, mit dem Gesicht auf der Schwelle, als hätte sie als letzte bewußte Handlung die Hände nach ihren Kindern ausgestreckt. Howie ging zu ihr; die Fliesen unter seinen bloßen Füßen waren klebrig.

»Ist sie tot?« fragte eine ernste Stimme. Howie drehte sich um. Pastor John hatte sich zwischen Wand und Kühlschrank gezwängt und seinen übergewichtigen Arsch so gut es ging in Sicherheit gebracht.

»Nein, sie lebt«, sagte Howie und drehte Mrs. McGuire sanft herum. »Was freilich nicht Ihr Verdienst ist.«

»Was konnte ich tun?«

»Das fragen Sie mich? Ich dachte, Sie hätten einige Tricks in petto.« Er ging zur Tür.

»Verfolgen Sie sie nicht, Junge«, sagte der Pastor. »Bleiben 310

Sie hier bei mir.«

»Sie haben Jo-Beth mitgenommen.«

»Soweit ich gehört habe, gehörte sie sowieso halb zu ihnen.

Kinder des Teufels, sie und Tommy-Ray.«

Glaubst du, ich bin der Teufel? hatte Tommy-Ray sie vor einer halben Stunde gefragt. Und jetzt wurde sie zur Hölle verdammt; von keinem Geringeren als ihrem eigenen Pfarrer. Bedeutete das, daß sie beide befleckt waren? Oder war es keine Frage von Sünde und Unschuld; Dunkelheit und Licht?

Standen sie irgendwie zwischen diesen beiden Extremen, an einem Ort, der Liebenden vorbehalten war?

Diese Gedanken kamen und gingen blitzartig, aber sie

reichten aus, ihn zu motivieren, durch die Tür zu gehen und sich dem zu stellen, was in der Nacht draußen lauern mochte.

»Bringen Sie sie alle um!« hörte er den Gottesfürchtigen rufen. »Es ist keine einzige reine Seele unter ihnen! Bringen Sie sie alle um!«

Seine Vorurteile erbosten Howie, aber ihm fiel keine

passende Erwiderung ein. Und weil ihm nichts Feinsinniges einfiel, schrie er durch die Tür nach drinnen: »Scheiß auf dich!« Und dann machte er sich auf die Suche nach Jo-Beth.

2

Es fiel so viel Licht aus der Küche, daß er die ungefähre Anlage des Gartens erkennen konnte. Er konnte eine

Baumgruppe an der Grenze erkennen, und zwischen sich und diesen Bäumen eine ungepflegte Rasenfläche. Wie drinnen, so auch hier draußen: keine Spur von Bruder, Schwester oder dem Wesen, das ein Auge auf beide geworfen hatte. Weil er wußte, daß er den Gegner unmöglich überraschen konnte, da er mit einem Fluch auf den Lippen aus dem hell erleuchteten Inneren getreten war, ging er einfach weiter, schrie Jo-Beths Namen, so 311

laut er konnte, und hoffte, sie würde eine Möglichkeit finden, ihm zu antworten. Aber er bekam keine Antwort. Nur ein Chor bellender Hunde, die sein Rufen aufgeschreckt hatte. Nur zu, bellt ruhig, dachte er. Bringt eure Herrchen auf Trab. Es war nicht die Zeit, daß sie vor dem Fernseher saßen und sich Quiz-Shows ansahen. Hier draußen, in der Nacht, spielte sich eine ganz andere Show ab. Geheimnisse wandelten umher; die Erde tat sich auf und gebar Wunder. Es war eine große und geheime Show, und sie spielte heute nacht auf den Straßen von Palomo Grove.

Derselbe Wind, der das Bellen der Hunde übertrug, bewegte die Bäume. Ihr Rauschen lenkte Howie von den Geräuschen der Armee ab, bis er ein Stück vom Haus entfernt war. Dann hörte er den Chor des Murmelns und Knurrens hinter sich. Er machte auf dem Absatz kehrt. Die Mauer um die Tür herum, durch die er eben gekommen war, war eine solide Masse lebender Kreaturen. Das Dach, das über der Küche vom ersten Stock zum Erdgeschoß verlief, war gleichermaßen bevölkert.

Dort wuselten größere Gestalten, schlurften auf den Ziegeln hin und her und gurrten kehlig. Sie waren so hoch, daß das Licht nicht auf sie fiel; nur Silhouetten vor einem Himmel, an dem keine Sterne zu sehen waren. Weder Jo-Beth noch

Tommy-Ray befanden sich darunter. Überhaupt befand sich in der ganzen Meute keine einzige Gestalt, die nur annähernd Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte.

Howie wollte sich gerade von dem Anblick abwenden, als er Tommy-Rays Stimme hinter sich hörte.

»Ich wette, du hast so was noch nie gesehen, Katz«, sagte er.

»Das weißt du ganz genau«, sagte er, und seine Antwort fiel nur deshalb so höflich aus, weil er das Messer spürte, das ihm gegen den Rücken gedrückt wurde.

»Dreh dich doch ganz langsam um«, sagte Tommy-Ray.

»Der Jaff möchte gerne ein Wörtchen mit dir reden.«

»Mehr als eines«, sagte eine zweite Stimme.

312

Sie war leise - kaum lauter als der Wind in den Bäumen -, aber jede einzelne Silbe war deutlich, musikalisch betont.

»Mein Sohn hier ist der Meinung, wir sollten Sie töten, Katz.

Er sagt, er kann seine Schwester an Ihnen riechen. Weiß Gott, ich bin nicht sicher, ob Brüder überhaupt wissen sollten, wie ihre Schwestern riechen, aber ich schätze, ich bin wohl altmodisch. Das Jahrhundert ist zu weit fortgeschritten, sich Gedanken wegen Inzest zu machen. Sie werden dazu

zweifellos auch Ihre Meinung haben.«

Howie drehte sich um und konnte den Jaff ein paar Meter hinter Tommy-Ray stehen sehen. Nach allem, was Fletcher über den Mann gesagt hatte, hatte er einen Kriegsherrn erwartet. Aber der Feind seines Vaters hatte nichts

Eindrucksvolles an sich. Er hatte das Äußere eines Patriarchen, der schon etwas heruntergekommen ist. Ein ungepflegter Bart wuchs über kräftigen, ausdrucksstarken Zügen; der Ausdruck von jemandem, dem es kaum gelingt, eine große Müdigkeit zu verbergen. Eines der Terata hing an seiner Brust; ein drahtiges, hautiges Ding, das wesentlich beunruhigender war als der Jaff selbst.

»Was haben Sie gesagt, Katz?«

»Ich habe gar nichts gesagt.«

»Wie schmerzlich unnatürlich Tommy-Rays Leidenschaft

für seine Schwester ist. Oder sind Sie der Meinung, daß wir alle unnatürlich sind? Sie. Ich. Die da. Ich glaube, in Salem hätten wir alle unser Ende auf dem Scheiterhaufen gefunden.

Wie dem auch sei... er ist sehr erpicht darauf, Ihnen etwas Bö-

ses anzutun. Spricht dauernd von Kastration.«

Auf dieses Stichwort hin ließ Tommy-Ray das Messer von Howies Bauch zu dessen Unterleib sinken.

»Erzähl ihm«, sagte der Jaff, »wie sehr es dir gefallen würde, ihn in Stücke zu schneiden.«

Tommy-Ray grinste. »Laß es mich einfach machen«, sagte er.

313

»Sehen Sie?« sagte der Jaff. »Es erfordert mein gesamtes vä-

terliches Geschick, ihn zurückzuhalten. Ich will Ihnen sagen, was ich jetzt machen werde, Katz. Ich werde Ihnen einen Vorsprung verschaffen. Ich werde Sie freilassen und feststellen, ob Fletchers Erbgut so gut ist wie meines. Du hast deinen Vater nicht vor dem Nuncio gekannt. Wollen mal hoffen, daß er ein guter Läufer war, was?« Tommy-Rays Grinsen wurde zum

Lachen; das Messer deutete auf die Wölbung in Howies Jeans.

»Und um Sie gut zu unterhalten...«

Daraufhin packte Tommy-Ray Howie, wirbelte ihn herum, riß das T-Shirt seines Gefangenen aus den Jeans und schlitzte es vom Saum bis zum Hals auf, so daß Howies Rücken entblößt war. Es folgte ein Augenblick des Zögerns, während die Nachtluft seine Haut abkühlte. Dann berührte etwas seinen Rücken. Tommy-Rays abgeleckte und feuchte Finger, rechts und links von Howies Wirbelsäule abgespreizt, deren Verlauf sie entlangtasteten. Howie erschauerte und krümmte den Rücken, um der Berührung auszuweichen. Während er das tat, wurden die Berührungen immer zahlreicher, bis es so viele waren, daß es sich unmöglich um Finger handeln konnte; ein Dutzend oder mehr auf jeder Seite, die die Muskeln so fest packten, daß die Haut aufplatzte.

Howie sah über die Schulter und erblickte gerade noch ein weißes, bleistiftdünnes Glied mit vielen Gelenken und Stacheln, das sich in sein Fleisch bohrte. Er schrie auf und wand sich; sein Ekel war stärker als die Angst vor Tommy-Rays Messer. Der Jaff beobachtete ihn. Seine Arme waren leer.

Das Ding, das er gehalten hatte, war jetzt auf Howies Rücken.

Er spürte seinen kalten Unterleib auf den Schulterblättern; sein Maulrüssel saugte an Howies Nackenwölbung.

»Holt es von mir runter!« schrie er den Jaff an. » Verdammt, nehmen Sie es weg!«

Tommy-Ray applaudierte, als er Howie sah, der sich wie ein Hund mit Floh im Kreis drehte.

314

»Los, Mann, los!« johlte er.

»Ich an Ihrer Stelle würde das nicht versuchen«, sagte der Jaff.

Bevor Howie sich fragen konnte, warum, bekam er die Antwort. Die Kreatur biß ihn heftig in den Nacken. Er schrie auf und fiel auf die Knie. Der Ausruf des Schmerzes löste einen Chor aus Klicken und Murmeln vom Dach und der

Küchenwand aus. Howie drehte sich unter Schmerzen zum Jaff um. Dieser hatte nicht auf sein Gesicht geachtet; das Ding mit dem Gesicht eines Foetus, das dahinter zum Vorschein kam, war riesig und glänzte feucht. Howie konnte es aber nur eine Sekunde lang betrachten, dann lenkte Jo-Beths Schluchzen seinen Blick zu den Bäumen, wo sie sich in Tommy-Rays Griff befand. Auch dieser Blick - ihre feuchten Augen, der offene Mund - war schrecklich kurz. Dann machte er die Augen zu, so heftig waren die Schmerzen im Nacken, und als er sie wieder aufmachte, waren sie und Tommy-Ray und ihr ungeborener Vater nicht mehr da.

Er stand auf. In die Armee des Jaff war Bewegung

gekommen. Die ganz unten an der Mauer sprangen auf den Boden, gefolgt von denen, die weiter oben waren, und der Vorgang lief mit einer solchen Geschwindigkeit ab, daß die Bataillone schon bald fast einen Meter hoch oder mehr den Rasen bedeckten. Manche kämpften sich aus der Masse frei und kamen mit den Mitteln, die ihnen eben zur Verfügung standen, auf Howie zu. Die größeren Kreaturen sprangen vom Dach herunter und nahmen an der Jagd teil. Der kurze

Vorsprung, den ihm der Jaff gegeben hatte, schwand mit jedem Augenblick des Zögerns, daher lief Howie so schnell er konnte in Richtung Straße.

Fletcher spürte Entsetzen und Ekel des Jungen allzu deutlich, gab sich aber Mühe, sie zu verdrängen. Howie hatte seinen Vater verstoßen, um sich auf die Suche nach der verderbten 315

Nachfahrin des Jaff zu machen, weil ihn zweifellos allein das Äußere geblendet hatte. Wenn er unter den Folgen dieser Willfährigkeit litt, so war das allein seine Schuld, und er mußte allein damit fertig werden. Wenn er überlebte, würde er vielleicht schlauer sein. Wenn nicht, würde sein Leben, dessen einzigen Zweck er in dem Augenblick aufgegeben hatte, als er Fletcher den Rücken kehrte, auf ebenso klägliche Weise wie das von Fletcher selbst enden, und damit wäre wieder

Gerechtigkeit geschehen.

Verbitterte Gedanken, aber Fletcher gab sich größte Mühe, sie zu erhalten, und rief sie sich jedesmal, wenn er den Schmerz des Jungen spürte, ins Gedächtnis zurück. Doch das reichte nicht. So sehr er sich bemühte, Howies Entsetzen zu mißachten, es verschaffte sich Gehör, und schließlich hatte er keine andere Möglichkeit mehr, als darauf zu reagieren. In gewisser Weise vervollständigte es diese Nacht der

Verzweiflung und mußte beachtet werden. Er und sein Kind waren zusammenpassende Teile in einem Puzzle von

Niederlagen und Scheitern.

Er rief den Jungen: Howardhowardhowardhow... - derselbe Ruf, den er ausgestoßen hatte, als er aus dem Fels

herausgekommen war.

Howardhowardhowardhow...

Er schickte die Botschaft in einem bestimmten Rhythmus aus, wie ein Leuchtturm auf einer Klippe. Er hoffte, daß sein Sohn nicht schon so geschwächt war, daß er ihn nicht mehr hören konnte, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Endspiel. Da der Sieg des Jaff unausweichlich schien, blieb ihm ein letztes Gambit, mit dem er sich nicht selbst in Versuchung führen wollte, weil er wußte, wie stark sein Wunsch nach Verwandlung war. Es war all die Jahre über eine Folter für ihn gewesen, moralisch verpflichtet zu sein, auf dieser Ebene des Seins zu verweilen und zu hoffen, daß er das Böse besiegen konnte, an dessen Erschaffung er selbst beteiligt 316

gewesen war, wo doch kein Augenblick verging, da seine Gedanken sich nicht einer Flucht zuwandten. Er wünschte sich so sehr, frei von dieser Welt und ihren Albernheiten zu sein; sich von seiner Anatomie zu befreien und, wie Schiller es über jedwede Kunst gesagt hatte, dem Dasein der Musik

zuzustreben. Konnte es sein, daß die Zeit reif war, diesem Instinkt nachzugeben und in den letzten Sekunden seines Lebens als Fletcher zu hoffen, der beinahe unausweichlichen Niederlage das Bruchstück eines Sieges zu entreißen? Wenn ja, mußte er sorgfältig planen, und zwar die Methode seiner Selbstauflösung ebenso wie den Ort. Für den Stamm, der Palomo Grove bewohnte, konnte es keine

Wiederholungsvorstellung geben. Wenn er, ihr verstoßener Schamane, unbemerkt starb, dann wären mehr als nur ein paar hundert Seelen verloren.

Er versuchte, nicht allzu angestrengt an die Folgen eines Triumphs des Jaff zu denken, weil er wußte, daß ihn sein Verant-wortungsgefühl überwältigen konnte. Aber nun, wo die letzte Konfrontation endgültig bevorstand, zwang er sich dazu, daran zu denken. Wenn der Jaff in den Besitz der ›Kunst‹ gelangte und durch sie freien Zugang zur Essenz bekam, was würde das bedeuten?

Zunächst einmal, daß ein Wesen, welches nicht durch die Härten der Selbstaufgabe geläutert war, Macht über einen Ort haben würde, der ausschließlich den Geläuterten und

Makellosen vorbehalten war. Fletcher begriff nicht ganz, was die Essenz war - vielleicht konnte das kein Mensch -, aber er war sicher, daß der Jaff, der den Nuncio dazu benützt hatte, seine Grenzen auf betrügerische Weise zu überwinden, dort das Chaos anrichten würde. Das Meer der Träume und seine Insel -

möglicherweise Inseln; er hatte den Jaff einmal sagen hören, daß dort Archipele existierten - wurde von den Menschen dreimal besucht: in der Unschuld des Neugeborenen, im Tod und in der Liebe. An den Ufern von Ephemeris vereinten sie 317

sich ganz kurz mit dem Absoluten; sahen Bilder und hörten Geschichten, die verhinderten, daß sie im Angesicht des Lebens wahnsinnig wurden. Dort existierte ganz kurz ein Muster und ein Sinn; dort konnte man eine Kontinuität erblicken; dort war die Show, die große und geheime Show, deren Reime und Rituale erschaffen worden waren, Andenken zu sein. Wenn diese Insel zum Spielplatz des Jaff wurde, wäre der Schaden unabsehbar. Das Geheime würde zum

Allgemeinen werden; das Heilige zum Profanen; eine Rasse, die durch ihre Traumreisen dorthin vor dem Wahnsinn bewahrt wurde, würde dieser Segnung verlustig gehen.

Es war noch eine weitere Angst in Fletcher, die er nicht so leicht durchdenken konnte, weil sie nicht so zusammenhängend war. Sie hing mit der Geschichte zusammen, die ihm der Jaff zuerst präsentiert hatte, als er in Washington erschienen war und angeboten hatte, Gelder zur Erforschung des Nuncio aufzutreiben. Er hatte von einem Mann namens Kissoon

gesprochen, einem Schamanen, der von der ›Kunst‹ und ihrer Macht wußte und den der Jaff schließlich an einem Ort gefunden hatte, den er als Zeitschleife bezeichnete. Fletcher hatte sich die Geschichte angehört, aber nicht viel davon geglaubt; doch die nachfolgenden Ereignisse hatten sich zu so fantastischen Höhen aufgeschwungen, daß die Vorstellung von Kissoons Schleife mittlerweile wie eine Kleinigkeit wirkte.

Welchen Part der Schamane mit seinem Versuch, sich vom Jaff umbringen zu lassen, allerdings in dem größeren Plan spielte, davon hatte Fletcher keine Ahnung; doch sein Instinkt sagte ihm, daß er keinesfalls vorbei war. Kissoon war das letzte überlebende Mitglied des Schwarms, eines Ordens erhabener Menschenwesen, die, seit der Homo sapiens zu träumen angefangen hatte, die ›Kunst‹ vor Wesen wie dem Jaff beschützt hatten. Wieso hatte er dann einem Menschen wie dem Jaff, dessen fiese Absichten von Anfang an offensichtlich gewesen sein mußten, Zutritt zu seiner Schleife gestattet? Warum hatte 318

er sich überhaupt dort versteckt? Und was war aus den anderen Mitgliedern des Schwarms geworden?

Jetzt war es zu spät, Antworten auf diese Fragen zu suchen; aber er wollte sie noch jemand anderem anvertrauen, nicht nur seinem eigenen Kopf. Er wollte einen letzten Versuch

unternehmen, die Kluft zwischen sich und seinem eigenen Fleisch und Blut zu überwinden. Wenn Howard diese

Überlegungen nicht zuteil wurden, würden sie verschwinden, wenn er, Fletcher, seinen Abgang machte.

Was ihn wieder auf die unmittelbar bevorstehenden, grimmigen Angelegenheiten brachte; ihre Methoden und Durchführung. Es mußte ein theatralisches Schauspiel sein; ein spektakulärer letzter Auftritt, der die Einwohner von Palomo Grove von ihren Fernsehern weg und mit staunend

aufgerissenen Augen auf die Straßen locken würde. Nachdem er mehrere Alternativen abgewogen hatte, entschied er sich für eine und begab sich, ohne Unterlaß nach seinem Sohn rufend, zum Schauplatz seiner endgültigen Befreiung.

Howie hatte Fletchers Ruf gehört, als er vor der Armee des Jaff geflohen war; aber die Panik, die ihn erfüllte, machte es ihm unmöglich, ihren genauen Ursprung zu erkennen. Er floh blind, und die Terata waren ihm auf den Fersen. Erst als er der Meinung war, er habe ausreichend Vorsprung gewonnen, daß er sich eine Verschnaufpause gönnen konnte, hörten seine verwirrten Sinne den Ruf so deutlich, daß er die Richtung ändern und ihm folgen konnte. Und das tat er mit einer Schnelligkeit, die er sich selbst gar nicht zugetraut hätte; obwohl seine Lungen rasselten, preßte er genügend Luft für ein paar Worte der Antwort an Fletcher aus ihnen heraus.

»Ich höre dich«, sagte er beim Laufen, »ich höre dich.

Vater... ich höre dich.«

319

XI

l

Tesla hatte recht gehabt. Sie war eine erbärmliche Krankenschwester, aber eine begabte Tyrannin. In dem Augenblick, als Grillo aufwachte und sie bei sich im Zimmer sah, erzählte sie ihm schon, daß es der Akt eines Märtyrers war, in einem fremden Bett zu leiden, und ihm nur zu gut bekam. Wenn er Klischees vermeiden wollte, sollte er ihr gestatten, ihn nach L.

