Leben oder Gesundheit gab, die ihm den Ausdruck

verschlagener Befriedigung vom Gesicht nehmen würde.

Möglicherweise der Nuncio? Allmächtiger Gott, welche

Möglichkeiten würde er in seinem barbarischen Herzen finden, die er preisen und vergrößern konnte?

Sie sagte noch einmal: »Zerstören Sie ihn, Tommy-Ray, bevor er Sie zerstört.«

»Auf gar keinen Fall«, sagte er. »Der Jaff hat Pläne damit.«

»Und was ist mit Ihnen, wenn Sie alle seine Aufträge ausgeführt haben? Ihm liegt doch nichts an Ihnen.«

»Er ist mein Vater, und er liebt mich«, antwortete Tommy-Ray mit einer Überzeugung, die bei einer gesunden Seele rührend gewesen wäre.

Sie ging auf ihn zu und sprach dabei. »Bitte hören Sie mir einen Augenblick zu, ja...?«

Er steckte den Nuncio ein und griff gleichzeitig in die andere Tasche. Er holte eine Waffe heraus.

»Wie haben Sie das Zeug genannt?« fragte er und richtete die Waffe auf sie.

»Nuncio«, antwortete sie und ging langsamer, aber immer noch zielstrebig auf ihn zu.

»Nein. Anders. Sie haben es anders genannt.«

»Tödlich.«

Er grinste. »Jaah«, sagte er und nuschelte das Wort.

»Tödlich. Das bedeutet, es bringt einen um, oder nicht?«

»Richtig.«

»Das gefällt mir.«

»Nein, Tommy...«

»Sagen Sie mir nicht, was mir gefällt«, sagte er. »Ich habe gesagt, tödlich gefällt mir, und das war mein voller Ernst.«

Plötzlich wurde ihr klar, daß sie diese Szene völlig falsch eingeschätzt hatte. Wenn sie sie selbst geschrieben hätte, dann hätte er sie sich mit der Waffe vom Leib gehalten, bis er selbst floh. Aber er hatte sein eigenes Drehbuch.

393

»Ich bin der Todesjunge«, sagte er und drückte den Abzug.

394

VI

l

Die Episode in Ellens Haus hatte Grillo derart entnervt, daß er Zuflucht beim Schreiben suchte, eine Disziplin, die er um so stärker brauchte, je tiefer dieser See der Zweideutigkeiten wurde. Anfangs war es leicht. Er blieb auf dem trockenen Boden der Tatsachen und pflegte einen Stil, auf den Swift stolz gewesen wäre. Aus diesen Aufzeichnungen konnte er später den Teil herausdestillieren, den er Abernethy schicken würde.

Von jetzt an war es seine Pflicht, alles aufzuschreiben, woran er sich erinnern konnte.

Er war gerade mitten dabei, als Hotchkiss ihn anrief und vorschlug, sie könnten sich eine Stunde zusammensetzen, etwas trinken und sich unterhalten. Der Grove hatte nur zwei Bars, erklärte er; Starky's in Deerdell war nicht ganz so zahm wie die andere und daher zu bevorzugen. Eine Stunde nach dem Anruf, als er die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu Papier gebracht hatte, verließ Grillo das Hotel, um sich mit Hotchkiss zu treffen.

Starky's war praktisch leer. In einer Ecke saß ein alter Mann, der leise vor sich hinsang, an der Bar saßen zwei Jungs, die zu jung fürs Trinken aussahen; ansonsten hatten sie das Lokal für sich. Trotzdem sprach Hotchkiss während der ganzen

Unterhaltung kaum lauter als flüsternd.

»Sie wissen nicht viel über mich«, sagte er gleich zu Beginn.

»Ist mir gestern abend klar geworden. Es wird Zeit, daß Sie etwas erfahren.«

Er brauchte keine weitere Ermutigung, um zu erzählen. Er schilderte seinen Bericht so emotionslos, als wäre die Last der Gefühle so schwer, daß sie schon vor langer Zeit die letzten Tränen aus ihm herausgepreßt hatte. Grillo war froh darüber.

395

Wenn der Erzähler sachlich sein konnte, stand es ihm selbst frei, das auch zu sein, und daher konnte er zwischen den Zeilen von Hotchkiss' Schilderung nach Einzelheiten suchen, die der Mann übergangen haben mochte. Er erzählte selbstverständlich zuerst von Carolyns Anteil an der Sache; weder verdammte er seine Tochter, noch lobte er sie, sondern beschrieb lediglich sie und die Tragödie, die sie ihm genommen hatte. Danach warf er das Netz seiner Geschichte weiter aus und brachte andere mit ins Spiel; zuerst porträtierte er skizzenhaft Trudi Katz, Joyce McGuire und Arleen Farrell, danach schilderte er, wie es jeder einzelnen ergangen war. Grillo prägte sich die Einzelheiten emsig ein, während Hotchkiss erzählte: Er schuf einen Stammbaum, dessen Wurzeln dorthin reichten, wohin

Hotchkiss' Schilderung so häufig abschweifte: unter die Erde.

»Dort sind die Antworten«, sagte er mehr als einmal. »Ich glaube, Fletcher und der Jaff, wer immer sie sind, was immer sie sind, sind dafür verantwortlich, was mit meiner Carolyn passiert ist. Und mit den anderen Mädchen.«

»Sie waren die ganze Zeit in der Höhle?«

»Wir haben doch gesehen, wie sie herausgekommen sind, oder nicht?« sagte Hotchkiss. »Ja, ich glaube, sie waren all die Jahre da unten.« Er schluckte einen Mundvoll Scotch. »Nach der gestrigen Nacht im Einkaufszentrum bin ich wach geblieben und habe versucht, mir über alles klar zu werden. Den Sinn von allem zu sehen.«

»Und?«

»Ich habe beschlossen, in die Höhlen hinunterzusteigen.«

»Und warum, zum Teufel?«

»Wenn sie die vielen Jahre da unten eingeschlossen waren, müssen sie doch etwas gemacht haben. Vielleicht haben sie Hinweise zurückgelassen. Vielleicht finden wir da unten einen Weg, wie wir sie vernichten können.«

»Fletcher ist nicht mehr«, erinnerte Grillo ihn.

»Tatsächlich?« sagte Hotchkiss. »Ich bin da nicht so sicher.

396

Manche Dinge bleiben, Grillo. Sie scheinen zu verschwinden, aber sie blieben, nur im Verborgenen. Unter der Erde. Man klettert ein Stück hinunter, und schon ist man in der Vergangenheit. Jeder Schritt tausend Jahre.«

»So weit reicht meine Erinnerung nicht zurück«, witzelte Grillo.

»Aber gewiß doch«, sagte Hotchkiss todernst. »Sie reicht zu-rück bis zu einem Klümpchen im Meer. Das quält uns.« Er hob die Hand. »Sieht fest aus, nicht?« sagte er. »Besteht aber hauptsächlich aus Wasser.« Er schien sich um einen weiteren Gedanken zu bemühen, fand ihn aber nicht.

»Die Kreaturen, die der Jaff gemacht hat, sehen aus, als wären sie ausgegraben worden«, sagte Grillo. »Glauben Sie, daß Sie so etwas da unten finden werden?«

Hotchkiss' Antwort war der Gedanke, den er vor einem Augenblick nicht hatte formulieren können. »Als sie starb«, sagte er. »Carolyn, meine ich... als Carolyn starb, träumte ich, daß sie sich einfach vor meinen Augen auflöste. Nicht verweste.

Auflöste. Als hätte das Meer sie zurückgeholt.«

»Haben Sie diese Träume noch?«

»Nee. Heute träume ich gar nicht mehr.«

»Jeder träumt.«

»Dann gestatte ich mir nicht mehr, mich daran zu erinnern«, sagte Hotchkiss. »Also... stehen Sie mir bei?«

»Wobei?«

»Beim Abstieg.«

»Sie wollen es wirklich machen? Ich dachte, es wäre

buchstäblich unmöglich, da hinunterzugelangen.«

»Dann sterben wir eben bei dem Versuch«, sagte Hotchkiss.

»Ich muß noch eine Geschichte aufschreiben.«

»Ich will Ihnen was sagen, mein Freund«, entgegnete Hotchkiss. »Dort ist die Geschichte. Die einzige Geschichte. Direkt unter unseren Füßen.«

»Ich sollte Sie warnen. Ich leide an Klaustrophobie.«

397

»Das werden wir Ihnen bald abgewöhnen«, antwortete

Hotchkiss mit einem Lächeln, das für Grillos Geschmack ein klein wenig zuversichtlicher hätte sein können.

2

Howie hatte den größten Teil des Nachmittags wacker gegen den Schlaf gekämpft, aber am frühen Abend konnte er kaum noch die Augen offenhalten. Als er Jo-Beth sagte, daß er ins Hotel zurückkehren wollte, erhob Mama Einwände und sagte ihm, sie würde sich sicherer fühlen, wenn er im Haus blieb. Sie richtete das Gästezimmer her - er hatte die vergangene Nacht auf dem Sofa verbracht -, und er legte sich dort hin. Sein Körper hatte in den zurückliegenden Tagen einiges einstecken müssen. Seine Hand war immer noch ziemlich geschwollen, und auch der Rücken tat noch weh, obwohl die Einstiche, die ihm das Terata zugefügt hatte, nicht tief waren. Doch das alles hielt ihn nicht länger als ein paar Sekunden vom Schlafen ab.

Jo-Beth machte das Essen für Mama - für Mama Salat, wie immer - und sich selbst. Sie erledigte die vertrauten häuslichen Tätigkeiten, als hätte sich gegenüber letzter Woche überhaupt nichts verändert, und kurze Zeit, während sie in die Arbeit vertieft war, konnte sie das Grauen vergessen. Doch dann rief ihr ein Blick ins Gesicht ihrer Mutter oder auf das glänzende neue Schloß an der Hintertür den Schrecken wieder ins Gedächtnis zurück. Sie konnte die Erinnerungen nicht mehr in eine bestimmte Ordnung bringen: lediglich Demütigungen und

Schmerz und weitere Demütigungen und Schmerz. Und alles überragte der Jaff; ihr nahe, zu nahe, manchmal gefährlich dicht daran, sie von seinen Visionen zu überzeugen, so wie er Tommy-Ray überzeugt hatte. Der Gedanke, der sie am meisten ängstigte, war der, daß sie tatsächlich imstande gewesen sein könnte, zum Feind überzulaufen. Als er ihr erklärt hatte, er 398

wollte Vernunft, keine Gefühle, hatte sie ihn verstanden. Hatte sogar freundschaftliche Gefühle für ihn empfunden. Und die lockenden Worte von der ›Kunst‹ und der Insel, die er ihr zeigen wollte...

»Jo-Beth?«

»Mama?«

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Natürlich. Ja.«

»Woran hast du gedacht? Dein Gesichtsausdruck...«

»Nur... über gestern nacht.«

»Das solltest du vergessen.«

»Vielleicht fahre ich rüber zu Lois und rede eine Weile mit ihr. Würde dir das etwas ausmachen?«

»Nein. Ich komme hier zurecht. Howard ist ja da.«

»Dann gehe ich.«

Von all ihren Freunden im Grove verkörperte niemand das Normale, von dem sich ihr Leben verabschiedet hatte, so perfekt wie Lois. Trotz ihrer strengen Moral hatte sie einen starken und schlichten Glauben an das Gute. Sie wollte, kurz gesagt, daß die Welt ein friedlicher Ort war, wo in Liebe großgezogene Kinder ihrerseits wieder Kinder haben konnten.

Sie kannte auch das Böse. Es war jede Kraft, die dieser Vision entgegenstand. Terroristen, Anarchisten, Wahnsinnige. Jetzt wußte Jo-Beth, daß sie alle Verbündete auf einer höheren Daseinsebene hatten. Einer war ihr Vater. Es war wichtiger denn je, daß sie die Gesellschaft derer suchte, deren Definition des Guten unerschütterlich war.

Als sie aus dem Auto ausstieg, hörte sie Lärm und Gelächter aus Lois' Haus dringen; nach den Stunden der Angst und des Unbehagens, die sie hinter sich hatten, war das ein

willkommenes Zeichen. Sie klopfte an die Tür. Das Getöse ging unbeeinträchtigt weiter.

»Lois?« rief sie, aber das Ausmaß der Ausgelassenheit drin-399

nen war solchermaßen, daß Klopfen und Rufen ungehört blieben; daher pochte sie ans Fenster und rief noch einmal. Die Vorhänge wurden zurückgezogen, und Lois' fragendes Gesicht wurde sichtbar; ihr Mund formte Jo-Beths Namen. Das Zimmer hinter ihr war voller Menschen. Zehn Sekunden später war sie an der Tür und hatte einen so ungewöhnlichen Gesichtsausdruck, daß Jo-Beth sie fast nicht erkannte: ein Lächeln des Willkommens. Hinter ihr schien jedes Licht im Haus

eingeschaltet zu sein; eine grelle Lichterflut, die sich über die Schwelle ergoß.

»Überraschung«, sagte Lois.

»Ja, ich dachte mir, ich schau' mal vorbei. Aber Sie haben...

Besuch.«

»Sozusagen«, antwortete Lois. »Es ist momentan ein wenig schwierig.«

Sie warf einen Blick ins Haus zurück. Sie schien ein Ko-stümfest zu geben. Ein Mann im Cowboyanzug stapfte die Treppe hinauf, seine Sporen funkelten, als er an einem anderen in Militäruniform vorbeiging. Durch die Diele ging Arm in Arm mit einer dunkel gekleideten Frau ein Mann, der sich ausgerechnet als Chirurg verkleidet hatte, bis hin zur Gesichts-maske. Daß Lois diese Party organisiert hatte, ohne Jo-Beth etwas davon zu sagen, war an sich schon merkwürdig; sie hatten im Buchladen weiß Gott genügend Zeit zu schwatzen. Aber daß sie sie überhaupt gab - die verschlossene, rechtschaffende Lois -, war doppelt seltsam.

»Es wird wohl nichts ausmachen«, sagte Lois. »Immerhin bist du eine Freundin. Du solltest dabei sein, richtig?«

Wobei war die Frage, die Jo-Beth durch den Kopf schoß, aber sie hatte keine Zeit, sie zu stellen, denn schon wurde sie von Lois, die ihren Arm mit unerbittlicher Kraft nahm, nach drinnen gezogen, und dann wurde die Tür hinter ihr zugemacht.

»Ist das nicht reizend?« sagte Lois. Sie strahlte eindeutig.

400

»Sind zu dir auch Leute gekommen?«

»Leute.«

»Die Besucher.«

Jo-Beth nickte nur, doch das reichte aus, Lois' Plappern in neue Bahnen zu lenken. »Die Kritzlers nebenan haben Besuch aus Masquerade - du weißt schon, die Serie über die Schwestern?«

»Die Fernsehserie?«

»Natürlich die Fernsehserie. Und mein Mel... nun, du weißt ja, wie sehr er die alten Western liebt...«

Sie verstand wenig, wenn überhaupt etwas, von alledem, aber sie ließ Lois weiterplappern, weil sie befürchtete, eine un-passende Frage ihrerseits würde sie als Uneingeweihte auswei-sen und den Strom der Geständnisse zum Versiegen bringen.

»Ich? Ich bin die glücklichste«, plapperte Lois. »So glücklich. Alle Leute aus Day by Day sind gekommen. Die ganze Familie. Alan, Virginia, Benny, Jayne. Sie haben sogar Morgan mitgebracht. Das muß man sich mal vorstellen.«

»Woher sind sie denn gekommen, Lois?«

»Sie sind einfach in der Küche aufgetaucht«, lautete die Antwort. »Und sie haben mir natürlich gleich den ganzen

Familienklatsch erzählt...«

Nur der Laden interessierte Lois so sehr wie Day by Day, die Geschichte von Amerikas Lieblingsfamilie. Sie setzte sich regelmäßig hin und erzählte Jo-Beth jede Einzelheit der Folge des vergangenen Abends, als wäre es Teil ihres eigenen Lebens. Jetzt schien es, als hätte diese Illusion sie vollkommen in ihren Bann gezogen. Sie sprach von den Pattersons, als wären sie wahrhaftig Gäste in ihrem Haus.

»Sie sind alle so reizend, wie ich es mir immer vorgestellt habe«, fuhr Lois fort, »aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß sie sich mit den Leuten aus Masquerade vertragen. Du weißt ja, die Pattersons sind so gewöhnlich; das mag ich ja so an ihnen. Sie sind so...«

401

»Lois. Hören Sie auf damit.«

»Was ist denn los?«

»Das will ich ja von Ihnen wissen.«

»Nichts ist los. Alles ist wunderbar. Die Besucher sind da, und ich könnte gar nicht glücklicher sein.«

Sie lächelte einem Mann im hellblauen Jackett zu, der zur Begrüßung winkte.

»Das ist Todd aus The Last Laugh...«, sagte sie.

Satire aus dem Spätprogramm entsprach ebensowenig Jo-

Beths Geschmack wie Day by Day, aber der Mann kam ihr vage bekannt vor. Wie das Mädchen, dem er

Kartenkunststücke gezeigt hatte; und der Mann, der eindeutig mit ihm um ihre Gunst buhlte und den man, selbst auf diese Entfernung, für den Master von Mamas Lieblingsquizsendung Hideaway halten konnte.

»Was ist hier los?« sagte Jo-Beth. »Ist das eine

Doppelgänger-Party oder so was?«

Lois' Lächeln, das eine starre Grimasse gewesen war, seit sie Jo-Beth unter der Tür begrüßt hatte, wurde nun ein wenig schief.

»Glaubst du mir nicht?« sagte sie.

»Glauben?«

»Das mit den Pattersons.«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Aber sie sind da, Jo-Beth«, sagte sie und war plötzlich todernst. »Ich glaube, ich wollte sie schon immer einmal kennenlernen, und jetzt sind sie gekommen.« Sie nahm Jo-Beths Hand, und ihr Lächeln wurde wieder strahlend. »Wirst schon sehen«, sagte sie. »Und keine Bange, zu dir wird auch jemand kommen, wenn du es dir nur sehnlich genug wünschst.

Es passiert überall in der Stadt. Nicht nur Fernsehstars. Leute von der Plakatwerbung und aus Zeitschriften. Schöne

Menschen, wunderbare Menschen. Du mußt keine Angst

haben. Sie gehören zu uns.« Sie kam etwas näher. »Bis gestern 402

abend war mir das überhaupt nicht klar. Sie brauchen uns ebensosehr, oder nicht? Vielleicht noch mehr. Und daher werden sie uns kein Haar krümmen...«

Sie stieß die Tür auf, hinter der das lauteste Gelächter ertönte. Jo-Beth folgte Lois ins Innere. Hier waren die Lichter, die sie schon in der Diele geblendet hatten, noch heller, obwohl keine Lichtquelle zu sehen war. Es war, als wären die Menschen in dem Zimmer selbst erleuchtet, ihr Haar leuchtete, Augen und Zähne ebenso. Mel stand untersetzt, kahl und stolz am Kamin und sah sich in dem Zimmer um, das mit berühmten Gesichtern vollgestopft war.

Die Stars waren nach Palomo Grove gekommen, wie Lois es versprochen hatte. Die Familie Patterson - Alan und Virginia, Benny und Jayne, sogar der Hund Morgan - hielt mitten im Zimmer Hof, und verschiedene Nebenfiguren aus der Serie -

Mrs. Kline von nebenan, der Fluch in Virginias Leben; die Haywards, denen der Laden an der Ecke gehörte - waren ebenfalls anwesend. Alan Patterson war in eine angeregte Unterhaltung mit Hester D'Arcy verwickelt, der häufig mißbrauchten Heldin aus Masquerade. Ihre geile Schwester, die die halbe Familie vergiftet hatte, um an den unsagbaren Reichtum heranzukommen, stand in einer Ecke und machte einem Mann aus der Unterhosenreklame schöne Augen, der so gekommen war, wie er am besten bekannt war: fast nackt.

»Alle!« sagte Lois laut über den Lärm hinweg. »Ihr alle, bitte, ich möchte euch eine Freundin vorstellen. Eine meiner besten Freundinnen...«

Die bekannten Gesichter drehten sich um, als würde Jo-Beth die Umschläge von einem Dutzend Fernsehzeitschriften sehen, und sahen in ihre Richtung. Sie wollte diesem Wahnsinn den Rücken kehren, bevor er auch sie in den Bann schlagen konnte, aber Lois hielt ihre Hand fest. Außerdem war dies ja Teil des allgemeinen Wahnsinns. Wenn sie es verstehen wollte, mußte sie an Ort und Stelle bleiben.

403

»... das ist Jo-Beth McGuire«, sagte Lois.

Alle lächelten; sogar der Cowboy.

»Du siehst aus, als könntest du einen Schluck vertragen«, sagte Mel, nachdem Lois Jo-Beth einmal durchs Zimmer geführt hatte.

»Ich trinke keinen Alkohol, Mr. Knapp.«

»Das heißt nicht, daß du nicht aussiehst, als könntest du welchen brauchen«, lautete die Antwort. »Ich glaube, nach dem heutigen Abend müssen wir alle unsere Gewohnheiten ändern, findest du nicht? Oder vielleicht nach dem gestrigen Abend.«

Er sah zu Lois, deren helles Lachen wie Glocken ertönte. »Ich habe sie noch nie so glücklich gesehen«, sagte er. »Und das macht mich glücklich.«

»Aber wissen Sie, wo diese Leute alle hergekommen sind?«

sagte Jo-Beth.

Mel zuckte die Achseln. »Das weiß ich ebensowenig wie du.

Komm mit, ja? Ich brauche einen Schluck, auch wenn du keinen willst. Lois hat sich diese kleinen Freuden nie gegönnt. Ich habe immer gesagt: Gott sieht gerade nicht her. Und falls doch, stört es Ihn nicht.«

Sie drängten sich durch die Gäste in die Diele. Dort hatten sich zahlreiche Leute versammelt, die dem Gedränge im Wohnzimmer entfliehen wollten; unter ihnen mehrere

Mitglieder der Kirche: Maeline Mallett; Al Grigsby; Ruby Sheppherd. Sie lächelten Jo-Beth zu, und ihre Gesichter verrieten mit keiner Miene, daß sie diese Versammlung außergewöhnlich fanden. Hatten sie vielleicht ihre eigenen Besucher mitgebracht?

»Waren Sie gestern nacht unten im Einkaufszentrum?«

fragte Jo-Beth Mel und sah ihm zu, wie er ihr Orangensaft einschenkte.

»Ja, war ich«, sagte er.

»Und Maeline? Und Lois? Und die Kritzlers?«

404

»Ich glaube schon. Ich habe vergessen, wer alles da war, aber doch, ich glaube die meisten... bist du sicher, daß du nicht etwas in den Saft möchtest?«

»Vielleicht«, sagte sie unbestimmt, während sie im Geiste die Teile des Geheimnisses zusammensetzte.

»Gut für dich«, sagte Mel. »Gott sieht gerade nicht her, und falls doch...«

»... stört es Ihn nicht.«

Sie nahm den Drink.

»Ganz recht. Es stört Ihn nicht.«

Sie nippte daran, dann trank sie einen großen Schluck.

»Was ist da drin?« fragte sie.

»Wodka.«

»Dreht die Welt durch, Mr. Knapp?«

»Ich glaube schon«, lautete die Antwort. »Aber das Schöne daran ist, es gefällt mir so.«

Howie wachte kurz nach zehn Uhr auf, aber nicht, weil er ausreichend ausgeruht war, sondern weil er sich im Schlaf herumgedreht und die verletzte Hand unter sich eingeklemmt hatte. Die Schmerzen weckten ihn augenblicklich. Er richtete sich auf und studierte die pochenden Knöchel im Mondschein.

Die Schnitte waren wieder aufgebrochen. Er zog sich an und ging ins Bad, um das Blut abzuwaschen, dann machte er sich auf die Suche nach einem Verband. Jo-Beths Mutter gab ihm einen, zusammen mit dem sachverständigen Rat, wie man die Hand verbinden mußte und der Information, daß Jo-Beth zu Lois Knapp gegangen war.

»Sie hat sich verspätet«, sagte Mama.

»Es ist noch nicht halb zehn.«

»Trotzdem.«

»Soll ich nach ihr sehen?«

»Würdest du das machen? Du kannst Tommy-Rays Auto

nehmen.«

405

»Ist es weit?«

»Nein.«

»Dann gehe ich lieber zu Fuß.«

Die warme Nacht und die Tatsache, daß ihm keine Unge-

heuer auf den Fersen waren, rief ihm seine erste Nacht hier im Grove ins Gedächtnis zurück: Wie er Jo-Beth in Butrick's Steak House kennengelernt, mit ihr gesprochen und sich innerhalb von Sekunden in sie verliebt hatte. Die Plagen, die seither über den Grove hereingebrochen waren, waren eine direkte Folge dieser Begegnung. Doch so bedeutend wie seine Gefühle für Jo-Beth waren, er brachte es nicht über sich zu glauben, daß sie so ernste Folgen nach sich gezogen hatten.

War es möglich, daß hinter der Feindschaft zwischen dem Jaff und Fletcher - hinter der Essenz und dem Kampf um ihren Besitz - eine noch größere Verschwörung stand? Er hatte sich stets mit derlei Undenkbarem beschäftigt; zum Beispiel sich die Unendlichkeit vorzustellen, oder wie es sein würde, die Sonne zu berühren. Die Freude lag nicht in einer Lösung, sondern im Nachdenken, das erforderlich war, wenn man sich mit den Fragen beschäftigte. Der Unterschied beim

vorliegenden Problem bestand jedenfalls darin, daß er selbst darin verwickelt war. Sonnen und Unendlichkeit beschäftigten weitaus größere Geister als ihn. Aber was er für Jo-Beth empfand, beschäftigte nur ihn, und wenn - wie ein tief in ihm vergrabener Instinkt (möglicherweise Fletchers Echo?) ihm sagte - die Tatsache, daß sie einander begegnet waren, ein kleiner, aber entscheidender Teil einer gewaltigen Geschichte war, dann konnte er das Denken nicht den größeren Geistern überlassen. Die Verantwortung lag zumindest teilweise bei ihm; auf ihnen beiden. Wie sehr er sich wünschte, es wäre nicht so. Wie sehr sehnte er sich danach, er hätte, wie jeder Kleinstadtfreier, genügend Zeit, um Jo-Beth zu werben. Pläne für die Zukunft machen zu können, ohne daß eine unerklärliche Vergangenheit schwer auf ihnen ruhte. Aber das war nicht 406

möglich, ebensowenig, wie man etwas Geschriebenes

ungeschrieben oder etwas Gewünschtes ungewünscht machen konnte.