A. zurückzubringen und seinen kranken Kadaver abzuladen, wo er vom Gestank seiner eigenen schmutzigen Wäsche

beruhigt wurde.

»Ich will nicht weg«, protestierte er.

»Was hat es für einen Sinn hierzubleiben, davon abgesehen, daß es Abernethy eine Stange Geld kostet?«

»Das ist doch schon mal was.«

»Werd nicht kleinlich, Grillo.«

»Ich bin krank. Da darf man kleinlich sein. Außerdem ist die Story hier.«

»Die kannst du besser daheim schreiben, als hier in einer Schweißlache zu liegen und dich selbst zu bemitleiden.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Oh... sieht der große Mann gar etwas ein?«

»Ich gehe für vierundzwanzig Stunden zurück. Packe meine Scheiße zusammen.«

»Weißt du, du siehst aus wie dreizehn«, sagte Tesla in sanfterem Tonfall. »So habe ich dich noch nie gesehen.

Irgendwie sexy. Ich mag es, wenn du verwundbar bist.«

»Das sagt sie mir jetzt.«

»Schnee von gestern, Schnee von gestern. Früher hätte ich einmal meinen rechten Arm für dich hergegeben...«

»Und jetzt?«

»Jetzt fahre ich dich höchstens nach Hause.«

320

Der Grove hätte die Kulisse für einen Post-Holocaust-Film sein können, dachte Tesla, während sie mit Grillo in Richtung Freeway fuhr: Die Straßen waren völlig verlassen. Obwohl Grillo ihr gesagt hatte, was er gesehen hatte oder was seiner Vermutung nach hier vor sich ging, mußte sie abreisen, ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben.

Zu früh gefreut. Vierzig Meter vom Auto entfernt stolperte ein junger Mann um die Ecke und preschte über die Straße.

Auf dem gegenüberliegenden Gehweg verließen ihn die Kräfte.

Er fiel hin und schien Mühe zu haben, wieder aufzustehen. Die Entfernung war so groß und das Licht so düster, daß sie seinen Zustand nicht abschätzen konnte, aber er war eindeutig verwundet. Sein Körper hatte etwas Ungestaltes; er war bucklig oder geschwollen. Sie fuhr weiter auf ihn zu. Neben ihr schlug Grillo, dem sie befohlen hatte zu dösen, bis sie in L. A.

waren, die Augen auf.

»Sind wir schon da?«

»Der Junge...«, sagte sie und nickte in Richtung des Buckli-gen. »Schau ihn dir an. Der sieht noch kränker aus als du.«

Sie sah aus dem Augenwinkel, wie sich Grillo kerzengerade aufrichtete und zur Windschutzscheibe hinaussah.

»Er hat etwas auf dem Rücken«, murmelte er.

»Ich kann nichts sehen.«

Sie brachte das Auto ein Stück von der Stelle entfernt zum Stillstand, wo sich der Junge immer noch bemühte, auf die Beine zu kommen, was ihm immer noch nicht gelang. Jetzt sah sie, daß Grillo recht hatte. Er hatte tatsächlich etwas auf dem Rücken. »Es ist ein Rucksack«, sagte sie.

»Unmöglich, Tesla«, sagte Grillo. Er langte zum Türgriff.

»Es lebt. Was immer es ist, es lebt.«

»Bleib hier«, sagte sie zu ihm.

»Machst du Witze?«

Als er die Tür aufstieß - schon bei dieser Anstrengung drehte 321

sich alles in seinem Kopf -, sah er, wie Tesla im

Handschuhfach kramte.

»Was verloren?«

»Als Yvonne ermordet wurde...«, sagte sie und grunzte, während sie den Plunder durchstöberte, »... habe ich mir geschworen, daß ich nie wieder unbewaffnet aus dem Haus gehen würde.«

»Was sagst du da?«

Sie holte eine Pistole aus dem Versteck. »Und daran habe ich mich gehalten.«

»Weißt du, wie man damit umgeht?«

»Ich wünschte, ich wüßte es nicht«, sagte sie und stieg aus dem Auto aus. Grillo wollte ihr folgen. Als er das tat, rollte das Auto plötzlich rückwärts die sanfte Neigung der Straße hinunter. Er warf sich über den Sitz zur Handbremse, ein Vorgehen, das so heftig war, daß sich alles vor ihm drehte. Als er sich wieder hochzog, war es beinahe wie auf dem Karussell: völlige Desorientierung.

Ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo Grillo die Autotür umklammert hielt und darauf wartete, daß sein Schwindelanfall vorbeiging, hatte Tesla den Jungen beinahe erreicht. Er versuchte immer noch, auf die Beine zu kommen. Sie sagte, er solle durchhalten, Hilfe sei unterwegs, aber dafür erntete sie nur einen Blick voller Panik. Dazu hatte er guten Grund. Grillo hatte recht gehabt. Was sie für einen Rucksack gehalten hatte, war tatsächlich lebendig. Es glänzte feucht, während es ihn bedrängte.

»Was ist das denn, um Gottes willen?« sagte sie.

Diesesmal antwortete er, eine in Stöhnen gekleidete

Warnung.

»Gehen... Sie... weg«, hörte sie ihn sagen, »... sie... sind...

hinter... mir... her.«

Sie sah zu Grillo, der sich immer noch mit klappernden Zähnen an der Autotür festklammerte. Von dort war keine Hilfe zu 322

erwarten, und der Zustand des Jungen schien sich zu

verschlechtern. Jedesmal, wenn der Parasit ein Glied bewegte -

und er hatte viele Glieder und Gelenke und Augen -, verzerrte der Junge das Gesicht mehr.

»Gehen Sie weg...«, knurrte er ihr zu, »... bitte... in Gottes Namen... sie kommen.«

Er drehte sich benommen um und sah hinter sich. Sie folgte seinem schmerzvollen Blick die Straße hinab, von wo er gekommen war. Da sah sie seine Verfolger. Als sie sie sah, wünschte sie sich, sie wäre seinem Rat gefolgt, bevor sie ihm in die Augen gesehen hatte und damit jede Hoffnung, den Pharisäer spielen zu können, zunichte gemacht worden war.

Sein Schicksal war ihres. Sie konnte ihm nicht den Rücken kehren. Ihre Augen - am Normalen geschult - bemühten sich, die Lektion zu leugnen, die sie die Straße entlangkommen sahen, aber das konnten sie nicht. Es war sinnlos, das Grauen zu leugnen. Es war in all seiner Absurdität da: eine blasse, murmelnde Flut, die auf sie zurollte.

»Grillo!« schrie sie. »Steig ins Auto ein!«

Die blasse Armee hörte sie und legte Tempo zu.

»Das Auto, Grillo, steig in das verdammte Auto ein!«

Sie sah ihn an der Tür herumfummeln; er war kaum fähig, sein eigenes Handeln zu kontrollieren. Einige der kleineren Ungeheuer in der Vorhut der Flut wuselten bereits mit Höchstgeschwindigkeit auf das Auto zu und überließen den Jungen ihren größeren Geschwistern. Es waren genug, mehr als genug, sie alle drei Stück für Stück auseinanderzunehmen, einschließlich des Autos. Trotz ihrer Vielfalt - keine zwei gleichen waren darunter, schien es - zeigten sie alle dieselbe glotzäugige, hirnlose Entschlossenheit. Sie waren Zerstörer.

Sie packte den Jungen am Arm und bemühte sich, so gut es ging, den um sich schlagenden Gliedmaßen des Parasiten auszuweichen. Sie sah, daß dessen Halt fest war; sie konnte ihn unmöglich lösen. Jeder Versuch, sie zu trennen, würde 323

Gegenmaßnahmen herausfordern.

»Stehen Sie auf«, sagte sie. »Wir schaffen es.«

»Gehen Sie«, murmelte er. Er war völlig am Ende.

»Nein«, sagte sie. »Wir gehen beide. Kein Heldentum. Wir gehen beide.«

Sie sah zum Auto. Grillo war gerade dabei, die Tür

zuzuschlagen, als die Vorhut der Armee das Auto erreichte und auf Dach und Motorhaube kroch. Eines, das etwa so groß wie ein Pavian war, warf den Körper mehrmals gegen die

Windschutzscheibe. Die anderen rissen an den Türgriffen und zwängten Fühler zwischen Fenster und Rahmen.

»Sie wollen mich«, sagte der Junge.

»Folgen sie uns, wenn wir gehen?« sagte Tesla.

Er nickte. Sie zog ihn auf die Beine und hob seinen rechten Arm - die Hand war böse verletzt, sah sie - über die Schulter, dann feuerte sie einen Schuß in die heranstürmende Masse -

der eines der größeren Ungeheuer traf, es aber kein bißchen verlangsamte -, drehte sich um und schleppte sie beide davon.

Er konnte ihr eine Richtung nennen.

»Bergab«, sagte er.

»Warum?«

»Das Einkaufszentrum...«

Nochmals: »Warum?«

»Mein Vater... ist dort.«

Sie widersprach nicht. Sie hoffte nur, Vater, wer immer er sein mochte, hatte Hilfe parat; denn wenn es ihnen gelang, vor der Armee davonzulaufen, würden sie am Ende des Rennens nicht mehr in der Verfassung sein, sich zu verteidigen.

Als sie um die nächste Ecke bog und den gemurmelten

Anweisungen des Jungen lauschte, hörte sie die

Windschutzscheibe des Autos bersten.

Nur ein kurzes Stück von dem Drama entfernt, beobachteten der Jaff und Tommy-Ray, mit Jo-Beth im Schlepptau, wie 324

Grillo sich mit dem Zündschlüssel abmühte, es ihm - nach einiger Anstrengung - gelang, das Auto anzulassen, und er anfuhr und das Terata, das die Windschutzscheibe zertrümmert hatte, von der Haube fegte.

»Dreckskerl«, murmelte Tommy-Ray.

»Unwichtig«, sagte der Jaff. »Von seiner Sorte gibt es noch jede Menge. Warte bis zu der Party morgen abend. Welche Auswahl.«

Die Kreatur war noch nicht tot; sie stieß ein klägliches Wimmern aus.

»Was machen wir damit?« überlegte Tommy-Ray.

»Liegen lassen.«

»Schönes Unfallopfer«, lautete die Antwort des Jungen.

»Die Leute werden es bemerken.«

»Es wird die Nacht nicht überleben«, antwortete der Jaff.

»Und wenn sich die Aasfresser darüber hergemacht haben, wird niemand mehr erkennen, was es war.«

»Zum Teufel, wer soll denn das fressen?« fragte Tommy-Ray.

»Was hungrig genug ist«, lautete die Antwort des Jaff. »Und irgend etwas ist immer hungrig genug. Ist das nicht so, Jo-Beth?« Das Mädchen sagte nichts. Sie hatte aufgehört zu weinen und zu sprechen. Sie sah ihren Bruder nur noch mit einem Gesichtsausdruck mitleidiger Verwirrung an.

»Wohin geht Katz nur?« überlegte der Jaff laut.

»Zum Einkaufszentrum runter«, klärte Tommy-Ray ihn auf.

»Fletcher ruft ihn.«

»Ja?«

»Wie ich gehofft habe. Wo der Sohn landet, dort werden wir den Vater finden.«

»Wenn ihn die Terata nicht vorher erwischen.«

»Das werden sie nicht. Sie haben ihre Anweisungen.«

»Was ist mit der Frau, die bei ihm ist?«

»War das nicht allzu perfekt? Was für eine Samariterin. Sie 325

wird natürlich sterben, aber was für ein Abgang, vom Wissen erfüllt; wie unsagbar großherzig man doch ist.«

Diese Bemerkung entlockte dem Mädchen eine Antwort.

»Rührt Sie denn gar nichts?« sagte es.

Der Jaff sah es an. »Zuviel«, sagte er. »Zuviel rührt mich.

Dein Gesichtsausdruck. Seiner.« Er sah zu Tommy-Ray, der grinste, dann wieder zu Jo-Beth. »Ich will nur eines: klar sehen. An den Gefühlen vorbei, bis zu den Gründen.«

»Und das geht so? Indem Sie Howie töten? Den Grove

zerstören?«

»Tommy-Ray hat auf seine Weise gelernt, es zu verstehen.

Das kannst du auch, wenn du mir die Zeit läßt, es dir zu erklären. Es ist eine lange Geschichte. Aber vertraue mir, wenn ich dir sage, daß Fletcher unser Feind ist, und sein Sohn ebenfalls. Sie würden mich töten, wenn sie könnten...«

»Howie nicht.«

»O doch. Er ist seines Vaters Sohn, auch wenn er es nicht weiß. Es gibt einen Preis, der bald errungen werden wird, Jo-Beth. Er heißt die ›Kunst‹. Und wenn ich sie habe, teile ich sie mit...«

»Ich will nichts von Ihnen.«

»Ich zeige dir eine Insel...«

»Nein.«

»... und ein Ufer...«

Er streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange. Seine Worte beruhigten sie wider besseres Wissen. Sie sah nicht den Foetuskopf vor sich, sondern ein Gesicht, das Härten gesehen hatte, von ihnen gezeichnet worden war und möglicherweise Weisheit erlangt hatte.

»Später«, sagte er. »Wir werden ausreichend Zeit zum Reden haben. Auf dieser Insel geht der Tag nie zu Ende.«

326

2

»Warum überholen sie uns nicht?« sagte Tesla zu Howie.

Es schien zweimal sicher zu sein, daß die Verfolger sie überholen und überwältigen würden, und zweimal hatten sie sich zurückgehalten, als ihnen ihre Absicht klar geworden war.

Sie kam immer mehr zur Überzeugung, daß die Verfolgung abgekartet war. Wenn ja, überlegte sie, von wem? Und was war ihre Absicht?

Der Junge - er hatte ein paar Straßen zurück seinen Namen gemurmelt, Howie - wurde mit jedem Meter schwerer. Die letzte Viertelmeile bis zum Einkaufszentrum erstreckte sich wie ein Drillparcours des Militärs vor ihr. Wo war Grillo, wenn sie ihn brauchte? Hatte er sich in dem Irrgarten der Ringstraßen und Einbahnstraßen verirrt, das diese Stadt zu einer solchen Prüfung für Autofahrer machte, oder war er den Kreaturen zum Opfer gefallen, die das Auto angegriffen hatten?

Die Antwort lautete: weder noch. Er dachte sich, daß Teslas Scharfsinn es ihr ermöglichen würde, der Meute so lange zu entkommen, bis er Hilfe geholt hatte, und daher fuhr er wie ein Wahnsinniger zuerst zu einem öffentlichen Fernsprecher und dann zu der Adresse, die er darin gefunden hatte. Obwohl sich seine Glieder bleischwer anfühlten und seine Zähne immer noch klapperten, schienen ihm seine geistigen Vorgänge durch und durch klar zu sein, aber er wußte - von den Monaten nach dem Debakel, die er mehr oder weniger im Alkoholnebel verbracht hatte -, daß diese Klarheit eine Selbsttäuschung sein konnte. Wie viele Artikel hatte er unter ihrem Einfluß geschrieben, die die in Tinte gefaßte Klarheit gewesen zu sein schienen, sich aber wie Finnegans Wake lasen, als er wieder nüchtern war? Vielleicht war das jetzt der Fall, und er vergeudete wertvolle Zeit; vielleicht hätte er an die erstbeste Tür hämmern und um Hilfe schreien sollen. Sein Instinkt sagte 327

ihm, daß er keine bekommen würde. Die Anwesenheit eines unrasierten Individuums, das von Monstern sprach, würde bei jedem auf rasche Ablehnung stoßen, abgesehen von Hotchkiss.

Der Mann war daheim und wach.

»Grillo? Herrgott, Mann, was ist denn mit Ihnen los?«

Hotchkiss hatte kein Recht zu prahlen; er sah so verbraucht aus, wie Grillo sich fühlte. Er hatte ein Bier in der Hand, dessen zahlreiche Vorgänger ihm deutlich ins Gesicht

geschrieben standen.

»Kommen Sie mit mir«, sagte Grillo. »Ich erkläre es Ihnen unterwegs.«

»Wohin?«

»Haben Sie Waffen?«

»Eine Pistole, ja.«

»Holen Sie sie.«

»Warten Sie, ich brauche...«

»Keine Zeit«, sagte Grillo. »Ich weiß nicht, wohin sie gegangen sind, und wir...«

»Hören Sie«, sagte Hotchkiss.

»Was?«

»Alarm. Ich höre einen Alarm.«

Die Sirenen fingen in dem Augenblick an zu heulen, als Fletcher anfing, die Scheiben des Supermarkts einzuwerfen. In Marvin's Food and Drug heulten sie ebenso laut, und in der Tierhandlung auch - dort stimmten die aus dem Schlaf

hochgeschreckten Tiere ein. Er ermutigte ihren Chor. Je früher der Grove seine Lethargie abschüttelte, desto besser, und er wußte keine bessere Methode, sie aufzurütteln, als das Handelszentrum anzugreifen. Danach plünderte er Requisiten aus zwei der sechs Geschäfte. Das Schauspiel, das er vorhatte, erforderte einen perfekten Zeitplan, wenn er in die Gedanken der Zuschauer eindringen wollte, die herbeigeströmt kamen.

Und sollte er scheitern, würde er wenigstens die Folgen dieses 328

Scheiterns nicht mehr erleben. Er hatte zuviel Kummer im Leben gehabt und zu wenig Freunde, die ihm geholfen hätten, ihn leichter zu ertragen. Sein engster Freund von allen war wahrscheinlich Raul gewesen. Wo mochte er jetzt sein?

Wahrscheinlich tot, und sein Geist würde in den Ruinen der Misión de Santa Catrina spuken.

Als er daran dachte, blieb Fletcher unvermittelt stehen. Was ist mit dem Nuncio? War es möglich, daß die Überbleibsel der Großen Arbeit, wie Jaffe sie immer genannt hatte, noch dort auf der Klippe waren? Wenn ja, konnte sich die ganze

Geschichte wiederholen, sollte je ein Unbekannter darüber stolpern. Das selbstgewählte Märtyrerschicksal, das er momentan gerade vorbereitete, wäre vergebens gewesen. Das war auch eine Aufgabe, die er Howard anvertrauen mußte, bevor sie sich für immer voneinander verabschiedeten.

Sirenen heulten selten im Grove; ganz sicher aber nicht so viele gleichzeitig. Ihre Kakophonie drang durch die Stadt vom bewaldeten Ende in Deerdell zum Haus der Witwe Vance oben auf dem Hügel. Zwar war es so früh, daß die wenigsten Erwachsenen im Grove schliefen, aber die meisten - ob vom Jaff berührt oder nicht - fühlten sich seltsam desorientiert. Sie sprachen flüsternd mit ihren Partnern, wenn überhaupt; sie standen unter Türen oder mitten in Zimmern und hatten vergessen, warum sie überhaupt von ihren behaglichen Sesseln aufgestanden waren. Hätte man sie gefragt, hätten viele wahrscheinlich Schwierigkeiten gehabt, ihre eigenen Namen auszusprechen.

Aber die Sirenen erregten ihre Aufmerksamkeit und bestätigten, was ihre animalischen Instinkte schon den ganzen Tag ge-wußt hatten: daß es heute nacht nicht gut stand; daß es nicht normal, nicht vernünftig zuging. Der einzig sichere Ort war hinter zweifach verriegelten Türen.

Aber nicht alle waren so passiv. Manche zogen die Vorhänge 329

beiseite und sahen nach, ob jemand aus der Nachbarschaft auf der Straße war; andere gingen sogar zu den Eingangstüren.

Frauen oder Ehemänner riefen sie zurück und sagten, es wäre nicht nötig hinauszugehen; draußen gäbe es nichts zu sehen, was man nicht auch im Fernsehen zu sehen bekam. Aber ein einziger Mensch, der hinausging, reichte aus, daß andere ihm folgten.

»Schlau«, sagte der Jaff.

»Was hat er vor?« wollte Tommy-Ray wissen. »Warum der Lärm?«

»Er will, daß die Menschen die Terata sehen«, sagte der Jaff.

»Vielleicht hofft er, sie erheben sich gegen uns. Das hat er schon einmal versucht.«

»Wann?«

»Während wir durch Amerika reisten. Damals erfolgte keine Erhebung, und heute wird es auch keine geben. Die Leute haben nicht den Glauben dazu, nicht die Träume. Und er braucht beides. Dies ist schiere Verzweiflung. Er ist besiegt, und das weiß er auch.« Er wandte sich an Jo-Beth. »Es wird dich freuen zu hören, daß ich der Meute befehle, Katz in Ruhe zu lassen. Wir wissen jetzt, wo Fletcher ist. Und wohin sein Sohn gehen wird.«

»Sie folgen uns nicht mehr?« sagte Tesla.

Die Meute war tatsächlich stehengeblieben.

»Verflucht, was hat das zu bedeuten?«

Ihre Last antwortete nicht. Er konnte kaum den Kopf heben.

Doch als er es tat, sah er zum Supermarkt, einem von mehreren Geschäften des Einkaufszentrums, dessen Scheiben eingeschlagen worden waren.

»Gehen wir zum Markt?« sagte sie.

Er grunzte.

»Wie Sie meinen.«

330

Im Inneren des Geschäfts sah Fletcher von seiner Arbeit auf.

Er konnte den Jungen sehen. Er war nicht allein. Eine Frau stützte ihn und trug ihn fast über den Parkplatz auf das Scher-benmeer zu. Fletcher ließ die Vorbereitungen sein und ging ans Fenster.

»Howard?« rief er.

Tesla sah auf; Howie verschwendete keine wertvolle Energie für den Versuch. Der Mann, den sie aus dem Geschäft kommen sah, sah nicht wie ein Vandale aus. Aber auch nicht, als könnte er der Vater des Jungen sein; doch was Familienähnlichkeiten betraf, war sie nie besonders gut gewesen. Er war ein großer, hagerer Mann, der, seinem zerschlissenen Äußeren nach zu urteilen, in einem ebenso schlechten Zustand wie sein Sprößling war. Sie sah, daß seine Kleidung durchnäßt war. Ihre stechenden Nasenlöcher identifizierten den Geruch als den von Benzin. Er zog beim Gehen eine Spur hinter sich her. Sie fürchtete plötzlich, ihre Flucht könnte sie in die Arme eines Wahnsinnigen geführt haben.

»Bleiben Sie weg«, sagte sie.

»Ich muß mit Howard sprechen, bevor der Jaff eintrifft.«

»Der wer?«

»Sie haben ihn hierhergeführt. Ihn und seine Armee.«

»Das ging nicht anders. Howie ist ziemlich krank. Das Ding auf seinem Rücken...«

»Lassen Sie mich sehen...«

»Kein Feuer«, warnte Tesla ihn, »sonst verziehe ich mich.«

»Ich verstehe«, sagte der Mann und hob die Hände wie ein Zauberer, der beweisen will, daß er keinen Trick beabsichtigt.

Tesla nickte und ließ ihn näher kommen.

»Legen Sie ihn hin«, befahl der Mann.

Sie gehorchte, und ihre Muskeln kribbelten dankbar. Howie lag kaum auf dem Boden, da packte sein Vater den Parasiten mit beiden Händen. Dieser begann sofort, wild um sich zu schlagen, und klammerte sich noch fester an sein Opfer.

331

Howie, der fast bewußtlos war, fing an zu stöhnen.

»Es bringt ihn um!« schrie Tesla.

»Packen Sie seinen Kopf!«

»Was?«

»Sie haben doch gehört! Seinen Kopf! Packen Sie ihn!«

Sie sah den Mann an, dann die Bestie, dann Howie. Drei Herzschläge. Beim vierten packte sie die Bestie. Deren Maulrüssel war in Howies Nacken verbissen, aber das Biest ließ lange genug los, um nach ihrer Hand zu schnappen. In diesem Augenblick zog der Benzinmann. Körper und Bestie lösten sich voneinander.

»Loslassen!« schrie der Mann.

Das mußte sie sich nicht eigens sagen lassen; sie riß die Hand fort, obwohl es sie ein Stück Fleisch kostete. Howies Vater warf es in den Supermarkt, wo es gegen einen Berg Dosen prallte und begraben wurde.

Tesla betrachtete ihre Hand. Die Handfläche war in der Mitte durchbohrt. Sie war nicht die einzige, die sich für die Verletzung interessierte.

»Sie müssen eine Reise unternehmen«, sagte der Mann.

»Was soll das sein, Handlesen?«

»Ich wollte, daß der Junge für mich geht, aber jetzt sehe ich... Sie sind statt dessen gekommen.«

»He, ich habe getan, was ich konnte, Mann«, sagte Tesla.

»Mein Name ist Fletcher, und ich flehe Sie an, lassen Sie mich jetzt nicht im Stich. Diese Verletzung erinnert mich an den ersten Schnitt, den mir der Nuncio zufügte...« Er zeigte ihr seine Handfläche, die tatsächlich eine für alle Welt sichtbare Narbe hatte, als hätte jemand einen Nagel hindurchgeschlagen.

»Ich muß Ihnen so viel erzählen. Howie wollte es nicht anhören. Sie wollen. Ich weiß es. Sie gehören zu der

Geschichte, Sie wurden geboren, um jetzt und hier bei mir zu sein.«

»Ich verstehe überhaupt nichts.«

332

»Analysieren Sie morgen. Handeln Sie jetzt. Helfen Sie mir.

Wir haben sehr wenig Zeit.«

»Ich will Sie warnen«, sagte Grillo, während er mit Hotchkiss in Richtung Einkaufszentrum fuhr, »was wir aus der Erde kommen sahen, war nur der Anfang. Heute nacht streifen Kreaturen durch den Grove, wie ich sie noch nie gesehen habe.«

Er bremste, als zwei Fußgänger die Straße überquerten und dem Heulen der Sirenen folgten. Sie waren nicht allein. Es waren noch andere unterwegs, die sich vor dem

Einkaufszentrum trafen, als wäre dort ein Volksfest.

»Sagen Sie ihnen, sie sollen umkehren«, sagte Grillo, lehnte sich auf seiner Seite zum Auto hinaus und rief eine Warnung.

Weder auf seine Rufe noch auf die von Hotchkiss wurde geachtet. »Wenn sie gesehen haben, was ich gesehen habe«, sagte Grillo, »wird eine Panik ausbrechen.«

»Schadet ihnen gar nichts«, sagte Hotchkiss verbittert. »Sie haben mich jahrelang für verrückt gehalten, weil ich die Höhlen versiegeln ließ. Weil ich Carolyns Tod als Mord bezeichnete...«

»Ich kann nicht folgen.«

»Meine Tochter Carolyn...«

»Was ist mit ihr?«

»Ein andermal, Grillo. Wenn Sie Zeit für Tränen haben.«

Sie hatten den Parkplatz des Einkaufszentrums erreicht.

Etwa dreißig bis vierzig Einwohner des Grove hatten sich bereits hier versammelt, manche schlenderten umher und begutachteten den Schaden, der an mehreren Geschäften entstanden war, andere standen einfach nur herum und

lauschten den Sirenen, als wären sie Sphärenmusik. Grillo und Hotchkiss stiegen aus dem Auto aus und überquerten den Parkplatz in Richtung Supermarkt.

»Ich rieche Benzin«, sagte Grillo.

333

Hotchkiss stimmte zu. »Wir sollten die Leute hier wegschaffen«, sagte er. Er sprach mit erhobener Stimme und

ebensolcher Waffe und versuchte, auf einfache Weise Einfluß auf die Menge zu nehmen. Seine Bemühungen erweckten die Aufmerksamkeit eines kleinen, kahlen Mannes.

»Hotchkiss, haben Sie hier das Sagen?«

»Nicht, wenn Sie es wollen, Marvin.«

»Wo ist Spilmont? Jemand mit Befugnis sollte hier sein.

Meine Fenster sind allesamt eingeschlagen worden.«

»Ich bin sicher, die Polizei ist unterwegs«, sagte Hotchkiss.

»Reiner Vandalismus«, fuhr Marvin fort. »Sicher Bengel aus L. A., die einen draufmachen wollten.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Grillo. Der Benzingeruch machte ihn schwindlig.

»Und wer, zum Teufel, sind Sie?« wollte Marvin mit

schriller Stimme wissen.

Bevor Grillo antworten konnte, bellte ein anderer: »Jemand ist da drin!«

Grillo sah zum Supermarkt. Seine brennenden Augen bestä-

tigten den Wahrheitsgehalt des Rufs. Es bewegten sich tatsächlich Gestalten im Halbdunkel des Supermarkts. Er schritt durch die Scherben auf das Fenster zu, als eine der Gestalten sichtbar wurde.

»Tesla?«

Sie hörte ihn; sah auf, brüllte.

»Geh weg, Grillo!«

»Was geht hier vor?«

»Verschwinde.«

Er achtete nicht auf den Rat, sondern kletterte durch das Loch der zertrümmerten Scheibe. Der Junge, den sie retten wollte, lag mit dem Gesicht nach unten und bis zur Taille nackt auf dem Kachelboden. Hinter ihm ein Mann, den Grillo kannte

- und doch auch wieder nicht. Das heißt, ein Gesicht, für das er keinen Namen parat hatte, aber eine Erscheinung, die er 334

instinktiv erkannte. Er brauchte nur Augenblicke, bis er wußte, woher. Dies war einer der Flüchtigen aus der Erdspalte.

»Hotchkiss!« schrie er. »Kommen Sie hier rein!«

»Genug ist genug«, sagte Tesla. »Bring niemand in unsere Nähe.«

»Unsere?« sagte Grillo. »Seit wann denn unsere?«

»Sein Name ist Fletcher«, sagte Tesla, als würde sie die erste der Fragen beantworten, die Grillo durch den Kopf ging. »Der Junge ist Howard Katz. Sie sind Vater und Sohn. Es wird alles in die Luft gehen, Grillo. Und ich werde bleiben, bis es soweit ist.«

Hotchkiss stand neben Grillo. »Verfluchte Scheiße«, hauchte er.

»Die Höhlen, richtig?«

»Richtig.«

»Können wir den Jungen mitnehmen?« sagte Grillo.

Tesla nickte. »Aber mach schnell«, sagte sie. »Sonst ist es für uns alle vorbei.« Sie sah nicht mehr in Grillos Gesicht, sondern hinaus über den Parkplatz oder in die angrenzende Nacht. Es wurde noch jemand zu der Party erwartet. Sicher das andere Phantom.

Grillo und Hotchkiss schnappten sich den Jungen und zogen ihn auf die Beine.

»Halt.« Fletcher näherte sich dem Trio, und der

Benzingeruch wurde intensiver, je näher er kam. Aber von dem Mann ging mehr als nur der Geruch aus. So etwas wie ein milder Elektroschock lief durch Grillo, als der Mann seinen Sohn ergriff und der Kontakt durch alle drei Körper zustande kam. Sein Verstand schwang sich vorübergehend in höchste Höhen empor, in einen Raum, wo Träume gleich

mitternächtlichen Sternen hingen, und seine körperliche Zerbrechlichkeit war vergessen. Es war allzu schnell und beinahe brutal vorbei, als Fletcher die Hände vom Gesicht seines Sohnes nahm. Grillo sah zu Hotchkiss. Seinem

335

Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er auch das kurze Hochgefühl erlebt. Tränen standen ihm in den Augen.

»Was wird passieren?« sagte Grillo, der wieder zu Tesla sah.

»Fletcher geht fort.«

»Warum? Wohin?«

»Nirgends und überall«, sagte Tesla.

»Woher weißt du das?«

» Weil ich es ihr gesagt habe«, lautete Fletchers Antwort.

»Die Essenz muß bewahrt werden.«

Er sah Grillo an, und der leise Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

»Nehmen Sie meinen Sohn mit, meine Herren«, sagte er.

»Halten Sie ihn aus der Schußlinie.«

»Was?«

»Geh einfach, Grillo«, sagte Tesla. »Was von nun an

geschieht, geschieht genau so, wie er es will.«

Sie nahmen Howie wie geheißen durchs Fenster mit hinaus.

Hotchkiss ging voraus und nahm den Körper des Jungen in Empfang, der so schlaff wie der eines frisch Verstorbenen war.

Als Grillo die Last des Jungen weitergab, hörte er Tesla hinter sich sprechen.

Sie sagte nur: »Der Jaff!«

Der andere Entkommene, Fletchers Feind, stand an der

Grenze des Parkplatzes. Die Menge, die inzwischen fünf- bis sechsmal so groß wie am Anfang war, hatte sich geteilt, ohne allzu nachdrücklich dazu aufgefordert worden zu sein, so daß ein Gang zwischen den beiden Gegnern entstanden war. Der Jaff war nicht allein gekommen. Hinter ihm standen zwei makellose kalifornische Schönheiten, die Grillo nicht kannte.

Hotchkiss schon.

»Jo-Beth und Tommy-Ray«, sagte er.

Als er einen Namen hörte - oder beide -, hob Howie den Kopf.

»Wo?« fragte er, sah sie aber, bevor Zeit für eine Antwort 336

war. »Laßt mich los«, sagte er und bemühte sich, Hotchkiss wegzustoßen. »Sie bringen sie um, wenn wir sie nicht

aufhalten. Begreift ihr denn nicht, sie bringen sie um.«

»Es steht mehr als Ihre Freundin auf dem Spiel«, sagte Tesla, und Grillo fragte sich wieder, wie sie soviel in so kurzer Zeit erfahren hatte. Ihr Informant, Fletcher, trat nun aus dem Supermarkt heraus, ging an ihnen allen vorbei - Tesla, Grillo, Howie und Hotchkiss - und stellte sich ans andere Ende der Gasse in der Menge, dem Jaff gegenüber.

Der Jaff ergriff als erster das Wort.

» Was soll das alles?« wollte er wissen. »Deine Maßnahmen haben die halbe Stadt geweckt.«

»Die Hälfte, die du nicht vergiftet hast«, erwiderte Fletcher.

»Rede dich nicht selbst ins Grab. Fleh ein wenig. Sag mir, daß du mir deine Eier gibst, wenn ich dich leben lasse.«

»Hat mir nie viel bedeutet.«

»Deine Eier?«

»Das Leben.«

»Du hattest Ambitionen«, sagte der Jaff und ging ganz langsam auf Fletcher zu. »Leugne es nicht.«

»Andere als du.«

»Stimmt. Meine hatten Größe.«

»Du darfst die ›Kunst‹ nicht bekommen.«

Der Jaff hob die Hand und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, als wollte er Geld zählen.

»Zu spät. Ich spüre sie bereits in den Fingern«, sagte er.

»Nun gut«, antwortete Fletcher. »Wenn du willst, daß ich flehe, dann flehe ich. Die Essenz muß erhalten bleiben. Ich flehe dich an, die Finger davon zu lassen.«

»Du verstehst nicht, was?« sagte der Jaff. Er war ein paar Meter von Fletcher entfernt stehengeblieben. Jetzt folgte der Junge und zerrte seine Schwester mit.

»Mein Fleisch und Blut«, sagte der Jaff und deutete auf seine Kinder, »wird alles für mich tun. Ist es nicht so, Tommy-Ray?«

337

Der Junge grinste.

»Alles.«

Tesla hatte so sehr auf den Wortwechsel zwischen den

beiden Männern geachtet, daß sie gar nicht bemerkt hatte, wie sich Howie von Hotchkiss davonschlich, bis er ihr zuflüsterte:

»Pistole.«

Sie hatte die Waffe mit aus dem Supermarkt gebracht. Sie drückte sie widerstrebend in Howies verletzte Hand.

»Er wird sie umbringen«, murmelte Howie.

»Es ist seine Tochter«, flüsterte Tesla als Antwort.

»Glauben Sie, das interessiert ihn?«

Als sie sich abwandte, sah sie ein, daß der Junge recht hatte.

Welche Veränderungen Fletchers Große Arbeit - Nuncio hatte er sie genannt - in dem Jaff bewirkt hatte, sie hatten den Mann eindeutig in den Wahnsinn getrieben. Sie hatte zwar nur kurz Zeit gehabt, die Visionen aufzunehmen, die Fletcher mit ihr geteilt hatte, und sie begriff den komplexen Charakter der

›Kunst‹, der Essenz, des Kosm und Metakosm nicht einmal ansatzweise; aber ihr war klar: In den Händen eines solchen Wesens würde diese Macht zu einer Macht des unabsehbaren Bö-

sen werden.

»Du hast verloren, Fletcher«, sagte der Jaff. »Du und dein Kind, ihr habt nicht in euch, was es heißt... modern zu sein.« Er lächelte. »Diese beiden dagegen sind auf des Messers Schneide. Alles ist ein Experiment, richtig?«

Tommy-Ray hatte die Hand auf Jo-Beths Schulter gelegt, nun strich er damit über ihre Brust. Jemand in der Menge machte eine Bemerkung darüber, verstummte aber, als der Jaff in seine Richtung sah. Jo-Beth wich vor ihrem Bruder zurück, aber Tommy-Ray wollte sie nicht freigeben.

Er zog sie zu sich zurück und neigte seinen Kopf zu ihrem.

Ein Schuß verhinderte den Kuß; die Kugel schlug vor Tommy-Rays Füßen in den Asphalt.

»Laß sie los«, sagte Howie. Seine Stimme war nicht kräftig, 338

aber trotzdem durchdringend.

Tommy-Ray tat, was ihm befohlen worden war, und betrachtete Howie mit einem Gesichtsausdruck gelinder Verwirrung.

Er nahm das Messer aus der Gesäßtasche. Der Menge entging nicht, daß Blutvergießen bevorstand. Einige wichen zurück; besonders die mit Kindern. Die meisten blieben.

Hinter Fletcher beugte sich Grillo hinüber und flüsterte mit Hotchkiss.

»Könnten Sie ihn hier fortschaffen?«

»Den Jungen?«

»Nein. Den Jaff.«

»Spart euch die Mühe«, murmelte Tesla. »Das würde ihn nicht aufhalten.«

»Was dann?«

»Das weiß der Himmel.«

»Möchtest du mich kaltblütig vor diesen ganzen netten Leuten hier erschießen?« sagte Tommy-Ray zu Howie. »Nur zu, wage es. Puste mich weg. Ich habe keine Angst. Ich mag den Tod, und der Tod mag mich. Drück ab, Katz. Wenn du den Mumm dazu hast.«

Er kam beim Sprechen langsam auf Howie zu, der sich kaum aufrecht halten konnte. Aber er hielt die Pistole auf Tommy-Ray gerichtet.

Der Jaff brachte das Duell zu einem Ende, indem er Jo-Beth schnappte. Die Berührung entlockte ihr einen Schrei. Howie sah zu ihr, und Tommy-Ray stürmte mit erhobenem Messer auf ihn zu. Tommy-Ray konnte Howie mit einem Schubs

umstoßen. Die Pistole flog davon. Tommy-Ray trat Howie fest zwischen die Beine und warf sich auf sein Opfer.

»Töte ihn nicht«, befahl der Jaff.

Er ließ Jo-Beth los und ging auf Fletcher zu. Zwischen seinen Fingern, in denen er die Kunst angeblich schon spüren konnte, troffen Perlen reinster Energie wie Ektoplasma hervor und zerplatzten an der Luft.

339

Er war bei den Kämpfenden angekommen und schien

eingreifen zu wollen, aber dann sah er nur auf sie hinunter wie auf zwei Hunde, die sich balgten, und ging an ihnen vorbei weiter auf Fletcher zu.

»Wir sollten uns zurückziehen«, raunte Tesla Grillo und Hotchkiss zu. »Es liegt nicht mehr in unseren Händen.«

Der Beweis dafür erfolgte Sekunden später, als Fletcher in die Tasche griff und ein Streichholzbriefchen hervorholte, auf dem Marvin's Food and Drug stand. Keinem der Zuschauer konnte entgehen, was gleich passieren würde. Sie hatten das Benzin gerochen. Sie wußten, woher es kam. Und jetzt die Streichhölzer. Eine Verbrennung stand bevor. Aber keiner wich zurück. Zwar verstand keiner viel, wenn überhaupt etwas, von dem Gespräch zwischen den Protagonisten, aber dennoch war kaum jemand darunter, der nicht im Innersten spürte, daß er hier Ereignisse von außerordentlicher Tragweite miterlebte.

Wie konnten sie sich abwenden, wo sie doch zum ersten Mal in ihrem Leben die Möglichkeit hatten, die Götter zu sehen?

Fletcher machte das Briefchen auf; zog ein Streichholz heraus. Er war gerade dabei, es anzuzünden, als neuerliche Pfeile aus Energie aus der Hand des Jaff schossen und auf Fletcher zurasten. Sie trafen seine Finger wie Kugeln, und ihre Wucht schleuderte Streichholz und Streichholzbriefchen aus Fletchers Händen.