Hätte er dafür noch einen konkreteren Beweis gebraucht, hätte es keinen besseren geben können als die Szene, die ihn hinter der Tür von Lois Knapps Haus erwartete.

»Da will dich jemand sprechen, Jo-Beth.«

Sie drehte sich um und sah denselben Gesichtsausdruck vor sich, den sie vor zwei Stunden gehabt haben mußte, als sie zur Tür hereingekommen war.

»Howie«, sagte sie.

»Was ist denn hier los?«

»Eine Party.«

»Ja, das sehe ich. Aber die vielen Schauspieler. Woher kommen sie? Sie können unmöglich alle im Grove leben.«

»Das sind überhaupt keine Schauspieler«, sagte sie. »Das sind Leute aus dem Fernsehen. Und aus ein paar Filmen. Nicht viele, aber...«

»Warte, warte.«

Er kam näher zu ihr. »Sind das Freunde von Lois?« sagte er.

»Ganz sicher«, sagte sie.

»Diese Stadt hat immer wieder eine Überraschung parat, was? Gerade wenn man meint, man hat alles im Griff...«

»Aber das sind keine Schauspieler, Howie.«

»Eben hast du gesagt, daß sie es sind.«

»Nein. Ich habe gesagt, es sind Leute aus dem Fernsehen.

Siehst du da drüben die Familie Patterson? Sie haben sogar ihren Hund dabei.«

»Morgan«, sagte Howie. »Meine Mutter hat sich die

Sendung immer angesehen.«

Der Hund, eine liebenswerte Promenadenmischung mit einem langen Stammbaum liebenswerter Promenadenmischun-

gen, hörte seinen Namen und kam herüber, gefolgt von Benny, dem jüngsten Kind der Pattersons.

407

»Hi«, sagte der Junge. »Ich bin Benny.«

»Ich bin Howie. Das ist...«

»Jo-Beth. Ja. Wir haben uns schon kennengelernt. Kommst du mit mir raus Ballspielen, Howie? Mir ist langweilig.«

»Draußen ist es dunkel.«

»Nein«, sagte Benny. Er nickte zur Verandatür. Sie war offen.

Die Nacht draußen war, wie Benny gesagt hatte, alles andere als dunkel. Es war, als wäre das seltsame Leuchten, das im Haus zu herrschen schien und über das er noch nicht mit Jo-Beth hatte sprechen können, bis hinaus in den Garten

gedrungen.

»Siehst du?« fragte Benny.

»Ich sehe es.«

»Also, kommst du?«

»In einer Minute.«

»Versprochen?«

»Ich verspreche es. Übrigens, wie heißt du denn richtig?«

Das Kind sah verwirrt drein. »Benny«, sagte er. »Schon immer.« Damit gingen er und der Hund in die helle Nacht hinaus.

Bevor Howie die vielen Fragen, die ihm durch den Kopf gingen, in eine Reihenfolge gebracht hatte, wurde ihm eine freundliche Pranke auf die Schulter gelegt, und eine

volltönende Stimme fragte: »Was zu trinken?«

Howie hob die verbundene Hand als Entschuldigung, daß er die Hand nicht schüttelte.

»Schön, dich kennenzulernen. Jo-Beth hat mir von dir er-zählt. Ich bin übrigens Mel. Der Mann von Lois. Ich denke, du hast Lois schon kennengelernt.«

»Ganz recht.«

»Ich weiß nicht, wohin sie verschwunden ist. Ich glaube, einer der Cowboys nimmt sie sich vor.« Er hob das Glas. »Wozu ich sagen muß, lieber er als ich.« Er gab einen beschämten Ausdruck vor. »Was sage ich da nur? Ich sollte den Dreckskerl 408

auf die Straße zerren. Ihn niederknallen, hm?« Er grinste. »Das ist der neue Westen für dich, richtig? Man darf sich verdammt noch mal nicht aus der Ruhe bringen lassen. Noch einen Wodka, Jo-Beth? Möchtest du auch etwas, Howie?«

»Warum nicht?«

»Komisch, nicht?« sagte Mel. »Erst wenn diese verdammten Träume zur Tür hereinspazieren, wird einem klar, wer man ist.

Ich... ich bin ein Feigling. Und ich liebe sie nicht.« Er wandte sich von ihnen ab. »Ich habe sie nie geliebt«, sagte er im Her-umdrehen. »Miststück. Elendes Miststück.«

Howie sah ihm nach, wie er von der Menge verschlungen wurde, dann blickte er wieder zu Jo-Beth. Er sagte sehr langsam: »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was los ist.

Du?«

»Ja.«

»Sag es mir. In möglichst einfachen Worten.«

»Dies ist das Ergebnis dessen, was dein Vater letzte Nacht getan hat.«

»Das Feuer?«

»Oder was daraus hervorkam. Diese Leute...« Sie lächelte und betrachtete sie, »... Lois, Mel, Ruby da drüben... sie waren gestern nacht alle beim Einkaufszentrum. Was immer von deinem Vater ausgegangen ist...«

»Sei leise, ja? Sie starren uns schon alle an.«

»Ich spreche nicht laut, Howie«, sagte sie. »Sei nicht so paranoid.«

»Ich sage dir, sie starren uns an.«

Er spürte ihre durchdringenden Blicke: Gesichter, die er bislang nur in Magazinen oder auf dem Bildschirm gesehen hatte, sahen ihn mit seltsamen, beinahe besorgten Mienen an.

»Dann laß sie doch starren. Ich sage dir, sie wollen uns nichts Böses tun.«

»Woher weißt du das?«

»Ich war den ganzen Abend hier. Es ist wie bei einer

409

normalen Party...«

»Du nuschelst.«

»Warum sollte ich nicht auch ab und zu meinen Spaß

haben?«

»Das sage ich ja gar nicht. Ich sage nur, daß du nicht in der Verfassung bist zu entscheiden, ob sie gefährlich sind oder nicht.«

»Was hast du vor, Howie?« sagte sie. »Möchtest du diese Leute alle für dich behalten?«

»Nein. Nein, natürlich nicht.«

»Ich will nichts mit dem Jaff zu tun haben...«

»Jo-Beth.«

»Er ist vielleicht mein Vater. Das heißt nicht, daß mir das gefällt.«

Als der Jaff erwähnt wurde, war es in dem Zimmer totenstill geworden. Jetzt sahen alle im Zimmer - Cowboys,

Seifenopernstars, Komödianten, Schönheiten, alle - in ihre Richtung.

»O Scheiße«, sagte Howie leise. »Das hättest du nicht sagen sollen.« Er studierte die Gesichter ringsum. »Das war ein Fehler. Sie hat es nicht so gemeint. Sie ist nicht... sie gehört nicht... ich meine, wir gehören zusammen. Sie und ich. Wir gehören zusammen, klar? Mein Vater war Fletcher, und ihrer...

ihrer nicht. « Es war, als würde er in Sand einsinken. Je mehr er sich abmühte, desto tiefer sank er.

Einer der Cowboys sprach als erster. Er hatte Augen, die die Presse eisblau nennen würde.

»Du bist Fletchers Sohn?«

»Ja... das bin ich.«

»Dann weißt du, was wir tun müssen.«

Plötzlich begriff Howie die Bedeutung der Blicke, die ihm seit seinem Eintreten zugeworfen worden waren. Diese

Kreaturen - Halluzigenien hatte Fletcher sie genannt - kannten ihn; zumindest bildeten sie es sich ein. Jetzt hatte er sich 410

identifiziert, und das Verlangen in ihren Gesichtern konnte nicht größer sein.

»Sag uns, was wir tun sollen«, sagte eine der Frauen.

»Wir sind für Fletcher hier«, sagte eine andere.

»Fletcher ist nicht mehr«, sagte Howie.

»Dann für dich. Du bist sein Sohn. Was sollen wir hier tun?«

»Sollen wir das Kind des Jaff für dich vernichten?« sagte der Cowboy und sah Jo-Beth mit seinen blauen Augen an.

»Gütiger Himmel, nein!«

Er streckte die Hand aus, um Jo-Beth am Arm zu packen, aber sie wich bereits mit langsamen Schritten vor ihm zur Tür zurück. »Komm zurück«, sagte er. »Sie werden dir nichts tun.«

Er sah ihrem Gesichtsausdruck an, daß seine Worte in dieser Gesellschaft kein Trost waren.

»Jo-Beth...«, sagte er, »... ich dulde nicht, daß sie dir weh tun.«

Er ging auf sie zu, aber die Geschöpfe seines Vaters waren nicht bereit, ihre einzige Hoffnung auf Führung gehen zu lassen. Bevor er bei ihr war, spürte er, wie eine Hand an seinem Hemd zog, dann noch eine und noch eine, bis er von flehentlichen, bewundernden Gesichtern umgeben war.

»Ich kann euch nicht helfen«, schrie er. »Laßt mich in Ruhe!«

Er sah aus dem Augenwinkel, wie Jo-Beth furchtsam zur Tür lief und hinausschlüpfte. Er rief ihr nach, aber der Lärm um ihn herum war angeschwollen, bis er jedes seiner Worte übertönte.

Er drängte sich nachdrücklicher durch die Menge. Sie mochten Träume sein, waren aber durchaus greifbar; und warm; und, so schien es, ängstlich. Sie brauchten einen Führer, und sie hatten ihn auserkoren. Es war eine Rolle, auf die er nicht vorbereitet war, besonders dann nicht, wenn sie ihn von Jo-Beth trennte.

»Verdammt, geht mir aus dem Weg!« forderte er und

drängte sich um sich schlagend durch die erleuchteten, glänzenden Gesichter. Ihr Eifer ließ nicht nach, sondern stieg 411

proportional zu seiner Gegenwehr. Nur indem er sich duckte und wie durch einen Tunnel durch seine Bewunderer ging, konnte er sich ihnen entziehen. Sie folgten ihm auf den Flur hinaus. Die Eingangstür stand offen. Er lief wie ein von Fans verfolgter Star darauf zu und in die Nacht hinaus, bevor sie seiner wieder habhaft werden konnten. Ein Instinkt hinderte sie daran, ihm ins Freie hinaus zu folgen, auch wenn einer oder zwei, angeführt von Benny und dem Hund Morgan, ihm

nachliefen; und der Ruf des Jungen - »Besuch uns bald wieder!« - folgte ihm wie eine Drohung die Straße entlang.

412

VII

l

Die Kugel traf Tesla an der Seite wie der Schlag eines Schwergewichtschampions. Sie wurde rückwärts geschleudert, der Anblick von Tommy-Rays grinsendem Gesicht wich den Sternen über dem offenen Dach. Sie wurden binnen Sekunden größer, schwollen an wie helle Wundmale auf der sauberen Dunkelheit. Was danach geschah, entzog sich ihrem

Verständnis. Sie hörte einen Aufruhr und einen Schuß, gefolgt von Schreien der Frauen, die sich, wie Raul ihr gesagt hatte, um diese Zeit hier einfanden. Aber sie brachte nicht die Willenskraft auf, sich für irgend etwas auf Erden zu

interessieren. Das häßliche Schauspiel über ihr erforderte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit: ein kranker, eiternder Himmel, der im Begriff stand, sie mit beflecktem Licht zu überschütten.

Ist das der Tod? fragte sie sich. Wenn ja, dann wurde er überschätzt. Das gab Stoff für eine Geschichte, überlegte sie.

Über eine Frau, die...

Der Gedanke teilte das Schicksal ihres Bewußtseins: Er erlosch.

Der zweite Schuß, den sie gehört hatte, war auf Raul

abgefeuert worden, der sich auf Teslas Attentäter gestürzt hatte und dabei über das Feuer gesprungen war. Die Kugel verfehlte ihn, aber er warf sich beiseite, um einer weiteren zu entgehen, was Tommy-Ray Zeit gab, zur Tür hinauszulaufen, zu der er hereingekommen war, in eine Frauenmenge hinein, die er mit einem dritten Schuß über ihre verschleierten Köpfe hinweg auseinandertrieb. Sie stimmten ein Wehklagen an und liefen davon, wobei sie ihre Kinder hinter sich herzogen. Mit dem Nuncio in der Hand hastete er den Berg hinunter zu der Stelle, wo er das Auto geparkt hatte. Ein Blick zurück bestätigte ihm, 413

daß der Gefährte der Frau - dessen ungestalte Züge und unheimliche Schnelligkeit ihn aus der Fassung gebracht hatten

- ihn nicht verfolgte.

Raul legte die Hand an Teslas Wange. Sie war fiebrig, lebte aber. Er zog das Hemd aus und preßte es auf die Verletzung, dann legte er ihre schlaffe Hand darauf, um es an Ort und Stelle zu halten. Danach schritt er in die Dunkelheit und rief die Frauen aus ihren Verstecken. Er kannte die Namen aller.

Sie wiederum kannten ihn und vertrauten ihm. Sie kamen, als er rief.

»Kümmert euch um Tesla«, wies er sie an. Dann folgte er dem Todesjungen und seiner Beute.

Tommy-Ray konnte das Auto bereits erkennen - oder besser, seinen geisterhaften Umriß im Mondenschein -, als er aus-rutschte. Im Bemühen, Waffe und Phiole festzuhalten, ließ er beide fallen. Er fiel, das Gesicht voraus, heftig in den Staub.

Steine schnitten ihm Wangen, Kinn, Arme und Hände auf. Als er wieder aufstand, begann Blut zu fließen.

»Mein Gesicht!« sagte er und betete zu Gott, daß sein Aussehen keinen Schaden genommen hatte.

Es folgten noch mehr schlechte Nachrichten. Er konnte hö-

ren, wie der häßliche Pisser den Berg herunterkam.

»Willst sterben, was?« grunzte er seinem Verfolger

entgegen. »Kein Problem. Können wir einrichten. Kein

Problem.«

Er tastete nach der Waffe, aber die war ein paar Meter weit weggerutscht. Aber die Phiole war unter seiner Hand. Er hob sie auf. Dabei bemerkte er, daß sie nicht mehr passiv war. Sie lag warm auf der blutigen Handfläche. Hinter dem Glas bewegte sich etwas. Er hielt sie fester, damit sie ihm nicht noch einmal aus der Hand rutschen konnte. Die Flüssigkeit reagierte sofort und leuchtete zwischen seinen Fingern.

414

Viele Jahre waren vergangen, seit der Rest des Nuncio sein Werk an Fletcher und Jaffe getan hatte. Dies, der Rest, war weitab zwischen Steinen vergraben gewesen, die so fest waren, daß nichts sie erschüttern konnte. Er war kalt geworden und hatte seine Botschaft vergessen. Aber jetzt erinnerte er sich.

Tommy-Rays Enthusiasmus weckte alte Ambitionen.

Er sah, daß der Nuncio leuchtend wie eine Messerklinge, grell wie ein Pistolenschuß, gegen das Glas der Phiole drängte.

Dann zerbrach er sein Gefängnis und schnellte ihm zwischen den Fingern hindurch entgegen - die er jetzt gegen seinen Angriff spreizte - auf sein ohnedies schon verletztes Gesicht zu.

Seine Berührung schien sanft zu sein - ein warmer Spritzer, wie Sperma, wenn er sich einen abwichste, der ihn am Auge und dem Mundwinkel erwischte. Aber es warf ihn rückwärts auf den Rücken; die Steine rissen die Ellbogen blutig, ebenso Hintern und Rücken. Er wollte schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Er versuchte, die Augen aufzumachen, damit er sehen konnte, wo er war, aber auch das konnte er nicht.

Herrgott! Er konnte nicht einmal mehr atmen. Seine Hände, die den Nuncio im Sprung berührt hatten, klebten am Gesicht und versperrten Augen, Nase und Mund. Es war, als wäre er in einem Sarg eingeschlossen, der für jemanden gemacht wurde, der zwei Nummern kleiner war als er. Er schrie wieder gegen den Knebel der eigenen Handfläche an, aber er stand auf verlorenem Posten. Irgendwo in seinem Hinterkopf sagte eine Stimme:

»Gib nach. Du willst es doch. Wenn du der Todesjunge werden willst, mußt du zuerst den Tod kennenlernen. Spüre ihn.

Verstehe ihn. Erleide ihn.«

Darin war er, wahrscheinlich wie in keiner anderen Lektion in seinem kurzen Leben, Meisterschüler. Er leistete der Panik keinen Widerstand, sondern ließ sich von ihr treiben, ritt sie wie eine Welle in Zuma, der Dunkelheit einer unbekannten 415

Küste entgegen. Der Nuncio begleitete ihn. Tommy-Ray

spürte, wie er mit jeder schwitzenden Sekunde etwas Neues aus ihm machte, auf den Spitzen seiner aufgerichteten Härchen tanzte, einen Rhythmus, den Rhythmus des Todes, zwischen seinen pochenden Herzschlägen schlug.

Plötzlich war er voll davon; oder der Nuncio von ihm; oder beides. Er konnte die Hände wie Saugnäpfe vom Gesicht ziehen und wieder atmen.

Nach ein paar keuchenden Atemzügen sah er auf und

betrachtete seine Handflächen. Sie waren blutig, vom Blut aus seinem Gesicht und anderen Verletzungen, aber die Flecken verschwanden vor einer beharrlicheren Wirklichkeit. Ihm wurde der Anblick eines Grabbewohners gewährt, und er sah sein eigenes Fleisch vor seinen Augen verwesen. Die Haut wurde dunkel und von Gasen aufgebläht, dann platzte sie auf, Eiter und Wasser flossen aus den Rissen. Als er das sah, grinste er und spürte, wie sich das Grinsen ausdehnte bis zu den Ohren, als sein Gesicht aufplatzte. Und er zeigte nicht nur die Knochen seines Lächelns, auch die Gebeine unter Armen, Handgelenken und Fingern kamen nun zum Vorschein, von der Verwesung freigelegt. Herz und Lungen unter dem Hemd

fielen flüssiger Fäulnis zum Opfer und flossen weg; seine Eier wurden mit ihnen fortgespült, der schrumpelige Schwanz ebenso.

Und das Grinsen wurde immer noch breiter, bis sämtliche Gesichtsmuskeln verschwunden waren und er das Lächeln des Todesjungen lächelte, so breit wie ein Lächeln nur werden konnte.

Die Vision war nicht von Dauer. Kaum gegeben, war sie auch schon vorüber, und er kniete wieder auf den spitzen Steinen und sah die blutigen Handflächen an.

»Ich bin der Todesjunge«, sagte er, stand auf und drehte sich um, um den ersten glücklichen Pisser zu sehen, der ihn nach seiner Verwandlung anschauen durfte.

416

Der Mann war ein paar Meter entfernt stehengeblieben.

»Sieh mich an«, sagte Tommy-Ray. »Ich bin der Todes-

junge.«

Der arme Scheißer starrte ihn nur an und begriff nichts.

Tommy-Ray lachte. Das Verlangen, den Mann zu töten, war von ihm gewichen. Er wollte einen lebenden Zeugen, der in kommenden Tagen bezeugen konnte, was geschehen war. Der sagte: Ich war dabei, und es war ehrfurchtgebietend, Tommy-Ray sterben und wieder auferstehen zu sehen.

Er nahm sich einen Augenblick Zeit und betrachtete die Überreste des Nuncio an den Scherben der Phiole und ein paar verstreute Spritzer auf dem Boden. Nicht genügend, es aufzu-sammeln und dem Jaff zu bringen. Aber er brachte ja jetzt etwas Besseres. Sich selbst, von der Angst befreit, vom Fleisch befreit. Ohne den Zeugen noch eines Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ließ ihn in seiner Verwirrung stehen.

Die Glorie der Verwandlung war zwar von ihm gewichen, aber ein schwacher Nachgeschmack blieb - was er nicht begriff, bis sein Blick auf einen Stein am Boden fiel. Er bückte sich und hob ihn auf; möglicherweise ein hübsches Geschenk für Jo-Beth. Aber als er es in der Hand hielt, wurde ihm klar, daß es überhaupt kein Stein war, sondern der zerschmetterte und schmutzige Schädel eines Vogels. In seinen Augen

leuchtete er.

Der Tod leuchtet, sagte er sich. Wenn ich ihn sehe, leuchtet er.

Er steckte den Schädel in die Tasche, ging zum Auto und fuhr rückwärts den Berg hinunter, bis die Straße breit genug war, daß er wenden konnte. Dann brauste er mit einer

Geschwindigkeit davon, die selbstmörderisch gewesen wäre, wäre Selbstmord jetzt nicht eine seiner vielen neuen

Spielsachen gewesen.

Raul drückte die Finger in einen der Spritzer des Nuncio.

417

Dieser stieg seiner Hand perlförmig entgegen, wand sich durch die Spiralen der Fingerabdrücke und stieg durch das

Knochenmark von Hand, Handgelenk und Unterarm empor, bis er am Ellbogen versiegte. Er spürte - oder bildete es sich ein -

eine unmerkliche Neugestaltung in den Muskeln, als würde seine Hand, die die Affenform nie völlig verloren hatte, ein wenig näher zum Menschsein gelockt. Er ließ sich nur ein paar Augenblicke von dem Gefühl ablenken; Teslas Befinden sorgte ihn mehr als sein eigenes.

Auf dem Rückweg den Berg hinauf fiel ihm ein, daß die letzten Tropfen des Nuncio vielleicht mithelfen konnten, die Frau wieder gesund zu machen. Wenn sie nicht bald Hilfe in irgendeiner Form bekam, würde sie sicher sterben. Was war zu verlieren, wenn er die Große Arbeit tun ließ, was sie konnte?

Mit diesem Gedanken im Kopf stapfte er in Richtung

Mission zurück, weil er wußte, wenn er versuchte, die zerschmetterte Phiole zu berühren, würde er zum Nutznießer ihrer Wirkung werden. Tesla mußte die Straße hinab zu der Stelle getragen werden, wo die kostbaren Tropfen verschüttet wurden.

Die Frauen hatten ihre Kerzen rings um Tesla herum aufgestellt. Sie sah bereits wie ein Leichnam aus. Er erteilte seine Anweisungen rasch. Sie wickelten sie ein und halfen ihm, sie ein Stück die Straße hinunterzutragen. Sie war nicht schwer. Er nahm ihren Kopf und die Schultern, zwei Frauen trugen die untere Hälfte, eine dritte drückte das mittlerweile völlig durchnäßte Hemd auf die Schußwunde.

Sie kamen langsam voran und stolperten in der Dunkelheit, aber da er zweimal vom Nuncio berührt worden war, fiel es Raul nicht schwer, die Stelle wiederzufinden. Gleich und gleich gesellte sich eben gern. Er ermahnte die Frauen, Füße und Hände von der verschütteten Flüssigkeit fernzuhalten, nahm Tesla allein auf die Arme und legte sie nieder, so daß der verschüttete Nuncio einen Heiligenschein um ihren Kopf 418

bildete. Die Überreste der Phiole enthielten immer noch den größten Teil. Er drehte ihren Kopf äußerst behutsam zu den Scherben der Phiole. Als der Nuncio die Nähe der Frau spürte, begann die Flüssigkeit einen Glühwürmchentanz...

... die giftige Helligkeit, die auf Tesla herunterregnete, nachdem sie von Tommy-Rays Kugel zu Fall gebracht worden war, hatte sich binnen Sekunden verfestigt und war zu einem grauen, konturlosen Ort geworden, wo sie nun lag und keine Ahnung hatte, wie sie hergekommen war. Sie konnte sich nicht mehr an die Mission, Raul oder Tommy-Ray erinnern. Nicht einmal den eigenen Namen wußte sie mehr. Alles lag

außerhalb der Mauer, wo sie nicht hingehen konnte. Wo sie vielleicht nie wieder hingehen konnte. Das erfüllte sie nicht mit irgendwelchen Empfindungen. Da sie keine Erinnerungen hatte, konnte sie auch um nichts trauern.

Aber jetzt kratzte etwas auf der anderen Seite an der Wand.

Sie hörte es vor sich hinsummen, während es arbeitete, wie ein Liebhaber, der an den Steinen ihrer Zelle grub und

entschlossen war, zu ihr zu kommen. Sie lauschte und wartete, und nun war sie nicht mehr ganz so vergeßlich und auch nicht mehr so gleichgültig, was ihre Flucht anbetraf. Ihr Name fiel ihr als erstes wieder ein, sie hörte ihn in dem Summen draußen.

Dann die Erinnerung an die Schmerzen, die die Kugel bereitet hatte, und das grinsende Gesicht von Tommy-Ray, und Raul und die Mission und...

Nuncio.

Das war die Kraft, nach der sie gesucht hatte, und nun suchte diese umgekehrt nach ihr und überwand die Mauern des

Limbo. Ihre Unterhaltung mit Fletcher über die verwandelnde Wirkung des Nuncio war allzu kurz gewesen, aber sie hatte seine grundlegende Funktion bestens begriffen. Er erweiterte die Eigenschaften, mit denen er in Berührung kam; ein Wettlauf gegen die Entropie auf ein Ziel zu, welches niemand 419

ahnen konnte. War sie bereit für so eine erleuchtende Berührung? Der Nuncio hatte aus Jaffe etwas aufgeblähtes Böses gemacht und aus Fletcher einen bestürzten Heiligen.

Was mochte er aus ihr machen?

Im letzten Augenblick kamen Raul Zweifel an der Klugheit seiner Behandlung, und er wollte Tesla aus der Reichweite des Nuncio nehmen, aber er schnellte bereits aus den Scherben der Phiole zu ihrem Gesicht. Sie inhalierte ihn wie einen flüssigen Atemzug. Um ihren Kopf herum flogen die anderen Tropfen zu Kopfhaut und Hals.