»Vergeude deine Zeit nicht mit Tricks«, sagte der Jaff. »Du weißt, daß Feuer mir keinen Schaden zufügen wird. Und dir auch nicht, wenn du es nicht selbst möchtest. Und wenn du ausgelöscht werden möchtest, mußt du nur darum bitten.«

Diesesmal trug er sein Gift selbst zu Fletcher, anstatt es aus seinen Händen schießen zu lassen. Er näherte sich seinem Feind und berührte ihn. Ein Zittern lief durch Fletcher. Er drehte quälend langsam den Kopf so weit herum, daß er Tesla ansehen konnte. Sie sah soviel Verwundbarkeit in seinen Augen; er hatte sich geöffnet, um das Endspiel durchzuziehen, 340

das ihm vorschwebte, und das Böse des Jaff hatte

unmittelbaren Zugang zu seiner Essenz. Sein Gesichtsausdruck war ohne jeden Zweifel. Eine Botschaft des Chaos breitete sich von der Berührung des Jaff ausgehend in seinem Körper aus.

Er konnte nur durch den Tod davor gerettet werden.

Sie hatte keine Streichhölzer, aber sie hatte die Pistole von Hotchkiss. Sie riß sie ihm ohne ein Wort zu sagen aus der Hand. Ihre Bewegung erweckte die Aufmerksamkeit des Jaff, und sie sah ihm einen beängstigenden Moment direkt in die wahnsinnigen Augen - sah seinen Phantomkopf um sie herum anschwellen; einen anderen Jaff, der sich hinter dem ersten versteckte.

Dann richtete sie die Pistole auf den Boden hinter Fletcher und feuerte. Aber es schlug kein Funke, wie sie gehofft hatte.

Sie zielte noch einmal und verdrängte jeden Gedanken aus dem Kopf, außer dem nach einer Zündung. Sie hatte schon Feuer gelegt. Auf dem Papier, um die Aufmerksamkeit zu erregen.

Jetzt in Wirklichkeit.

Sie atmete langsam durch den Mund aus, wie sie es immer machte, wenn sie morgens an der Schreibmaschine Platz nahm, und drückte ab.

Es schien, als würde sie das Feuer auflodern sehen, bevor es tatsächlich entfacht wurde. Wie ein greller Sturm; der Funke war der Blitz, der ihm vorausging. Die Luft um Fletcher herum wurde gelb. Dann ging sie in Flammen auf.

Die Hitze war plötzlich und intensiv. Sie ließ die Pistole fallen und lief zu einer Stelle, wo sie besser beobachten konnte, wie es weiterging. Fletcher sah sie aus der sengenden Feuersbrunst heraus an, und sein Gesichtsausdruck zeigte eine Gelöstheit, die sie als Erinnerung daran, wie wenig sie das Wirken der Welt begriff, durch die Abenteuer tragen sollte, die die Zukunft für sie bereit hatte. Daß es einem Mann gefallen konnte zu verbrennen; daß er davon profitieren, im Feuer zur Reife kommen konnte, das war eine Lektion, die ihr keine 341

Schullehrerin auch nur annähernd hatte vermitteln können.

Aber da war die Tatsache, die durch ihre eigene Hand wahr geworden war.

Jenseits des Feuers sah sie den Jaff mit einem Achselzucken des Lächerlichmachens zurücktreten. Das Feuer hatte seine Finger erfaßt, wo sie Fletcher berührt hatten. Er blies sie aus wie fünf Kerzen. Hinter ihm zogen sich Howie und Tommy-Ray aus der Hitze zurück; sie hatten ihren Haß verschoben.

Doch dem allem schenkte sie ihre Aufmerksamkeit nur einen Herzschlag lang, dann wandte sie sich wieder dem Schauspiel des brennenden Fletcher zu. Selbst in diesem kurzen Zeitraum hatte sich sein Zustand verändert. Das Feuer, das wie eine Säule um ihn herum tobte, verzehrte ihn nicht, sondern verwandelte ihn, und bei dem Vorgang wurden Blitze strahlender Materie davongeschleudert.

Die Reaktion des Jaff auf diese Lichter - er wich vor ihnen zurück wie der Teufel vor Weihwasser - lieferte ihr einen Hinweis auf ihre Natur. Sie waren für Fletcher, was die Perlen, die die Streichhölzer fortgerissen hatten, für den Jaff waren; eine essentielle Energie, die freigesetzt wurde. Der Jaff haßte sie. Ihre Helligkeit machte das Gesicht hinter seinem Gesicht deutlich. Dieser Anblick, und der von Fletchers wundersamer Verwandlung, zogen sie näher an das Feuer, als sicher war. Sie konnte riechen, wie ihr Haar versengt wurde. Aber sie war so fasziniert, daß sie nicht zurückwich. Immerhin war dies ihr Tun. Sie war die Schöpferin. Wie der erste Affe, der eine Flamme gehütet und so den Stamm verwandelt hatte.

Das, wurde ihr klar, war Fletchers Hoffnung: die Verwandlung des Stamms. Dies war nicht nur ein Schauspiel. Die brennenden Splitter, die von Fletchers Körper ausgingen, trugen die Absichten ihres Erzeugers in sich. Sie schossen wie leuchtende Sporen aus der Säule heraus, die auf der Suche nach

fruchtbarem Boden waren. Dieser Boden waren die Bewohner des Grove, und die Glühwürmchen fanden sie wartend. Ihr kam 342

nur wundersam vor, daß keiner davonzulaufen versuchte.

Vielleicht hatten die vorhergehenden Gewalttaten die Feigen vertrieben. Der Rest war ein Spielball für die Magie; einige lösten sich sogar aus der Masse und gingen den Lichtern entgegen wie Kommunionsschüler zum Altargeländer. Als erste kamen Kinder, die nach den Splittern griffen und so vorführten, daß sie harmlos waren. Das Licht schlug gegen ihre ausgestreckten Hände oder die dargebotenen Gesichter, und das Feuer spiegelte sich kurz in ihren Augen. Die Eltern dieser Abenteuerlustigen wurden als nächste berührt. Ein paar, die getroffen worden waren, riefen ihren Partner zu: »Schon gut.

Es tut nicht weh. Es ist nur... Licht!«

Aber Tesla wußte, daß es mehr war. Es war Fletcher. Und indem er sich auf diese Weise weggab, löste sich sein leibliches Selbst allmählich auf. Brust, Hände und Lenden waren bereits verschwunden, Kopf und Hals saßen auf den Schultern, und die Schultern waren durch dünne, dunstige Stränge mit dem Unterleib verbunden, die Spielbälle für jede Laune des Feuers waren.

Noch während sie hinsah, lösten auch sie sich auf und wurden zu Licht. Ein Kinderreim fiel ihr dabei ein. Ihr Verstand sang: Jesus will mich für einen Sonnenstrahl. Ein altes Lied für ein neues Zeitalter.

Die Eröffnung dieses neuen Zeitalters näherte sich bereits ihrem Ende. Fletchers Leib war beinahe aufgelöst, sein Gesicht an Augen und Mund weggefressen. Der Schädel war

aufgebrochen, das Gehirn schmolz zu Helligkeit und wurde aus seiner Mulde geweht wie ein Löwenzahn im Augustwind.

Nachdem das Gehirn verschwunden war, lösten sich die

noch verbliebenen Teile Fletchers einfach im Feuer auf. Da sie keine Nahrung mehr hatten, erloschen die Flammen. Kein Niederbrennen; keine Asche; nicht einmal Rauch. Eben noch Helligkeit, Wärme und Wunder. Im nächsten Augenblick

nichts.

Sie hatte Fletcher so eingehend betrachtet, daß sie nicht 343

sagen konnte, wie viele Zuschauer von den Splittern getroffen worden waren. Ganz bestimmt viele. Möglicherweise alle.

Vielleicht hinderte einzig ihre große Zahl den Jaff an Repressalien. Immerhin wartete seine Armee in der Nacht.

Aber er hatte beschlossen, sie nicht zu rufen. Statt dessen machte er sich mit einem Minimum an Showeffekten aus dem Staub. Tommy-Ray ging mit ihm. Jo-Beth nicht. Während Fletchers Auflösung hatte sich Howie mit der Waffe in der Hand neben sie gestellt. Tommy-Ray konnte nichts weiter machen, als ein paar kaum verständliche Drohungen

auszustoßen und seinem Vater zu folgen.

Das war, im wesentlichen, der letzte Auftritt des Schamanen Fletcher. Selbstverständlich sollte es zu Nachwirkungen kommen, aber erst, wenn die Empfänger seines Lichts ein paar Stunden mit ihrer Gabe geschlafen hatten. Doch es gab unmittelbare Auswirkungen. Für Grillo und Hotchkiss die Befriedigung zu sehen, daß ihre Sinne sie bei der Erdspalte nicht getrogen hatten; für Jo-Beth und Howie das Wiedersehen nach Ereignissen, die sie beide dem Tode nahegebracht hatten; und für Tesla das Wissen, daß nach dem Dahinscheiden

Fletchers eine große Verantwortung auf sie übergegangen war.

Aber es war der Grove selbst, der die volle Wucht der nächtlichen Magie abbekommen hatte. Seine Straßen hatten Schrecken gesehen. Seine Bewohner waren von Geistern

berührt worden.

Bald würde es Krieg geben.

344

Fünfter Teil

Sklaven und Liebhaber

I

l

Jeder Alkoholiker hätte das Verhalten des Grove am nächsten Morgen gekannt. Es war das eines Mannes, der nachts zuvor eine Zechtour gemacht hatte und früh aufstehen und so tun mußte, als wäre nichts Unschickliches geschehen. Er würde sich ein paar Minuten unter die kalte Dusche stellen, um seinen Körper durch Schocktherapie wach zu machen, schwarzen Kaffee und Alka Seltzer zum Frühstück zu sich nehmen und danach mit einem nachdrücklicheren Gang als gewöhnlich und dem frostigen Lächeln einer Schauspielerin, die gerade bei der Oscar-Wahl verloren hat, dem Tag entgegentreten. An diesem Morgen wurde öfter Hallo und Wie-geht-es-Ihnen? gesagt, mehr Nachbarn winkten einander fröhlich zu, während sie mit den Autos zurückstießen, mehr Radios verkündeten

Wetterberichte - Sonne! Sonne! Sonne! - durch Fenster, die weit aufgerissen waren, wie um zu beweisen, daß es in diesem Haus keine Geheimnisse gab. Einem Fremden, der an diesem Morgen zum ersten Mal in den Grove gekommen wäre, hätte es so vorkommen müssen, als würde sich die Stadt für die Rolle von Perfectsville, USA, bewerben. Die allgemeine Atmosphäre erzwungener Freundlichkeit hätte ihm den Magen umgedreht.

Unten beim Einkaufszentrum, wo die Beweise der dionysischen Nacht kaum übersehen werden konnten, redete man über alles, nur nicht über die Wahrheit. Hells Angels waren von L.

A. hergekommen, ging eine Geschichte, um Verwüstungen 345

anzurichten. Mit jeder Wiederholung wurde die Geschichte glaubwürdiger. Manche behaupteten, sie hätten die Motorräder gehört. Ein paar gingen sogar soweit zu behaupten, sie hätten sie gesehen; sie verbrämten die kollektive Fiktion im sicheren Wissen, daß niemand Zweifel aussprechen würde. Am

Vormittag waren das Glas schon völlig weggeräumt und

Bretter vor die eingeschlagenen Fenster genagelt worden. Bis zum Mittag waren frische Fenster bestellt. Um zwei Uhr waren sie eingesetzt. Seit der Zeit des Bundes der Jungfrauen war der Grove nicht mehr so einhellig darauf aus gewesen, das Gleichgewicht wiederzuerlangen; und auch nicht so

heuchlerisch. Denn hinter verschlossenen Türen, in Bädern und Schlafzimmern und Wohnzimmern, bot sich eine ganz andere Geschichte. Hier verschwand das Lächeln, und der zielstrebige Gang wich nervösem Auf-und-ab-Schreiten und Weinen und dem Schlucken von Pillen, die mit der Leidenschaft von Goldgräbern gesucht wurden. Hier gestanden sich die Leute selbst ein - aber nicht einmal ihren Lebensgefährten oder ihren Hunden -, daß heute etwas schief war, das nie wieder gerade werden würde. Hier versuchten sich die Menschen an Geschichten zu erinnern, die ihnen als Kinder erzählt worden waren - die alten, versponnenen Geschichten, welche sie als Erwachsene so gut wie aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatten -, weil sie hofften, damit ihren derzeitigen Ängsten entgegenzu-wirken. Manche versuchten, ihre Ängste wegzutrinken.

Manche aßen. Manche überlegten, ob sie Priester werden sollten. Es war alles in allem ein verdammt seltsamer Tag.

Nicht ganz so seltsam vielleicht für jene, die mit harten Tatsachen jonglieren konnten, wie sehr diese Tatsachen auch allem zuwiderliefen, was gestern noch als Realität gegolten hatte. Für diese wenigen, die jetzt mit dem sicheren Wissen gesegnet waren, daß Ungeheuer und Gottheiten im Grove wandelten, lautete die Frage nicht: Ist es wahr? Sondern: Was bedeutet es?

346

Für William Witt war die Antwort darauf ein resignierendes Schulterzucken. Er konnte die Schrecken, mit denen er in dem Haus am Wild Cherry Glade terrorisiert worden war, nicht begreifen. Seine anschließende Unterhaltung mit Spilmont, der seinen Bericht als Erfindung verleumdet hatte, hatte ihn paranoid gemacht. Entweder existierte eine Verschwörung mit dem Ziel, die Machenschaften des Jaff geheimzuhalten, oder aber er, William Witt, verlor den Verstand. Aber die

Erinnerungen schlossen einander auch nicht gegenseitig aus, und das war doppelt beängstigend. Angesichts solch bitterer Schicksalsschläge hatte er sich daheim eingeschlossen, abgesehen von seinem kurzen Ausflug ins Einkaufszentrum gestern nacht. Er war spät dort eingetroffen und erinnerte sich heute kaum mehr an etwas, aber er erinnerte sich daran, daß er nach Hause gekommen war - und an die anschließende Nacht im Video-Babylon. Normalerweise geizte er mit seinen Porno-Vorführungen und beschloß, einen oder zwei Filme anzusehen, anstatt schweinisch in einem ganzen Dutzend zu schwelgen.

Aber gestern nacht war das Fernsehen zum Marathon

geworden. Als die Robinsons nebenan am folgenden Morgen ihre Kinder zum Spielplatz brachten, saß er immer noch vor dem Fernseher, die Rollos heruntergezogen; die Bierdosen waren eine Miniaturstadt zu seinen Füßen, und sah und sah. Er hatte seine Sammlung mit der Präzision eines

Chefbibliothekars archiviert, hatte Verweise und Querverweise angelegt. Er kannte die Stars dieser verschwitzten Epen mit sämtlichen Pseudonymen; er wußte Brustumfang und

Schwanzlänge; er kannte die Vorgeschichten und ihre

Spezialitäten. Er kannte die Handlungen der Filme auswendig, wie rudimentär sie auch sein mochten; seine Lieblingsszenen hatte er sich bis zu jedem Grunzen und jedem Abspritzen eingeprägt.

Aber heute erregte ihn die Vorführung nicht. Er ging von einem Film zum nächsten über wie ein Süchtiger zwischen 347

Stapeln Stoff, auf der Suche nach einem Schuß, den ihm niemand geben konnte, bis sich die Videos hoch neben dem Fernseher stapelten. Zweier, Dreier, oral, anal, Natursekt, Fesseln, Erziehung, lesbische Szenen, Dildoszenen,

Vergewaltigungen und romantische Szenen - er sah sich alles an, aber nichts gab ihm die Befriedigung, die er suchte. Seine Suche wurde zu einer Art Verfolgung seiner selbst. Was mich erregt, das bin ich, war sein halb ausgegorener Gedanke.

Es war eine verzweifelte Situation. Zum ersten Mal in seinem Leben - ausgenommen die Ereignisse mit dem Bund -

erregte ihn sein Voyeurismus nicht. Zum ersten Mal wollte er, daß die Darsteller an seiner Wirklichkeit teilnahmen, wie er an ihrer. Er war immer froh gewesen, daß er sie abschalten konnte, wenn er seine Ladung abgeschossen hatte; er hatte sogar etwas verächtlich auf ihre Vorstellungen reagiert, wenn er die Spuren der Faszination, die sie auf ihn ausübten, weggewischt hatte. Jetzt trauerte er um sie wie um Geliebte, die er verloren hatte, ohne sie je richtig gekannt zu haben, deren sämtliche Körperöffnungen er gesehen hatte, aber deren Intimität ihm verweigert worden war.

Doch kurz nach der Dämmerung, als seine Stimmung so tief gesunken war, wie er es noch nie erlebt hatte, kam ihm der seltsamste Gedanke: Vielleicht konnte er sie zu sich bringen; sie durch die schiere Hitze seines Verlangens Gestalt annehmen lassen. Man konnte Träume Wirklichkeit werden lassen.

Künstler machten das andauernd. Hatte nicht jeder etwas von einem Künstler in sich? Dieser kaum zu Ende gedachte

Gedanke hielt ihn vor dem Fernsehschirm fest, bei Die letzten Tage von Pompeji und Zur Lust geboren und Exzesse im Frauengefängnis; Filme, die er so gut wie seine eigene Vergangenheit kannte, die aber, anders als seine

Vergangenheit, auch in der Gegenwart leben konnten.

Er war nicht der einzige im Grove, der solche Gedanken hatte, 348

aber niemand sonst war so sehr aufs Erotische fixiert wie William. Derselbe Einfall - daß man eine wertvolle, essentielle Person, oder Personen, aus dem Verstand rufen und zum lebenden Gefährten machen konnte - kam jedem aus der

Menge, die sich am Vorabend vor dem Einkaufszentrum

eingefunden hatte. Stars von Seifenopern, Quizmaster, tote oder verlorene Verwandte, geschiedene Partner, vermißte Kinder, Comic-Figuren: Es gab so viele Namen, wie es

Gehirne gab, sie zu beschwören.

Bei manchen, zum Beispiel bei William Witt, kam die

Erscheinung ihrer Begierde so schnell in Fahrt - in mehreren Fällen von Besessenheit angefeuert, in anderen von Sehnsucht oder Neid -, daß zur Dämmerung des folgenden Tages bereits Klumpen in den Ecken ihrer Zimmer hingen, wo sich die Luft als Vorbereitung des Wunders verdichtete.

Im Schlafzimmer von Shuna Melkin, Tochter von Christine und Larry Melkin, machte sich eine legendäre Rock-Prinzessin, die vor ein paar Jahren an einer Überdosis gestorben, aber dennoch Shuna Melkins einziges Idol, ihre Besessenheit, war, durch leises Krächzen bemerkbar, das man für Wind in den Erkern hätte halten können, wenn Shuna die Melodie nicht gekannt haben würde.

In Ossie Lartons Blockhütte konnte man ein Kratzen hören, und er wußte mit einem inneren Lächeln, daß es sich um die Geburtswehen eines Werwolfs handelte, der ihm ein geheimer Gefährte war, seit er wußte, daß solche Kreaturen vorstellbar waren. Er hieß Eugene, dieser Werwolf, was - im zarten Alter von sechs, als Ossie seinen Gefährten erfunden hatte - ein angemesser Name für einen Mann zu sein schien, dem bei Vollmond ein Fell wuchs.

Bei Karen Conroy konnte man die drei Hauptdarsteller ihres Lieblingsfilms, Love Knows Your Name, einer kaum bekannten Schnulze, die sie sich während einer Reise nach Paris, welche schon lange zurücklag, sechsmal hintereinander weinend 349

angesehen hatte, als Hauch eines europäischen Parfüms in der Wohnung riechen.

Und so weiter, und so fort.

Am Nachmittag gab es niemanden mehr aus der Menge, der nicht den Eindruck gehabt hatte, als wären unerwartete Besucher gekommen - was selbstverständlich häufig abgetan oder ignoriert wurde. Die Bevölkerungszahl von Palomo Grove, die auf Befehl des Jaff um mehrere hundert Schrecken angestiegen war, sollte noch einmal ansteigen.

2

»Du hast schon zugegeben, daß du nicht verstanden hast, was gestern nacht passiert ist...«

»Es geht nicht darum, etwas zuzugeben, Grillo.«

»O. K. Werden wir nicht wütend aufeinander. Warum

schreien wir uns letztendlich immer wieder an?«

»Wir schreien uns nicht an.«

»O. K. Wir schreien uns nicht an. Ich bitte dich nur, an die Möglichkeit zu denken, daß dieser Botengang, auf den er dich geschickt hat...«

»Botengang?«

»Jetzt schreist du. Ich bitte dich nur, denk einen Augenblick nach. Dies könnte die letzte Reise werden, die du überhaupt unternimmst.«

»Möglichkeit akzeptiert.«

»Also laß mich mitkommen. Du bist noch nie südlich von Tijuana gewesen.«

»Du auch nicht.«

»Es ist hart...«

»Hör zu, ich habe Männern künstlerische Filme verkauft, denen Dumbo zu kompliziert war. Ich weiß, was hart ist. Wenn du etwas wahrhaft Nützliches machen willst, dann bleib hier 350

und werde gesund.«

»Ich bin schon gesund. Es ist mir nie besser gegangen.«

»Ich brauche dich hier, Grillo. Als Beobachter. Es ist noch längst nicht vorbei.«

»Und was soll ich beobachten?« fragte Grillo und legte den Streit bei, indem er das Thema wechselte.

»Du hast schon immer ein Auge für verborgene Zusammen-hänge gehabt. Wenn der Jaff seinen Zug macht, wie unauffällig auch immer, wirst du es merken. Hast du übrigens gestern nacht Ellen gesehen? Sie war mit ihrem Jungen in der Menge.

Du könntest damit anfangen, sie zu fragen, wie sie sich am Morgen danach fühlt...«

Nicht, daß Grillos Angst um ihre Sicherheit unbegründet gewesen wäre; und selbstverständlich hätte sie seine Gesellschaft während der vor ihr liegenden Reise gerne gehabt. Aber aus Gründen, die sie nicht behutsam ausführen konnte und die sie deshalb gar nicht ausführte, wäre seine Anwesenheit eine Störung, die sie nicht riskieren durfte, weder für ihn noch für die Aufgabe, die sie zu erledigen hatte. Es war eine der letzten Taten Fletchers gewesen, sie auszuerwählen, zur Mission zu gehen; er hatte sogar angedeutet, daß es irgendwie

vorherbestimmt gewesen war. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie über diesen Mystizismus gelächelt; aber nach der

vergangenen Nacht war sie gezwungenermaßen

unvoreingenommener. Die Welt der Geheimnisse, über die sie sich in ihren Spuk- und Raumschiff-Drehbüchern lustig gemacht hatte, ließ sich nicht so ohne weiteres verspotten. Sie hatte nach ihr gesucht, sie gefunden und sie - mitsamt ihrem Zynismus und allem - in ihre Himmel und ihre Höllen gestürzt.

Letztere in Gestalt der Armeen des Jaff; die Präsenz der ersteren in Fletchers Verwandlung: Fleisch zu Licht.

Mit der Aufgabe betreut, Agentin des toten Mannes auf Erden zu sein, empfand sie eine seltsame Entspannung, trotz 351

der Gefahren, die vor ihr lagen. Sie mußte ihren Zynismus nicht mehr hegen und pflegen, mußte ihre Fantasiegebilde nicht mehr von Augenblick zu Augenblick in das Wirkliche -

Solide, Greifbare - und das Fantastische - Nebulöse, Wertlose -

unterteilen. Wenn (falls) sie wieder an ihre Schreibmaschine kam, würde sie ihre spöttischen Drehbücher völlig neu schreiben und sie mit Glauben an die Geschichte erzählen, nicht weil jede Fantasie absolut wahr war, sondern weil es keine absolute Wirklichkeit gab.

Sie verließ den Grove am Vormittag und wählte eine Route, die sie am Einkaufszentrum vorbei aus der Stadt führte, wo der Status quo bereits wieder aufgebaut war. Wenn sie sich sputete, konnte sie die Grenze bei Einbruch der Nacht hinter sich gelassen haben; und die Misión de Santa Catrina - oder die leere Stelle, wo sie gestanden hatte, falls Fletchers Hoffnung begründet war - konnte sie noch vor Einbruch der Dämmerung erreichen.

Auf Geheiß seines Vaters hatte sich Tommy-Ray vergangene Nacht, lange nachdem sich die Menge verzogen hatte, wieder zum Einkaufszentrum zurückgeschlichen. Inzwischen war die Polizei eingetroffen, aber er hatte keine Schwierigkeiten gehabt, sein Ziel zu erreichen, und das war, das Terata zurückzubringen, das er mit eigenen Händen auf Katz' Rücken gesetzt hatte. Der Jaff wollte die Kreatur nicht nur

wiederhaben, damit die Polizei sie nicht fand. Sie war noch nicht tot, und wenn sie sich in den Händen ihres Schöpfers befand, konnte sie alles wiedergeben, was sie gesehen und gehört hatte, indem der Jaff die Finger wie ein Wunderheiler auf die Bestie legte und den Bericht aus dem Stoffwechsel des Terata zog.

Als er gehört hatte, was er hören wollte, tötete er den Überbringer der Nachricht.

»Schau, schau...«, sagte er zu Tommy-Ray, »... sieht so aus, 352

als müßtest du die Reise, von der ich dir erzählt habe, früher als geplant antreten.«

»Was ist mit Jo-Beth? Katz, dieser Dreckskerl, hat sie.«

»Wir haben gestern nacht schon genügend Anstrengung ver-plempert, als wir sie überzeugen wollten, sich zu unserer Familie zu gesellen. Sie hat uns abgewiesen. Wir vergeuden keine Zeit mehr. Soll sie selbst sehen, wie sie in dem Mahlstrom zurechtkommt.«

»Aber...«

»Schluß damit«, sagte der Jaff. »Deine Besessenheit ist wirklich lächerlich. Und sei nicht mürrisch! Man war dir gegenüber viel zu lange nachgiebig. Du glaubst, mit deinem Lächeln bekommst du alles, was du willst. Nun, sie wirst du nicht bekommen.«

»Du irrst dich. Und ich beweise es dir.«

»Jetzt nicht. Du mußt eine Reise antreten.«

»Zuerst Jo-Beth«, sagte Tommy-Ray und wandte sich von seinem Vater ab. Aber der Jaff legte ihm die Hand auf die Schulter, bevor er einen Schritt weit gekommen war. Tommy-Ray kreischte unter der Berührung.

»Verdammt, sei still!

»Du tust mir weh!«

»Das ist meine Absicht!«

»Nein... ich meine wirklich weh. Hör auf.«

»Bist du nicht derjenige, der den Tod liebt, mein Sohn?«

Tommy-Ray konnte spüren, wie die Beine unter ihm nachga-ben. Er tropfte aus Schwanz, Nase und Augen.

»Ich glaube, du bist nicht halb soviel wert wie deine Auf-schneidereien«, sagte der Jaff zu ihm. »Nicht halb soviel.«

»Tut mir leid... tu mir nicht mehr weh, bitte...«

»Ich glaube nicht, daß andere Männer ständig hinter ihren Schwestern herschnüffeln. Sie finden andere Frauen. Und sie sprechen nicht vom Tod, als wäre er eine Kleinigkeit, und fangen dann an zu winseln, sobald es ein wenig weh tut.«

353

»O. K.! O. K.! Ich habe verstanden. Würdest du jetzt aufhö-

ren, ja? Aufhören!«

Der Jaff ließ ihn los. Er fiel zu Boden.

»Es war für uns beide eine schlimme Nacht«, sagte sein Vater. »Uns wurde beiden etwas genommen... dir deine Schwester... mir die Befriedigung, Fletcher zu vernichten. Aber es liegen herrliche Zeiten vor uns. Glaub mir.«

Er streckte die Hand aus, um Tommy-Ray aufzuheben. Der Junge zuckte zusammen, als er die Finger auf seiner Schulter sah. Aber diesesmal war der Kontakt gütig, sogar lindernd.

»Du mußt einen Ort für mich besuchen«, sagte der Jaff. »Er heißt Misión de Santa Catrina...«

354

II

Howie merkte erst, als Fletcher aus seinem Leben

verschwunden war, wie viele unbeantwortete Fragen er hatte; Probleme, bei deren Lösung ihm nur sein Vater hätte helfen können. In der Nacht plagten sie ihn nicht. Er schlief zu fest.

Erst am nächsten Morgen bedauerte er seine Weigerung, sich von Fletcher unterrichten zu lassen. Ihm und Jo-Beth stand nur eine Methode zur Verfügung, nämlich sich die Geschichte, in der sie offenbar so eine entscheidende Rolle spielten, aus Hinweisen und der Aussage von Jo-Beths Mutter

zusammenzureimen.

Die Geschehnisse der vergangenen Nacht hatten eine Veränderung in Joyce McGuire bewirkt. Nachdem sie jahrelang versucht hatte, das Böse, das in ihr Haus eingedrungen war, fernzuhalten, hatte ihr letztliches Unvermögen, genau das zu tun, sie in gewisser Weise befreit. Das Schlimmste war geschehen; was gab es noch zu fürchten? Sie hatte gesehen, wie vor ihren Augen ihre persönliche Hölle geschaffen worden war, und sie hatte überlebt. Gottes Agent - in Gestalt des Pastors - hatte sich als wertlos erwiesen. Howie hatte sich auf die Suche nach ihrer Tochter gemacht und sie schließlich -

beide blutig und zerlumpt - nach Hause gebracht. Sie hatte ihn im Haus willkommen geheißen, sogar darauf bestanden, daß er die Nacht hier verbrachte. Am nächsten Morgen machte sie sich mit der Einstellung einer Frau im Haus zu schaffen, der man gesagt hat, daß ein Tumor in ihrem Körper gutartig ist und sie noch ein paar Jahre zu leben hat.

Als sie sich am Nachmittag alle drei zusammensetzten, um zu reden, erforderte es etwas Zeit, sie zum Sprechen zu bewegen, aber sie redete sich ihre Vergangenheit schließlich doch von der Seele, eine Geschichte nach der anderen.

Manchmal weinte sie beim Reden, besonders als sie von Arleen, Carolyn und Trudi erzählte, aber je tragischer die 355

Ereignisse wurden, die sie erzählte, desto unbeteiligter schilderte sie sie. Manchmal fügte sie Einzelheiten hinzu, die ihr erst später eingefallen waren, oder lobte jemanden, der ihr geholfen hatte, die schweren Jahre zu überstehen, als sie Jo-Beth und Tommy-Ray alleine großzog und wußte, daß man hinter ihrem Rücken von ihr als Nutte, die überlebt hatte, redete.

»Ich habe oft daran gedacht, den Grove zu verlassen«, sagte sie. »Wie Trudi.«

»Ich glaube nicht, daß ihr dadurch etwas erspart geblieben ist«, sagte Howie. »Sie war immer unglücklich.«

»Ich habe sie anders in Erinnerung. Ständig in irgend jemand verliebt...«

»Wissen Sie... in wen sie verliebt war, bevor sie mich bekommen hat?«

»Soll das heißen, ob ich weiß, wer dein Vater ist?«

»Ja.«

»Da habe ich eine gute Vermutung. Dein zweiter Vorname war sein erster. Ralph Contreras. Er war Gärtner der Lutherani-schen Kirche. Er hat uns beobachtet, wenn wir von der Schule nach Hause kamen. Jeden Tag. Weißt du, deine Mutter war sehr hübsch. Nicht wie ein Filmstar, so wie Arleen, aber mit dunklen Augen - du hast ihre Augen -, die immer feucht glänzten. Ich glaube, Ralph hat sie immer geliebt. Er redete freilich nicht viel. Er stotterte schrecklich.«

Darüber mußte Howie lächeln.

»Dann war er es. Das habe ich geerbt.«

»Ich höre nichts.«

»Ich weiß, es ist merkwürdig. Es ist weg. Fast so, als hätte die Begegnung mit Fletcher es von mir genommen. Sagen Sie, wohnt Ralph noch im Grove?«

»Nein. Er ist noch vor deiner Geburt weggegangen. Wahrscheinlich dachte er, daß sie ihn lynchen würden. Deine Mutter war ein weißes Mädchen der Mittelschicht, und er...«

356

Sie verstummte, als sie Howies Gesichtsausdruck sah.

»Er?«

»... war Spanier.«

Howie nickte. »Man lernt jeden Tag etwas Neues, richtig?«

sagte er und überspielte anmutig etwas, das ihn tief berührte.

»Wie dem auch sei, er ist wohl deshalb weggegangen«, fuhr Joyce fort. »Wenn deine Mutter je seinen Namen genannt hätte, wäre er sicher wegen Vergewaltigung angeklagt worden.

Aber das war es nicht. Wir wurden dazu getrieben, alle vier, von dem, was der Teufel in uns gepflanzt hatte.«

»Es war nicht der Teufel, Mama«, sagte Jo-Beth.

»Das sagtest du bereits«, antwortete sie seufzend. Die Energie schien plötzlich aus ihr zu weichen, als forderte das alte Vokabular seinen Tribut. »Vielleicht hast du recht. Aber ich bin zu alt, meine Ansichten noch zu ändern.«

»Zu alt?« sagte Howie. »Wovon sprechen Sie? Sie haben gestern nacht etwas Außergewöhnliches vollbracht.«

Joyce strich Howie über die Wange. »Du mußt mich glauben lassen, was ich glaube. Es sind doch nur Worte, Howard. Für dich der Jaff. Für mich der Teufel.«

»Und was sind dann Tommy-Ray und ich, Mama?« sagte Jo-Beth. »Der Jaff hat uns gemacht.«

»Das habe ich mich oft gefragt«, sagte Joyce. »Als ihr noch klein wart, habe ich euch ständig beobachtet und darauf gewartet, daß das Böse zum Vorschein kommen würde. Bei Tommy-Ray ist das geschehen. Sein Schöpfer hat ihn mitgenommen.

Vielleicht haben meine Gebete dich gerettet, Jo-Beth. Du bist mit mir zur Kirche gegangen. Du hast gelernt. Du hast auf den Herrn vertraut.«

»Also glaubst du, daß Tommy-Ray verloren ist?« fragte Jo-Beth.

Mama antwortete einen Augenblick nicht, aber nicht, wie aus ihrer Antwort ersichtlich wurde, weil sie diesbezüglich Zweifel hatte.

357

»Ja«, sagte sie schließlich. »Er ist verloren.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Jo-Beth.

»Nach allem, was er gestern nacht getan hat?« warf Howie ein.

»Er weiß nicht, was er macht. Der Jaff beherrscht ihn, Howie. Ich kenne ihn besser als einen Bruder...«

»Und das bedeutet?«

»Er ist mein Zwillingsbruder. Ich fühle, was er fühlt.«

»Das Böse ist in ihm«, sagte Mama.

»In mir ist das Böse auch«, antwortete Jo-Beth. »Vor drei Tagen hast du ihn noch geliebt. Jetzt sagst du, er ist verloren.

Du überläßt ihn dem Jaff. Ich werde ihn nicht so einfach aufgeben.« Sie verließ das Zimmer.

»Vielleicht hat sie recht«, sagte Joyce leise.

»Daß Tommy-Ray gerettet werden kann?« sagte Howie.

»Nein. Vielleicht ist der Teufel auch in ihr.«

Howie fand Jo-Beth im Garten, wo sie das Gesicht mit

geschlossenen Augen zum Himmel erhoben hatte. Sie drehte sich zu ihm um.

»Du glaubst, daß Mama recht hat«, sagte sie. »Daß Tommy-Ray nicht mehr zu helfen ist.«

»Nein. Wenn du glaubst, daß wir ihn retten können, dann nicht. Bring ihn zurück.«

»Sag das nicht nur, um mir eine Freude zu machen, Howie.

Wenn du hier nicht auf meiner Seite stehst, dann mußt du es mir sagen.«

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hör zu«, sagte er,

»wenn ich glauben würde, was deine Mutter sagt, wäre ich nicht zurückgekommen, oder? Ich bin es, vergiß das nicht.

Mister Beharrlichkeit. Wenn du meinst, daß wir den Einfluß, den der Jaff auf Tommy-Ray hat, unterbinden können, dann sollten wir es verdammt noch mal auch versuchen. Du solltest nur nicht von mir verlangen, daß ich ihn mag.«

358

Sie drehte sich ganz um und strich sich das Haar, das der Wind zerzaust hatte, aus dem Gesicht.

»Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich einmal im Garten deiner Mutter stehen und dich umarmen würde«, sagte Howie.

»Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder.«

»Nein, sie geschehen nicht. Sie werden gemacht. Du bist eines, und ich bin eines, und die Sonne ist eines, und daß wir drei hier zusammen sind, ist das größte von allen.«

359

III

Nach Teslas Abreise galt Grillos erster Anruf Abernethy. Ob er ihm alles erzählen sollte oder nicht, war nur ein Dilemma von vielen, in denen er sich befand. Das wahre Problem war jetzt mehr denn je, wie er es erzählen sollte. Er hatte nie die Instinkte eines Romanciers gehabt. Er bemühte sich beim Schreiben um einen Stil, der die Fakten so einsichtig wie möglich präsentierte. Keine stilistischen Klimmzüge, kein hochtrabendes Vokabular. Sein diesbezügliches geistiges Vorbild war überhaupt kein Journalist, sondern Jonathan Swift, der Verfasser von Gullivers Reisen, ein Mann, dem so viel daran lag, seine Satire deutlich zu vermitteln, daß er seine Werke mehrfach der Dienerschaft vorlas und sich so

vergewisserte, ob der Stil nicht die Aussage verdeckte. Diese Geschichte betrachtete Grillo als Eckstein. Und das war auch alles schön und gut, wenn man über die Obdachlosen in Los Angeles berichtete oder über ein Drogenproblem. Da sprachen die Fakten meist für sich allein.

Aber diese Geschichte - von der Höhle bis zu Fletchers Feuertod - bot ein verzwickteres Problem. Wie konnte er berichten, was er letzte Nacht gesehen hatte, ohne gleichzeitig zu berichten, was er empfunden hatte?

Er hielt sich bei seinem Gespräch mit Abernethy bedeckt.

Freilich wäre es sinnlos gewesen, so zu tun, als wäre gestern nacht überhaupt nichts im Grove passiert. Meldungen über den Vandalismus - wenn auch nicht die vollständige Geschichte -

waren schon in sämtlichen lokalen Nachrichten gekommen.

Abernethy wußte Bescheid.

»Waren Sie dort, Grillo?«

»Hinterher. Erst hinterher. Ich habe den Alarm gehört und...«

»Und?«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Es waren ein paar Scheiben eingeschlagen.«

360

»Hell's Angels auf dem Zerstörungstrip.«

»Haben Sie das gehört?«

»Ob ich das gehört habe? Sie sind doch angeblich der verdammte Reporter, Grillo, nicht ich. Was brauchen Sie denn?

Drogen? Alkohol? Einen Besuch von der verdammten Mude?«

»Es heißt Muse.«

»Mude, Muse, ist doch scheißegal. Bringen Sie mir eine Story, die die Leute lesen wollen. Es muß doch Verletzte gegeben haben...«

»Glaube ich nicht.«

»Dann erfinden Sie ein paar.«

»Ich habe etwas...«

»Was? Was?«

»Eine Story, über die noch niemand berichtet hat, wette ich.«

»Hoffentlich ist sie gut, Grillo. Ihr verdammter Job steht nämlich auf dem Spiel.«

»Droben bei Vance wird eine Party stattfinden. Um sein Ableben zu feiern.«

»O. K. Sie gehen hin. Ich will alles über ihn und seine Freunde. Der Mann war ein Tunichtgut. Ein Tunichtgut hat Tunichtgut-Freunde. Ich will Namen und Einzelheiten.«

»Manchmal hören Sie sich an, als hätten Sie zu viele Filme gesehen, Abernethy.«

»Was soll das heißen?«

»Vergessen Sie's.«

Noch lange, nachdem Grillo den Hörer aufgelegt hatte, sah er im Geiste das Bild von Abernethy vor sich, der nächtelang wach saß und Zitate aus irgendwelchen Zeitungsgeschichten einübte, um seine Darbietung als hartgesottener, verbissener Redakteur zu verbessern. Damit war er nicht allein, überlegte Grillo. Jeder hatte einen gottverdammten Film im Hinterkopf laufen, bei dem sein eigener Name über dem Titel stand. Ellen war die Frau, der Unrecht geschehen war und die schreckliche Geheimnisse zu wahren hatte. Tesla war das Wilde Weib von 361

West Hollywood, die in einer Welt zurechtkommen mußte, die sie nicht gemacht hatte. Dieser Gedankengang führte zur logischen Frage: Was war er? Der jugendliche Reporter auf heißer Spur? Der integre Mann, der durch die Verbrechen eines korrupten Systems zu Fall gebracht worden war? Keine Rolle paßte so zu ihm wie einst, als er, mit vom Gaspedal noch heißem Fuß, hier eingetroffen war, um die Buddy-Vance-Story zu berichten. Die Ereignisse hatten ihn irgendwie in eine Nebenrolle gedrängt. Andere, speziell Tesla, hatten die Hauptrollen übernommen.

Während er sein Äußeres im Spiegel betrachtete, fragte er sich, was es heißen mochte, ein Star - ein Stern - ohne Firmament zu sein. Möglicherweise die Freiheit, einen anderen Beruf zu wählen? Raketenwissenschaftler; Jongleur;

Liebhaber. Wie wäre es mit Liebhaber? Der Liebhaber von Ellen Nguyen? Das hörte sich nicht schlecht an.