Sie keuchte, ihr ganzer Körper zitterte, als der Bote in sie eindrang. Und dann ließ das Zittern ihrer Gelenke und Nerven ebenso unvermittelt nach.

Raul murmelte: »Stirb nicht. Stirb nicht.«

Er wollte gerade die Lippen auf ihre drücken, als letzte Ver-zweiflungsmaßnahme, um sie zu erhalten, als er eine

Bewegung hinter den geschlossenen Lidern sah. Sie drehte die Augen rasend hin und her und erblickte etwas, das nur sie allein sehen konnte.

»Lebend...«, murmelte sie.

Hinter ihr fingen die Frauen, die alles mit angesehen hatten, ohne es zu begreifen, zu beten und wimmern an, entweder aus Dankbarkeit oder Angst vor dem, was sie gesehen hatten. Er wußte es nicht. Aber auch er sprach murmelnd Gebete, ohne sich seiner Beweggründe sicherer zu sein als die Frauen.

2

Die Wände verschwanden plötzlich. Wie ein Damm, der zuerst an einer winzigen Stelle bricht und dann vom Druck der Sturzflut gesprengt wird.

Sie hatte damit gerechnet, daß die Welt, die sie verlassen 420

hatte, auf sie warten würde, wenn die Mauern zu Trümmern geworden waren. Sie irrte sich. Von der Mission war nichts zu sehen, auch nicht von Raul. Statt dessen lag eine Wüste vor ihr, die von einer Sonne erhellt wurde, welche die volle Kraft noch nicht erreicht hatte, und durch die ein Wind wehte, der Tesla in dem Augenblick ergriff, als die Mauern fielen, und sie über den Boden trug. Ihre Geschwindigkeit war erschreckend, aber sie konnte nicht bremsen oder die Richtung ändern, denn sie hatte keine Glieder und keinen Körper mehr. Hier bestand sie nur aus Gedanken; Reinheit an einem reinen Ort.

Dann vor ihr ein Anblick, der diesen Gedanken Lügen

strafte. Am Horizont waren Spuren menschlicher Besiedlung zu erkennen; eine Stadt, die mitten in diesem Nichts errichtet worden war. Sie näherte sich ihr mit unverminderter

Geschwindigkeit. Dies war offenbar nicht ihr Ziel, wenn sie überhaupt eines hatte. Sie überlegte, daß sie ja auch einfach reisen und reisen konnte. Daß diese Daseinsform einfach eine der Bewegung war; eine Reise ohne Zweck oder Ziel. Während sie durch die Hauptstraße raste, hatte sie Zeit zu sehen, daß die Stadt solide erbaut war und Geschäfte und Häuser sich auf beiden Seiten gruppierten, aber sie war auch vollkommen ohne Charakter. Das heißt, unbewohnt und ohne Merkmale. Keine Schilder an den Geschäften oder Kreuzungen; überhaupt keine Spur von Menschen. Noch ehe sie diese bizarren

Gegebenheiten richtig begriffen hatte, war sie am

gegenüberliegenden Stadtrand und raste wieder über von der Sonne versengten Boden. Der Anblick der Stadt, so kurz er gewesen war, hatte den Verdacht erhärtet, daß sie hier vollkommen allein war. Nicht nur würde ihre Reise endlos sein, sondern auch ohne Begleitung. Dies war die Hölle, dachte sie; oder eine gutfunktionierende Definition derselben.

Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis ihr Verstand vor diesem Schrecken in den Wahnsinn flüchtete. Einen Tag?

Eine Woche? Gab es solche Unterscheidungen hier überhaupt?

421

Ging die Sonne unter und wieder auf? Sie versuchte, zum Himmel zu sehen, aber die Sonne war hinter ihr, und da sie keinen Körper hatte, warf sie auch keinen Schatten, anhand dessen sie den Stand der Sonne ablesen konnte, noch besaß sie die Macht, sich umzudrehen und selbst nachzusehen.

Doch es gab etwas anderes zu sehen, und das war noch

eigentümlicher als die Stadt: Ein alleinstehender Turm oder eine Säule, aus Metall erbaut, stand mitten in der Wüste; Drahtseile hielten sie, als würde sie andernfalls

davonschweben. Wieder war sie innerhalb von Sekunden dort und wieder daran vorbei. Wieder spendete sie ihr keinen Trost.

Aber als sie daran vorbei war, überkam sie ein neues Gefühl: daß sie, die Wolken und der Sand unter ihr alle vor etwas flohen. Hatte eine Wesenheit in der konturlosen Stadt gelauert, wo sie nicht zu sehen gewesen war, und folgte ihr nun, von der Anwesenheit eines Menschen erregt? Sie konnte sich nicht umdrehen, sie konnte nichts sehen, sie konnte nicht einmal die Schritte des Wesens hören, das ihr folgte. Aber es würde kommen. Wenn nicht jetzt, dann bald. Es war unablässig und unausweichlich. Und der erste Augenblick, da sie es sah, würde ihr letzter sein.

Dann eine Zuflucht! Immer noch ein weites Stück entfernt, aber sie wurde immer größer, während sie darauf zuraste; es schien sich um eine kleine Hütte aus Steinen zu handeln, deren Mauern weiß gestrichen waren. Ihre schwindelerregende Geschwindigkeit wurde langsamer. Offenbar hatte die Reise doch ein Ziel: diese Hütte.

Sie sah gebannt auf die Hütte und suchte nach Anzeichen, ob sie bewohnt war; und ihre periphere Wahrnehmung erblickte eine Bewegung weit rechts neben der Behausung. Tesla wurde zwar langsamer, aber ihre Geschwindigkeit war immer noch beachtlich, und da sie die Szene nicht studieren konnte, bekam sie nicht mehr als einen Blick auf die Gestalt mit. Aber es war ein Mensch, eine Frau, in Lumpen gekleidet: Das sah sie. Auch 422

wenn die Hütte so unbewohnt wie die Stadt war, einen Trost -

wenn auch einen kleinen - hatte sie, nämlich daß noch eine Menschenseele durch diese Einöde wanderte. Sie sah nochmals angestrengt nach der Frau, doch diese war gekommen und gegangen. Und es gab dringendere Probleme: die Tatsache, daß die Hütte fast bei ihr war, oder sie bei der Hütte, und ihre Geschwindigkeit immer noch ausreichte, Behausung und

Besucherin beim Aufprall zu zerschmettern. Sie wappnete sich und überlegte, daß ein Tod durch Zusammenprall der

unendlichen Reise vorzuziehen war, die sie befürchtet hatte.

Und plötzlich hielt sie an; direkt vor der Tür. Von

dreihundert Stundenkilometern auf null in einem halben Herzschlag.

Die Tür war geschlossen, aber sie spürte etwas über der Schulter - obwohl sie körperlos war, schien es unmöglich, nicht in Begriffen wie über und hinter zu denken -, das in ihr Sichtfeld hineingriff. Es war schlangenförmig, so dick wie ihr Handgelenk und so dunkel, daß sie nicht einmal im grellen Sonnenlicht Einzelheiten seiner Anatomie erkennen konnte. Es hatte kein Muster; keinen Kopf; keine Augen; keinen Mund; keine Schuppen. Aber es hatte Kraft. Genügend, um die Tür aufzustoßen. Danach zog es sich zurück, und sie war nicht sicher, ob sie das ganze Tier oder nur eines seiner Gliedmaßen gesehen hatte.

Die Hütte war nicht groß; mit einem Blick hatte sie alles gesehen. Die Wände unbearbeiteter Stein, der Boden

festgetretene Erde. Kein Bett, keine Möbel. Nur ein kleines Feuer, das in der Mitte auf dem Boden brannte und dessen Rauch zwar die Möglichkeit hatte, durch ein Loch in der Decke abzuziehen, es aber statt dessen vorzog, drinnen zu bleiben und die Luft zwischen ihr und dem einzigen Bewohner der Hütte zu verschmutzen.

Er sah aus, als wäre er so alt wie die Steine der Mauern, nackt und schmutzig, die Haut straff und brüchig wie Papier 423

über seine dürren Knochen gespannt. Er hatte sich den Bart ungleichmäßig abgesengt, an manchen Stellen waren noch graue Haarflusen. Sie wunderte sich, daß er überhaupt noch genügend Verstand hatte, das zu tun. Der Gesichtsausdruck deutete auf ein Gehirn im fortgeschrittenen Zustand der Katatonie hin.

Doch kaum war sie eingetreten, sah er zu ihr auf und sah sie an, ungeachtet der Tatsache, daß sie keine Substanz hatte. Er räusperte sich und spie Schleim in das Feuer.

»Mach die Tür zu«, sagte er.

»Sie können mich sehen?« antwortete sie. »Und hören?«

»Selbstverständlich«, entgegnete er. »Und jetzt mach die Tür zu.«

»Wie soll ich das machen?« wollte sie wissen. »Ich habe...

keine Hände. Nichts.«

»Du kannst es«, antwortete er. »Stell dir einfach vor, du hättest deinen Körper.«

»Hm?«

»Verfluchte Scheiße, so schwer kann das doch nicht sein! Du hast dich doch oft genug angesehen. Stell dir vor, wie du aussiehst. Mach dich real. Los doch. Tu es für mich.« Sein Tonfall schwankte zwischen Drohung und Schmeichelei. »Du mußt die Tür zumachen...«

»Ich versuche es.«

»Nicht fest genug«, lautete die Antwort.

Sie wartete einen Augenblick, bevor sie die nächste Frage zu stellen wagte.

»Ich bin tot, nicht?« fragte sie.

»Tot? Nein.«

»Nein?«

»Der Nuncio hat dich erhalten. Du lebst, aber dein Körper ist noch bei der Mission. Ich will ihn hier haben. Wir müssen etwas erledigen.«

Die gute Nachricht, daß sie noch am Leben war, wenn auch 424

Leib und Seele getrennt, spornte sie an. Sie dachte ganz fest an den Körper, den sie beinahe verloren hatte, den Körper, in den sie über einen Zeitraum von zweiunddreißig Jahren hinweg hineingewachsen war. Er war keineswegs perfekt, aber

wenigstens gehörte er ihr allein. Kein Silikon; keine Kniffe und Falten. Sie mochte ihre Hände und die zierlichen Handgelenke, die schiefen Brüste, bei denen die linke Brustwarze doppelt so groß wie die rechte war, ihre Fotze, den Hintern. Aber am meisten gefiel ihr ihr Gesicht mit seinen Eigenheiten und Lachfältchen.

Der Trick war, sich das alles vorzustellen. An alle

Einzelheiten zu denken und den Körper damit an diesen Ort zu bringen, wo ihre Seele hingereist war. Sie vermutete, daß der alte Mann sie dabei unterstützte. Er sah zwar noch zur Tür, aber sein Blick war nach innen gerichtet. Die Sehnen am Hals standen wie straffe Seile vor; der lippenlose Mund zuckte.

Seine Energie half ihr. Sie spürte, wie ihre Leichtigkeit schwand, sie wurde hier substantieller, wie eine Suppe, die auf dem Feuer ihrer Fantasie eindickte. Sie erlebte einen Augenblick des Zweifels, als sie beinahe bedauerte, das unbeschwerte Dasein als reine Gedanken zu verlieren, aber dann fiel ihr ihr Gesicht wieder ein, das ihr zulächelte, wenn sie am Morgen aus der Dusche kam. Es war ein herrliches Gefühl, in diesem Körper zur Reife zu gelangen und ihn um seiner selbst willen lieben zu lernen. Das simple Vergnügen eines guten Rülpsers oder, noch besser, eines guten Furzes.

Ihrer Zunge beizubringen, zwischen Wodkas zu unterscheiden; ihren Augen, Matisse zu bewundern. Wenn sie ihren Körper wieder mit dem Denken verband, hatte sie mehr zu gewinnen als zu verlieren.

»Fast«, hörte sie ihn sagen.

»Ich spürte es.«

»Noch ein klein wenig. Beschwöre.«

Sie sah auf den Boden hinunter und merkte dabei erst, daß 425

sie es wieder konnte. Ihre Füße waren da, sie standen nackt auf der Schwelle. Und auch der Rest ihres Körpers nahm vor ihrem Blick Gestalt an. Sie war splitternackt.

»Jetzt...«, sagte der Mann am Feuer. »Mach die Tür zu.«

Sie drehte sich um und gehorchte. Es war ihr überhaupt nicht peinlich, daß sie nackt war, besonders nach der Anstrengung, die erforderlich gewesen war, ihren Körper hierherzubringen.

Sie ging dreimal pro Woche ins Gymnastikstudio. Sie wußte, ihr Bauch war schlank, der Hintern straff. Außerdem schien es ihren Gastgeber nicht zu kümmern; er war selbst nackt und betrachtete sie, so schien es, kaum mehr als flüchtig. Wenn in diesen Augen jemals Lüsternheit gewesen war, so war sie bereits vor Jahren versiegt.

»Gut«, sagte er. »Ich bin Kissoon. Du bist Tesla. Setz dich.

Sprich mit mir.«

»Ich habe viele Fragen«, sagte sie zu ihm.

»Würde mich überraschen, wenn es nicht so wäre.«

»Kann ich sie stellen?«

»Du kannst sie stellen. Aber setz dich erst hin.«

Sie setzte sich ihm gegenüber auf den Boden, das Feuer zwischen ihnen. Der Boden war warm; die Luft auch. Innerhalb von dreißig Sekunden schwitzte sie aus allen Poren. Es war angenehm.

»Zuerst...«, sagte sie, »... wie bin ich hierhergekommen?

Und wo bin ich?«

»Du bist in New Mexiko«, antwortete Kissoon. »Und wie?

Nun, das ist eine schwierigere Frage, aber es läuft auf folgendes hinaus: Ich habe dich beobachtet - dich und ein paar andere

- und auf eine Möglichkeit gewartet, jemanden hierherzubringen. Die Todesnähe und der Nuncio haben mitgeholfen, deinen Widerstand gegen die Reise abzubauen. Du hattest kaum eine andere Wahl.«

»Wieviel weißt du über das, was im Grove geschieht?«

fragte sie ihn.

426

Er gab trockene Laute mit dem Mund von sich, als versuchte er, Speichel zu sammeln. Als er schließlich antwortete, klang es niedergeschlagen.

»O Gott im Himmel, zuviel«, sagte er. »Ich weiß zuviel.«

»Die ›Kunst‹, Essenz... das alles?«

»Ja«, sagte er mit derselben Niedergeschlagenheit. »Das alles. Ich selbst, Narr, der ich bin, habe es in Gang gebracht. Das Wesen, das du als den Jaff kennst, saß einmal genau da, wo du jetzt sitzt. Damals war er nur ein Mensch. Randolph Jaffe, auf seine Weise eindrucksvoll - das mußte er sein, um überhaupt hierherzugelangen -, aber trotzdem war er nur ein Mensch.«

»Ist er so gekommen wie ich?« fragte sie. »Ich meine, war er dem Tode nahe?«

»Nein. Er besaß einfach eine größere Gier nach der ›Kunst‹

als die meisten, die danach suchen. Er ließ sich nicht von den Rauchwänden und Täuschungen aufhalten und den Tricks, die die meisten Menschen von der Fährte abbringen. Er hat so lange gesucht, bis er mich gefunden hatte.«

Kissoon betrachtete Tesla mit zusammengekniffenen Augen, als könnte er auf diese Weise besser sehen und bis in ihren Schädel eindringen.

»Was soll ich sagen«, meinte er. »Immer wieder dasselbe Problem: Was soll ich sagen?«

»Du hörst dich an wie Grillo«, sagte sie. »Hast du ihm auch nachspioniert?«

»Ein- oder zweimal, wenn eure Wege sich gekreuzt haben«, sagte Kissoon. »Aber es ist nicht wichtig. Du bist es. Du bist sehr wichtig.«

»Wie kommst du darauf?«

»Zunächst, weil du hier bist. Seit Randolph war niemand mehr hier, und überleg mal, was das für Konsequenzen nach sich gezogen hat. Dies ist kein gewöhnlicher Ort, Tesla. Ich bin sicher, das hast du schon erraten. Dies ist eine Schleife - eine Zeit außerhalb der Zeit -, die ich für mich selbst geschaffen 427

habe.«

»Außerhalb der Zeit?« sagte sie. »Das verstehe ich nicht.«

»Wo soll ich anfangen«, sagte er. »Das ist die andere Frage, nicht? Zuerst, was soll ich erzählen. Dann, wo soll ich anfangen... Nun, du weißt von der ›Kunst‹. Du weißt von der Essenz.

Weißt du auch über den Schwarm Bescheid?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist, oder war, einer der ältesten Orden der Weltreligion.

Eine winzige Sekte - wir waren immer nur siebzehn -, die ein Dogma hatte, die ›Kunst‹, und einen Himmel, die Essenz, und nur ein Ziel, beide rein zu halten. Dies war ihr Zeichen«, sagte er, hob einen kleinen Gegenstand vom Boden auf und warf ihn ihr zu. Auf den ersten Blick dachte sie, es wäre ein Kruzifix. Es war ein Kreuz, und in der Mitte war ein Mann mit gespreizten Gliedmaßen. Aber eingehendere Betrachtung strafte diesen Eindruck Lügen. Auf jedem der vier Arme des Symbols waren andere Gestalten eingeritzt, die Verballhornungen oder Abwandlungen der zentralen Gestalt zu sein schienen.

»Glaubst du mir?« sagte er.

»Ich glaube dir.«

Sie warf das Symbol wieder auf seine Seite des Feuers zurück.

»Die Essenz muß um jeden Preis bewahrt werden. Das hat Fletcher dir zweifellos klar gemacht?«

»Das hat er gesagt, ja. War er einer vom Schwarm?«

Kissoon schüttelte mißbilligend den Kopf. »Nein, diesen Anforderungen hätte er nie genügt. Fletcher war nur ein Angestellter. Der Jaff hat ihn angestellt, damit er ihm eine chemi-sche Fahrt ermöglicht: eine Abkürzung zur ›Kunst‹ und zur Essenz.«

»Das war der Nuncio.«

»Er war es.«

»Hat er seinen Zweck erfüllt?«

»Er hätte ihn vielleicht erfüllt, wenn Fletcher nicht auch da-428

mit in Berührung gekommen wäre.«

»Darum haben sie gekämpft«, sagte sie.

»Ja«, antwortete Kissoon. »Selbstverständlich. Aber das weißt du sicher. Fletcher muß es dir gesagt haben.«

»Wir hatten nicht viel Zeit. Er hat mir Bruchstücke erklärt.

Vieles war vage.«

»Er war kein Genie. Den Nuncio hat er mehr durch Glück als durch Können gefunden.«

»Bist du ihm begegnet?«

»Ich sagte doch, seit Jaffe war niemand mehr hier. Ich bin allein.«

»Nein«, widersprach Tesla. »Es war jemand draußen...«

»Du meinst die Lix? Die Schlange, die die Tür aufgemacht hat? Nur eine kleine Schöpfung von mir. Ein Zeitvertreib. Es hat mir Spaß gemacht, sie zu züchten...«

»Nein. Die nicht«, sagte sie. »In der Wüste war eine Frau.

Ich habe sie gesehen.«

»Ach, wirklich?« sagte Kissoon, über dessen Gesicht ein subtiler Schatten zu huschen schien. »Eine Frau?« Er lächelte verhalten. »Nun, verzeih mir«, sagte er. »Ab und zu träume ich eben auch noch. Früher konnte ich heraufbeschwören, was immer ich wollte, indem ich es träumte. War sie nackt?«

»Ich glaube nicht.«

»Schön?«

»So nahe war ich nicht.«

»Oh. Schade. Aber besser für dich. Hier bist du verwundbar, und ich möchte nicht, daß dir eine eifersüchtige Geliebte etwas tut.« Seine Stimme war unbeschwerter geworden, fast ge-künstelt beiläufig.

»Wenn du sie wieder siehst, halt dich von ihr fern. Komm ihr unter gar keinen Umständen zu nahe.«

»Nein.«

»Ich hoffe, sie findet hierher. Nicht, daß ich viel mit ihr machen könnte. Der Kadaver...« Er sah an seinem welken Körper 429

hinab, »... hat schon bessere Zeiten gesehen. Aber ich könnte sie ansehen. Ich sehe gerne jemanden an. Sogar dich, wenn ich das sagen darf.«

»Was soll das heißen, sogar?« fragte Tesla.

Kissoon lachte laut und trocken. »Ja, es tut mir leid. Es sollte ein Kompliment sein. Ich bin so lange alleine. Ich habe meine gesellschaftlichen Umgangsformen vergessen.«

»Du könntest doch sicher zurückkehren«, sagte sie. »Du hast mich hergebracht. Gibt es keine Rückfahrkarte?«

»Ja und nein«, sagte er.

»Das bedeutet?«

»Es bedeutet, ich könnte, aber ich kann nicht.«

»Warum?«

»Ich bin der letzte des Schwarms«, sagte er. »Der letzte lebende Bewahrer der Essenz. Alle anderen wurden ermordet, und Versuche, sie zu ersetzen, haben nichts gebracht. Machst du mir einen Vorwurf, weil ich mich verstecke? Weil ich aus sicherer Entfernung beobachte? Wenn ich sterbe und die Tradi-tion des Schwarms nicht erneuert wurde, ist die Essenz unbewacht; und ich glaube, du weißt genug, daß du dir vorstellen kannst, wie katastrophal das wäre. Ich kann nur auf eine Weise in die Welt hinausgehen und diese lebenswichtige Aufgabe beginnen, und zwar in einer anderen Gestalt. Einem anderen...

Körper.«

»Wer sind die Mörder? Weißt du das?«

Wieder der subtile Schatten.

»Ich habe einen Verdacht«, sagte er.

»Aber du sagst ihn mir nicht.«

»Die Geschichte des Schwarms wimmelt vor Versuchen,

seine Integrität anzugreifen. Er hat menschliche Feinde; un-menschliche; untermenschliche; übermenschliche. Wenn ich dir das erklären wollte, würden wir nie fertig werden.«

»Steht etwas davon geschrieben?«

»Du meinst, du kannst es recherchieren? Nein. Aber du 430

kannst zwischen den Zeilen der Geschichtsbücher lesen, und du wirst den Schwarm überall finden. Er ist das Geheimnis hinter allen anderen Geheimnissen. Ganze Religionen wurden begründet und erhalten, um die Aufmerksamkeit von ihm abzulenken, um spirituelle Sucher vom Schwarm, der ›Kunst‹

und wohin die ›Kunst‹ führt, abzulenken. Das war nicht schwer. Die Menschen lassen sich leicht von ihren Zielen abbringen, wenn man die richtigen Spuren auslegt.

Versprechungen der Offenbarung, Wiederauferstehung des Fleisches, und so weiter...«

»Willst du damit sagen...«

»Unterbrich mich nicht«, sagte Kissoon. »Bitte. Ich finde gerade meinen Rhythmus.«

»Tut mir leid«, sagte Tesla.

Er ist fast wie ein Vertreter, dachte Tesla. Als würde er versuchen, mir die ganze außergewöhnliche Geschichte zu verkaufen.

»Also. Wie schon gesagt... man kann den Schwarm überall finden, wenn man weiß, wo man suchen muß. Und manche

Menschen wußten das. Im Lauf der Jahre gab es einige Männer und Frauen, wie der Jaff, denen es gelang, hinter die Täuschungen und Rauchwände zu sehen, die die Hinweise aufgriffen und die Kodes knackten, und die Kodes in den Kodes, bis sie dicht an der ›Kunst‹ dran waren. Dann mußte der Schwarm natürlich eingreifen, und wir haben immer von Fall zu Fall entschieden, welche Vorgehensweise angebracht zu sein schien. Einige dieser Suchenden waren Gurdjeff, Melville, Emily Dickinson; eine interessante Mischung, die wir schlicht und einfach zu den heiligsten und geheimsten Adepten

gemacht haben, damit sie unsere Rollen übernehmen sollten, wenn der Tod unsere Zahl verringerte. Andere stuften wir als unwürdig ein.«

»Was habt ihr mit ihnen gemacht?«

»Wir haben unsere Fähigkeiten eingesetzt, um sämtliche 431

Erinnerungen an ihre Entdeckung aus ihren Köpfen zu tilgen.

Was sich häufig als fatal erwiesen hat. Man kann einem Menschen nicht eines Tages die Suche nach dem Sinn

wegnehmen und erwarten, daß er überlebt, besonders wenn er der Lösung so nahe gekommen ist. Ich vermute, einer oder eine unserer Abgelehnten hat sich erinnert...«

»Und den Schwarm ermordet.«

»Das scheint die wahrscheinlichste Theorie zu sein. Es muß jemand sein, der den Schwarm und sein Tun kennt. Was mich wieder zu Randolph Jaffe bringt.«

»Ich kann ihn mir nur schwer als Randolph vorstellen«, sagte Tesla. »Oder überhaupt als Menschen.«

»Glaub mir, er ist einer. Außerdem ist er der größte

Einschätzungsfehler, den ich je gemacht habe. Ich habe ihm zuviel erzählt.«

»Mehr als du mir erzählst?«

»Jetzt ist die Situation verzweifelt«, sagte Kissoon. »Wenn ich dir nicht alles sage und Hilfe von dir bekomme, dann sind wir alle verloren. Aber bei Jaffe... war es meine eigene Dummheit. Ich wollte jemand, mit dem ich meine Einsamkeit teilen kann, und ich habe eine schlechte Wahl getroffen. Wären die anderen noch am Leben, dann wären sie eingeschritten und hätten mich daran gehindert, so eine Fehlentscheidung zu treffen. Sie hätten die Verderbtheit in ihm gesehen. Ich nicht.