Es dauerte lange, bis sie zur Tür kam, und als sie endlich da war, schien sie ein paar Sekunden zu brauchen, bis sie Grillo auch nur erkannte. Als er sie gerade ansprechen wollte, lächelte sie und sagte:

»Bitte... kommen Sie rein. Haben Sie sich von der Grippe erholt?«

»Noch etwas zittrig.«

»Ich glaube, ich bekomme sie auch...«, sagte sie, während sie die Tür zumachte. »Als ich aufwachte, fühlte ich mich... ich weiß nicht, wie...«

Die Vorhänge waren noch zugezogen. Die Wohnung sah

noch kleiner aus, als Grillo sie in Erinnerung hatte.

»Möchten Sie Kaffee?« sagte sie.

»Gern. Danke.«

Sie ging in die Küche und ließ Grillo in einem Zimmer zurück, in dem jedes Möbelstück mit Zeitschriften, Spielsachen oder schmutziger Wäsche übersät war. Erst als er sich Platz 362

schaffte, merkte er, daß er einen Zuschauer hatte. Philip stand am Ende des Durchgangs, der zu seinem Schlafzimmer führte.

Sein Ausflug zum Einkaufszentrum am Vorabend war verfrüht gewesen. Er sah immer noch krank aus.

»Hi«, sagte Grillo. »Wie geht's?«

Der Junge lächelte überraschenderweise, ein breites, offenes Lächeln.

»Hast du es gesehen?« sagte er.

»Was gesehen?«

»Im Einkaufszentrum«, fuhr Philip fort. »Du hast sie gesehen. Ich weiß es. Die schönen Lichter.«

»Ja, die habe ich gesehen.«

»Ich habe Ballon-Mann davon erzählt. Darum weiß ich, daß ich nicht geträumt habe.«

Er kam immer noch lächelnd zu Grillo.

»Ich habe dein Bild bekommen«, sagte Grillo. »Danke.«

»Die brauche ich jetzt nicht mehr«, sagte Philip.

»Wie das?«

»Philip?« Ellen kam mit Kaffee zurück. »Geh Mr. Grillo nicht auf die Nerven.«

»Keineswegs«, sagte Grillo. Er sah Philip wieder an. »Vielleicht können wir uns später über Ballon-Mann unterhalten«, sagte er.

»Vielleicht«, sagte der Junge, als hinge das einzig und allein von Grillos gutem Benehmen ab. »Ich gehe jetzt«, sagte er zu seiner Mutter.

»Klar, Herzblatt.«

»Soll ich ihm hallo sagen?« wandte sich Philip an Grillo.

»Bitte«, antwortete Grillo, ohne recht zu wissen, was der Junge meinte. »Sehr gerne.«

Zufrieden ging Philip wieder in sein Zimmer.

Ellen war damit beschäftigt, einen Sitzplatz für sich freizuräumen. Sie hatte Grillo den Rücken zugedreht und arbeitete gebückt. Der schlichte Morgenmantel haftete an 363

ihrem Körper. Ihre Gesäßbacken waren schwer für eine Frau ihrer Größe. Als sie sich wieder umdrehte, hatte sich der Saum des Ausschnitts verschoben. Die Falten entblößten das Brustbein. Sie hatte dunkle, glatte Haut. Sie bemerkte seinen abschätzenden Blick, als sie ihm Kaffee einschenkte, versuchte aber nicht, den Mantel zuzuziehen. Der Spalt führte Grillo jedesmal, wenn sie sich bewegte, in Versuchung.

»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte sie, als sie sich gesetzt hatten. »Ich habe mir Sorgen gemacht, als Ihre Freundin...«

»Tesla.«

»Tesla. Als Tesla mir gesagt hat, daß Sie krank sind. Ich gab mir die Schuld.« Sie trank einen Schluck Kaffee. Sie zuckte heftig zurück, als er ihre Zunge berührte. »Heiß«, sagte sie.

»Philip hat mir gesagt, daß Sie gestern unten im

Einkaufszentrum waren.«

»Sie auch«, antwortete sie. »Wissen Sie, ob jemand verletzt worden ist? Die vielen Glasscherben.«

»Nur Fletcher«, antwortete Grillo.

»Kenne ich nicht.«

»Der Mann, der verbrannt ist.«

»Es ist jemand verbrannt?« sagte sie. »Mein Gott, das ist schrecklich.«

»Sie haben es doch sicher gesehen?«

»Nein«, antwortete sie. »Wir haben nur die Scherben gesehen.«

»Und die Lichter. Philip hat von Lichtern gesprochen.«

»Ja«, sagte sie eindeutig verwirrt. »Das hat er zu mir auch gesagt. Wissen Sie, ich kann mich nicht daran erinnern. Ist es wichtig?«

»Wichtig ist, daß Sie beide wohlauf sind«, sagte er und verbarg seine Verwirrung hinter der Platitüde.

»Oh, uns geht es gut«, sagte sie, sah ihn unmittelbar an, und ihr Gesicht war plötzlich gar nicht mehr verwirrt. »Ich bin 364

müde, aber sonst geht es mir gut.«

Sie beugte sich nach vorne und stellte die Kaffeetasse ab, und dieses Mal ging der Morgenmantel soweit auf, daß Grillo ihre Brüste sehen konnte. Er zweifelte nicht daran, daß sie genau wußte, was sie tat.

»Haben Sie wieder etwas vom Haus gehört?« sagte er und genoß die Befriedigung, vom Geschäft zu reden, während er an Sex dachte.

»Ich soll dort sein«, sagte Ellen.

»Wann ist die Party?«

»Morgen. Ziemlich kurzfristig, aber ich glaube, viele Freunde von Buddy haben mit einer Art Abschiedsfeier

gerechnet.«

»Ich wäre gerne bei der Party dabei.«

»Wollen Sie darüber berichten?«

»Selbstverständlich. Es dürfte eine beachtliche

Versammlung werden, nicht?«

»Ich denke schon.«

»Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Wir wissen beide, daß im Grove etwas ganz Außergewöhnliches vor sich geht.

Gestern nacht, das war nicht nur das Einkaufszentrum...« Er verstummte, als er sah, daß ihr Gesichtsausdruck nach Erwähnung der vergangenen Nacht wieder geistesabwesend wurde.

War dies eine selbst hervorgerufene Amnesie oder Teil des na-türlichen Prozesses von Fletchers Zauber? Ersteres, vermutete er. Philip, der Veränderungen des Status quo geringeren Widerstand entgegensetzte, hatte diese Gedächtnisprobleme nicht.

Als Grillo wieder von der Party sprach, schenkte sie ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Glauben Sie, Sie könnten mich reinschmuggeln?« fragte er.

»Sie müssen vorsichtig sein. Rochelle weiß, wie Sie aussehen.«

»Können Sie mich nicht offiziell einladen? Als Presse?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es wird keine Presse dabei sein«, 365

erklärte sie. »Es ist ein rein privates Zusammentreffen. Nicht alle Freunde Buddys legen wert auf Publicity. Manche hatten zuviel davon. Manchen wäre es lieber, sie hätten überhaupt keine. Er hat sich mit vielen Männern eingelassen... wie hat er sie genannt? ... schwergewichtige Spieler. Möglicherweise die Mafia, glaube ich.«

»Um so mehr Grund, daß ich dort sein sollte«, sagte Grillo.

»Nun, ich werde tun, was ich kann, zumal Sie durch meine Schuld krank geworden sind. Wahrscheinlich kommen so viele Gäste, daß Sie in der Menge untertauchen können.«

»Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«

»Noch Kaffee?«

»Nein, danke.« Er sah auf die Uhr, bekam die Zeit aber nicht mit.

»Sie werden nicht gehen«, sagte sie. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Dasselbe galt für seine Antwort.

»Nein. Wenn Sie möchten, daß ich bleibe.«

Sie legte ihm ohne ein weiteres Wort die Hand auf die Brust.

»Ich möchte, daß Sie bleiben«, sagte sie.

Er sah unwillkürlich zu Philips Zimmer.

»Keine Bange«, sagte sie. »Er spielt stundenlang.« Sie schob die Finger zwischen Grillos Hemdknöpfe. »Geh mit mir ins Bett«, sagte sie.

Sie stand auf und führte ihn ins Schlafzimmer. Im Vergleich zur Unordnung draußen war es spartanisch. Sie ging zum Fenster, ließ die Rollos halb herunter, was dem ganzen Zimmer eine pergamentartige Färbung verlieh, setzte sich dann aufs Bett und sah zu ihm auf. Er bückte sich, küßte sie, glitt mit den Händen in den Morgenmantel und strich sanft über ihre Brüste.

Sie drückte seine Hände an sich und beharrte auf drastischerer Behandlung. Dann zog sie ihn auf sich. Durch den

Größenunterschied lag sein Kinn auf ihrer Stirn, aber sie schlug einen erotischen Vorteil daraus, knöpfte ihm das Hemd auf und leckte die Brust, auf der sie mit der Zunge feuchte Spuren von 366

einer Brustwarze zur anderen zog. Dabei ließ sie seine Hände die ganze Zeit nicht los. Sie grub die Nägel mit schmerzhafter Heftigkeit in seine Haut. Er wehrte sich, zog die Hände weg und wollte nach dem Saum ihres Morgenmantels greifen, aber ihre Hand war vor seiner dort. Er rollte von ihr herunter und wollte anfangen, sich auszuziehen, aber sie packte sein Hemd mit einem ebenso eisenhaften Griff und hielt ihn an ihrer Seite, vergrub das Gesicht an seiner Schulter, knöpfte den Knoten des Gürtels mit einer Hand auf und schlug den Saum zurück.

Darunter war sie nackt. Sogar doppelt nackt. Ihre Scham war völlig kahlrasiert.

Jetzt wandte sie das Gesicht ab und machte die Augen zu.

Sie hielt sein Hemd immer noch mit einer Hand fest, doch die andere lag schlaff an ihrer Seite, und so schien sie ihm ihren Körper anzubieten wie einen Teller, von dem er sich nach Gutdünken bedienen konnte. Er legte ihr die Hand auf den Bauch und glitt tiefer zu ihrer Fotze; er drückte fest auf Haut, die fast poliert aussah und sich auch so anfühlte.

Ohne die Augen aufzumachen, murmelte sie: »Was du

willst.«

Diese Erklärung brachte ihn vorübergehend aus der Fassung.

Er war daran gewöhnt, daß dies eine Sache zwischen zwei gleichwertigen Partnern war, doch diese Frau lehnte derlei Artigkeiten ab und bot ihm freie Verfügung über ihren Körper an. Das erfüllte ihn mit Unbehagen. Als Heranwachsendem wäre ihm ihre Unterwürfigkeit ungeheuer erotisch erschienen.

Heute schockierte sie sein liberales Feingefühl. Er sprach ihren Namen aus und hoffte auf einen Hinweis von ihr, aber sie ging nicht darauf ein. Erst als er sich wieder aufsetzte, um das Hemd auszuziehen, schlug sie die Augen auf und sagte:

»Nein. So, Grillo, so.«

Ihr Gesichtsausdruck und der Klang ihrer Stimme waren wie Wut, was das Verlangen in ihm auslöste, willfährig zu reagieren. Er rollte sich auf sie, nahm ihren Kopf zwischen die 367

Hände und stieß ihr die Zunge in den Mund. Sie drängte ihm den Körper von der Matratze entgegen, und zwar so ungestüm, daß er sicher war, sie empfand dabei ebensoviel Schmerzen wie Lust.

Im Zimmer, wo sie gewesen waren, zitterten die Tassen wie bei einem gelinden Erdbeben. Staub hauchte über den Tisch, aufgewirbelt von der Bewegung eines beinahe unsichtbaren Etwas, das die hängenden Schultern von der dunkelsten Ecke des Zimmers löste und sich, mehr schwebend als gehend, der Schlafzimmertür näherte. Seine Gestalt war rudimentär, aber dennoch zu solide, daß man sie als bloßen Schatten abtun konnte; es war jedoch so wenig vorhanden, daß auch der Name Gespenst unangebracht war. Doch was immer es gewesen war oder werden würde, es hatte selbst in seinem derzeitigen Zustand ein Ziel. Von der Frau, die ihm momentan durch ihre Träume Stofflichkeit verlieh, angezogen, näherte es sich dem Schlafzimmer. Dort wimmerte es - da ihm Zutritt verwehrt wurde - vor der Tür und wartete auf Anweisungen.

Philip kam aus seinem Allerheiligsten heraus und ging auf der Suche nach etwas Eßbarem in die Küche. Er machte die Keksdose auf, holte Schokoplätzchen heraus und ging wieder dorthin zurück, woher er gekommen war. Er hatte ein

Plätzchen für sich in der linken Hand, und drei in der rechten für seinen Gefährten, dessen erste Worte gewesen waren: »Ich habe Hunger.«

Grillo hob den Kopf von Ellens feuchtem Gesicht. Sie schlug die Augen auf.

»Was ist?« sagte sie.

»Es ist jemand an der Tür.«

Sie hob den Kopf vom Bett und biß ihn ins Kinn. Es tat weh, und er zuckte zusammen.

»Laß das«, sagte er.

368

Sie biß noch fester.

»Ellen...«

»Beiß halt auch«, sagte sie.

Er hatte keine Zeit, seinen bestürzten Gesichtsausdruck zu entfalten. Sie erkannte ihn und sagte sofort: »Es ist mein Ernst, Grillo«, und drückte ihm den Finger in den Mund und den Handballen ans Kinn. »Mach auf«, sagte sie. »Ich will, daß du mir weh tust. Hab keine Angst. Ich will es so. Ich bin nicht zimperlich. Und nicht zerbrechlich.«

Er schüttelte ihre Hand ab.

»Mach es«, sagte sie. »Bitte, mach es.«

»Du willst es?«

»Wie oft denn noch, Grillo. Ja.«

Sie nahm die freie Hand hinter seinen Kopf. Er ließ sein Gesicht wieder auf ihres ziehen, knabberte an ihren Lippen und dem Hals und testete ihren Widerstand. Sie leistete keinen.

Statt dessen stöhnte sie, und zwar um so lauter, je fester er biß.

Ihre Reaktion räumte sämtliche Bedenken aus. Er arbeitete sich an ihrem Hals hinab zu den Brüsten, und dabei wurde ihr Stöhnen immer lauter; dazwischen hauchte sie seinen Namen und peitschte ihn an.

Ihre Haut rötete sich, nicht nur von den Bissen, sondern vor Erregung. Plötzlich brach ihr der Schweiß aus. Er faßte mit der Hand zwischen ihre Beine, mit der anderen hielt er ihr die Hände über den Kopf. Ihre Fotze war feucht und nahm seine Finger mühelos auf. Er keuchte vor Anstrengung, sie

festzuhalten, das Hemd klebte ihm am Rücken. So unbequem er lag, das Geschehen erregte ihn: ihr Körper völlig schutzlos, seiner hinter Reißverschluß und Knöpfen eingesperrt. Sein Schwanz tat weh, weil er nicht im richtigen Winkel steif war, aber der Schmerz machte ihn nur noch härter; Schmerz und Härte schaukelten einander hoch, während er sich an ihr gütlich tat und sie, da sie darauf bestand, daß er ihr Schmerzen zufügte, noch weiter spreizte. Ihre Fotze schmiegte sich heiß 369

um seine ausgestreckten Finger, ihre Brüste waren von den doppelten Halbmonden gezeichnet, die seine Zähne

hinterlassen hatten. Ihre Nippel standen wie Pfeilspitzen vor.

Er saugte sie ein; zerbiß sie. Ihr Stöhnen wurde zu

schluchzenden Schreien, ihre Beine zuckten so heftig unter ihm, daß sie beide beinahe vom Bett geworfen wurden. Als er einen Moment nachließ, packte sie seine Hand mit ihrer und stieß ihn noch tiefer in sich hinein.

»Nicht aufhören«, sagte sie.

Er griff den Rhythmus auf, den sie vorgegeben hatte, und verdoppelte ihn, worauf sie mit den Hüften gegen seine Hand stieß, so daß seine Finger bis zu den Knöcheln in sie eindrangen. Während er sie beobachtete, troff Schweiß von seinem Gesicht auf ihres. Sie hob mit zugekniffenen Augen den Kopf, leckte ihm die Stirn und den Mund ab, ohne ihn zu küssen; dennoch war er naß von ihrem Speichel.

Schließlich spürte er, wie sich ihr ganzer Körper

verkrampfte, und sie unterband die Bewegung seiner Hand. Ihr Atem ging kurz und hechelnd. Dann entspannte sich ihr Griff um ihn, der Blut hatte fließen lassen. Sie ließ den Kopf sinken.

Plötzlich war sie so leblos wie zu Beginn, als sie sich hingelegt und vor ihm entblößt hatte. Er rollte von ihr herunter, sein Herzschlag spielte Squash gegen die Wände von Brust und Schädel.

Sie lagen eine Zeitlang nebeneinander. Er konnte nicht sagen, ob es Sekunden oder Minuten waren. Sie regte sich als erste, richtete sich auf und zog den Morgenmantel um sich. Als er die Bewegung spürte, schlug er die Augen auf.

Sie knotete den Gürtel und zog den Mantel beinahe prüde zusammen. Er sah ihr nach, wie sie zur Tür ging.

»Warte«, sagte er. Es war noch nicht vorbei.

»Nächstesmal«, antwortete sie.

»Was?«

»Du hast schon richtig verstanden«, sagte sie. Es hörte sich 370

an wie ein Befehl. »Nächstesmal.«

Er stand vom Bett auf, wobei er sich im klaren war, daß seine Erregung jetzt wahrscheinlich lächerlich auf sie wirkte, aber ihre Verweigerung der Gegenseitigkeit erboste ihn. Sie sah ihm lächelnd zu, wie er auf sie zukam.

»Das war nur der Anfang«, sagte sie zu ihm. Sie rieb sich die Stellen am Hals, wo er sie gebissen hatte.

»Und was soll ich jetzt machen?« fragte Grillo.

Sie machte die Tür auf. Kühlere Luft wehte ihm ins Gesicht.

»Leck deine Finger«, sagte sie.

Erst jetzt fiel ihm das Geräusch wieder ein, das er gehört hatte, und er rechnete halb damit, Philip zu sehen, wie er von seinem Guckloch zurückwich. Aber es kam nur Luft herein, die die Spucke in seinem Gesicht zu einer dünnen, starren Maske trocknete.

»Kaffee?« sagte sie. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging gleich in die Küche. Grillo stand da und sah ihr nach.

Sein von der Krankheit geschwächter Körper reagierte auf den Adrenalinstoß, den er bekommen hatte. Seine Glieder zitterten von innen heraus.

Er lauschte den Geräuschen des Kaffeemachens: Wasser lief, Tassen wurden gespült. Ohne nachzudenken, hielt er die Finger, die stark nach ihrem Geschlecht rochen, an Nase und Lippen.

371

IV

Showmaster Lamar stieg vor dem Haus von Buddy Vance aus der Limousine und bemühte sich, sein Lächeln zu unterbinden.

Das fiel ihm schon günstigstenfalls reichlich schwer, aber jetzt

- ungünstigstenfalls, da sein alter Partner tot und so viele böse Worte zwischen ihnen nicht aus der Welt geschafft waren - war es ihm beinahe unmöglich. Zu jeder Aktion gab es eine Reaktion, und Lamars Reaktion auf den Tod war das Grinsen.

Er hatte einmal etwas über den Ursprung des Lächelns gelesen. Ein Anthropologe hatte die Theorie aufgestellt, daß es eine weiterentwickelte Reaktion des Affen auf diejenigen war, die im Stamm unerwünscht waren: die Schwachen oder

Unausgeglichenen. Essentiell besagte es: Du bist

unzuverlässig. Hau ab! Aus diesem verbannenden Grinsen hatte sich das Lachen entwickelt, das Zähnefletschen vor einem berufsmäßigen Idioten. In seiner Wurzel drückte es ebenfalls Verachtung aus. Es erklärte den Gegenstand der Heiterkeit ebenfalls zu etwas Unzuverlässigem: mit Grimassen hielt man ihn auf Distanz.

Lamar wußte nicht, ob die Theorie einer Analyse standhielt, aber er war schon so lange Komiker, daß er sie für plausibel hielt. Er hatte, wie Buddy, ein Vermögen damit gemacht, den Narren zu spielen. Der grundsätzliche Unterschied war seiner Meinung - und der zahlreicher gemeinsamer Freunde - nach der, daß Buddy ein Narr gewesen war. Was nicht heißen sollte, daß er nicht um den Mann trauerte; das schon. Vierzehn Jahre lang waren sie die Herren über alle gewesen, die sie zum Lachen gebracht hatten, ein gemeinsamer Erfolg, demzufolge sich Lamar nach dem Tod seines Ex-Partners nur um so

kläglicher fühlte, trotz der Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte.

Diese Kluft war schuld daran, daß Lamar die prächtige Rochelle nur ein einziges Mal gesehen hatte, und das auch nur 372

zufällig bei einem Wohltätigkeitsbankett, bei dem er und seine Frau Tammy an einem Tisch gegenüber von Buddy und seiner Braut des Jahres gesessen hatten. Diese Beschreibung hatte er -

unter Lachsalven - in mehreren Shows gebraucht. Beim Essen hatte er die Gelegenheit genutzt, Buddy eins auszuwischen, indem er sich mit Rochelle bekanntmachte, als der Bräutigam seine champagnergefüllte Blase leerte. Es war eine kurze Begegnung gewesen - Lamar war zu seinem Tisch

zurückgekehrt, sobald er sah, daß Buddy ihn gesehen hatte -, aber sie mußte einen Eindruck bei Rochelle hinterlassen haben, denn sie hatte ihn höchstpersönlich angerufen und zu der Party nach Coney Eye eingeladen. Er hatte Tammy davon überzeugt, daß sie sich bei der Trauerfeier nur langweilen würde, und war einen Tag früher angereist, damit er noch etwas Zeit für die Witwe hatte.

»Sie sehen wunderbar aus«, sagte er zu ihr, während er über Buddys Schwelle trat.

»Könnte schlimmer sein«, sagte sie, eine Antwort, die ihm nicht viel sagte, bis sie ihm eine Stunde später eröffnete, daß die Party zu Ehren von Buddy Vance von keinem geringeren als ihm selbst vorgeschlagen worden war.

»Sie meinen, er wußte, daß er sterben würde?« sagte Lamar.

»Nein. Ich meine, daß er zu mir zurückgekommen ist.«

Hätte er getrunken, hätte er wahrscheinlich den alten Verschlucken-und-Prusten-Routineanfall abgezogen, aber er war froh, es nicht getan zu haben, als ihm klarwurde, daß es ihr todernst damit war.

»Sie meinen... sein Geist?« sagte er.

»Das dürfte wohl der Ausdruck sein. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin nicht religiös, daher weiß ich nicht, wie ich es er-klären soll.«

»Sie tragen ein Kruzifix«, bemerkte Lamar.

»Das gehörte meiner Mutter. Ich habe es vorher noch nie getragen.«

373

»Warum jetzt? Haben Sie vor etwas Angst?«

Sie trank von dem Wodka, den sie sich eingeschenkt hatte.

Es war zu früh für Cocktails, aber sie brauchte ihn zur Beruhigung.

»Vielleicht ein bißchen«, sagte sie.

»Wo ist Buddy jetzt?« fragte Lamar und war beeindruckt, wie gut es ihm gelang, ein ernstes Gesicht zu wahren. »Ich meine... ist er hier im Haus?«

»Ich weiß nicht. Er kam mitten in der Nacht zu mir, sagte, daß er diese Party wünschte, und ging wieder.«

»Sobald der Scheck eintraf, richtig?«

»Das ist kein Witz.«

»Tut mir leid. Sie haben natürlich recht.«

»Er sagte, er möchte, daß alle in sein Haus kommen und feiern.«

»Darauf trinke ich«, sagte Lamar und hob das Glas. »Wo immer du bist, Buddy. Skol.«

Nachdem der Trinkspruch vorbei war, entschuldigte er sich und ging ins Bad. Interessante Frau, dachte er unterwegs.

Natürlich verrückt und - so wollte es das Gerücht - süchtig nach jeder aufputschenden Chemikalie, die sie bekommen konnte, aber er selbst war auch kein Heiliger. In dem mit schwarzem Marmor verkleideten Bad richtete er sich unter den gaffenden Blicken einer ganzen Reihe von Jahrmarktsmasken eine Prise Kokain und schnupfte gelassen. Seine Gedanken kreisten wieder um die Schönheit unten. Er würde sie haben; so sah es aus. Vorzugweise in Buddys Bett, und mit Buddys Handtüchern, mit denen er sich danach abwischen würde.

Er ließ sein grinsendes Spiegelbild zurück und ging wieder ins Treppenhaus hinaus. Welches war Buddys Schlafzimmer?

fragte er sich. Hatte er Spiegel an der Decke, wie in dem Hurenhaus in Tucson, das sie früher einmal gemeinsam

besucht hatten und wo Buddy gesagt hatte, während er seinen verdammten Riesenschwanz einpackte: Eines Tages, Jimmy, 374

will ich so ein Schlafzimmer haben?

Lamar machte ein halbes Dutzend Türen auf, bevor er das Schlafzimmer fand. Es war, wie alle anderen Zimmer auch, mit Jahrmarktsattraktionen geschmückt. Kein Spiegel an der Decke. Aber das Bett war riesig. Groß genug für drei, was immer Buddys Lieblingszahl gewesen war. Er wollte sich gerade umdrehen und wieder nach unten gehen, als Lamar im angrenzenden Badezimmer Wasser fließen hörte.

»Rochelle, sind Sie das?«

Aber drinnen war kein Licht an. Offenbar war einfach ein Wasserhahn vergessen worden. Lamar stieß die Tür auf.

Buddy sagte von drinnen: »Bitte kein Licht.«

Ohne Koks im Blut wäre Lamar aus dem Haus gewesen,

bevor der Geist noch einmal sprach; aber die Droge machte ihn so langsam, daß Buddy seinem Partner klarmachen konnte, es bestünde kein Grund zur Angst.

»Sie sagte, daß du hier bist«, hauchte Lamar.

»Du hast ihr nicht geglaubt?«

»Nein.«

»Wer bist du?«

»Was soll das heißen, wer ich bin? Jimmy. Jimmy Lamar.«

»Natürlich. Komm rein. Wir sollten miteinander reden.«

»Nein... ich bleibe hier draußen.«

»Da kann ich dich nicht so gut hören.«

»Dreh das Wasser ab.«

»Das brauche ich zum Pissen.«

»Du pißt?«

»Nur wenn ich trinke.«

»Du trinkst?«

»Kannst du mir das zum Vorwurf machen, wo sie unten ist und ich sie nicht berühren kann?«

»Ja. Zu dumm.«

»Du mußt es für mich machen, Jimmy.«

»Was machen?«

375

»Sie berühren. Du bist doch nicht schwul, oder?«

»Das solltest gerade du besser wissen.«

»Natürlich.«

»Wie viele Frauen hatten wir gemeinsam.«

»Wir waren Freunde.«

»Die besten. Und ich muß sagen, es ist wirklich nett von dir, daß du mich Rochelle haben läßt.«

»Sie gehört dir. Und als Gegenleistung...«

»Was?«

»Sei wieder mein Freund.«

»Buddy. Du hast mir gefehlt.«

»Du hast mir gefehlt, Jimmy.«

»Du hattest recht«, sagte er, als er wieder unten war. »Buddy ist hier.«

»Du hast ihn gesehen.«

»Nein, aber er hat mit mir gesprochen. Er möchte, daß wir Freunde sind. Er und ich. Und Sie und ich. Enge Freunde.«

»Dann werden wir es sein.«

»Für Buddy.«

»Für Buddy.«

Oben dachte der Jaff über dieses neue und unerwartete Element des Spiels nach und hieß es gut. Er hatte vorgehabt, sich als Buddy auszugeben - ein einfacher Trick, wenn man bedachte, daß er sich die Gedanken des Mannes einverleibt hatte -, allerdings nur bei Rochelle. In dieser Gestalt war er vor zwei Nächten zu Besuch gekommen und hatte sie betrunken im Bett vorgefunden. Es war leicht gewesen, sie zu überzeugen, daß er der Geist ihres verstorbenen Mannes war; schwer war nur gewesen, sich zurückzuhalten und nicht das eheliche Recht zu verlangen. Jetzt unterlag der Partner derselben Täuschung, und somit hatte er zwei Agenten im Haus, die ihm helfen konnten, wenn die Gäste kamen.

376

Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht war er froh, daß er die Einsicht besessen hatte, die Party zu organisieren.

Fletchers Machenschaften hatten ihn überrascht. Durch seine Selbstzerstörung war es dem Gegner gelungen, ein Quentchen seiner Halluzigenien erzeugenden Seele in hundert, vielleicht zweihundert Personen einzupflanzen. In diesem Augenblick erträumten diese Leute ihre persönlichen Gottheiten und verliehen ihnen Gestalt. Aus früheren Erfahrungen wußte er, daß sie nicht besonders barbarisch sein würden, sicher seinen Terata nicht ebenbürtig. Und da ihr Erzeuger nicht mehr da war, ihnen Nahrung zu geben, würden sie auch nicht besonders lange auf dieser Existenzebene verweilen. Dennoch konnten sie seinen sorgfältig ausgeklügelten Plänen schaden. Es konnte sein, daß er die Geschöpfe, die er aus den Herzen Hollywoods preßte, brauchen würde, um sich gegen Fletchers Vermächtnis zu wehren.

Bald würde seine Reise, die angefangen hatte, als er das erste Mal von der Kunst hörte - was so lange her war, daß er sich nicht einmal mehr erinnern konnte, von wem -, damit zu Ende gehen, daß er die Essenz betrat. Nach den vielen Jahren der Vorbereitung würde es sein wie eine Heimkehr. Er würde ein Dieb im Himmel sein, und daher König des Himmels, da er der einzige dort sein würde, der den Thron stehlen konnte. Das Traumleben der Welt würde ihm gehören; er konnte allen Menschen alles antun und würde doch nie dafür bestraft werden.

Aber es verblieben noch zwei Tage. Den ersten - alle

vierundzwanzig Stunden - würde er brauchen, um seine

Ambitionen in die Tat umzusetzen.

Der zweite war der Tag der ›Kunst‹, wenn er den Ort erreichte, wo Morgen- und Abenddämmerung, Mittag und

Mitternacht im selben ewigen Augenblick stattfanden.

Und demzufolge gab es nur noch die Ewigkeit für ihn.

377

V

1

Als Tesla Palomo Grove verließ, war ihr, als wäre sie gerade aus einem Schlaf erwacht, in dem ein Traumlehrer ihr

beigebracht hatte, daß das ganze Leben ein Traum war. Von nun an gab es keine einfache Unterscheidung mehr zwischen Sinn und Unsinn; keine arrogante Annahme mehr, daß dieses Erlebnis real und jenes nicht war. Vielleicht lebte sie in einem Film, dachte sie beim Fahren. Das war eigentlich gar kein schlechter Einfall für ein Drehbuch: die Geschichte einer Frau, die herausfand, daß die menschliche Geschichte im Grunde genommen nur eine gigantische Familiensaga war, die das unterschätzte Team Gen und Zufall verfaßt hatte und die Engel, Außerirdische wie Leute aus Pittsburgh ansahen, die

versehentlich eingeschaltet hatten und süchtig geworden waren. Vielleicht würde sie diese Geschichte schreiben, wenn das derzeitige Abenteuer überstanden war.

Aber es würde nicht aufhören; jetzt nicht mehr. Das war eine der Folgen, daß sie die Welt nun so sah. Ob gut oder schlecht, sie würde den Rest ihres Lebens damit verbringen, auf das nächste Wunder zu warten; und während sie darauf wartete, würde sie es mit Hilfe des Schreibens erfinden, damit sie selbst und ihr Publikum wachsam blieben.

Die Fahrt war einfach, jedenfalls bis Tijuana, daher hatte sie viel Zeit zum Nachdenken. Aber als sie die Grenze überquert hatte, mußte sie die Karte, die sie gekauft hatte, zu Rate ziehen und weiteres Nachdenken oder Prophezeien verschieben. Sie hatte sich Fletchers Anweisungen wie eine Antrittsrede eingeprägt, und auch diese erwiesen sich - in Verbindung mit der Karte - als hilfreich. Sie hatte die Halbinsel noch nie bereist und war überrascht, daß sie so verlassen war. In dieser Umgebung konnten der Mensch und seine Werke kaum auf Unterstützung hoffen, was sie zur Überzeugung brachte, daß die Ruinen der Mission, so 378

sie sie denn fand, wahrscheinlich erodiert oder in den Pazifik gespült sein würden, dessen Murmeln um so lauter wurde, je mehr sie sich der Küste näherte.

Mit dieser Vermutung hätte sie gar nicht falscher liegen können. Als sie um die Kurve des Berges fuhr, stellte sie sehr schnell fest, daß die Misión de Santa Catrina durchaus noch intakt war. Der Anblick erfüllte sie mit Nervosität. Noch ein paar Minuten Fahrt, und sie würde vor dem Ort stehen, wo eine die Welt verändernde Geschichte - von der sie nur den winzigsten Teil kannte - begonnen hatte. Für einen Christen hätte Bethlehem wohl ein ähnliches Gefühl erzeugt. Oder Golgatha.

Aber sie fand keine Stätte der Schädel. Ganz im Gegenteil.

Die Missionsgebäude waren zwar nicht wieder aufgebaut worden - die rußgeschwärzten Trümmer waren immer noch über einen weiten Teil verstreut -, aber jemand hatte offensichtlich darauf geachtet, daß der Rest vor weiterem Verfall bewahrt wurde. Der Grund für diese Erhaltung wurde erst deutlich, als sie das Auto ein Stück von dem Gebäude entfernt geparkt hatte und zu Fuß durch die staubige Einöde gegangen war. Die Mission, die für einen heiligen Zweck erbaut, dann verlassen und schließlich für ein Unternehmen genutzt worden war, das ihre Erbauer ganz gewiß als ketzerisch betrachtet haben würden, war erneut geheiligt.

Je näher sie den Mauern kam, desto mehr Beweise fand sie.

Zuerst Blumen, die als Sträuße und Kränze zwischen die verstreuten Steine gelegt worden waren und deren Farben in der klaren Seeluft bunt leuchteten.

Dann, vielsagender, kleine Haushaltsgeräte - ein Teller, ein Krug, eine Türklinke -, an die Stücke bekritzelten Papiers gebunden waren und die in solcher Vielzahl zwischen den Blumen lagen, daß sie kaum einen Schritt machen konnte, ohne darauf zu treten. Die Sonne ging langsam unter, aber die tiefen Goldtöne verstärkten nur noch den Eindruck, daß dieser Ort 379

nicht geheuer war. Sie schlich, so leise sie konnte, durch die Trümmer, weil sie Angst hatte, ihre Bewohner, menschlich oder sonstwie, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn schon im Ventura County wunderbare Wesen waren - die obendrein unverhohlen durch die Straßen wandelten -, wieviel

wahrscheinlicher war es dann, daß sich hier, auf diesem einsamen Plateau, Wunderwirker aufhielten?

Wer sie sein und in welcher Gestalt - wenn überhaupt - sie auftreten mochten, daran wagte sie nicht einmal zu denken.

Aber wenn die Vielzahl der Geschenke und Gaben auf dem Boden etwas bewies, dann die Tatsache, daß Gebete hier erhört wurden.

Die Bündel und Botschaften außerhalb der Mission waren schon rührend, aber die im Inneren waren noch bewegender.

Sie trat durch eine Lücke in der Mauer in eine stumme Menge von Porträts: Dutzende Fotos und Zeichnungen von Männern, Frauen und Kindern waren an den Wänden befestigt,

zusammen mit einem Kleidungsstück, einem Schuh, manchmal sogar einer Brille. Draußen hatte sie Geschenke gesehen. Dies, vermutete sie, waren Gegenstände, an denen ein Bluthund-Gott schnuppern sollte. Sie gehörten vermißten Personen und waren in der Hoffnung hergebracht worden, daß die Mächte die verirrten Seelen wieder auf den rechten Weg führen und sicher nach Hause geleiten würden.

Während sie im goldenen Licht stand und die Sammlung betrachtete, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Religiöse Zur-schaustellungen hatten sie selten, wenn überhaupt, je gerührt.

Die Empfindungen waren so selbstgefällig in ihrer Gewißheit, die Bilder so rhetorisch. Aber diese Beispiele schlichten Glaubens berührten einen Nerv in ihr, den sie schon lange abgestorben wähnte. Sie erinnerte sich, was sie empfunden hatte, als sie nach selbstgewähltem fünfjährigem Exil vom Busen der

Familie zum ersten Mal zum Weihnachtsfest nach Hause

zurückgekehrt war. Es war so klaustrophobisch gewesen, wie 380

sie erwartet hatte, aber als sie am Heiligabend um Mitternacht auf der Fifth Avenue spazierengegangen war, hatte ein vergessenes Gefühl ihr den Atem aus den Lungen und Tränen in die Augen getrieben: daß sie einst geglaubt hatte. Dieser Glaube war aus dem Innersten gekommen. Er war ihr nicht gelehrt und nicht eingebleut worden, er war einfach da. Die ersten Tränen waren Zeichen der Dankbarkeit, daß sie wieder glauben konnte; die nachfolgenden Zeichen der Traurigkeit, weil das Gefühl so schnell verschwand, wie es gekommen war, wie ein Geist, der durch sie hindurchging und weiterzog.

Diesesmal ließ es nicht nach. Es wurde noch stärker,

während die Sonne dunkler wurde und dem Meer

entgegensank.

Geräusche von jemandem, der sich tief in den Ruinen

bewegte, schreckten sie aus ihrem Nachdenken. Sie wartete verängstigt, bis ihr Puls wieder etwas langsamer schlug, dann fragte sie:

»Wer ist da?«

Keine Antwort. Sie ließ die Mauer der verlorenen Gesichter leise hinter sich und betrat durch eine Tür ohne Schwelle eine zweite Kammer. Diese hatte zwei Fenster, gleich Augen im Backstein, durch die die untergehende Sonne zwei rötliche Strahlen hereinschickte. Es war lediglich Instinkt, der ihre Ge-fühle untermauerte, aber sie spürte, daß dies das Allerheiligste des Tempels war. Es war zwar kein Dach mehr vorhanden, und die Ostwand war stark beschädigt, aber der Raum schien förmlich aufgeladen, als wären hier über mehrere Jahre hinweg Kräfte am Werk gewesen. Als Fletcher noch die Mission bewohnt hatte, hatte es offenbar die Funktion eines Labors gehabt. Überall lagen umgeworfene Tische, und die

Ausrüstung, die heruntergefallen war, hatte man offenbar an Ort und Stelle liegenlassen. Weder Geschenke noch Porträts hatten die Aura dieses erhaltenen Saals stören dürfen. Sand hatte sich um die umgestürzten Möbelstücke angesammelt, hier 381

und da wuchs Unkraut, aber die Kammer war noch so, wie sie gewesen war: Testament des Wunders - oder seines Vergehens.

Der Beschützer des Heiligtums stand in der von Tesla

entferntesten Ecke, jenseits der Lichtstrahlen, die durch das Fenster drangen. Sie konnte ihn kaum erkennen. Er trug entweder eine Maske, oder seine Gesichtszüge waren so breit wie eine Maske. Bisher hatte sie nichts erlebt, was sie um ihre Gesundheit fürchten ließ. Sie war zwar allein, verspürte aber keine Angst. Dies war ein Heiligtum, kein Ort der Gewalt.

Außerdem war sie im Auftrag der Gottheit hier, die in eben dieser Kammer gearbeitet hatte. Sie mußte mit dem Aufseher sprechen. »Mein Name ist Tesla«, sagte sie. »Doktor Richard Fletcher hat mich hergeschickt.«

Sie sah, daß der Mann in der Ecke mit einem leichten Heben des Kopfes auf die Erwähnung des Namens reagierte; dann hörte sie ihn seufzen.

»Fletcher?« sagte er.

»Ja«, antwortete Tesla. »Wissen Sie, wer er ist?«

Die Antwort war eine Gegenfrage, die mit einem starken spanischen Akzent ausgesprochen wurde: »Kenne ich Sie?«

»Ich sagte Ihnen doch«, meinte Tesla. »Er hat mich hergeschickt. Ich bin gekommen, um etwas zu erledigen, worum er selbst mich gebeten hat.«

Der Mann ging so weit von der Wand weg, daß das Licht sein Gesicht erhellte.

»Konnte er nicht selbst kommen?« fragte er.

Tesla brauchte eine Weile, bis sie eine Antwort

herausbekam. Der Anblick der wulstigen Stirn und flachen Nase des Mannes hatte sie durcheinandergebracht. Sie hatte einfach noch niemals so ein häßliches Gesicht gesehen.

»Fletcher lebt nicht mehr«, antwortete sie nach einer Weile, und ihre Gedanken kreisten halb um ihren Ekel und halb darum, wie sie das Wort tot vermieden hatte.

Die verzerrten Gesichtszüge vor ihr wurden traurig, aber ihre 382

Derbheit machte den Ausdruck fast zur Karikatur.