Ich war froh, daß er mich gefunden hatte. Ich wollte

Gesellschaft, wollte, daß mir jemand hilft, die Last der ›Kunst‹

zu tragen. Und damit habe ich eine schlimmere Last

geschaffen. Jemanden mit der Macht, die Essenz zu erreichen, aber ohne die geringste seelische Läuterung.«

»Er hat auch eine Armee.«

»Ich weiß.«

»Woher kommen sie?«

»Von dort, woher alles kommt. Dem Verstand.«

»Alles?«

432

»Du stellst schon wieder Fragen.«

»Ich kann nichts dafür.«

»Ja, alles. Die Welt und alle ihre Werke; ihr Entstehen und Vergehen; Götter, Läuse und Tintenfische. Alles aus dem Verstand.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Wie kommst du darauf, daß mich das interessiert?«

»Der Verstand kann nicht alles erschaffen.«

»Ich habe ja nicht gesagt, der menschliche Verstand.«

»Aha.«

»Wenn du aufmerksamer zuhören würdest, würdest du nicht so viele Fragen stellen.«

»Aber du möchtest, daß ich alles verstehe, sonst würdest du dir nicht soviel Zeit nehmen.«

»Zeit außerhalb der Zeit. Aber, ja... ja, ich möchte, daß du alles verstehst. Wenn man das Opfer bedenkt, das du bringen mußt, ist es wichtig, daß du alles verstehst.«

»Was für ein Opfer?«

»Ich sagte es dir doch: Ich kann nicht in meinem Körper von hier weg. Ich würde entdeckt und ermordet werden, wie die anderen.«

Sie zitterte trotz der Wärme.

»Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen«, sagte sie.

»O doch.«

»Du möchtest, daß ich dich irgendwie hinausschmuggle?

Deine Gedanken mit mir trage?«

»Kommt hin.«

»Kann ich nicht einfach für dich handeln?« sagte sie. »Deine Agentin sein? Ich bin gut da draußen.«

»Das glaube ich.«

»Du gibst mir Anweisungen, ich erledige das Erforderliche.«

Kissoon schüttelte den Kopf. »Du weißt so vieles nicht«, sagte er. »Ein gewaltiges Bild, und ich habe nicht einmal angefangen, es zu enthüllen. Ich bezweifle, ob deine Fantasie 433

damit fertig werden würde.«

»Versuch es«, sagte sie.

»Bist du so sicher?«

»Ganz sicher.«

»Nun, das Problem ist nicht nur der Jaff. Er könnte die Essenz beflecken, aber das würde sie überleben.«

»Und was ist dann das Problem?« sagte Tesla. »Du erzählst mir da eine Scheiße, ein Opfer sei notwendig. Wofür? Wenn die Essenz sich um sich selbst kümmern kann, wofür?«

»Kannst du mir nicht einfach vertrauen?«

Sie sah ihn stechend an. Das Feuer war niedergebrannt, aber ihre Augen hatten sich an das bernsteinfarbene Halbdunkel ge-wöhnt. Ein Teil von ihr wollte verzweifelt jemandem das Vertrauen schenken. Aber sie hatte fast ihr ganzes Leben lang erfahren müssen, wie gefährlich das war. Männer, Agenten, Studiobosse, so viele hatten sie früher um ihr Vertrauen gebeten, und sie hatte es gegeben und war beschissen worden. Jetzt war es zu spät umzulernen. Sie war bis ins Knochenmark zynisch.

Wenn sie aufhörte, das zu sein, würde sie auch aufhören, Tesla zu sein, und es gefiel ihr, Tesla zu sein. Daraus folgte - wie die Nacht dem Tag -, daß ihr auch der Zynismus gut paßte.

Daher sagte sie: »Nein. Tut mir leid. Ich kann dir nicht vertrauen. Nimm das nicht persönlich. Es wäre dasselbe, auch wenn du jemand anders wärst. Ich will alles wissen.«

»Was bedeutet das?«

»Ich will die Wahrheit. Sonst gebe ich dir gar nichts.«

»Bist du sicher, daß du dich weigern kannst?« sagte Kissoon.

Sie wandte halb das Gesicht ab und sah mit verkniffenen Augen wieder zurück, so wie es ihre Lieblingsheldinnen immer taten, mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Das war eine Drohung«, sagte sie.

»So könnte man es auslegen«, bemerkte er.

»Nun, zum Teufel...«

434

Er zuckte die Achseln. Seine Passivität - die fast lässige Art, wie er sie ansah - erboste sie noch mehr.

»Weißt du, ich muß nicht hier sitzen und mir das anhören.«

»Nicht?«

»Nein! Du verbirgst etwas vor mir.«

»Jetzt wirst du lächerlich.«

»Das glaube ich nicht.«

Sie stand auf. Sein Blick folgte ihrem Gesicht nicht, sondern verweilte auf der Höhe des Unterleibs. Plötzlich fühlte sie sich in seiner Anwesenheit unwohl, nackt, wie sie war. Sie wollte die Kleidungsstücke, die wahrscheinlich noch in der Mission waren, so muffig und blutig sie auch sein mochten. Wenn sie wieder dorthin wollte, sollte sie sich besser auf den Weg machen. Sie wandte sich zur Tür.

Hinter ihr sagte Kissoon: »Warte, Tesla. Bitte warte. Es war mein Fehler. Ich gebe es zu, es war mein Fehler. Komm zurück, ja?«

Sein Ton war versöhnlich, aber sie hörte einen weniger gütigen Unterton heraus. Er ist aufgebracht, dachte sie; trotz seiner spirituellen Gelassenheit kocht er. Es war eine Lektion in der Kunst des Dialogs, das Fauchen unter dem Schnurren heraus-zuhören. Sie drehte sich um, um noch mehr zu hören, war aber nicht mehr sicher, ob sie von diesem Mann die Wahrheit erfahren würde. Es war nur eine Drohung erforderlich, das zu bezweifeln.

»Los«, sagte sie.

»Möchtest du dich nicht setzen?«

»Nein«, sagte sie. Sie mußte so tun, als hätte sie keine Angst, obwohl sie plötzlich welche hatte; sie mußte ihre nackte Haut als ausreichende Kleidung betrachten. Stehenbleiben und trotzig nackt sein. »Ich möchte mich nicht setzen.«

»Dann will ich versuchen, es dir, so schnell ich kann, zu er-klären«, sagte er. Er hatte jede Zweideutigkeit seines Verhaltens wirksam beseitigt. Er war zuvorkommend, beinahe 435

unterwürfig.

»Nicht einmal ich, das mußt du mir glauben, habe alle Fakten zur Verfügung«, sagte er. »Aber ich habe genug, hoffe ich, um dich von der Gefahr zu überzeugen, in der wir schweben.«

»Wer ist wir?«

»Die Bewohner des Kosm.«

»Noch einmal.«

»Hat Fletcher dir das nicht erklärt?«

»Nein.«

Er seufzte.

»Stell dir Essenz als Meer vor«, sagte er.

»Ich denke...«

»Auf einer Seite dieses Meeres ist die Realität, die wir bewohnen. Ein Kontinent des Seins, wenn du so willst, dessen Grenzen Schlaf und Tod sind.«

»So weit, so gut.«

»Und jetzt... stell dir vor, daß es noch einen Kontinent gibt, auf der anderen Seite dieses Meeres.«

»Eine andere Realität.«

»Ja. So unermeßlich und komplex wie unsere eigene. So voll von Energien und Lebewesen und Gier. Aber, wie der Kosm auch, von einer einzigen Rasse mit seltsamen Gelüsten beherrscht.«

»Das klingt gar nicht gut.«

»Du wolltest die Wahrheit hören.«

»Ich sage nicht, daß ich dir glaube.«

»Dieser andere Ort ist der Metakosm. Die Bewohner sind die Iad Uroboros. Sie existieren.«

»Und ihre Gelüste?« sagte sie, war aber nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte.

»Nach Reinheit. Nach Einmaligkeit. Nach Wahnsinn.«

»Schöne Gelüste.«

»Du hast recht gehabt, als du mir vorgeworfen hast, ich 436

würde dir nicht die Wahrheit sagen. Ich habe dir nur einen Teil davon erzählt. Der Schwarm stand am Ufer der Essenz Wache, um zu verhindern, daß die ›Kunst‹ durch menschliche

Ambitionen mißbraucht wird; aber wir beobachteten auch das Meer...«

»Wegen einer Invasion?«

»Davor fürchteten wir uns. Vielleicht rechneten wir sogar damit. Vielleicht lag das ja nicht nur an unserer Paranoia. Unsere schlimmsten Alpträume sind die, in denen wir den Geruch der Iad jenseits von Essenz wahrnehmen. Die tiefsten

Schrecken, die übelsten Hirngespinste, die in den Köpfen der Menschen spuken, sind Echos ihrer Echos. Ich gebe dir mehr Grund, Angst zu haben, Tesla, als du je von anderen Lippen hören könntest. Ich erzähle dir etwas, das nur die allerstärkste Psyche verkraften kann.«

»Gibt es auch gute Nachrichten?« fragte Tesla.

»Wer hat das je versprochen? Wer hat je gesagt, daß es gute Nachrichten gibt?«

»Jesus«, antwortete sie. »Und Buddha. Und Mohammed.«

»Bruchstücke von Geschichten, die vom Schwarm zu Kulten umfunktioniert wurden. Ablenkungen.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Warum nicht? Bist du Christin?«

»Nein.«

»Buddhistin? Moslime? Hindu?«

»Nein. Nein. Nein.«

»Aber du bestehst trotzdem darauf, an die guten Nachrichten zu glauben«, sagte Kissoon. »Sehr bequem.«

Ihr war, als wäre sie, sehr heftig, ins Gesicht geschlagen worden, und zwar von einem Lehrer, der ihr während des ganzen Gesprächs immer drei oder vier Schritte voraus gewesen war und sie konstant und verstohlen an einen Ort geführt hatte, wo sie nur noch Absurdes von sich geben konnte.

Und es war wahrhaftig absurd, sich an Hoffnungen aufs 437

Himmelreich zu klammern, wo sie doch Pisse auf jede Religion hinunterschüttete, die unter ihrem Fenster vorbeiging. Sie war nicht niedergeschlagen, weil Kissoon einen Punkt in der Diskussion für sich gutmachen konnte. Sie hatte in zahlreichen Unterhaltungen schwere Schläge einstecken müssen und sich wieder aufgerappelt und noch schwerere ausgeteilt. Was sie bis aufs Blut krank machte, war die Tatsache, daß ihre

Verteidigung gegen so vieles, was er gesagt hatte, schon im selben Augenblick entkräftet wurde. Wenn es nur zum Teil stimmte, was er ihr gesagt hatte, und die Welt, in der sie lebte -

der Kosm - in Gefahr war, welches Recht hatte sie dann, ihr kleines Leben höher einzustufen als sein verzweifeltes Bedürfnis nach Unterstützung? Selbst angenommen, sie konnte den Rückweg aus dieser Zeit außerhalb der Zeit finden, konnte sie nicht in die Welt zurückkehren, ohne sich jeden Augenblick zu fragen, ob sie nicht die einzige Überlebenschance des Kosm vertan hatte, als sie ihn zurückließ. Sie mußte bleiben; sie mußte sich ihm ausliefern; nicht nur, weil sie ihm rückhaltlos glaubte, sondern weil sie es sich nicht leisten konnte, sich zu irren.

»Hab keine Angst«, hörte sie ihn sagen. »Die Situation ist nicht schlimmer als vor fünf Minuten, und da hast du dich noch wacker in der Diskussion geschlagen. Jetzt kennst du einfach nur die Wahrheit.«

»Schwacher Trost«, sagte sie.

»Nein«, antwortete er leise. »Ich sehe das. Und du mußt verstehen, daß diese Last allein schwer zu tragen ist und ohne Hilfe mein Rücken bricht.«

»Ich verstehe«, sagte sie.

Sie ging vom Feuer weg und lehnte sich an die Mauer der Hütte, um sich zu stützen und ihre Kälte am Rücken zu spüren.

Dort lehnte sie und sah zu Boden und bekam mit, wie Kissoon aufstand. Sie sah ihn nicht an, hörte aber sein Grunzen. Und dann seine Bitte.

438

»Ich muß deinen Körper bewohnen«, sagte er. »Was, fürchte ich, bedeutet, daß du ihn räumen mußt.«

Das Feuer war fast völlig niedergebrannt, aber sein Rauch wurde immer dichter. Er drückte auf ihren Hinterkopf, so daß sie Kissoon nicht ansehen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie fing an zu zittern. Zuerst die Knie, dann die Finger.

Kissoon redete unaufhörlich weiter, während er näher kam. Sie hörte sein leises Schlurfen.

»Es tut nicht weh«, sagte er. »Wenn du ruhig stehenbleibst und zu Boden siehst...«

Langsam kam ihr ein Gedanke: Machte er den Rauch irgendwie dicker, damit sie ihn nicht ansah?

»Es ist schnell vorbei...«

Er hört sich an wie ein Anästhesist, dachte sie. Das Zittern wurde stärker. Der Rauch drückte immer schwerer auf sie, je näher er kam. Jetzt war sie sicher, daß er es wirklich tat. Er wollte nicht, daß sie ihn ansah. Warum nicht? Kam er mit einem Messer zu ihr, um ihr das Gehirn herauszuschneiden, damit er sich hinter ihren Augen einnisten konnte?

Der Neugier zu widerstehen, war noch nie ihre starke Seite gewesen. Je näher er kam, desto mehr wollte sie das Gewicht des Rauchs abschütteln und ihn direkt ansehen. Aber das war schwer. Ihr Körper war schwach, als wäre ihr Blut zu

Spülwasser geworden. Der Rauch war wie ein Hut aus Blei; die Krempe war zu tief in die Stirn gezogen. Je mehr sie drückte, desto schwerer wurde er.

Er will wirklich nicht, daß ich ihn sehe, dachte sie, und dieser Gedanke spornte ihren Ehrgeiz an, es doch zu tun. Sie drückte sich gegen die Wand. Er war jetzt nur noch zwei Meter von ihr entfernt. Sie konnte ihn riechen; sein Schweiß war bitter und abgestanden. Hoch, sagte sie zu sich. Hoch. Es ist nur Rauch. Er erweckt den Eindruck, als würdest du

zerquetscht werden, aber es ist nur Rauch.

»Entspanne dich«, murmelte er; wieder der Anästhesist.

439

Statt dessen konzentrierte sie ihre letzten Kraftreserven darauf, den Kopf zu heben. Der Hut aus Blei drückte auf ihre Schläfen; ihr Schädel ächzte unter der Last der Krone. Aber sie bewegte den Kopf und zitterte, als sie sich gegen das Gewicht wehrte. Als sie einmal angefangen hatte, wurde die Bewegung leichter. Sie hob das Kinn einen Zentimeter, dann noch zwei, gleichzeitig schaute sie auf, bis sie ihn direkt ansehen konnte.

Stehend war er an jeder Stelle verkrümmt, nur an einer nicht; jedes Gelenk, jede Verbindung war ein wenig schief, Schulter und Hals, Hand und Arm; Schenkel und Becken, ein Zickzack mit einer einzigen kerzengeraden Linie, die von seinen Lenden abstand. Sie sah ihn angeekelt an.

»Scheiße, was soll das denn?« sagte sie.

»Ich kann nichts dafür«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Ach ja?«

»Als ich sagte, daß ich deinen Körper will, habe ich es nicht so gemeint.«

»Wo habe ich das nur schon einmal gehört?«

»Glaub mir«, sagte er. »Es ist nur mein Fleisch, das auf deins reagiert. Automatisch. Fühle dich geschmeichelt.«

Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht gelacht. Wäre es ihr zum Beispiel möglich gewesen, die Tür aufzumachen und wegzugehen; aber so hatte sie sich außerhalb der Zeit verirrt, mit einer Bestie auf der Schwelle und dahinter nichts als Wüste. Jedesmal, wenn sie gedacht hatte, sie hätte kapiert, was hier los war, hatte sie es wieder verloren. Der Mann war eine Überraschung nach der anderen, und keine war erfreulich.

Er streckte die Hände nach ihr aus; seine Pupillen waren ge-weitet, das Weiß der Augen kaum noch zu sehen. Sie dachte an Raul; wieviel Schönheit sein Blick ausgedrückt hatte, trotz seines Mischlingsgesichts. Hier war keinerlei Schönheit; nichts auch nur vage Erkennbares. Keine Gier, keine Wut. Wenn er überhaupt Gefühle hatte, so waren sie gut verborgen.

»Ich kann es nicht«, sagte sie.

440

»Du mußt. Gib mir deinen Körper. Ich muß den Körper haben, sonst gewinnen die Iad. Willst du das?«

»Nein!«

»Dann hör auf, Widerstand zu leisten. Deine Seele wird in Trinity sicher sein.«

»Wo?«

Nun war etwas ganz kurz in seinen Augen zu sehen; ein Fun-ken Wut - auf sich selbst, vermutete sie.

»Trinity?« sagte sie und dachte die Frage nur als Hinhaltetaktik, damit er sie nicht berührte und für sich beanspruchte. »Was ist Trinity?«

Als sie diese Frage stellte, passierten mehrere Dinge gleichzeitig, deren rasche Abfolge es ihr unmöglich machte, eins vom anderen zu trennen; aber allen gemeinsam war die Tatsache, daß seine Kontrolle über die Situation nachließ, als sie ihn nach Trinity fragte. Zuerst spürte sie, wie sich der Rauch über ihr auflöste, sein Gewicht drückte sie nicht mehr hinunter. Sie packte die Chance beim Schopf, so lange sie sich noch bot, und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Sie wandte den Blick jedoch nicht von ihm ab, und im selben Augenblick, als der Zwang von ihr abfiel, sah sie, wie er sich verwandelte. Es war ein Sekundenbruchteil, mehr nicht, aber so nachdrücklich, daß sie ihn nie vergessen konnte. Sein ganzer Oberkörper schien von Blut bedeckt zu sein, einige Spritzer reichten bis zum Gesicht. Er wußte, daß sie es sah, denn er hob die Hände, um die Flecken zu bedecken, aber auch von Händen und Armen troff Blut. War es seines? Aber bevor sie eine Verletzung finden konnte, hatte er die Vision wieder unter Kontrolle; doch wie bei einem Jongleur, der zu viele Bälle in der Luft hat, war es so, daß er einen fing und dafür einen anderen fallenließ. Das Blut verschwand, und er stand wieder unbesudelt vor ihr, gab dafür aber ein anderes Geheimnis preis, das seine Willenskraft im Zaum gehalten hatte.

Dieses war weitaus katastrophaler als die Blutflecke: seine 441

Schockwelle reichte bis zur Tür hinter ihr. Die Kraft war zu mächtig für die Lix, und Kissoon hatte offensichtlich entsetzli-che Angst davor. Er sah von ihr zur Tür selbst, ließ die Hände sinken und bekam eine völlig ausdruckslose Miene. Sie spürte, daß jedes Partikelchen seiner Energie nur für einen einzigen Zweck aufgewendet wurde, nämlich das zu stellen, was auf der Schwelle tobte. Auch das hatte seine Konsequenzen, denn seine Macht über sie - mit der er sie hierhergebracht und festgehalten hatte - verschwand vollkommen und endgültig. Sie spürte, wie die Wirklichkeit, die sie hinter sich gelassen hatte, sich ihrer bemächtigte und zog. Sie versuchte nicht einmal, Widerstand zu leisten. Es war ein ebenso unausweichlicher Sog wie die Schwerkraft. Als sie Kissoon zum letzten Mal sah, war er wieder blutbefleckt und stand immer noch mit

ausdrucksloser Miene vor der Tür. Dann ging die Tür auf.

Einen Augenblick war sie sicher, was immer gegen die Tür gepocht hatte, würde auf der Schwelle warten, um sie zu verschlingen und Kissoon ebenfalls. Sie glaubte, sie hätte sogar seine Helligkeit gesehen - so hell, so blendend hell -, die Kissoons Gesicht überflutete. Aber im letzten Augenblick behielt seine Willenskraft die Oberhand, und der Glanz verschwand im selben Augenblick wie die Welt, die sie zurückgelassen hatte, sie wieder für sich beanspruchte und durch die Tür riß.

Sie wurde den Weg zurückgezogen, den sie gekommen war, aber mit zehnfacher Geschwindigkeit, so daß sie nicht einmal die Gegebenheiten interpretieren konnte, an denen sie vorbeikam - den Stahlturm, die Stadt -, bis sie sie längst meilenweit hinter sich gelassen hatte.

Aber dieses Mal war sie nicht allein. Jemand war in ihrer Nähe und rief ihren Namen.

»Tesla? Tesla! Tesla!«

Sie kannte die Stimme. Es war die von Raul.

»Ich höre dich«, murmelte sie und merkte, daß hinter den 442

Schlieren der Geschwindigkeit vage eine andere, dunklere Realität sichtbar war. Lichtpünktchen waren darin -

möglicherweise Kerzenflammen - und Gesichter.

»Tesla!«

»Fast da«, keuchte sie. »Fast da. Fast da.«

Jetzt verblaßte die Wüste; die Dunkelheit gewann die Oberhand. Sie machte die Augen auf, damit sie Raul deutlicher sehen konnte. Er grinste breit, als er sich auf die Fersen niederließ, um sie zu begrüßen.

»Du bist zurückgekommen«, sagte er.

Die Wüste war verschwunden. Jetzt herrschte Nacht. Steine unter ihr, Sterne über ihr; und, vermutete sie, Kerzen, die von einem Kreis fassungsloser Frauen getragen wurden.

Unter ihr, zwischen Körper und Boden, waren die

Kleidungsstücke, aus denen sie geschlüpft war, als sie ihren Körper beschworen und in Kissoons Zeitschleife neu

erschaffen hatte. Sie hob die Hand, um Rauls Gesicht zu berühren, weil sie sich vergewissern wollte, ob sie tatsächlich wieder in der realen Welt war, und weil sie den Kontakt brauchte. Seine Wangen waren naß.

»Du hast hart gearbeitet«, sagte sie, weil sie es für Schweiß hielt. Dann wurde ihr ihr Fehler klar. Überhaupt kein Schweiß, sondern Tränen.

»Oh. Armer Raul«, sagte sie, richtete sich auf und umarmte ihn. »Bin ich völlig verschwunden?«

Er drückte sie an sich. »Zuerst wie Nebel«, sagte er. »Dann...

einfach weg.«

»Warum sind wir hier?« sagte sie. »Wir waren in der

Mission, als er auf mich geschossen hat.«

Als sie an den Schuß dachte, sah sie nach unten, wo die Kugel sie getroffen hatte. Keine Wunde; nicht einmal Blut.

»Der Nuncio«, sagte sie, »hat mich geheilt.«

Diese Tatsache entging den Frauen nicht. Als sie die unver-sehrte Haut sahen, murmelten sie Gebete und wichen zurück.

443

»Nein...«, murmelte sie und sah immer noch an ihrem

Körper hinab. »Es war nicht der Nuncio. Dies ist der Körper, den ich mir vorgestellt habe.«

»Vorgestellt?« sagte Raul.

»Beschworen«, antwortete sie und nahm Rauls Verwirrung überhaupt nicht zur Kenntnis, weil sie selbst ein Rätsel lösen mußte. Ihre linke Brustwarze, doppelt so groß wie die andere, war jetzt auf der rechten Seite. Sie sah beide an und schüttelte den Kopf. So einen Fehler würde sie nie gemacht haben.

Irgendwie war ihr Körper von der Reise zur Schleife

seitenverkehrt zurückgekommen. Sie hob die Beine und

studierte sie. Mehrere Kratzer - Butchs Werk -, die ein Schienbein geziert hatten, schmückten jetzt das andere.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie zu Raul.

Da er nicht einmal die Frage verstand, konnte er nicht antworten, daher zuckte er nur die Achseln.

»Vergiß es«, sagte sie und zog sich an.

Erst dann stellte sie die Frage, was mit dem Nuncio passiert war.

»Habe ich alles bekommen?« sagte sie.

»Nein. Der Todesjunge hat es bekommen.«

»Tommy-Ray? Heiliger Himmel. Dann hat der Jaff jetzt

einen Sohn und einen halben.«

»Aber du bist auch berührt worden«, sagte Raul. »Und ich.

Ich bekam ihn in die Hand. Er stieg bis zum Ellenbogen.«

»Also heißt es jetzt, wir gegen sie.«

Raul schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht von Nutzen sein«, sagte er.

»Du kannst und du mußt«, sagte sie. »Wir müssen

Antworten auf so viele Fragen finden. Ich kann es nicht alleine.

Du mußt mit mir kommen.«

Sein Widerwille war deutlich, er mußte ihn nicht in Worte kleiden.

»Ich weiß, du hast Angst. Aber bitte, Raul. Du hast mich von 444

den Toten zurückgeholt...«

»Ich nicht.«

»Du hast dazu beigetragen. Du möchtest doch nicht, daß es vergebens war, oder?«

Sie konnte etwas von Kissoons Beschwörungen in ihrer

Stimme hören, was ihr ganz und gar nicht gefiel. Aber sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keine steilere Lernkurve erlebt als in der Zeit, die sie bei Kissoon gewesen war. Er hatte seine Spuren hinterlassen, ohne sie auch nur mit einem Finger zu berühren. Doch wenn man sie gefragt hätte, ob er ein Lügner oder Prophet war, ein Erlöser oder Wahnsinniger, hätte sie es nicht sagen können. Vielleicht war diese Doppeldeutigkeit der steilste Teil der Kurve, aber sie konnte nicht sagen, welche Lektion sie daraus gelernt hatte.

Sie dachte wieder an Raul und sein Zögern. Sie hatte keine Zeit für Diskussionen. »Du mußt einfach mitkommen«, sagte sie. »Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Aber die Mission...«

»... steht leer, Raul. Ihr einziger Schatz war der Nuncio, und der ist fort.«

»Sie war voller Erinnerungen«, sagte er leise, aber die gespannte Antwort verriet seine Bereitschaft.