»Ich war hier, als er gegangen ist«, sagte der Mann. »Ich habe darauf gewartet, daß er... zurückkommt.«

Kaum hatte er diese Information preisgegeben, da wußte sie, wer er war. Fletcher hatte ihr gesagt, daß es vielleicht noch einen lebenden Zeugen der Großen Arbeit gab.

»Raul?« sagte sie.

Die tiefliegenden Augen wurden groß. Aber es war kein Weiß darin zu sehen. »Sie kennen ihn wirklich«, sagte er und kam einen weiteren Schritt ins Licht, das seine Züge so grausam betonte, daß sie sie kaum ansehen konnte. Auf der Leinwand hatte sie tausendmal häßlichere Kreaturen als ihn gesehen - erst in der vergangenen Nacht hatte sie es mit einem Geschöpf aus einem Alptraum zu tun gehabt -, aber die verwirrenden Signale dieses Hybriden beunruhigten sie mehr als alles, was ihr bislang unter die Augen gekommen war. Er war beinahe ein Mensch, ganz knapp, doch ihr Innerstes ließ sich nicht täuschen. Die Reaktion lehrte sie etwas, sie war aber nicht ganz sicher, was. Sie vergaß die Lektion wegen

dringenderer Fragen.

»Ich bin gekommen, um den Rest des Nuncio zu

vernichten«, sagte sie.

»Warum?«

»Weil Fletcher es so haben will. Seine Feinde sind immer noch auf der Welt, aber er nicht. Er hat Angst vor den Folgen, wenn sie hierherkommen und das Experiment finden.«

»Aber ich habe gewartet...«, sagte Raul.

»Das war gut. Es war gut, daß Sie die Anlage bewacht

haben.«

»Ich habe mich nicht von der Stelle gerührt. All die Jahre über. Ich bin da geblieben, wo mein Vater mich erschaffen hat.«

»Wie haben Sie überlebt?«

Raul sah von Tesla weg und blinzelte in die Sonne, die schon 383

fast untergegangen war.

»Die Menschen kümmern sich um mich«, sagte er. »Sie

verstehen nicht, was hier geschehen ist, aber sie wissen, daß ich ein Teil davon war. Einst waren die Götter auf diesem Berg. Das glauben sie. Lassen Sie mich es Ihnen zeigen.«

Er machte kehrt und führte Tesla aus dem Labor. Hinter der Tür befand sich eine weitere, noch kahlere Kammer; diese hatte nur ein Fenster. Sie sah, daß die Wände bemalt worden waren; Wandgemälde, deren Naivität die Inbrunst, mit der sie angefertigt worden waren, nur noch betonte.

»Das ist die Geschichte jener Nacht«, sagte Raul. »Wie sie sich ihrer Meinung nach zugetragen hat.«

Hier war es nicht heller als in dem Zimmer, das sie verlassen hatten, aber die Düsternis machte die Bilder geheimnisvoller.

»Hier ist die Mission, wie sie war«, sagte Raul und deutete auf ein beinahe originalgetreues Bild des Berges, auf dem sie standen. »Und das ist mein Vater.«

Fletcher stand vor dem Berg, sein Gesicht wirkte weiß und wild vor der Dunkelheit, die Augen wie zwei Monde. Seltsame Formen wucherten aus seinen Ohren und dem Mund und

hingen wie Satelliten um den Kopf.

»Was sind das?« fragte Tesla.

»Seine Vorstellungen«, lautete Rauls Antwort. »Die habe ich gemalt.«

»Welche Vorstellungen sehen denn so aus?«

»Dinge aus dem Meer«, lautete die Antwort. »Alles kommt aus dem Meer. Das hat mir Fletcher gesagt. Am Anfang war das Meer. Und am Ende, das Meer. Und dazwischen...«

»Essenz«, sagte Tesla.

»Was?«

»Hat er Ihnen nichts von der Essenz erzählt?«

»Nein.«

»Wo die Menschen in ihren Träumen hingehen.«

»Ich bin kein Mensch«, erinnerte Raul sie. »Ich bin sein 384

Experiment.«

»Aber das hat Sie doch sicher zum Menschen gemacht«,

sagte Tesla. »Ist das denn nicht genau die Funktion des Nuncio?«

»Ich weiß nicht«, sagte Raul schlicht. »Was immer es für mich getan hat, ich bin ihm nicht dankbar dafür. Ich war glücklicher dran... als Affe. Wenn ich ein Affe geblieben wäre, dann wäre ich schon längst tot.«

»Sagen Sie so etwas nicht«, meinte Tesla. »Es würde

Fletcher betrüben, daß Sie alles bedauern.«

»Fletcher hat mich verlassen«, erinnerte Raul sie. »Er hat mir genügend beigebracht zu wissen, was ich niemals sein kann, und dann hat er mich verlassen.«

»Er hatte seine Gründe. Ich habe seinen Feind gesehen, den Jaff. Der Mann muß aufgehalten werden.«

»Da...«, sagte Raul und deutete auf eine Stelle etwas weiter entfernt an der Mauer. »Da ist Jaffe.«

Das Porträt war hinreichend genau. Tesla erkannte den ver-zehrenden Blick, den aufgeblähten Kopf. Hatte Raul Jaffe tatsächlich in seinem weiterentwickelten Stadium gesehen, oder war sein Porträt des Mannes als monströses Baby eine

instinktive Reaktion? Sie hatte keine Gelegenheit, danach zu fragen. Raul lockte sie erneut weiter.

»Ich habe Durst«, sagte er. »Wir können uns den Rest später ansehen.«

»Dann ist es zu dunkel.«

»Nein. Sie kommen herauf und zünden Kerzen an, wenn die Sonne untergeht. Kommen Sie und unterhalten Sie sich eine Weile mit mir. Erzählen Sie mir, wie genau mein Vater gestorben ist.«

2

385

Tommy-Ray brauchte länger zur Misión de Santa Catrina als die Frau, die er verfolgte, und zwar wegen eines Zwischenfalls unterwegs, der zwar nebensächlich war, ihm aber eine Stelle in sich selbst zeigte, die er später noch sehr gut kennenlernen sollte. Als er am frühen Abend in einer kleinen Stadt südlich von Ensenada hielt, um seine ausgetrocknete Kehle zu

befeuchten, geriet er in eine Bar, in der man - für lediglich zehn Mäuse - einer Unterhaltung beiwohnen konnte, die in Palomo Grove vollkommen unmöglich gewesen wäre. Das Angebot

war zu verlockend, es auszuschlagen. Er bezahlte, kaufte ein Bier und wurde in ein verrauchtes Zimmer eingelassen, das höchstens doppelt so groß wie sein eigenes sein konnte. Das Publikum, bestehend aus etwa zehn Männern, saß auf

quietschenden Stühlen. Sie sahen einer Frau zu, die

Geschlechtsverkehr mit einem großen schwarzen Hund hatte.

Er fand nichts an dem Schauspiel erregend. Und der Rest des Publikums offenbar auch nicht, jedenfalls nicht im sexuellen Sinne. Sie verfolgten die Darbietung mit einer Erregung, die er erst verstand, als das Bier seine Wirkung in seinem erschöpften Körper tat und seinen Blickwinkel einengte, bis ihn das Gesicht der Frau hypnotisierte. Sie mochte früher einmal hübsch gewesen sein, aber jetzt war ihr Gesicht verbraucht, ebenso wie der Körper, und ihre Arme zeigten deutlich die Spuren der Sucht, die sie so tief hatte sinken lassen. Sie erregte den Hund mit der Erfahrung von jemandem, der das schon zahllose Male

gemacht hatte, dann ging sie vor ihm auf alle viere hinunter. Er beschnupperte sie und machte sich dann träge an seine Aufgabe. Erst als er sie bestiegen hatte, würde Tommy-Ray klar, was ihn an ihrem Gesicht so sehr faszinierte, und die andern wahrscheinlich auch. Sie sah aus, als wäre sie bereits tot. Der Gedanke war wie eine Tür in seinem Kopf, die sich zu einer stinkenden gelben Kammer öffnete, einer Kammer zum Suhlen. Er hatte diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen, nicht nur in den Gesichtern von Mädchen in

386

Pornoheften, sondern auch bei Berühmtheiten. Sex-Zombies; Star-Zombies; Tote, die sich als Lebende ausgaben. Als er sich wieder auf das Geschehen vor sich konzentrierte, hatte der Hund seinen Rhythmus gefunden und stieß mit hündischer Lust auf das Mädchen ein, wobei ihm Schaum aus dem Maul auf ihren Rücken tropfte; und plötzlich - als er sich vorstellte, das Mädchen wäre tot - war es sexy. Je erregter das Tier wurde, um so erregter wurde er auch und um so toter sah die Frau für ihn aus, während sie den Schwanz des Hundes in sich und seine Blicke auf sich spürte, bis es zu einem Wettlauf zwischen ihm und dem Hund wurde, wer als erster fertig sein würde.

Der Hund gewann, er arbeitete sich in stoßende Raserei, und dann hörte er mit einem Mal auf. Einem Hinweis folgend, stand einer der Männer in der ersten Reihe auf und trennte das Paar. Das Tier verlor augenblicklich das Interesse. Nachdem ihr Partner weggebracht worden war, befand sich die Frau allein auf der Bühne, wo sie Kleidungsstücke zusammensuchte, die sie wahrscheinlich abgelegt hatte, bevor Tommy-Ray hereingekommen war. Dann ging sie zur selben Seitentür hinaus, durch die der Hund und sein Zuhälter verschwunden waren, und dabei war ihr Gesicht so schlaff und ausdruckslos wie vorher. Offenbar folgte noch eine Darbietung, denn niemand stand auf. Aber Tommy-Ray hatte gesehen, was er sehen wollte. Er drängte sich durch eine Menge

Neuankömmlinge zur Tür und hinaus in die staubige Bar.

Erst viel später, als er die Mission schon fast erreicht hatte, stellte er fest, daß man ihm die Taschen ausgeräumt hatte. Er hatte keine Zeit umzukehren, das wußte er; und es hätte auch keinen Zweck. Jeder, der sich an ihn gedrückt hatte, konnte der Dieb sein.

Außerdem hatten sich die verlorenen Dollars gelohnt. Er hatte eine neue Definition des Todes gefunden. Nein, nicht einmal eine neue. Nur seine erste und einzige.

Als er den Berg hinauf zur Mission fuhr, war die Sonne 387

längst untergegangen, doch während des Aufstiegs überkam ihn ein deutliches Gefühl des deja vu. Sah er den Ort mit den Augen des Jaff? Ob dem so war oder nicht, das

Wiedererkennen erwies sich als nützlich. Er wußte, Fletchers Agentin war zweifellos vor ihm eingetroffen, daher beschloß er, das Auto ein Stück bergab stehenzulassen und den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen, damit sie sein Eintreffen nicht im voraus bemerkte. So dunkel es war, er reiste nicht blind.

Seine Füße kannten den Weg, auch wenn ihn seine Erinnerung nicht kannte.

Er war auf Gewalt vorbereitet, sollten die Umstände sie verlangen. Der Jaff hatte ihm eine Waffe besorgt - von einem der zahlreichen Opfer, denen der Jaff ihre Terata genommen hatte -

, und der Gedanke, sie zu benützen, hatte etwas Faszinierendes.

Nach einer Kletterpartie, bei der er Brustschmerzen hatte, befand er sich nun in Sichtweite der Mission. Hinter ihm war der Mond aufgegangen, und der hatte die Farbe eines Haifisch-bauchs. Er erhellte die verfallenen Mauern und die Haut von Tommy-Rays Armen und Händen mit seiner kränklichen

Farbe, so daß er sich nach einem Spiegel sehnte, in dem er sein Gesicht betrachten konnte. Sicherlich könnte er die Knochen unter dem Fleisch sehen; sein Schädel würde glänzen, wie seine Zähne glänzten, wenn er lächelte. Sagte ein Lächeln denn nicht genau das? Hallo, Welt, so sehe ich aus, wenn die feuchten Teile verfault sind.

Den Kopf voll solcher Gedanken schritt er durch die welken-den Blüten zur Mission.

3

Rauls Hütte lag fünfzig Meter hinter dem Hauptgebäude, ein primitives Bauwerk, das für zwei eigentlich schon viel zu klein war. Er war, erklärte er Tesla, ausschließlich auf die 388

Großzügigkeit der hiesigen Bevölkerung angewiesen, die ihm Nahrung und Kleidung als Gegenleistung dafür brachten, daß er Hüter der Mission war. Obwohl ihm nur armseligste Mittel zur Verfügung standen, hatte sich Raul angestrengt bemüht, seine Behausung von einem Stall zur Hütte aufzuwerten.

Überall waren Spuren einer großen Einfühlsamkeit zu

erkennen. Die Kerzen auf dem Tisch standen in einem Ring aus Steinen, die ihrer Glätte wegen ausgesucht worden waren; die Decke auf der schlichten Koje war mit den Federn von Meeresvögeln geschmückt worden.

»Ich habe nur ein Laster«, sagte Raul, nachdem er Tesla den einzigen Stuhl angeboten hatte. »Das habe ich von meinem Vater.«

»Und das wäre?«

»Ich rauche Zigaretten. Eine täglich. Sie werden sie mit mir teilen.«

»Ich habe früher geraucht«, begann Tesla. »Aber jetzt nicht mehr.«

»Heute abend werden Sie rauchen«, sagte Raul und ließ keinen Raum für Widerspruch. »Wir rauchen, um meines

Vaters zu gedenken.«

Er holte eine selbstgedrehte Zigarette und Streichhölzer aus einem kleinen Blechkästchen. Sie betrachtete sein Gesicht, während er sich daran machte, es anzuzünden. Was sie auf den ersten Blick abstoßend an ihm gefunden hatte, blieb abstoßend.

Seine Züge waren weder äffisch noch menschlich, sondern die unglücklichste Verbindung zwischen beidem. Doch in jeder anderen Hinsicht - Sprache, Benehmen, wie er die Zigarette zwischen den langen Fingern hielt - war er sehr zivilisiert. Ein Mann, wie ihn sich ihre Mutter als Schwiegersohn gewünscht haben würde, wenn er kein Affe gewesen wäre.

»Fletcher ist nicht dahin, wissen Sie«, sagte er zu ihr und reichte ihr die Zigarette. Sie nahm sie zögernd, weil sie nicht sehr erpicht darauf war, in den Mund zu nehmen, was er im 389

Mund gehabt hatte. Aber er betrachtete sie, während das Kerzenlicht in seinen Augen flackerte, bis sie sich fügte, und dann lächelte er erfreut darüber, daß sie sie mit ihm teilte. »Ich bin sicher, er ist zu etwas anderem geworden«, fuhr er fort. »Zu irgend etwas.«

»Darauf rauche ich«, sagte sie und nahm noch einen Zug.

Erst jetzt dachte sie daran, daß der Tabak, den sie hier unten rauchten, vielleicht etwas kräftiger war als in L. A.

»Was ist das?« fragte sie.

»Guter Stoff«, antwortete er. »Schmeckt er Ihnen?«

»Bringen sie Ihnen auch Dope?«

»Sie pflanzen ihn selbst an«, sagte Raul in sachlichem Tonfall.

»Schön für sie«, sagte sie und nahm einen dritten Zug, bevor sie ihm die Zigarette zurückgab. Es war wahrhaftig starker Stoff. Ihr Mund hatte bereits einen halben Satz ausgesprochen, ohne daß ihr Verstand wußte, wie er ihn beenden sollte, und dabei hatte sie überhaupt nicht bemerkt, daß sie sprach.

»... das ist die Nacht, von der ich meinen Kindern erzählen werde... nur werde ich keine Kinder haben... nun, dann eben meinen Enkeln... ich erzähle ihnen, daß ich bei einem Mann saß, der ein Affe war... es macht Ihnen doch nichts aus, daß ich das sage, oder? Es ist nur mein erstes Mal... und wir saßen zusammen und unterhielten uns über seinen Freund... und meinen Freund... der einmal ein Mensch war...«

»Wenn Sie ihnen das erzählen«, sagte Raul, »was sagen Sie dann über sich selbst?«

»Über mich?«

»Wo passen Sie in das Muster? Was könnten Sie denn einmal werden?«

Sie dachte darüber nach. »Muß ich denn etwas werden?«

fragte sie schließlich.

Raul reichte ihr den Rest der Zigarette. »Alles ist Werden.

Während wir hier sitzen, werden wir.«

390

»Was?«

»Älter. Kommen dem Tod näher.«

»O Scheiße. Ich will dem Tod nicht näher sein.«

»Keine andere Wahl«, sagte Raul einfach. Tesla schüttelte den Kopf. Er bewegte sich noch lange, nachdem sie mit der Bewegung aufgehört hatte.

»Ich möchte verstehen«, sagte sie schließlich.

»Etwas Spezielles?«

Sie überlegte noch eine Weile, ging alle Möglichkeiten durch und entschied sich schließlich für eine.

»Alles?« sagte sie.

Er lachte, und sein Gelächter klang wie Glocken für sie.

Guter Trick, wollte sie ihm sagen, bis ihr klarwurde, daß er an der Tür stand.

»Jemand ist in der Mission«, hörte sie ihn sagen.

»... gekommen, um die Kerzen anzuzünden«, schlug sie vor, und ihr Kopf schien ihren Körper zu verfolgen und gleichzeitig ihm vorauszueilen.

»Nein«, sagte er zu ihr, während er in die Dunkelheit hinaus-trat. »Sie gehen niemals dorthin, wo die Glocken sind...«

Sie hatte in die Kerzenflamme gesehen, während sie über Rauls Fragen nachgedacht hatte, und deren Nachbild war nun der Dunkelheit aufgeprägt, durch die sie stolperte; ein Irrlicht, das sie vielleicht über den Rand der Klippe geführt hätte, wäre sie nicht seiner Stimme gefolgt. Als sie sich den Mauern näherten, befahl er ihr, dort stehenzubleiben, wo sie war, aber sie achtete nicht auf ihn und folgte ihm. Die Kerzenanzünder waren tatsächlich dagewesen; ihr Wirken erfüllte den

Porträtsaal mit Glorienschein. Der Inhalt von Rauls Zigarette hatte ihre Gedanken in die Länge gezogen, aber sie waren noch zusammenhängend genug, daß sie sich nun fragte, ob sie nicht zu lange müßig gewesen war und dadurch ihre Mission in Gefahr gebracht hatte. Warum hatte sie den Nuncio nicht auf der Stelle gesucht und ins Meer geschüttet, wie Fletcher ihr 391

befohlen hatte? Zorn auf sich selbst machte sie kühn. Es gelang ihr im erleuchteten Zimmer der Wandgemälde, Raul zu

überholen, so daß sie vor ihm ins von Kerzen erhellte Labor trat.

Nicht Kerzen waren hier angezündet worden, und der Besucher war auch kein Versorger. In der Mitte der Kammer war ein kleines, rauchendes Feuer angezündet worden, und ein Mann - der ihr momentan den Rücken zugedreht hatte - wühlte mit bloßen Händen durch das Wirrwarr der Geräte. Sie hatte nicht erwartet, daß sie ihn kennen würde, als er in ihre Richtung sah, was bei näherem Nachdenken albern war. In den vergangenen paar Tagen hatte sie die meisten Akteure dieses Schauspiels kennengelernt, entweder persönlich oder dem Namen nach. Auf diesen hier traf beides zu, Tommy-Ray McGuire. Er drehte sich ganz um. In der perfekten Symmetrie seiner Züge sprang glitzernd ein Ball Irrsinn - das Erbteil des Jaff - hin und her.

»Hi!« sagte er; ein nichtssagender, beiläufiger Gruß. »Ich habe mich schon gefragt, wo Sie stecken. Der Jaff hat gesagt, daß Sie hier sein würden.«

»Fassen Sie den Nuncio nicht an«, sagte sie zu ihm. »Er ist gefährlich.«

»Das hoffe ich«, sagte er grinsend.

Er hielt etwas in der Hand, sah sie. Als er ihren Blick sah, hielt er es hoch. »Ja, ich habe ihn«, sagte er. Die Phiole sah tatsächlich aus, wie Fletcher sie beschrieben hatte.

»Werfen Sie ihn weg«, sagte sie und versuchte, kühl zu bleiben.

»Hatten Sie das denn vor?« fragte er.

»Ja. Ich schwöre es, ja. Er ist tödlich.«

Sie bemerkte, wie er von ihr zu Raul sah, dessen Atem sie hinter und ein wenig seitlich von sich hörte. Tommy-Ray schien es überhaupt nicht zu kümmern, daß sie in der Überzahl waren. Sie fragte sich, ob es überhaupt eine Bedrohung für 392