»Es wird andere Erinnerungen geben. Bessere Zeiten, an die wir uns erinnern können«, sagte sie. »Und jetzt... wenn du dich von jemandem verabschieden mußt, dann tu es, denn wir machen uns gleich auf den Weg...«

Er nickte und wandte sich in Spanisch an die Frauen. Tesla verstand die Sprache ein klein wenig und bekam mit, daß er tatsächlich Abschied nahm. Sie ließ ihn in Ruhe und ging den Berg hinauf zum Auto.

Während sie dorthinging, schoß ihr die Lösung des Rätsels mit dem seitenverkehrten Körper durch den Kopf, ohne daß sie darüber nachgedacht hätte. In Kissoons Hütte hatte sie sich ihren Körper so vorgestellt, wie sie ihn am häufigsten sah: im 445

Spiegel. Wie oft in ihren dreißig Jahren hatte sie ihr Spiegelbild angesehen und ein Porträt gebastelt, bei dem rechts links war und umgekehrt?

Sie war buchstäblich als andere Frau aus der Schleife zurückgekehrt; eine Frau, die vorher nur als Bild in Glas existiert hatte. Jetzt war dieses Bild Fleisch und Blut und wandelte durch die Welt. Der Verstand hinter ihrem Gesicht blieb derselbe, hoffte sie, obschon vom Nuncio berührt und durch die Bekanntschaft mit Kissoon beeinflußt. Summa summarum keine vernachlässigbaren Einflüsse.

Und weil sich ein Ding zum anderen fügte, war sie eine völlig andere Frau. Und es gab keine bessere Zeit, das der Welt zu verkünden, als die Gegenwart.

Es gab vielleicht kein Morgen.

446

Sechster Teil

In Geheimnissen offenbart

I

Tommy-Ray fuhr seit seinem sechzehnten Lebensjahr Auto.

Räder waren für ihn immer Freiheit von Mama, dem Pastor, dem Grove und allem , wofür sie standen, gewesen. Jetzt fuhr er genau zu jenem Ort zurück, dem er noch vor ein paar Jahren gar nicht schnell genug hätte entkommen können, und hatte das Gaspedal auf jeder Meile des Wegs durchgetreten. Er wollte mit den Neuigkeiten, die sein Körper in sich trug, wieder durch den Grove gehen, wollte zu seinem Vater zurück, der ihm soviel beigebracht hatte. Bevor der Jaff gekommen war, waren das Beste in seinem Leben der Wind vor der Küste von

Topanga und eine Brandung von Westen gewesen; und er auf der Welle mit dem Wissen, daß alle Mädchen ihm vom Ufer aus zusahen. Er hatte immer gewußt, daß diese Zeiten des Hochgefühls nicht ewig währen konnten. Sommer für Sommer kamen neue Helden daher. Er war einer von ihnen gewesen und hatte Surfer verdrängt, die kaum mehr als ein paar Jahre älter und nicht mehr ganz so wendig waren. Knaben-Männer wie er selbst, die noch im vergangenen Sommer Könige der Wellen gewesen waren, und plötzlich waren sie Schnee von gestern. Er war nicht dumm. Er wußte, es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich auch in ihre Reihen gesellte.

Aber jetzt verspürte er eine Entschlossenheit im Bauch und hatte ein Gehirn, wie er es noch niemals gehabt hatte. Er hatte Denkweisen und Verhaltensmuster entdeckt, von denen die Schwachköpfe in Topanga nicht einmal etwas ahnten. Vieles verdankte er dem Jaff. Aber nicht einmal sein Vater mit seinen verwegenen Ratschlägen hatte ihn darauf vorbereitet, was in der Mission geschehen war. Jetzt war er ein Mythos. Der Tod 447

am Steuer eines Chevy, auf dem Weg nach Hause. Er kannte Musik, zu der die Leute bis zum Umfallen tanzen würden. Und wenn sie umfielen und zu Fleisch wurden - auch das kannte er alles. Er hatte das Schauspiel an seinem eigenen Fleisch miterlebt. Das hatte ihm eine innigere Erinnerung gegeben.

Aber der Spaß dieser Nacht hatte erst angefangen. Weniger als hundert Meilen nördlich der Mission führte ihn sein Weg durch einen kleinen Ort, an dessen Ortsrand ein Friedhof lag.

Der Mond stand immer noch hoch am Himmel. Sein Licht

schien auf die Gräber und spülte die Farben aus den hier und da verteilten Blumen. Er hielt an, damit er es sich besser ansehen konnte. Immerhin war dies von nun an sein Reich. Er war daheim.

Hätte er noch einen Beweis gebraucht, daß die Ereignisse in der Mission nicht Ausgeburten eines Wahnsinnigen waren, so hätte er ihn bekommen, als er das Friedhofstor aufstieß und hineinging. Kein Wind bewegte das Gras, das an manchen Stellen, wo Gräber nicht mehr gepflegt wurden, kniehoch wuchs. Aber er sah dennoch Bewegungen. Er ging ein paar Schritte näher und sah menschliche Gestalten, die an einem Dutzend Stellen sichtbar wurden. Sie waren tot. Hätte ihr Äußeres diese Tatsache nicht bewiesen, dann hätte das Leuchten ihrer Körper - die ebenso hell waren wie das Knochenstück, das er neben dem Auto gefunden hatte - sie als seinem Klan zugehörig ausgewiesen.

Sie wußten, wer sie besuchen kam. Ihre Augen oder, im Falle der schon vor längerer Zeit Verstorbenen, ihre

Augenhöhlen, waren auf ihn gerichtet, während sie sich anschickten, ihm ihren Tribut zu zollen. Keiner sah auf den Boden, als sie näher kamen, obwohl er uneben war. Sie kannten das Gelände bestens und waren vertraut mit den Stellen, wo schlecht gebaute Grüfte eingestürzt oder Särge von Erdbewegungen zur Oberfläche gedrückt worden waren. Sie kamen freilich nur langsam voran. Er hatte es nicht eilig. Er 448

setzte sich auf das Grab, in dem, wie der Stein verriet, eine Mutter mit ihren sieben Kindern ruhte, und sah zu, wie die Geister zu ihm kamen. Je näher sie kamen, desto deutlicher sah er ihre Verfassung. Sie waren nicht schön. Wind wehte aus ihnen heraus und krümmte ihre Leiber. Ihre Gesichter waren entweder zu breit oder zu lang, die Augen quollen aus den Höhlen, die Münder waren aufgeblasen, die Wangen schlaff und hängend. Ihre Häßlichkeit erinnerte Tommy-Ray an einen Film, den er einmal gesehen hatte, über Piloten, die größter Beschleunigung ausgesetzt waren; der einzige Unterschied war: Dies waren keine Freiwilligen. Sie litten gegen ihren Willen.

Ihre verzerrten Gestalten kümmerten ihn nicht im mindesten, ebensowenig die Löcher in den verbrauchten Leibern oder die aufgeschlitzten oder abgetrennten Gliedmaßen. Nichts, das er nicht schon im Alter von sechs Jahren in Comics gesehen hätte oder in der Geisterbahn. Der Schrecken war überall, wenn man ihn sehen wollte. Auf Kaugummikarten, in samstagmorgendli-chen Zeichentrickfilmen oder in Geschäften auf T-Shirts und Plattencovern. Er lächelte, als er darüber nachdachte. Überall waren Außenposten seines Reiches. Kein Ort blieb von den Fingern des Todesjungen unberührt.

Der Schnellste der Gruppe seiner ersten Anhänger war ein Mann, der aussah, als wäre er jung und erst vor kurzem gestorben. Er trug ein Paar Jeans, die ihm zwei Nummern zu groß waren, und ein T-Shirt, auf dem für alle Welt sichtbar das Fick-Zeichen prangte. Dazu trug er einen Hut, den er abnahm, als er nur noch wenige Meter von Tommy-Ray entfernt war. Der Kopf darunter war praktisch rasiert und bot dem Blick mehrere lange Schnittwunden dar. Wahrscheinlich die tödlichen Wunden. Kein Blut war mehr an ihnen; nur das Winseln des Windes, der durch die Eingeweide des Mannes fuhr.

Ein Stück von Tommy-Ray entfernt blieb er stehen.

»Sprichst du?« fragte ihn der Todesjunge.

449

Der Mann machte den ohnehin weit offenen Mund noch weiter auf und fing an, so gut er konnte, Antwort zu geben, indem er die Worte aus dem Hals emporschaffte. Als er ihm zusah, fühlte sich Tommy-Ray an einen Künstler erinnert, den er einmal in einer Spätvorstellung erlebt hatte, wo dieser einen lebenden Goldfisch verschluckt und wieder ausgewürgt hatte.

Obwohl das schon ein paar Jahre her war, hatte der Anblick Tommy-Rays Fantasie angeregt. Das Schauspiel eines Mannes, der imstande war, durch Übung sein System umzukehren, etwas auszuwürgen, das er im Hals gehabt hatte - sicher nicht im Magen, kein Fisch, und sei er noch so schuppig, konnte in Säure überleben -, hatte das Unbehagen wettgemacht, das er beim Zusehen empfunden hatte. Und jetzt lieferte ihm der Fick-Mann eine ähnliche Vorstellung; nur würgte er Worte statt eines Fischs hoch. Schließlich kamen sie heraus, aber trocken wie seine Innereien.

»Ja«, sagte er. »Ich spreche.«

»Weißt du, wer ich bin?« fragte Tommy-Ray.

Der Mann gab ein Stöhnen von sich.

»Ja oder nein?«

»Nein.«

»Ich bin der Todesjunge, und du bist der Fick-Mann. Wie ist das? Sind wir nicht ein tolles Paar?«

»Du bist für uns hier«, sagte der tote Mann.

»Was soll das heißen?

»Wir sind nicht begraben. Nicht gesegnet.«

»Bei mir müßt ihr keine Hilfe suchen«, sagte Tommy-Ray.

»Ich begrabe keinen. Ich bin hierhergekommen, weil das von nun an meine Plätze sind. Ich werde König der Toten sein.«

»Ja?«

»Verlaß dich drauf.«

Eine weitere verlorene Seele - eine Frau mit breiten Hüften -

war näher gekommen und erbrach ein paar Worte.

»Du...«, sagte sie, »... leuchtest.«

450

»Ja?« sagte Tommy-Ray. »Das überrascht mich nicht. Du bist auch hell. Echt hell.«

»Wir gehören zusammen«, sagte die Frau.

»Wir alle«, sagte ein dritter Leichnam.

»Allmählich versteht ihr.«

»Erlöse uns«, sagte die Frau.

»Ich habe dem Fick-Mann schon gesagt«, erklärte Tommy-Ray, »ich begrabe niemanden.«

»Wir folgen dir«, sagte die Frau.

»Folgen?« antwortete Tommy-Ray, dem ein Schauer ange-

sichts der Vorstellung, mit dieser Versammlung in den Grove zurückzukehren, den Rücken hinablief. Vielleicht konnte er unterwegs noch andere Orte besuchen und dabei die Zahl seiner Gefolgschaft vergrößern.

»Die Vorstellung gefällt mir«, sagte er. »Aber wie?«

»Du führst. Wir folgen«, lautete die Antwort.

Tommy-Ray stand auf. »Warum nicht?« sagte er und ging zum Auto zurück. Noch im Gehen dachte er: Das ist mein Ende...

Aber es war ihm einerlei.

Als er hinter dem Lenkrad saß, sah er zum Friedhof zurück.

Wind wehte plötzlich von irgendwoher, und er sah, wie sich die Gesellschaft, die er sich erkoren hatte, in diesem Wind auflöste; ihre Körper zerstoben, als wären sie aus Sand, und wurden verweht. Teilchen ihres Staubs wehten ihm ins Gesicht.

Er blinzelte, wollte den Blick aber nicht von dem Schauspiel abwenden. Ihre Leiber verschwanden zwar, aber ihr Heulen konnte er immer noch hören. Sie waren wie der Wind, oder waren der Wind, und taten ihre Anwesenheit kund. Als ihre Auflösung vollständig war, wandte er sich von den Böen ab und trat aufs Gaspedal. Das Auto schnellte vorwärts und wirbelte eine andere Staubwolke auf, die sich unter die Derwische mengte, welche ihm folgten.

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Er hatte recht gehabt mit seiner Vermutung, daß er unterwegs noch mehr Plätze finden würde, wo er Gespenster rekrutieren konnte. Von jetzt an werde ich immer recht haben, dachte er.

Der Tod irrt sich nie; niemals. Nach einer Fahrstunde fand er noch einen Friedhof, wo ein Staubderwisch aus halb

aufgelösten Seelen an der vorderen Mauer entlanglief wie ein Hund an der Leine, der ungeduldig auf die Ankunft seines Herrn wartet. Offenbar war ihm die Kunde seines Eintreffens vorausgeeilt. Sie warteten, diese Seelen, begierig darauf, sich zur Meute zu gesellen. Er mußte das Auto nicht einmal abbremsen. Als er heranfuhr, wehte ihm der Staubsturm entgegen und erstickte das Fahrzeug vorübergehend, bevor er aufstieg und mit den Seelen hinter ihm verschmolz. Tommy-Ray fuhr einfach weiter.

Kurz vor der Dämmerung fand seine unglückliche Truppe noch mehr Zustrom. In der Nacht war es zu einem Unfall an einer Kreuzung gekommen. Glasscherben lagen auf der Straße; Blut; und eines der beiden Autos, kaum mehr als solches er-kenntlich, lag verkehrt herum im Straßengraben. Er bremste, weil er sich umsehen wollte, nicht weil er damit rechnete, daß er hier Gespenster finden würde; doch noch während er die Unfallstelle betrachtete, hörte er das inzwischen bereits vertraute Heulen des Windes und sah zwei verstümmelte Gestalten, einen Mann und eine Frau, aus der Dunkelheit auftauchen. Sie hatten die Tricks ihres neuen Daseins noch nicht heraus. Der Wind, der durch sie wehte, oder aus ihnen heraus, drohte sie bei jedem unsicheren Schritt, den sie machten, auf die zerschmetterten Köpfe zu werfen. Doch obwohl sie noch nicht lange tot waren, erkannten sie in Tommy-Ray ihren neuen Herrn und kamen gehorsam. Er

lächelte, als er sie sah; ihre frischen Wunden - Glas in den Gesichtern, in den Augen - erregten ihn.

Kein Wort wurde gesprochen. Als sie näher kamen, schienen sie von ihren Kameraden im Tode hinter Tommy-Ray ein Zei-452

chen zu bekommen, worauf es ihnen möglich war, ihre Leiber völlig aufzulösen und sich dem Wind einzuverleiben.

Mit seiner angewachsenen Legion fuhr Tommy-Ray weiter.

Unterwegs kam es zu weiteren Begegnungen; sie wurden immer häufiger, je weiter er nach Norden kam, als würde sich die Nachricht seines Eintreffens durch die Erde ausbreiten, von einem Begrabenen zum nächsten, Friedhofsgeflüster, so daß den ganzen Weg entlang Staubphantome warteten. Aber es waren keineswegs alle gekommen, um sich zu der Gruppe zu

gesellen. Manche waren offensichtlich nur da, um die

vorbeiziehende Parade zu sehen. Ihre Gesichter drückten Angst aus, wenn sie Tommy-Ray ansahen. Er war jetzt zum

Schrecken der Geisterbahn geworden, sie waren die

verängstigten Besucher. Es schien, als gäbe es auch unter den Toten eine Hierarchie, und er war für viele eine zu

hochstehende Gesellschaft; seine Ambitionen waren zu groß, seine Gier zu verderbt. Sie zogen die stille Verwesung einem solchen Abenteuer vor.

Am frühen Morgen kam er zu der namenlosen Hinterwäldler-stadt, wo er die Brieftasche verloren hatte, aber das Tageslicht verriet nicht den Schwarm im Staubsturm, der ihm folgte. Alle, die hinsahen - und das waren in dem tosenden Wind die wenigsten -, erblickten eine schmutzige Wolke im Kielwasser des Autos; mehr nicht.

Er hatte hier etwas anderes zu tun, als verlorene Seelen einzusammeln - obwohl er nicht einen Augenblick daran zweifelte, daß das Leben in so einem verkommenen Ort schnell und gewaltsam vorbei sein konnte und viele Verstorbene nie in geweihter Erde zur Ruhe gebettet worden waren. Nein, er war hier, um an dem Taschendieb Rache zu nehmen. Und wenn nicht an ihm, so doch wenigstens an dem Schuppen, in dem es passiert war. Er fand ihn mühelos. Die Eingangstür war nicht verschlossen, wie er es zu dieser frühen Morgenstunde auch 453

nicht anders erwartet hatte. Und als er eintrat, stellte er fest, daß die Bar auch, nicht verlassen war. Die Trunkenbolde der vergangenen Nacht saßen immer noch in verschiedenen

Stadien des Zusammenbruchs in dem Lokal herum. Einer lag mit dem Gesicht nach unten inmitten einer Lache aus

Erbrochenem. Zwei weitere lagen auf Tischen. Hinter der Tür stand ein Mann, an den sich Tommy-Ray vage erinnerte; es war der Türsteher, der ihm zehn Dollar für die Vorstellung im Hinterzimmer abgeknöpft hatte. Ein Berg von einem Mann, dessen Gesicht so oft geprügelt worden zu sein schien, daß es aussah, als würde der Bluterguß nie heilen.

»Suchst du jemand?« wollte er wissen.

Tommy-Ray achtete nicht auf ihn und ging zur Tür in das Zimmer, wo er die Vorstellung von Frau und Hund miterlebt hatte. Sie war offen. Das Zimmer dahinter leer, die Darsteller ins Bett und in den Zwinger zurückgekehrt. Als er sich wieder zur Bar umdrehte, war der Barkeeper einen Meter von ihm entfernt.

»Verdammt, ich hab' dir eine Frage gestellt«, sagte er.

Tommy-Ray war ob der Blindheit des Mannes etwas ver-

stört. Sah er denn nicht die Tatsache, daß er es mit einem verwandelten Wesen zu tun hatte? War seine Wahrnehmung durch jahrelanges Trinken und Hundevorstellungen so getrübt worden, daß er den Todesjungen nicht erkannte, wenn er zu Besuch kam? Armer Narr.

»Geh mir aus dem Weg«, sagte Tommy-Ray.

Statt dessen packte der Mann Tommy-Ray am Hemd. »Du

warst schon mal hier«, sagte er.

»Klar.«

»Hast was dagelassen, was?«

Er zog Tommy-Ray näher, bis sie praktisch Nase an Nase waren. Er hatte den Atem eines Kranken.

»Ich an deiner Stelle würde loslassen«, warnte Tommy-Ray.

Das schien den Mann zu amüsieren. »Sieht so aus, als

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wolltest du die Eier abgerissen bekommen«, sagte er. »Oder möchtest du bei der Vorstellung mitmachen?« Seine Augen wurden groß angesichts dieser Vorstellung. »Bist du deshalb gekommen? Wegen eines Engagements?«

»Ich habe gesagt...«, begann Tommy-Ray.

»Ist mir scheißegal, was du gesagt hast. Jetzt rede ich. Kapiert?« Er legte Tommy-Ray seine Pranke auf den Mund.

»Also... willst du mir etwas zeigen oder nicht?«

Das Bild, das er im Nebenzimmer gesehen hatte, fiel

Tommy-Ray wieder ein, als er zu seinem Gegner aufsah: die Frau mit den glasigen Augen, der Hund mit den glasigen Augen. Er hatte hier den Tod im Leben gesehen. Er machte den Mund hinter der Handfläche des Mannes auf und drückte die Zunge gegen die stickige Haut.

Der Mann grinste.

»Ja?« sagte er.

Er ließ die Hand vor Tommy-Rays Gesicht sinken. »Hast du was zu zeigen?« wiederholte er.

»Hier...«, murmelte Tommy-Ray.

»Was?«

»Kommt rein... kommt rein...«

»Was faselst du da?«

»Nicht mit dir. Hier. Kommt... hier... herein.« Er sah von dem Mann zur Tür.

»Hör mit der Scheiße auf, Junge«, antwortete der Mann. »Du bist allein.«

»Kommt rein!« kreischte Tommy-Ray.

»Verdammt, halt's Maul!«

»Kommt rein!«

Das Kreischen tötete dem Mann den Nerv. Er schlug

Tommy-Ray so fest ins Gesicht, daß der Junge aus seinem Griff und zu Boden fiel. Tommy-Ray stand nicht auf. Er sah einfach nur zur Tür und sprach seine Aufforderung ein letztes Mal aus.

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»Bitte, kommt rein«, sagte er leiser.

Gehorchte die Legion diesmal, weil er gebeten und nicht befohlen hatte? Oder hatten sie sich einfach gesammelt und waren erst jetzt bereit, ihm zu Hilfe zu kommen? Wie auch immer, sie fingen an, an der geschlossenen Tür zu rasseln. Der Barkeeper drehte sich grunzend um. Er schien selbst mit seinen blutunterlaufenen Augen zu sehen, daß kein natürlicher Wind Einlaß begehrte. Er drückte zu rhythmisch; seine Faust hämmerte zu heftig. Und sein, Heulen, oh, das Heulen, das war nicht das Heulen von Stürmen, wie er sie kannte. Er drehte sich wieder zu Tommy-Ray um.

»Scheiße, was ist denn da draußen los?« sagte er.

Tommy-Ray blieb einfach liegen, wo er hingeworfen worden war, und lächelte zu dem Mann auf, das legendäre Lächeln, das Verzeiht-mir-mein-Eindringen-Lachen, das niemals so wie frü-

her sein würde, weil er ja mittlerweile der Todesjunge war.

Stirb, sagte dieses Lächeln jetzt, stirb vor meinen Augen.

Stirb langsam, stirb schnell. Mir egal. Dem Todesjungen ist das alles gleich.

Während das Lächeln breiter wurde, ging die Tür auf,

Bruchstücke des Schlosses und Holzsplitter wurden vom eindringenden Wind durch die Bar geworfen. Draußen im Sonnenschein waren die Gespenster in diesem Wind nicht sichtbar gewesen; aber jetzt machten sie sich sichtbar, ihr Staub gerann vor den Augen der Zeugen. Einer der Männer, die auf Tischen lagen, richtete sich gerade noch rechtzeitig auf, daß er sehen konnte, wie drei Gestalten, deren Oberkörper wie Innereien aus Staub herabtropften, von den Köpfen an abwärts vor ihnen materialisierten. Er wich zur Wand zurück, wo sie sich auf ihn stürzten. Tommy-Ray hörte ihn schreien, sah aber nicht, welchen Tod sie ihm gaben. Er hatte nur Augen für die Gespenster, die sich dem Barkeeper näherten.

Er sah, daß ihre Gesichter ganz Gier waren; als hätte die Reise in der Kolonne ihnen Zeit gegeben, sich zu vereinfachen.

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Sie waren nicht mehr so deutlich voneinander unterscheidbar wie früher; vielleicht hatte sich ihr Staub im Sturm vermischt, und jeder war ein wenig wie der andere geworden. Nach dieser Gleichmacherei waren sie noch schrecklicher, als sie es an der Friedhofsmauer gewesen waren. Er erschauerte bei ihrem Anblick; der Mensch, der er gewesen war, hatte Angst vor ihnen, der Todesjunge verging fast vor Wonne. Das waren die Soldaten seiner Armee: aufgerissene Augen, noch weiter aufgerissene Mäuler, Staub und Verlangen in einer einzigen heulenden Legion.

Der Barkeeper fing laut an zu beten, aber er verließ sich nicht auf Gebete allein. Er griff nach unten, hob Tommy-Ray mit einer Hand auf und zerrte ihn hoch. Nachdem er seine Geisel genommen hatte, wich er durch die Tür in das Sex-Zimmer zurück. Tommy-Ray hörte ihn etwas wiederholen, möglicherweise den Empfänger des Gebets? Santo Dios! Santo Dios! Aber weder Worte noch Geisel bremsten den tosenden Wind und seine Staubfracht. Sie folgten ihm und rissen die Tür weit auf.

Tommy-Ray sah, wie ihre Mäuler noch riesiger wurden, und dann waren die verschwommenen Gesichter über ihnen beiden.

Er konnte nicht sehen, was als nächstes passierte. Der Staub drang ihm in die Augen, ehe er sie zumachen konnte. Aber er spürte, wie der Barkeeper ihn losließ, und im nächsten Augenblick folgte eine Woge feuchter Hitze. Das Heulen im Wind schwoll unverzüglich zu einem gellenden Kreischen an, vor dem er die Ohren verschließen wollte; aber er hörte es trotzdem und schraubte sich wie hundert Bohrer in seinen

Schädelknochen.

Als er die Augen wieder aufmachte, war er rot. Brust, Arme, Beine, Hände: alles rot. Der Barkeeper, Ursprung der Farbe, war auf die Bühne gezerrt worden, wo Tommy in der Nacht zuvor die Frau und den Hund gesehen hatte. Sein Kopf lag verkehrt herum in einer Ecke; die Arme - die Hände ringend 457

ineinander verkrampft - in einer anderen; der Rest von ihm lag in der Bühnenmitte, und der Hals pulsierte noch.

Tommy-Ray bemühte sich, keine Übelkeit zu empfinden -

immerhin war er der Todesjunge -, aber das war einfach zuviel.

Und doch, sagte er sich, was hatte er erwartet, als er sie über die Schwelle gebeten hatte? Er hatte hier keinen Zirkus im Schlepptau. Es war geistig nicht gesund; es war nicht zivilisiert.

Zitternd, von Übelkeit erfüllt und ernüchtert stand er auf und schleppte sich in die Bar zurück. Das Wirken seiner Legion war hier so katastrophal wie in dem Nebenzimmer, dem er den Rücken gekehrt hatte. Alle drei Anwesenden in der Bar waren brutal abgeschlachtet worden. Er schenkte der Szene nur ganz am Rande seine Aufmerksamkeit, während er durch die

Trümmer zur Tür schritt.

Die Geschehnisse in der Bar hatten unweigerlich ein

Publikum draußen angezogen, obwohl es noch so früh war.

Aber die Geschwindigkeit des Windes - in dem sich seine Geisterarmee wieder aufgelöst hatte - hinderte alle bis auf die Abenteuerlustigsten - Jugendliche und Kinder - daran, sich dem Schauplatz zu nähern; und selbst sie waren überzeugt davon, daß die Luft, die um sie herum heulte, nicht ganz leer war.

Sie sahen, wie der blonde, blutbefleckte Junge aus der Bar kam und zum Auto ging, machten aber keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Unter ihren prüfenden Blicken wurde sich auch Tommy-Ray seines Gangs bewußt. Er schlurfte nicht mehr so, sondern ging aufrechter. Wenn sie sich an den Todesjungen erinnern, dachte er sich, sollen sie sich an jemand

Schrecklichen erinnern.

Als er weiterfuhr, glaubte er allmählich, daß er die Legion zu-rückgelassen hatte; daß sie das Mord-Spiel aufregender fand, als einem Führer zu folgen, und dortgeblieben war, um auch 458

die restlichen Stadtbewohner abzuschlachten. Es bekümmerte ihn nicht besonders, daß sie ihn verlassen hatte; er war sogar teilweise dankbar dafür. Die Offenbarungen, die in der vergangenen Nacht so erstrebenswert schienen, hatten einiges von ihrem Glanz verloren.

Er war klebrig und stank nach dem Blut eines anderen Mannes; er hatte blaue Flecken von der Behandlung, die er durch den Barkeeper erfahren hatte. Naiv, wie er war, hatte er geglaubt, daß ihn die Berührung des Nuncio unsterblich gemacht hatte. Welchen Sinn hatte es schließlich, der Todesjunge zu sein, wenn einen der Tod immer noch meistern konnte? Er hatte den Irrtum seiner Denkweise eingesehen und war dabei dem Tode nähergekommen, als ihm lieb war, und er wollte gar nicht weiter darüber nachdenken. Und was seine Retter anbelangte, seine Legion - er war gleichermaßen naiv gewesen zu glauben, er könnte sie beherrschen.

Sie waren nicht die schlurfenden, kriecherischen Flüchtlinge, für die er sie in der vergangenen Nacht gehalten hatte. Falls sie es gewesen waren, hatte ihr Zusammensein ihre Natur

verändert. Jetzt waren sie tödlich, und früher oder später hätte er wahrscheinlich sowieso die Macht über sie verloren. Ohne sie war er besser dran.

Bevor er die Grenze überquerte, machte er Rast, um sich das Blut vom Gesicht zu wischen, krempelte das Hemd um, Innerstes nach außen, um die schlimmsten Flecken zu verbergen, dann fuhr er weiter. Als er die Grenze selbst erreichte, sah er die Staubwolke im Spiegel und wußte: Seine Freude darüber, daß er die Legion verloren hatte, war verfrüht gewesen.

Welches Gemetzel sie auch immer aufgehalten haben mochte, jetzt waren sie damit fertig. Er trat das Gaspedal durch und hoffte, daß er sie abhängen könnte; aber sie hatten seine Witterung aufgenommen, folgten ihm wie eine Meute loyaler, aber tödlicher Hunde und schlossen zu dem Auto auf, bis sie wieder unmittelbar hinter ihm wirbelten.

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Als sie die Grenze hinter sich gelassen hatten, beschleunigte die Wolke, so daß sie dem Auto nicht mehr folgte, sondern es statt dessen links und rechts einhüllte. Das Manöver hatte einen anderen Zweck als bloße Intimität. Geister bedrängten die Fensterscheiben und rasselten an der Beifahrertür, bis sie sie schließlich aufgezogen hatten. Tommy-Ray bückte sich, um sie wieder zuzumachen. Als er das tat, wurde der Kopf des Barkeepers, der nach der Reise mit dem Sturm reichlich mitgenommen war, aus dem Staub auf den Beifahrersitz

geworfen. Dann wurde die Tür zugeschlagen, und die Meute nahm wieder pflichtschuldig ihren Platz hinter dem Auto ein.

Sein Instinkt befahl ihm, anzuhalten und die Trophäe auf die Straße zu werfen; aber er wußte, wenn er das tat, würde er in der Einschätzung seiner Legion noch tiefer sinken. Sie hatten ihm den Kopf nicht nur gebracht, um ihm eine Freude zu machen. Es war eine Warnung dabei im Spiel, möglicherweise sogar eine Drohung. Versuch nicht, sie zu betrügen, sagte die staubige, blutige Kugel aus ihrem klaffenden Mund, sonst werden du und ich Brüder sein.

Er nahm sich die stumme Botschaft zu Herzen. Obwohl er vordergründig immer noch der Anführer war, veränderte sich die Dynamik. Alle paar Meilen beschleunigte die Wolke wieder und wies ihn auf Neuankömmlinge in ihrer Mitte hin; viele davon hatten an den unwahrscheinlichsten Orten

gewartet: an verwahrlosten Straßenecken und unbefahreneren Kreuzungen - häufig an Kreuzungen; einmal auf dem Parkplatz eines Motels; einmal vor einer zugenagelten Tankstelle, wo ein Mann, eine Frau und ein Kind gemeinsam warteten, als hätten sie gewußt, daß dieses Transportmittel vorbeikommen würde.

Je größer die Zahl wurde, um so stärker wurde auch der Sturm, der sie trug, bis sein Ausmaß so groß war, daß er kleinere Schäden entlang des Highway anrichtete, Autos von der Fahrbahn abdrängte und Schilder knickte. Er schaffte es sogar bis in die Nachrichten. Tommy-Ray hörte beim Fahren 460

die Meldungen. Er wurde als außergewöhnlicher Wind

bezeichnet, der vom Meer hereingeweht worden war und sich in nördlicher Richtung auf Los Angeles County zubewegte.

Während er zuhörte, fragte er sich, ob jemand in Palomo Grove die Meldung hörte. Vielleicht der Jaff oder Jo-Beth. Er hoffte es. Er hoffte, daß sie es hörten und begriffen, was in ihre Richtung unterwegs war. Seit sein Vater aus dem Fels

zurückgekehrt war, hatte die Stadt ein paar merkwürdige Dinge gesehen, aber ganz sicher nichts dem Wind Ebenbürtiges, den er im Schlepptau hatte, oder dem lebenden Staub, der auf dessen Rücken tanzte.

461

II

Der Hunger trieb William am Samstagmorgen aus dem Haus.

Er ging widerwillig, wie ein Mann bei einer Orgie, der plötzlich merkt, daß er die Blase leeren muß, und mit vielen Blicken zurück. Aber Hunger ließ sich, wie der Drang zu pissen, nicht ewig ignorieren, und William hatte die wenigen Vorräte in seinem Kühlschrank ziemlich schnell verbraucht. Da er nun mal im Einkaufszentrum arbeitete, hortete er nie Lebensmittel, sondern nahm sich jeden Tag eine Viertelstunde Zeit, wanderte durch den Supermarkt und nahm alles mit, was ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Aber jetzt war er seit zwei Tagen nicht mehr einkaufen gewesen, und wenn er im Schoße der erlesenen, aber leider nicht eßbaren

Köstlichkeiten hinter den zugezogenen Jalousien seines Hauses nicht verhungern wollte, mußte er sich etwas zu essen holen.

Das war leichter gesagt als getan. Sein Denken kreiste so sehr um die Gesellschaft, die er hatte, daß das simple Problem, wie er sich für einen Auftritt in der Öffentlichkeit vorzeigbar machen und zum Einkaufszentrum hinuntergehen konnte, zu einer nicht unerheblichen Herausforderung wurde.

Bis vor kurzem war sein Leben so sehr durchorganisiert gewesen. Die Hemden der Woche wurden immer sonntags

gewaschen und gebügelt und danach auf die Kommode gelegt, mit fünf Krawatten aus seiner Sammlung von über hundert, die zum Farbton des jeweiligen Hemdes paßten; seine Küche hätte man für eine Werbeanzeige fotografieren können, so makellos sauber war sie immer; die Spüle roch nach Zitrone; die Waschmaschine nach seinem Weichspüler mit Blumenduft; die Toilettenschüssel nach Fichtennadel. Aber in seinem Haus herrschte Babylon. Als er seinen besten Anzug zuletzt gesehen hatte, hatte ihn die berüchtigte bisexuelle Marcella St. John getragen, während sie breitbeinig auf einer ihrer Freundinnen saß. Seine Krawatten waren für einen Wettbewerb mißbraucht 462

worden, bei dem es darum ging, auf welche Erektion man die meisten davon hängen konnte, ein Turnier, das Moses ›Der Schlauch‹ Jasper gewonnen hatte, der ganzen siebzehn Platz bot.

Anstatt den Versuch zu unternehmen, aufzuräumen und

seine Habseligkeiten wiederzubekommen, beschloß William, den Feiernden ihren Willen zu lassen. Er kramte in seiner untersten Schublade und fand T-Shirt und Jeans, die er seit Jahren nicht mehr angehabt hatte, zog sie an und schlenderte zum Einkaufszentrum hinunter.

Etwa zur selben Zeit, als er das tat, wachte Jo-Beth mit dem ersten Kater ihres Lebens auf. Es war der schlimmste, eben weil es der erste war.

Ihre Erinnerungen an die Ereignisse der vergangenen Nacht waren unklar. Sie erinnerte sich natürlich daran, daß sie zu Lois gegangen war, an die Gäste und an Howies Eintreffen; aber sie war nicht mehr sicher, wie alles zu Ende gegangen war. Als sie aufstand, fühlte sie sich schwindlig und übel und ging ins Bad.

Mama hörte sie und kam nach oben; als Jo-Beth aus dem Bad herauskam, wartete sie auf ihre Tochter.

»Alles in Ordnung?« fragte sie.

»Nein«, gab Jo-Beth offen zu. »Mir ist hundeelend.«

»Du hast gestern abend getrunken.«

»Ja«, sagte sie. Es hatte keinen Zweck zu leugnen.

»Wo warst du?«

»Bei Lois.«

»Lois hat keinen Alkohol bei sich zu Hause«, sagte Mama.

»Gestern abend schon. Und noch viel mehr.«

»Lüg mich nicht an, Jo-Beth.«

»Ich lüge nicht.«

»Lois würde dieses Gift niemals in ihrem Haus dulden.«

»Ich glaube, da solltest du sie selbst fragen«, sagte Jo-Beth, die Mamas vorwurfsvollem Blick standhielt. »Ich finde, wir 463

sollten beide zum Laden runtergehen und mit ihr reden.«

»Ich verlasse das Haus nicht«, sagte Mama endgültig.

»Gestern nacht warst du im Garten. Heute kannst du bis zum Auto gehen.«

Sie redete mit Mama, wie sie es noch nie gemacht hatte, mit wütender Stimme, die teilweise daraus resultierte, daß Mama sie eine Lügnerin genannt hatte; teilweise war sie auch auf sich selbst wütend, weil es ihr nicht gelang, durch den Nebel der vergangenen Nacht zu dringen. Was hatte sich zwischen Howie und ihr abgespielt? Hatten sie gestritten? Sie war fast sicher.

Sie hatten sich auf jeden Fall auf der Straße getrennt... aber warum? Auch das war ein Grund, mit Lois zu sprechen.

»Es ist mein völliger Ernst, Mama«, sagte sie. »Wir gehen beide runter ins Einkaufszentrum.«

»Nein, ich kann nicht...«, sagte Mama. »Wirklich nicht. Mir geht es heute so schlecht.«

»Das stimmt doch gar nicht.«

»Doch. Mein Magen...«

»Nein, Mama! Das reicht jetzt! Du kannst nicht dein Leben lang so tun, als wärst du krank, nur weil du Angst hast. Ich habe auch Angst, Mama.«

»Es ist gut, daß du Angst hast.«

»Nein, das ist nicht gut. Genau das will der Jaff. Davon ernährt er sich. Von der Angst im Inneren. Ich weiß es, weil ich selbst gesehen habe, wie es funktioniert, und es ist

schrecklich.«

»Wir können beten. Gebete...«

»... nützen überhaupt nichts mehr. Sie haben dem Pastor auch nicht geholfen. Wieso sollten sie dann uns helfen?« Sie sprach mit lauter Stimme, was ihren Kopf zum Kreisen

brachte, aber sie wußte, sie mußte das alles jetzt sagen, bevor sie wieder völlig nüchtern war und Angst davor hatte, ihre Mutter zu verletzen.

»Du hast immer gesagt, draußen wäre es gefährlich«, fuhr 464

sie fort, obwohl es ihr nicht gefiel, Mama so weh zu tun, wie sie es sicher tun mußte, aber sie konnte den Strom ihrer Gefühle nicht eindämmen. »Nun, es ist gefährlich. Mehr als du gedacht hast. Aber drinnen, Mama...«, sie deutete auf die Brust und meinte ihr Herz, meinte Howie und Tommy-Ray und den Schrecken, weil sie sie beide verloren hatte, »... drinnen ist es noch schlimmer. Viel schlimmer. Wenn man... Träume hat...

nur eine Weile... und sie einem dann weggenommen werden, bevor man sie richtig zu fassen bekommen kann.«

»Du faselst sinnloses Zeug, Jo-Beth«, sagte Mama.

»Lois wird dir alles erklären«, antwortete sie. »Ich bringe dich zu Lois, und dann wirst du mir glauben.«

Howie saß am Fenster und ließ sich von der Sonne den

Schweiß auf der Haut trocknen. Der Geruch war ihm so

vertraut wie der Anblick seines Gesichts im Spiegel, vielleicht noch vertrauter, weil sich sein Gesicht veränderte, aber der Schweißgeruch nicht. Er brauchte den Trost des Vertrauten jetzt um so mehr, in einer Welt, in der nichts sicher war, außer der Unsicherheit. Er wurde mit den Empfindungen in seinem Innersten nicht fertig. Was gestern noch einfach zu sein schien, als er hinter dem Haus mit Jo-Beth in der Sonne stand und sie küßte, war heute nicht mehr einfach. Fletcher war vielleicht tot, aber er hatte ein Erbe hier im Grove hinterlassen, ein Erbe von Traumgestalten, die ihn, Howie, irgendwie, als Ersatz für ihren Schöpfer ansahen. Das konnte er nicht sein. Selbst wenn sie Fletchers Meinung über Jo-Beth nicht geteilt hätten, was nach der Konfrontation gestern nacht sicher der Fall war, hätte er ihre Erwartungen nie erfüllen können. Er war als Desperado hierhergekommen und war, wenn auch nur flüchtig, zum

Liebhaber geworden. Jetzt wollten sie ihn zum General machen, wollten Marschordnungen und Schlachtpläne. Keins von beiden konnte er liefern. Auch Fletcher wäre nicht imstande gewesen, die Rettung aufzuzeigen. Die Armee, die er 465

geschaffen hatte, mußte sich einen Anführer aus den eigenen Reihen wählen oder untergehen.

Er hatte seine Argumente mittlerweile so oft geprobt, daß er sie beinahe selbst glaubte; besser gesagt, er hatte sich fast selbst davon überzeugt, daß er kein Feigling war, weil er ihnen glauben wollte. Aber der Trick hatte nicht funktioniert. Er kam immer wieder zur selben unverrückbaren Tatsache zurück: einmal, im Wald, hatte Fletcher ihn gewarnt, eine Wahl zwischen Jo-Beth und seinem Schicksal zu treffen, und er war angesichts dieses Rats geflohen. Die Folge dieses Abwendens, ob direkt oder indirekt, spielte jetzt keine Rolle mehr, war Fletchers öffentliches Ableben gewesen, sein letzter

verzweifelter Versuch, eine Hoffnung für die Zukunft zu retten.

Und jetzt war er hier, der verlorene Sohn, der keinerlei Reue empfand, und kehrte den Folgen dieses Opfers absichtlich den Rücken zu.

Und doch - wenn er sich auf die Seite von Fletchers Armee schlug, dann wurde er damit zu einem Bestandteil des Krieges, mit dem Jo-Beth und er überhaupt nichts zu tun haben wollten.

Was er mehr als alles auf der Welt wollte, jemals in seinem Leben - mehr als das Schamhaar, das er mit elf Jahren liebend gern zum Wachsen gezwungen hätte; mehr als das Motorrad, das er mit vierzehn gestohlen hatte; mehr, als seine Mutter nur zwei Minuten von den Toten auferstehen zu lassen, damit er ihr sagen konnte, wie leid es ihm tat, daß er sie so oft zum Weinen gebracht hatte; mehr, in diesem Augenblick, als selbst Jo-Beth

- war Gewißheit. Wenn ihm nur jemand gesagt hätte, welches Vorgehen das richtige war, und wenn er den Trost gehabt hätte, daß es nicht seine Schuld war, wenn sich dieses Vorgehen dann doch als falsch erwies. Aber niemand konnte ihm das sagen. Er mußte sich selbst darüber klar werden. Er mußte in der Sonne sitzen, den Schweiß auf der Haut trocknen lassen und sich selbst darüber klar werden.

466

Das Einkaufszentrum war nicht so überfüllt wie gewöhnlich am Samstagvormittag, aber William traf auf dem Weg zum Supermarkt trotzdem ein halbes Dutzend Leute, die er kannte.

Darunter auch seine Assistentin Valerie.

»Alles in Ordnung?« wollte sie wissen. »Ich habe bei Ihnen angerufen. Es nimmt nie jemand ab.«

»Ich war krank«, sagte er.

»Ich habe mir gar nicht erst die Mühe gemacht, gestern das Büro zu öffnen. Nicht nach dem Ärger in der Nacht zuvor. Es war ein echtes Chaos. Wissen Sie, daß Roger dort war, als die Sirene losging?«

»Roger?«

Sie sah ihn an. »Ja, Roger.«

»Ach ja«, sagte William, der nicht wußte, ob es sich dabei um Valeries Mann, Bruder oder Hund handelte, was ihm auch vollkommen einerlei war.

»Er war auch krank«, sagte sie.

»Ich glaube, Sie sollten sich ein paar Tage frei nehmen«, schlug William vor.

»Das wäre schön. Jede Menge Leute gehen momentan weg, ist Ihnen das auch aufgefallen? Einfach weg. Wir dürften kaum etwas verlieren.«

Er machte ein paar höfliche Bemerkungen, wie sie sich wieder auskurieren sollte, und verabschiedete sich von ihr.

Die Musik im Supermarkt erinnerte ihn daran, was er zu Hause zurückgelassen hatte: Sie hörte sich ganz so an wie die Soundtracks zu einigen seiner frühesten Filme, eine Flut nichtssagender Melodien, die überhaupt nichts mit den Bildern zu tun hatten, welche sie untermalten. Die Erinnerung trieb ihn an, an den Regalen entlangzuhasten und den Einkaufskorb mehr seinem Instinkt als sorgfältiger Planung folgend zu füllen. Er machte sich nicht die Mühe, auch für seine Gäste einzukaufen. Die lebten nur von Luft und Liebe.

Er war nicht der einzige Kunde im Laden, der praktische 467

Einkäufe - Haushaltsreiniger, Waschpulver und dergleichen -

zugunsten von Fertigmahlzeiten und Billigfraß vernachlässigte.

Obwohl er so abgelenkt war, fiel ihm auf, daß andere sich genau wie er selbst verhielten und ihre Körbe und

Einkaufswägelchen gleichgültig mit Plunder füllten, als hätten neue Gewißheiten die alten Rituale von Kochen und Essen verdrängt. Er sah in den Gesichtern der Käufer - die er einmal namentlich gekannt hatte, an die er sich jetzt aber kaum noch erinnern konnte - dieselben heimlichtuerischen Mienen, wie er sie selbst sein ganzes Leben lang zur Schau getragen hatte. Sie erledigten ihre Einkäufe und taten so, als bemerkten sie gar nichts, was auf seine Weise auch wieder ein Geheimnis war.

Als er an der Registrierkasse stand und zwei Handvoll Schokoriegel in den Wagen warf, sah er ein Gesicht, das er schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte: Joyce McGuire. Sie kam Arm in Arm mit ihrer Tochter Jo-Beth herein. Wenn er sie überhaupt jemals zusammen gesehen hatte, dann mußte das gewesen sein, bevor Jo-Beth selbst eine Frau geworden war.

Als er sie jetzt nebeneinander sah, machte ihn die Ähnlichkeit der beiden sprachlos. Er sah sie an und konnte nicht anders, er mußte an den Tag beim See denken, und wie Joyce ausgesehen hatte, als sie sich auszog. Er fragte sich, ob die Tochter unter der weiten Kleidung jetzt genauso aussah: kleine, dunkle Nippel, lange braungebrannte Schenkel?

Plötzlich stellte er fest, daß er nicht der einzige Kunde war, der die McGuires anstarrte; praktisch alle anderen taten es auch. Und es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß allen anderen ähnliche Gedanken durch die Köpfe gingen: Hier hatte man leibhaftig einen ersten Hinweis auf die Apokalypse vor sich, die über den Grove hereingebrochen war. Vor achtzehn Jahren hatte Joyce McGuire ein Kind unter Umständen zur Welt gebracht, die lediglich skandalös erschienen waren. Und jetzt wagte sie sich wieder an die Öffentlichkeit, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da sich die unglaublichsten 468

Gerüchte im Zusammenhang mit dem Bund der Jungfrauen als zutreffend zu erweisen begannen. Es wandelten wahrhaftig Wesen im Grove - oder lauerten darunter -, die Macht über Menschen hatten. Ihr Einfluß hatte Kinder im Leib von Joyce McGuire Fleisch werden lassen. War es möglicherweise

derselbe Einfluß, der seine Träume Wahrheit hatte werden lassen? Immerhin waren sie ja Fleisch aus seiner Seele. Er sah Joyce wieder an und begriff plötzlich etwas über sich, das ihm nie klar geworden war: daß er und die Frau - Betrachter und Betrachtete - für immer und ewig eine intime Beziehung zueinander hatten. Diese Erkenntnis dauerte nur einen Augenblick; es war zu schwer, sich länger auf etwas zu

konzentrieren. Aber sie reichte aus, daß er den Einkaufskorb hinstellte, sich an der Schlange vor der Kasse vorbeidrängte und dann direkt auf Joyce McGuire zuging. Sie sah ihn kommen, und ein ängstlicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Er lächelte ihr zu. Sie versuchte zurückzuweichen, aber ihre Tochter hielt sie an der Hand fest.

»Schon gut, Mama«, hörte er sie sagen.

»Ja...«, sagte er und streckte Joyce die Hand entgegen. »Ja, es ist gut. Wirklich. Ich... freue mich so sehr, Sie zu sehen.«

Diese schlichte, mit so einfachen Worten ausgedrückte Empfindung schien ihr die Angst zu nehmen; ihre Miene wurde milder. Sie lächelte sogar.

»William Witt«, sagte er und legte die Hand in ihre. »Sie werden sich wahrscheinlich nicht an mich erinnern, aber...«

»Ich erinnere mich an Sie«, sagte sie.

»Das freut mich.«

»Siehst du, Mama?« sagte Jo-Beth. »So schlimm ist es gar nicht.«

»Ich habe Sie schon so lange nicht mehr im Grove gesehen«, sagte William.

»Ich war... unwohl«, sagte Joyce.

»Und jetzt?«

469

Anfangs antwortete sie nicht. Dann sagte sie: »Ich glaube, es geht mir wieder besser.«

»Das freut mich zu hören.«

Während er sprach, hörten sie ein Schluchzen aus einem der Gänge. Jo-Beth bemerkte es mehr als alle anderen Kunden: Eine seltsame Spannung zwischen ihr und Mr. Witt - den sie jeden Morgen gesehen hatte, so lange sie zur Arbeit ging, aber nie so schlampig angezogen - nahm deren ganze

Aufmerksamkeit in Anspruch; und alle anderen in der Schlange schienen sich ganz bewußt Mühe zu geben, das Schluchzen nicht zu hören. Sie ließ Mamas Arm los und machte sich auf die Suche nach der Ursache. Ruth Gilford, Sprechstundenhilfe bei Mamas Hausarzt, stand vor dem Regal der

Frühstücksflocken und hielt die Packung einer Marke in der rechten und die einer anderen Marke in der linken Hand; Tränen liefen an ihrem Gesicht hinab. Der Einkaufswagen neben ihr war vollgeladen mit weiteren Frühstücksflocken, als hätte sie einfach von jeder Marke eine Packung genommen, während sie an dem Regal entlanggegangen war. »Mrs. Gilford?« erkundigte sich Jo-Beth.

Die Frau hörte nicht auf zu schluchzen, versuchte aber, durch die Tränen zu sprechen, was zu einem wäßrigen und manchmal unverständlichen Monolog führte.

»... ich weiß nicht, was er will...«, schien sie zu sagen.

»... nach so langer Zeit... weiß nicht, was er will...«

»Kann ich Ihnen helfen?« sagte Jo-Beth. »Soll ich Sie nach Hause bringen?«

Als sie die Worte nach Hause hörte, drehte sich Ruth zu Jo-Beth um und versuchte, sie durch die Tränen hindurch zu erkennen.

»... ich weiß nicht, was er will...«, sagte sie wieder.

»Wer?« fragte Jo-Beth.

»... all die Jahre... und er verheimlicht mir etwas...«

»Ihr Mann?«

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»Ich habe nichts gesagt, aber ich wußte... ich wußte immer...

er liebt eine andere... und jetzt hat er sie ins Haus geholt...«

Die Tränenflut verdoppelte sich. Jo-Beth ging zu ihr, nahm ihr ganz vorsichtig die Packung Frühstücksflocken aus den Händen und stellte sie aufs Regal zurück. Daraufhin packte Ruth Gilford Jo-Beth fest.

»... hilf mir...«, sagte sie.

»Aber gerne.«

»Ich will nicht nach Hause. Er hat dort jemanden.«

»Schon gut. Wenn Sie nicht wollen, dann nicht.«

Sie versuchte, die Frau vom Frühstücksflockenregal wegzulocken. Als sie es hinter sich gelassen hatten, ließ auch ihre Ratlosigkeit etwas nach.

»Du bist Jo-Beth, richtig?« brachte sie heraus.

»Stimmt.«

»Bringst du mich zum Auto? Ich glaube nicht, daß ich allein dorthingehen kann.«

»Wir gehen, es wird schon alles wieder gut«, versicherte Jo-Beth und stellte sich rechts neben Ruth, um sie vor den Blicken der Wartenden in der Schlange abzuschirmen, sollten sie sich entschließen, sie anzustarren. Sie bezweifelte es aber. Ruth Gilfords Zusammenbruch war ein zu bewegender Anblick für sie; er würde sie nur um so deutlicher daran erinnern, welche Geheimnisse sie selbst kaum verbergen konnten.

Mama stand mit William Witt an der Tür. Jo-Beth beschloß, darauf zu verzichten, die Leute vorzustellen, zumal Ruth ohnehin nicht in der Verfassung gewesen wäre, zu reagieren, und sagte Mama statt dessen nur, daß sie sie beim Buchladen treffen würde, der immer noch geschlossen gewesen war, als sie ankamen. Lois machte zum ersten Mal in ihrem Leben zu spät auf. Aber Mama ergriff die Initiative.

»Mr. Witt bringt mich nach Hause, Jo-Beth«, sagte sie.

»Mach dir keine Sorgen um mich.«

Jo-Beth sah Witt an, dessen Gesichtsausdruck beinahe

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hypnotisiert war.

»Bist du sicher?« sagte sie. Bisher hatte sie noch nie darüber nachgedacht, aber vielleicht war ja gerade der stets makellose Mr. Witt genau der Typ, vor dem Mama sie all die Jahre über gewarnt hatte. Ein stilles Wasser, dessen Geheimnisse immer die ruchlosesten waren. Aber Mama bestand darauf und winkte Jo-Beth fast achtlos fort.

Verrückt, dachte Jo-Beth, während sie Ruth zum Auto

brachte, die ganze Welt ist verrückt geworden. Die Leute veränderten sich von einem Augenblick auf den anderen, als wäre ihr Verhalten die ganzen Jahre über nur vorgetäuscht gewesen: Mamas Krankheit, Mr. Witts Nettigkeit, Ruth

Gilfords Beherrschung. Erfanden sie sich alle neu, oder waren sie schon immer so gewesen?

Als sie beim Auto waren, wurde Ruth von einem erneuten, noch herzzerreißenderen Weinkrampf geschüttelt; sie

versuchte, wieder in den Supermarkt zurückzugehen, weil sie darauf bestand, sie könnte nicht ohne Frühstücksflocken nach Hause kommen. Jo-Beth überzeugte sie behutsam vom

Gegenteil und bot sich an, mit ihr nach Hause zu fahren, ein Angebot, welches dankbar angenommen wurde.

Während sie Ruth nach Hause fuhr, mußte Jo-Beth wieder an Mama denken; aber sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ein Konvoi aus vier schwarzen Limousinen sie überholte und den Hügel hinauffuhr; sie wirkten so fremd hier, als wären sie aus einer anderen Dimension gekommen.

Besucher, dachte sie. Als wären nicht schon genug hier.

472

III

»Aha, es geht los«, sagte der Jaff.

Er stand am höchsten Fenster von Coney Eye und sah auf die Einfahrt hinunter. Es war kurz vor Mittag; die Limousinen, die vorfuhren, verkündeten die Ankunft der ersten Partygäste. Er hätte Tommy-Ray gerne in diesen entscheidenden Stunden an seiner Seite gehabt, aber der Junge war noch nicht wieder von seinem Ausflug zur Mission zurückgekehrt. Einerlei. Lamar hatte sich als mehr als gleichwertiger Ersatz erwiesen. Es war ein unangenehmer Augenblick gewesen, als der Jaff schließlich die Maske von Buddy Vance abgelegt und dem Komiker sein wahres Gesicht gezeigt hatte, aber er hatte nicht lange gebraucht, den Mann auf seine Seite zu ziehen. In mancher Hinsicht war er eine angenehmere Gesellschaft als Tommy-Ray; sinnlicher, zynischer. Und wichtiger noch war, er kannte die ganzen Gäste, die sich bald zum Gedenken von Buddy Vance versammeln würden; kannte sie sogar gründlicher als Rochelle, die Witwe. Seit dem vergangenen Abend war sie immer tiefer in eine drogeninduzierte Benommenheit

versunken, die sich Lamar, sehr zum Vergnügen des Jaff, sexuell zunutze gemacht hatte. Früher einmal - vor langer Zeit

- hätte er vielleicht selbst so gehandelt. Nein, nicht vielleicht, ganz sicher. Rochelle Vance war zweifellos wunderschön, und ihre Sucht, die von ständiger, unterschwelliger Wut genährt wurde, machte sie noch attraktiver. Doch das waren

fleischliche Dinge, die zu einem anderen Leben gehörten. Er hatte wichtigere Angelegenheiten: beispielsweise die Kraft, die er aus den Gästen ziehen wollte, welche sich gerade unten versammelten. Lamar war die Liste mit ihm durchgegangen und hatte praktisch zu jedem die eine oder andere wüste Bemerkung machen können. Korrupte Anwälte, süchtige

Schauspieler, bekehrte Huren, Zuhälter, Priapisten, bezahlte Killer, weiße Männer mit schwarzen Seelen, heiße Männer mit 473

kalten, Arschlecker, Koksschnüffler, die verdorbenen oberen Zehntausend, die noch verdorbeneren unteren Zehntausend, Egoisten, Onanisten und Hedonisten bis auf den letzten Mann.

Wo sollte er die Kraft besser finden, die ihn vor Schaden beschützen würde, wenn sich die ›Kunst‹ öffnete? In diesen süchtigen, ängstlichen Seelen mit ihren aufgeblähten Egos würde er Ängste finden, wie sie die gewöhnlichen Kleinbürger niemals haben konnten. Aus ihnen würde er Terata entstehen lassen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Dann würde er bereit sein. Fletcher war tot, seine Armee hielt sich, so sie sich denn tatsächlich manifestiert hatte, im Verborgenen.

Nichts stand mehr zwischen dem Jaff und der Essenz.

Als er am Fenster stand und verfolgte, wie die Opfer ausstiegen, einander mit Lächeln wie Bergkristall und verkniffenen Küssen begrüßten, schweiften seine Gedanken - ausgerechnet - zum Zimmer der Postirrläufer in Omaha, Nebraska, wo er, vor so vielen Leben, zum ersten Mal etwas vom ge-heimen Leben Amerikas mitbekommen hatte. Er dachte an Homer, der ihm die Tür zu dieser Schatzkammer aufgemacht hatte und der später durch das Messer mit der kurzen, stumpfen Klinge, das der Jaff immer noch in der Tasche trug, ebendort gestorben war. Damals hatte der Tod noch etwas bedeutet. Er war ein Erlebnis gewesen, vor dem einem graute. Erst als er in der Schleife gewesen war, war ihm klar geworden, wie

irrelevant dererlei Ängste waren, wenn selbst ein kleiner Scharlatan wie Kissoon die Zeit anhalten konnte. Wahrscheinlich war der Schamane immer noch sicher in seiner Zuflucht, so weit von seinen Gläubigern oder dem Lynchmob entfernt, wie es überhaupt nur ging. Er verweilte in der Schleife und plante, wie er Macht bekommen konnte. Oder sie von sich fernhielt.

Dieser letzte Gedanke kam ihm eben erst, wie die längst überfällige Lösung eines Rätsels, mit dem er sich, ohne es zu wissen, beschäftigt hatte. Kissoon hatte den Augenblick ange-474

halten, denn wenn er ihn entgleiten ließ, würde er seinen eigenen Tod entfesseln...

»Nun...«, murmelte er.

Lamar stand hinter ihm. »Nun, was?«

»Ich überlege nur«, sagte der Jaff. Er wandte sich vom Fenster ab. »Ist die Witwe schon unten?«

»Ich versuche, sie zu wecken.«

»Wer begrüßt die Gäste?«

»Niemand.«

»Übernimm du das.«

»Ich dachte, ich sollte hierbleiben.«

»Später. Wenn sie alle angekommen sind, kannst du sie einen nach dem anderen heraufbringen.«

»Wie du wünschst.«

»Eine Frage.«

»Nur eine?«

»Warum hast du keine Angst vor mir?«

Lamar kniff die Augen zusammen. Dann sagte er: »Ich weiß immer noch, was lächerlich ist.«

Ohne einen Konter vom Jaff abzuwarten, machte er die Tür auf und ging hinunter, um seinen Pflichten als Gastgeber nach-zukommen. Der Jaff drehte sich wieder zum Fenster um. Eine weitere Limousine stand am Tor, diesesmal eine weiße. Der Fahrer zeigte den Wachen die Einladung seines Passagiers.

»Einer nach dem anderen«, sagte der Jaff zu sich. »Ein Ver-korkster nach dem anderen.«

Grillos Einladung zur Party in Coney Eye war am Vormittag persönlich abgegeben worden; Ellen Nguyen war die Überbringerin gewesen. Ihr Verhalten war freundlich, aber spröde; keine Spur der Intimität, die sich am vergangenen Nachmittag zwischen ihnen abgespielt hatte. Er lud sie in sein Hotelzimmer ein, aber sie bestand darauf, keine Zeit zu haben.

»Ich werde im Haus gebraucht«, sagte sie. »Rochelle scheint 475

völlig weggetreten zu sein. Ich glaube kaum, daß du dir Gedanken machen mußt, du könntest erkannt werden. Aber die Einladung wirst du brauchen. Schreibe einen Namen rein, den du dir ausdenkst. Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng, also verlier sie nicht. Das ist eine Party, zu der dir deine flinke Zunge keinen Zutritt verschaffen kann.«

»Wo wirst du sein?«

»Ich glaube nicht, daß ich überhaupt dort bin.«

»Ich dachte, du gehst gleich wieder rauf.«

»Nur für die Vorbereitungen. Sobald die Party anfängt, verschwinde ich. Ich will mit diesen Leuten nichts zu tun haben.

Parasiten, alle miteinander. Keiner hat Buddy wirklich geliebt.

Es ist alles nur Schau.«

»Nun, ich werde es beschreiben, wie ich es sehe.«

»Tu das«, sagte sie und wandte sich ab.

»Könnten wir uns nicht einen Augenblick unterhalten?«

fragte Grillo.

»Worüber? Ich habe wirklich nicht viel Zeit.«

»Über dich und mich«, sagte Grillo. »Über das, was gestern passiert ist.«

Sie sah ihn an, ohne ihn direkt anzusehen. »Was passiert ist, ist passiert«, sagte sie. »Wir waren beide dabei. Was gibt es da zu reden?«

»Nun, zunächst einmal: Wie wäre es, wenn wir es noch

einmal versuchen würden?«

Wieder der ausweichende Blick.

»Ich glaube nicht«, sagte sie.

»Du hast mir überhaupt keine Möglichkeit gegeben«, sagte er.

»O nein«, antwortete sie, um seinen Fehler zu korrigieren.

»Du warst prima... aber seit gestern hat sich die Lage verändert.«

»Seit gestern?«

»Ja«, sagte sie. »Ich kann dir nicht sagen, wie...« Sie ließ den 476

Satz unvollendet und griff einen neuen Gedanken auf. »Wir sind beide erwachsene Menschen. Wir wissen, wie so etwas passiert.«

Er wollte sagen, nein, er wüßte nicht mehr, wie so etwas, oder etwas anderes, passiert, aber nach dieser Unterhaltung war seine Selbstachtung schwach genug, auch ohne daß er sie mit weiteren Geständnissen zusätzlich auf die Knie prügeln mußte.

»Sei vorsichtig bei der Party«, sagte sie, als sie sich das zweite Mal zum Gehen wandte.

Er konnte nicht verhindern, daß er sagte: »Wenigstens danke dafür.«

Sie schenkte ihm ein kurzes, rätselhaftes Lächeln und ging.

477

IV

Die Rückfahrt zum Grove war für Tommy-Ray lang, aber für Tesla und Raul war sie noch länger, wenn auch aus nicht ganz so metaphysischen Gründen. Zunächst einmal war Teslas Auto nicht mehr das allerbeste und hatte schon auf der Herfahrt einiges einstecken müssen; jetzt war es in noch viel schlechterem Zustand. Und dann hatte die Berührung durch den Nuncio sie zwar von den Toten zurückgeholt; aber diese Berührung hatte auch Nebenwirkungen, deren volles Ausmaß ihr erst bewußt wurde, als sie über der Grenze waren. Sie fuhr zwar mit einem materiellen Auto über einen materiellen Highway, aber sie hatte diese Materie nicht mehr so fest im Griff wie früher. Sie spürte einen Sog von anderen Orten und anderen

Daseinsformen. Sie war früher schon unter Drogen- oder Alkoholeinfluß gefahren, aber was sie momentan erlebte, war eine wildere Fahrt, so als hätte ihr Gehirn Bruchstücke jedes Trips heraufbeschworen, den sie je gehabt hatte, jedes Halluzinogens, jedes Betäubungsmittels, und würde nun in Gedanken alles abspulen und ihrem Verstand eine Dosis von allem geben. Eben noch heulte sie wie ein wildes Tier, sie konnte sich selbst hören, wie die Stimme einer anderen -, und im nächsten Augenblick schwebte sie im Äther, und der Highway löste sich vor ihren Augen auf; wenig später waren ihre Gedanken so schmutzig wie die New Yorker U-Bahn, und es kostete sie alle Anstrengung, dieser ganzen verdammten Farce des Lebens nicht mit einer einzigen raschen Bewegung des Lenkrads ein Ende zu machen. Bei allem aber war sie sich zweier Tatsachen bewußt. Einmal, daß Raul neben ihr saß und sich mit weißen Händen am Armaturenbrett festklammerte und stinkende Angst verströmte. Die andere war der Ort, den sie in ihren Nuncio-Träumen besucht hatte, Kissoons Schleife. Diese war zwar nicht ganz so real wie das Auto, in dem sie fuhr, und Rauls Geruch, aber deshalb nicht weniger beharrlich. Sie trug 478

die Erinnerung daran mit jeder Meile, die sie zurücklegten, mit sich. Trinity, so hatte er es genannt, oder Kissoon selbst wollte, daß sie zurückkehrte. Sie spürte den Sog fast wie etwas körperlich Greifbares an sich. Sie leistete ihm Widerstand, wenn auch nicht ganz aus freien Stücken. Sie war zwar froh, daß sie wieder ins Leben gebracht worden war, aber was sie in der Zeit in Trinity gesehen und gehört hatte, machte sie neugierig darauf, wieder dorthin zurückzukehren; sogar begierig darauf. Je größer ihr Widerstand war, desto

erschöpfter wurde sie, bis sie, als sie die Randbezirke von L. A.

erreichten, so müde war wie jemand, der an Schlafmangel litt; Wachträume drohten jeden Augenblick, in die Beschaffenheit der Wirklichkeit hineinzuplatzen.

»Wir müssen eine Weile Rast machen«, sagte sie zu Raul und merkte, daß die Worte genuschelt waren. »Sonst werde ich uns noch beide umbringen.«

»Möchten Sie schlafen?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie, weil sie befürchtete, der Schlaf würde ebenso viele Probleme aufwerfen, wie er lösen könnte.

»Wenigstens ausruhen. Kaffee trinken und meine Gedanken ordnen.«

»Hier?« sagte Raul.

»Was hier?«

»Halten wir hier?«

»Nein«, sagte sie. »Wir fahren zu meiner Wohnung. Das ist eine halbe Stunde von hier. Das heißt, wenn wir fliegen...«

Das machst du doch schon, Baby, sagte ihr Verstand, und möglicherweise wirst du nie wieder aufhören. Du bist die wie-derauferstandene Frau. Was erwartest du? Daß das Leben einfach weitergeht, als wäre nichts gewesen? Vergiß es. Nichts wird je wieder wie früher sein.

Aber West Hollywood hatte sich nicht verändert; immer noch die verschönerte Boy's Town: die Bars, die

Modegeschäfte, wo sie ihren Schmuck kaufte. Sie fuhr vom 479

Santa Monica links raus auf den North Huntley Drive, wo sie seit fünf Jahren lebte, seit sie in L. A. war. Es war fast Mittag, und der Smog brannte über der Stadt. Sie parkte das Auto in der Tiefgarage des Hauses und fuhr mit Raul hoch zum

Apartment V. Die Fenster ihres Nachbarn direkt darunter, eines sauertöpfischen, unterdrückten kleinen Mannes, mit dem sie in fünf Jahren nicht mehr als drei Sätze gesprochen hatte, zwei davon Beschimpfungen, waren offen, und er sah sie zweifellos vorübergehen. Sie schätzte, daß er höchstens zwanzig Minuten brauchen würde, um den ganzen Block davon in Kenntnis zu setzen, daß Miß Lonelyhearts, wie sie hinter ihrem Rücken genannt wurde, wieder in der Stadt war, zum Kotzen aussah und Quasimodo bei sich hatte. Nun gut. Sie mußte sich um andere Dinge Gedanken machen, zum Beispiel, wie sie den Schlüssel ins Türschloß stecken konnte, ein Trick, der ihre bedrängten Sinne mehrmals überforderte. Raul kam ihr zu Hilffe, nahm den Schlüssel aus ihren zitternden Fingern und schloß für sie beide auf. Das Apartment war, wie üblich, ein Katastrophengebiet. Sie ließ die Tür offenstehen und riß die Fenster auf, um ein wenig nicht ganz so abgestandene Luft hereinzulassen, dann hörte sie den Anrufbeantworter ab. Ihr Agent hatte zweimal angerufen, beide Male, um ihr zu sagen, daß sich bezüglich ihres Drehbuchs über die Schiffbrüchigen nichts Neues ergeben hatte; Saralyn hatte angerufen und fragte an, ob sie wußte, wo Grillo steckte. Nach Saralyn: Teslas Mutter. Ihre Nachricht war mehr eine Litanei von Sünden als eine Botschaft - Verbrechen, die die Welt im allgemeinen und ihr Vater im speziellen begangen hatten. Schließlich eine Nachricht von Mickey de Falco, der sich zusätzliches Geld verdiente, indem er für Fickfilme stöhnte und grunzte und eine Partnerin für eine Session brauchte. Im Hintergrund ein bellender Hund. »Und sobald du wieder da bist«, sagte er abschließend, »komm her und hol den verdammten Hund

wieder ab, bevor er mich arm frißt.« Sie sah Raul, der ihr 480

zusah, wie sie die Nachrichten abhörte, und sein Unverständnis war nur allzu offenkundig.

»Meine Mitmenschen«, sagte sie, nachdem Mickey sich

verabschiedet hatte. »Sind sie nicht toll? Hör zu, ich muß mich hinlegen. Es ist klar, wo alles ist, nicht? Kühlschrank; Fernseher; Toilette. Weck mich in einer Stunde, ja?«

»Eine Stunde.«

»Ich würde gerne Tee trinken, aber wir haben keine Zeit.«

Sie sah, wie er sie anstarrte. »Drücke ich mich verständlich aus?«

»Ja...«, antwortete er zweifelnd.

»Nuschle ich?«

»Ja.«

»Dachte ich mir. O. K. Die Wohnung gehört dir. Geh nicht ans Telefon. Wir sehen uns in einer Stunde.«

Sie stolperte ins Badezimmer, ohne auf eine weitere Bestätigung zu warten, zog sich vollständig aus, überlegte, ob sie du-schen sollte, begnügte sich dann aber mit einem Spritzer kaltes Wasser auf Gesicht, Arme und Brüste und ging weiter ins Schlafzimmer. Es war heiß in dem Zimmer, aber sie hatte Verstand genug, das Fenster nicht zu öffnen. Wenn ihr Nachbar Ron aufwachte, was etwa um diese Zeit geschah, würde er sofort Opern spielen. Entweder die Hitze im Zimmer oder Lucia di Lammermoor. Sie zog es vor zu schwitzen.

Raul, der sich selbst überlassen blieb, fand etwas Eßbares im Kühlschrank, nahm es heraus, trug es ans offene Fenster, setzte sich und zitterte. Er konnte sich nicht erinnern, daß er jemals solche Angst gehabt hatte, bevor Fletchers Wahnsinn anfing.

Heute wie damals hatten sich die Gesetze der Welt mit einem Mal verändert, und er wußte nicht mehr, welches Ziel er haben sollte. Er hatte im Grunde seines Herzens die Hoffnung aufgegeben, Fletcher noch einmal wiederzusehen. Der Schrein, den er in der Mission errichtet hatte und der anfangs als Fanal 481

gedacht gewesen war, war zu einem Denkmal geworden. Er war davon ausgegangen, daß er dort sterben würde, bis zuletzt als Schwachsinniger geduldet, was er in vielerlei Hinsicht auch war. Er konnte kaum schreiben, nur seinen eigenen Namen kritzeln. Er konnte nicht lesen. Die meisten Gegenstände im Zimmer der Frau waren ihm unbegreiflich. Er war völlig verloren.

Ein Schrei aus dem Nebenzimmer riß ihn aus dem Selbstmitleid.

»Tesla?« rief er.

Er bekam keine zusammenhängende Antwort - nur weitere gedämpfte Schreie. Er stand auf und folgte den Geräuschen.

Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war zu. Er zögerte mit einer Hand auf der Klinke, weil er nicht wußte, ob er unaufgefordert eintreten sollte. Dann hörte er neue Schreie. Er stieß die Tür auf.

Er hatte in seinem ganzen Leben noch keine nackte Frau gesehen. Der Anblick von Tesla, die auf dem Bett lag, faszinierte ihn. Sie hatte die Arme an den Seiten und hielt das Laken gepackt, ihr Kopf rollte von einer Seite auf die andere.

Ihr Körper schien irgendwie dunstig, was ihn daran erinnerte, was auf der Straße unterhalb der Mission geschehen war. Sie ging wieder von ihm weg. Zurück zur Schleife. Ihre Schreie waren inzwischen zu einem Stöhnen geworden. Aber nicht der Lust. Sie ging unfreiwillig.

Er rief ihren Namen noch einmal, sehr laut. Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf und sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Mein Gott!« sagte sie. Sie keuchte, als hätte sie gerade einen Wettlauf gemacht. »Mein Gott. Mein Gott. Mein Gott.«

»Sie haben geschrien...«, sagte er, um seine Anwesenheit im Zimmer zu erklären.

Erst jetzt schien ihr ihre Situation klarzuwerden: sie nackt, er verlegen und fasziniert. Sie griff nach einem Laken und wollte 482

es über sich ziehen, aber was sie soeben erlebt hatte, lenkte sie ab.

»Ich war dort«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Trinity. Kissoons Schleife.«

Während der Rückfahrt hatte sie sich bemüht, ihm die Vision zu erklären, die sie gehabt hatte, während der Nuncio sie heilte, und zwar einerseits, um sich selbst die Einzelheiten

einzuprägen, und andererseits, um eine Wiederholung zu vermeiden, indem sie die Erinnerung aus der versiegelten Zelle ihres Innenlebens herausholte und zu einem Erlebnis machte, das sie mit jemandem teilte. Sie hatte ein widerwärtiges Bild von Kissoon gezeichnet.

»Haben Sie ihn gesehen?« fragte Raul.

»Ich war nicht in der Hütte«, antwortete sie. »Aber er will, daß ich dorthinkomme. Ich kann spüren, wie er zieht.« Sie legte eine Hand auf den Bauch. »Ich spüre es in diesem Augenblick, Raul.«

»Ich bin da«, sagte er. »Ich lasse Sie nicht gehen.«

»Ich weiß, und ich bin froh darüber.«

Sie streckte den Arm aus. »Nimm meine Hand, hm?« Er kam zögernd zum Bett. »Bitte«, sagte sie. Er gehorchte. »Ich habe die Stadt wiedergesehen«, fuhr sie fort. »Sie wirkt richtig echt, nur ist niemand dort. Überhaupt niemand. Sie ist... wie... eine Bühne... als würde dort etwas aufgeführt werden.«

»Aufgeführt.«

»Ich weiß, das ergibt keinen Sinn; ich erzähle dir nur, was ich empfinde. Etwas Schreckliches wird dort passieren, Raul.

Das Schlimmste, was man sich nur vorstellen kann.«

»Du weißt nicht, was?« Er ging wieder zur vertraulicheren Anrede über.

»Oder vielleicht ist es schon passiert?« sagte sie. »Vielleicht ist deshalb niemand in der Stadt. Nein. Nein. Das ist nicht der Grund. Es ist noch nicht vorbei, es wird in Kürze erst 483

passieren.«

Sie versuchte, so gut sie konnte, einen Sinn in ihre

Verwirrung zu bringen. Wenn sie in dieser Stadt die Szene eines Films ansiedeln müßte, was würde sie tun? Eine

Schießerei auf der Hauptstraße? Die Einwohner hinter

verschlossenen Türen, während die Guten und die Bösen es mit Pistolen unter sich ausmachten? Möglich. Oder eine verlassene Stadt, hinter der am Horizont ein alles niederstampfender Behemoth auftauchte? Das klassische Monster-Szenario der fünfziger Jahre: ein von Atombombentests gewecktes

Ungeheuer...

»Das schon eher«, sagte sie.

»Was ist?«

»Vielleicht ist es ein Dinosaurierfilm. Oder eine Riesentaran-tel. Ich weiß nicht. Aber das trifft die Sache auf jeden Fall eher.

Himmel, ist das frustrierend! Ich weiß etwas über diese Stadt, Raul, aber ich bekomme es einfach nicht auf die Reihe.«

Nebenan ertönte aus vollem Halse Donizettis Meisterwerk.

Sie kannte es mittlerweile so gut, daß sie hätte mitsingen können, wenn sie die Stimme dazu gehabt hätte.

»Ich mache Kaffee«, sagte sie. »Damit ich wach werde.

Fragst du Ron nach etwas Milch?«

»Ja, natürlich.«

»Sag ihm einfach, du bist ein Freund von mir.«

Raul stand vom Bett auf und nahm die Hand aus ihrer.

»Ron hat Apartment Nummer vier«, rief sie hinter ihm her, dann ging sie wieder ins Bad und duschte verspätet, wobei ihr das Problem mit der Stadt nicht aus dem Kopf ging. Als sie sich abgetrocknet und ein sauberes T-Shirt und Jeans gefunden hatte, war Raul wieder in der Wohnung, und das Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung waren die Oper und Ron.

»Wo hast du denn den gefunden?« wollte er wissen. »Und hat er einen Bruder?«

484

»Ist es unmöglich, hier ein Privatleben zu führen?« sagte sie.

»Hättest ihn eben nicht vorführen sollen, Mädchen«, antwortete Ron. »Was ist er? LKW-Fahrer? Soldat? Er ist so kräftig.«

»Das ist er.«

»Wenn ihm langweilig wird, dann schick ihn einfach rüber.«

»Er wird sich geschmeichelt fühlen«, sagte Tesla und legte den Hörer auf. »Du hast einen Bewunderer gefunden«, sagte sie zu Raul. »Ron findet, daß du ausgesprochen sexy bist.«

Rauls Miene war nicht so verwirrt, wie sie gedacht hatte, daher fragte sie: »Was meinst du, gibt es schwule Affen?«

»Schwul?«

»Homoxexuell. Männer, die gern mit anderen Männern ins Bett gehen.«

»Ist Ron das?«

»Ist Ron das?« Sie lachte. »Ja, das ist Ron. Ist eben so eine Gegend hier. Darum gefällt sie mir ja.«

Sie füllte Kaffee in die Tassen. Als sie hörte, wie die Körnchen vom Löffel rieselten, fing die Vision in ihr wieder an.

Sie ließ den Löffel fallen. Drehte sich zu Raul um. Er war weit von ihr entfernt, auf der anderen Seite eines Zimmers, das sich mit Staub zu füllen schien.

»Raul?« sagte sie.

»Was ist los?« sah sie ihn sagen. Sah, nicht hörte; in der Welt, aus der sie verschwand, war die Lautstärke auf Null gedreht worden. Panik machte sich breit. Sie griff mit beiden Händen nach Raul.

»Laß mich nicht gehen...«, schrie sie ihm zu. »... ich will nicht gehen! Ich will nicht...«

Dann senkte sich der Staub zwischen sie und löschte ihn aus.

Sie fiel nicht in seine feste Umarmung, sondern verfehlte seine Hände in dem Sturm und wurde in die Wüste zurückgeschleu-dert, wo sie mit Höchstgeschwindigkeit über das mittlerweile altbekannte Terrain sauste. Dieselbe verbrannte Erde, über die 485

sie schon zweimal hinweggeflogen war.

Ihre Wohnung war völlig verschwunden. Sie war wieder in der Schleife und reiste durch die Stadt. Der Himmel über ihr war delikat getönt, wie bei ihrer ersten Reise hierher. Die Sonne stand immer noch tief am Horizont. Sie konnte sie deutlich sehen, anders als beim ersten Mal. Mehr als sehen, sie konnte sie anstarren, ohne den Blick abwenden zu müssen. Sie konnte sogar Einzelheiten erkennen. Sonneneruptionen stoben wie Arme aus Feuer von ihrem Rand weg. Eine Gruppe

Sonnenflecken verunstaltete die brennende Oberfläche. Als sie wieder auf den Boden sah, näherte sie sich der Stadt.

Als der erste Ansturm von Panik vorbei war, versuchte sie, die Kontrolle über ihre Lage zu erhalten, und vergegenwärtigte sich nachdrücklich, daß sie immerhin schon zum dritten Mal hier war und mittlerweile eigentlich imstande sein sollte, den Trick zu kapieren. Sie wünschte sich, daß ihre Reise langsamer vonstatten gehen sollte, und sie wurde tatsächlich langsamer, was ihr mehr Zeit gab, die Stadt zu begutachten, als sie deren Rand erreichte. Als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ihr Instinkt ihr verraten, daß die Stadt irgendwie falsch war.

Diese Ahnung wurde nun bestätigt. Die Bretter der Häuser waren nicht vom Wetter gezeichnet, nicht einmal gestrichen.

Keine Vorhänge an den Fenstern, keine Schlüssellöcher in den Türen. Und hinter den Türen und Fenstern? Sie befahl ihrem schwebenden Geist, sich einem Haus zu nähern, und sah durchs Fenster. Das Dach des Hauses war nicht fertiggestellt worden; Sonnenschein fiel durch Fugen hinein und erhellte das Innere. Es war leer. Keine Möbel, nichts sprach dafür, daß es bewohnt war. Das Innere war nicht einmal in Zimmer unterteilt. Das Gebäude war eine vollkommene Attrappe. Und das nächste wahrscheinlich auch. Sie schwebte die Häuserzeile entlang, um ihren Verdacht zu bestätigen. Auch das nächste Haus war tatsächlich völlig leer.

Als sie sich vom zweiten Fenster zurückzog, verspürte sie 486

wieder den Sog, den sie bereits in der anderen Welt erlebt hatte: Kissoon versuchte, sie zu sich zu bringen. Sie hoffte jetzt, daß Raul nicht versuchte, sie zu wecken, falls ihr Körper tatsächlich noch in der Welt war, die sie zurückgelassen hatte.

Sie hatte zwar Angst vor dem Ort und hegte heftigen Argwohn gegenüber dem Mann, der sie dorthin rief, aber ihre Neugier war ein ebenso starker Einfluß. Die Geheimnisse von Palomo Grove waren bizarr genug gewesen, aber nichts in Fletchers hastiger Weitergabe von Informationen über den Jaff, die

›Kunst‹ und Essenz konnte diesen Ort erklären. Die Antworten lagen einzig und allein bei Kissoon, daran zweifelte sie nicht.

Wenn sie zwischen den Zeilen seiner Konversation lesen konnte, so verblümt sie auch sein mochte, konnte sie vielleicht etwas verstehen. Und da sie neues Selbstvertrauen in diesem Zustand errungen hatte, nahm sie den Gedanken, zur Hütte zurückzukehren, auch nicht mehr so schwer. Wenn er sie bedrohte oder einen Steifen bekam, würde sie einfach wieder gehen. Es lag in ihrer Macht, wenn sie es sich sehnlich genug wünschte. Wenn sie in die Sonne sehen konnte, ohne geblendet zu sein, konnte sie sicherlich auch mit Kissoons linkischem Grapschen nach ihrem Körper fertig werden.

Sie machte sich auf den Weg durch die Stadt und stellte fest, daß sie plötzlich ging - oder sich zumindest entschieden hatte, sich dieser Illusion hinzugeben. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, daß sie hier war, erfolgte der Prozeß, ihr Fleisch herzubringen, beinahe automatisch. Sie konnte den Boden unter den Füßen nicht spüren, und das Gehen bereitete ihr überhaupt keine Anstrengung, aber sie brachte aus jener anderen Welt die Vorstellung mit sich, wie man sich fortbewegte, und die wendete sie nun hier an, ob es erforderlich war oder nicht.

Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich reichte ein Gedanke aus, sie in Bewegung zu versetzen. Aber je mehr von der

Wirklichkeit, welche sie am besten kannte, sie in diese Welt herüberbrachte, überlegte sie sich, desto mehr Kontrolle hatte 487

sie darüber. Sie würde hier nach den Regeln vorgehen, die sie bis vor kurzem als allgemeingültig betrachtet hatte. Wenn diese sich dann veränderten, würde sie genau wissen, daß das nicht ihr Zutun war. Je eingehender sie darüber nachdachte, desto solider fühlte sie sich. Der Schatten unter ihr wurde dunkler; sie spürte allmählich den heißen Boden unter den Füßen. So beruhigend es war, hier natürliche Sinne zu haben, Kissoon mißfiel es offenbar. Sie spürte, wie sein Sog heftiger wurde, als hätte er mit der Hand in ihren Magen gegriffen und würde ziehen.

»Schon gut...«, murmelte sie, »... ich komme. Aber wenn ich will, nicht du.«

Es gab mehr als Gewicht und Schatten in dem Dasein, das sie gerade erlernte; es gab auch Geruch und Geräusche. Beide brachten Überraschungen mit sich; beide unangenehm. Sie roch einen ekelerregenden Gestank, den sie sofort erkannte: verwesendes Fleisch. Lag hier irgendwo ein totes Tier auf der Straße? Sie konnte nichts sehen. Aber die Geräusche lieferten ihr einen weiteren Hinweis. Ihre Ohren, die besser hörten als jemals zuvor, verrieten ihr, daß Insekten wuselten. Sie hörte genau hin, damit sie die Richtung erfuhr, und als sie sie erraten hatte, ging sie über die Straße zu einem anderen Haus. Es war ebenso konturlos wie die anderen Fenster, durch die sie hineingesehen hatte, aber dieses war nicht leer. Der immer stärkere Geruch und die Geräusche bestätigten diesen

Verdacht. Hinter dieser banalen Fassade war etwas Totes.

Viele tote Wesen, begann sie zu vermuten. Der Gestank wurde so durchdringend, daß sich ihr der Magen umdrehte. Aber sie mußte sehen, welche Geheimnisse diese Stadt verbarg.

Auf halbem Weg über die Straße verspürte sie wieder ein Ziehen im Magen. Sie wehrte sich, aber diesesmal ließ Kissoon sie nicht so bereitwillig vom Haken. Er zog fester, und sie spürte, wie sie gegen ihren Willen die Straße hinunterglitt.

Eben noch ging sie auf das Haus des Gestanks zu, im nächsten 488

Moment war sie zwanzig Meter davon entfernt.

»Ich will sehen«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und hoffte, daß Kissoon sie hören konnte.

Doch selbst wenn, er zog weiterhin. Diesmal war sie auf den Sog vorbereitet und wehrte sich aktiv dagegen; sie forderte, daß ihr Körper sich wieder dem besagten Haus näherte.

»Du wirst mich nicht aufhalten«, sagte sie.

Als Antwort zog er erneut und brachte sie trotz ihrer größten Anstrengung noch weiter von ihrem Ziel weg.

»Der Teufel soll dich holen!« schrie sie laut und wütend über seine Einmischung.

Er benutzte ihre Wut gegen sie. Während sie mit ihrem Ausbruch Energie verbrauchte, zog er weiter, und diesmal schleifte er sie fast die ganze Straße entlang bis zum Stadtrand. Sie konnte ihm keinen Widerstand leisten. Er war schlicht und einfach stärker als sie, und je wütender sie wurde, um so fester konnte er sie packen, bis sie sich mit nicht unerheblicher Geschwindigkeit von der Stadt entfernte und erneut Opfer seiner Willkür war, so wie bei ihrem ersten Ausflug in die Schleife.

Sie wußte, ihre Wut schwächte den Widerstand, daher ermahnte sie sich, ruhig und gelassen zu bleiben, sich zu beherrschen, während die Wüste vorübersauste.

»Beruhige dich, Frau«, sagte sie sich. »Er ist nur ein Kraft-protz. Nicht mehr. Nicht weniger. Bleib ganz kalt.«

Der Rat, den sie sich selbst gegeben hatte, funktionierte. Sie spürte, wie ihre innere Entschlossenheit wieder wuchs. Aber sie gönnte sich nicht den Luxus von Befriedigung. Sie machte sich die Kraft, die sie wiedererlangt hatte, einfach nur zunutze, um sich selbst etwas zu beweisen. Kissoon ließ sie

selbstverständlich nicht los; sie spürte, wie seine Faust so stark wie eh und je in ihrem Magen zog. Es tat weh. Aber sie wehrte sich, und wehrte sich weiter, bis sie beinahe zum Stillstand gekommen war.

489

Immerhin eine seiner Absichten hatte er erfolgreich in die Tat umsetzen können. Die Stadt war nur noch ein Fleckchen am Horizont hinter ihr. Eine Reise dorthin zurück überstieg ihre momentanen Möglichkeiten. Sie war nicht sicher, ob sie seinem Sog über diese Strecke hinweg widerstehen konnte, selbst wenn sie es versuchte.

Sie gab sich wieder einen stummen Rat: diesmal kurze Zeit innehalten und eine Bestandsaufnahme ihrer Situation zu machen. Den Kampf in der Stadt hatte sie verloren,

diesbezüglich brauchte sie sich nichts vorzumachen. Aber sie konnte Kissoon ein paar peinliche Fragen stellen, wenn sie ihm schließlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

Erstens, welche Ursache der Gestank tatsächlich hatte; zweitens, warum er so große Angst davor hatte, daß sie es sah.

Aber sie wußte, sie mußte vorsichtig sein, denn welche Kraft er besaß, war selbst auf diese Entfernung nicht zu übersehen. Der größte Fehler, den sie machen konnte, war die Annahme, daß die Macht, die sie über sich selbst hatte, hier etwas Beständiges war. Sie war aufgrund von Kissoons Willen hier, und obwohl er behauptet hatte, daß er selbst Gefangener hier war, wußte er doch besser über die Grenze Bescheid als sie. Sie war jeden Augenblick seiner Macht ausgeliefert, und deren Ausmaß konnte sie nur ahnen. Sie mußte vorsichtiger sein, sonst lief sie Gefahr, das bißchen Einfluß auf ihren Zustand, das sie hatte, auch noch zu verlieren.

Sie kehrte der Stadt den Rücken zu und setzte sich in Richtung Hütte in Bewegung. Die Festigkeit, die sie in der Stadt bekommen hatte, war ihr nicht genommen worden, aber als sie sich wieder aufmachte, geschah es leichteren Schrittes, als sie es bislang jemals erlebt hatte. Wie ein Spaziergang auf dem Mond: Ihre Schritte waren ausgreifend und mühelos, die Geschwindigkeit selbst für den schnellsten Sprinter unmöglich zu erreichen. Kissoon spürte, daß sie kam, denn er zog nicht mehr, wahrte aber seine Präsenz, als wollte er sie daran 490

erinnern, welche Kraftreserven er mobilisieren konnte, wenn er wollte.

Jetzt sah sie vor sich die zweite herausragende

landschaftliche Gegebenheit der Gegend hier, den Turm. Der Wind heulte um die gespannten Drahtseile. Sie bremste wieder ab, damit sie das Gebilde eingehender betrachten konnte. Es gab ziemlich wenig zu sehen. Der Turm war etwa dreißig Meter hoch, aus Stahl und hatte oben auf der Spitze eine auf drei Seiten von Wellblech umgebene Holzplattform. Sie hatte keine Ahnung, welche Funktion er hatte. Als Aussichtsturm schien er sinnlos zu sein, gab es doch so wenig zu sehen. Und er schien auch keinem technischen Zweck zu dienen.

Abgesehen vom Wellblech oben - und einer Art Päckchen, das in der Mitte hing - waren keinerlei Einrichtungen zu sehen, auch keine Überwachungsanlagen. Sie dachte ausgerechnet an Bunuel und ihren persönlichen Lieblingsfilm dieses

Regisseurs, Simon in der Wüste, eine satirische Vision des heiligen Simon, der vom Teufel in Versuchung geführt wurde, während er zur Buße auf einer Säule im Niemandsland saß.

Vielleicht war dieser Turm hier für einen ähnlich

masochistischen Heiligen erbaut worden. Wenn ja, war er zu Staub zerfallen oder zum Gott geworden.

Sie entschied, daß es hier nichts mehr zu sehen gab, entfernte sich von dem Turm und überließ ihn seinem heulenden,

geheimnisvollen Leben. Sie konnte Kissoons Hütte noch nicht sehen, wußte aber, sie konnte nicht mehr weit sein. Kein Staubsturm am Horizont verbarg sie; die Szenerie vor ihr -

Wüstenboden und der Himmel droben - war genau so wie bei ihrem ersten Ausflug hierher. Das kam ihr einen Augenblick merkwürdig vor: daß sich nicht das Geringste verändert zu haben schien. Vielleicht veränderte sich hier ja überhaupt nie etwas, überlegte sie. Vielleicht war dieser Ort ewig. Oder wie ein Film, der immer wieder gespielt wurde, bis die

Perforierung riß oder der Film im Projektor verbrannte.

491

Kaum hatte sie sich an den Gedanken des Unveränderlichen gewöhnt, kam ein unstetes Element in Sicht, das sie beinahe vergessen gehabt hatte. Die Frau.

Als Kissoon sie das letzte Mal zur Hütte gezogen hatte, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, mit dieser anderen Akteurin auf der Wüstenbühne Kontakt aufzunehmen. Kissoon hatte sie sogar davon zu überzeugen versucht, daß die Frau ein Trugbild war, eine Projektion seiner erotischen Fantasien, der sie aus dem Weg gehen mußte. Nun, da die Frau so nahe war, daß sie ihr fast zurufen konnte, schien ihr eher die Erklärung ein Hirngespinst zu sein als die Frau selbst. So pervers Kissoon auch sein mochte, und sie zweifelte nicht daran, daß er seine Sternstunden hatte, die Gestalt vor ihr war keine Wichsvorlage.

Zugegeben, sie war fast nackt, die Fetzen, die sie am Leib trug, waren erbarmenswert unzureichend. Zugegeben, Intelligenz leuchtete in ihrem Gesicht. Aber an manchen Stellen schien ihr langes Haar ausgerissen worden zu sein, auf Stirn und Wangen war Blut schmutzigbraun getrocknet. Ihr Körper war mager und übel zugerichtet, Kratzer auf Schenkeln und Armen nur zum Teil verheilt. Unter den Fetzen eines einstmals weißen Kleides vermutete Tesla eine ernstere Verletzung. Das Kleid klebte an ihrer Leibesmitte, sie drückte die Arme dagegen und ging vor Schmerzen ganz gebückt. Sie war kein Pin-up und kein Trugbild. Sie existierte auf derselben Daseinsebene wie Tesla und litt.

Kissoon hatte, wie nicht anders zu erwarten, gleicht gemerkt, daß seine Warnung in den Wind geschlagen worden war, und zog wieder an Tesla. Diesmal war sie jedoch gut darauf vorbereitet. Anstatt gegen seine Berührung zu wüten, blieb sie ganz still stehen und bewahrte Ruhe. Seine geistigen Finger tasteten nach Halt und rutschten schließlich an ihren Innereien ab. Er griff wieder danach, rutschte wieder ab und griff. Sie reagierte nicht im geringsten, sondern blieb einfach, wo sie war, und ließ kein Auge von der Frau.

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Diese stand aufrecht und hielt sich nicht mehr den Bauch, sondern ließ die Hände an den Seiten herabhängen. Tesla ging sehr langsam auf sie zu, wobei sie sich nach besten Kräften bemühte, die Ruhe zu bewahren, die es Kissoon unmöglich machte, sie zu greifen. Die Frau kam weder näher, noch wich sie zurück. Tesla bekam mit jedem Schritt einen besseren Eindruck von ihr. Sie war um die fünfzig, die Augen waren, obschon tief in die Höhlen eingesunken, der lebhafteste Teil von ihr; der Rest war nur Erschöpfung. Sie trug eine Kette um den Hals, an der ein einfaches Kreuz hing. Das allein erinnerte an das Leben, das sie einmal geführt haben mochte, bevor sie sich in dieser Wildnis verirrt hatte.

Plötzlich machte sie den Mund auf, und ihr Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an. Sie versuchte zu sprechen, aber entweder waren die Stimmbänder nicht mehr stark genug oder die Lungen nicht groß genug, daß die Worte die Distanz zwischen ihnen beiden überwinden konnten.

»Warte«, sagte Tesla besorgt, die Frau könnte ihre letzten Kraftreserven vergeuden. »Ich komme näher.«

Die Frau achtete nicht auf die Ermahnung, selbst wenn sie sie verstanden hatte, sondern fing wieder an zu sprechen und wiederholte etwas immer und immer wieder.

»Ich kann dich nicht hören«, rief Tesla ihr zu und bemerkte, daß ihre Verzweiflung über den Zustand der Frau Kissoon Halt bot. »Warte, ja?« sagte sie und beschleunigte.

Als sie näher kam, bemerkte sie, daß der Gesichtsausdruck der Frau nicht zornig war, sondern ängstlich. Daß sie nicht mehr Tesla ansah, sondern etwas anderes. Und daß das Wort, das sie ständig wiederholte, »Lix! Lix!« war.

Sie wandte sich entsetzt um und sah, daß die Wüste hinter ihr von den Lix wimmelte: auf den ersten Blick ein Dutzend; auf den zweiten Blick zwei. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen, wie Schlangen, denen jedes Wesensmerkmal genommen worden war, so daß sie zu drei Meter langen, 493

zuckenden Muskeln wurden, die alle mit

Höchstgeschwindigkeit auf sie zukamen. Sie hatte gedacht, daß diejenige, die sie damals vor der Tür der Hütte gesehen hatte, keinen Mund gehabt hätte. Sie hatte sich geirrt. Sie hatten Münder; weit aufgerissene schwarze Löcher mit schwarzen Zähnen. Sie wappneten sich bereits für den Angriff, als ihr - zu spät - klar wurde, daß sie nur als Ablenkung beschworen worden waren. Kissoon packte ihr Innerstes und zog. Die Wüste glitt unter ihr dahin, die Lix wichen auseinander, als sie durch ihre Mitte gezogen wurde.

Vor ihr war die Hütte. Innerhalb von Sekunden stand sie auf der Schwelle, und die Tür ging auf Kommando auf.

»Komm rein«, sagte Kissoon. »Es ist schon zu lange her.«

Raul, der in Teslas Wohnung zurückgeblieben war, konnte nur warten. Er hatte keine Zweifel, wohin sie gegangen war oder wer sie geholt hatte, aber ohne die Möglichkeit, auch dorthin zu gehen, war er hilflos. Was nicht heißen sollte, daß er sie nicht spürte. Sein Körper war zweimal mit dem Nuncio in Berührung gekommen; er wußte, sie war nicht weit von ihm entfernt.

Im Auto hatte Tesla versucht zu beschreiben, wie ihre Reise in die Schleife gewesen war, und er hatte sich verzweifelt bemüht, etwas in Worte zu kleiden, das er in den Jahren, die er in der Mission verbrachte, gelernt hatte. Aber sein Wortschatz hatte nicht für diese Aufgabe ausgereicht. Immer noch nicht.

Aber was er gelernt hatte, hatte große Ähnlichkeit damit, wie er jetzt Tesla spürte.

Sie war an einem anderen Ort, aber dieser Ort war lediglich eine Daseinsform, und jede Ebene konnte, wenn die

Möglichkeiten dazu gefunden wurden, mit jeder anderen Ebene sprechen. Affe mit Mensch, Mensch mit Mond. Das hatte nichts mit Technologie zu tun. Es hatte mit der Unteilbarkeit der Welt zu tun. So wie Fletcher den Nuncio aus einer Suppe 494

verschiedenster Disziplinen geschaffen und sich nicht darum gekümmert hatte, wo Wissenschaft zu Magie oder Logik zu Unsinn wurde; so wie Tesla wie ein träumender Nebel

zwischen den Wirklichkeiten wechselte und etablierten Naturgesetzen trotzte; so wie er sich vom scheinbar Äffischen zum scheinbar Menschlichen entwickelt und gar nicht gemerkt hatte, wo das eine zum anderen wurde oder ob das jemals geschah; genau so konnte er, das war ihm klar, wenn er die Klugheit oder die Worte besaß - was nicht der Fall war -, zu jenem Ort vordringen, wo sich Tesla jetzt befand. Er war sehr nahe, wie alle Orte und Zeiten; Teil derselben Landschaft des Geistes. Aber er konnte nichts von alledem in Taten umsetzen.

Das war ihm noch nicht möglich.

Er konnte nur wissen und warten, was auf seine Weise wieder schmerzvoller war als zu glauben, daß er verloren war.

»Du bist ein Pißkopf und Lügner«, sagte sie, als sie die Tür zugemacht hatte.

Das Feuer loderte hell. Kaum Rauch. Kissoon saß auf der anderen Seite und sah zu ihr auf; seine Augen waren strahlender, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie waren aufgeregt.

»Du wolltest zurückkommen«, sagte er zu ihr. »Leugne es nicht. Ich habe es in dir gespürt. Du hättest dich widersetzen können, solange du noch draußen im Kosmos warst, aber das wolltest du ja gar nicht. Sag mir, daß ich diesbezüglich lüge.

Ich fordere dich heraus.«

»Nein«, sagte sie. »Ich gebe es zu. Ich bin neugierig.«

»Gut.«

»Aber das gibt dir nicht das Recht, mich einfach hierher zu verschleppen.«

»Wie hätte ich dir sonst den Weg zeigen sollen?« fragte er unbekümmert.

»Mir den Weg zeigen?« sagte sie und wußte, daß er sie absichtlich in Wut brachte, war aber außerstande, das Gefühl 495

der Hilflosigkeit aus dem Kopf zu bekommen. Nichts mißfiel ihr mehr, als keine Kontrolle zu haben, und seine Macht über sie machte sie verdammt wütend.

»Ich bin nicht dumm«, sagte sie. »Und ich bin kein

Spielzeug, das du einfach holen kannst, wenn es dir paßt.«

»Ich wollte dich auch nicht als eines von beiden behandeln«, sagte Kissoon. »Bitte, können wir nicht Frieden schließen?

Schließlich stehen wir doch auf derselben Seite.«

»Tatsächlich?«

»Daran darfst du nicht zweifeln.«

»Nicht?«

»Nach allem, was ich dir gesagt habe«, sagte Kissoon. »Den Geheimnissen, in die ich dich eingeweiht habe.«

»Ich habe den Eindruck, es gibt genügend, in die du mich nicht einweihen willst.«

»Oh?« sagte Kissoon und sah von ihr weg in die Flammen.

»Zum Beispiel die Stadt.«

»Was ist damit?«

»Ich wollte sehen, was in dem Haus ist, aber du hast mich einfach weggezerrt.«

Kissoon seufzte. »Das will ich nicht leugnen«, sagte er.

»Wenn ich dich nicht weggezerrt hätte, dann wärst du jetzt nicht hier.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Spürst du die Atmosphäre dort denn nicht? Das kann ich mir nicht vorstellen. Das schiere Grauen.«.

Jetzt war es an ihr, leise zwischen den Zähnen hindurch auszuatmen.

»Ja«, sagte sie. »Ich habe etwas gespürt.«