DER SCHIFFBRUCH DER ANUBIS

Nach dem Telefongespräch mit Maria Campos, der Rechtsanwältin, die Freeman Lorber ihr empfohlen hat, ist sie so erregt, dass sie sofort in die Küche gehen und sich ein Glas Sake einschenken muss, um nicht wie ein leerer Hosenanzug in sich zusammenzusacken. Sie nimmt einen langen Schluck und starrt hinaus auf den durchweichten Garten: Die Farne sind vom Regen gebeugt, der Rasen steht unter Wasser, der Eukalyptus wirft in langen, unregelmäßigen Streifen die Borke ab. Immerhin scheint die Sonne, doch das Haus fühlt sich fremd und steril an, und alles darin, von den Farbholzschnitten, die sie von ihrer Großmutter Takesue geerbt hat, über das waldgrüne Ledersofa mit Kirschholzrahmen, das sie eineinhalb Monatsgehälter gekostet hat, die Stereoanlage und den Topf mit dem Drachenbaum bis hin zu den Micah-Stroud-CDs auf dem Regal, kommt ihr so vor, als gehörte es jemand anders. Tim ist fort. Und ohne Tim ist dieses Haus leer, verlassen, nutzlos. Für einen Augenblick glaubt sie weinen zu müssen, aber sie will nicht weinen, nicht wegen Tim oder Dave LaJoy oder irgendeinem anderen Menschen, und sie hält das kalte Glas an die Stirn, drückt es wie eine Kompresse auf die Stelle zwischen den Brauen, bis der Augenblick vorbei ist.
Was Maria Campos ihr gerade gesagt hat, ist so empörend, dass sie es kaum fassen kann – es ist ein Witz, ein verrückter, kranker, perverser Witz, und das Schlimmste ist, dass es gar kein Witz ist, sondern die harte Wahrheit über die Welt und das, was ihr bevorsteht. Persönlich. Nicht als Projektkoordinatorin und Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit beim National Park Service, Abteilung Santa-Barbara-Inseln, die nur ihre Arbeit macht und sich Tag und Nacht dafür einsetzt, dass die Verhältnisse sich verbessern und das Ökosystem eine Chance bekommt, sich zu erholen, zu blühen und zu gedeihen, sondern als Mensch, der sich vor Gericht zu verantworten hat. Morgen früh – am Montag morgen, denn ihr Aufenthalt auf der Insel ist durch den Vorfall in Willows Cove abgekürzt worden, so dass sie nur den einen Tag dort draußen war, als wäre das nicht schon Strafe genug – muss sie aufgrund einer Klage im Zusammenhang mit den Vorgängen auf der Insel im Gerichtsgebäude von Santa Barbara erscheinen. Sollte sie das nicht tun, wird sie von der Polizei vorgeführt werden. Unglaublich. Als wäre sie die Verbrecherin, als wären die wirklichen Verbrecher gesetzestreue Bürger. Schlimmer noch: Gegen Frazier, Clive und A. P. sind Haftbefehle ergangen, was bedeutet, dass sie für mindestens einen Tag, möglicherweise auch länger, von der Jagd abgezogen werden müssen – und das jetzt, im entscheidenden Stadium.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, hatte sie gesagt. Der Telefonhörer fühlte sich an wie eine Granate, die gleich explodieren würde.
»Ich weiß, wie ärgerlich das ist«, antwortete Maria mit fester, nüchterner Stimme, als wäre das alles nichts, das Normalste von der Welt, »aber Sie müssen erscheinen, ganz gleich, ob die Klage gerechtfertigt ist oder nicht. Aber verlassen Sie sich darauf« – und hier wurde ihr Ton härter –, »wir werden dafür sorgen, dass die Klage abgewiesen wird und die bösen Buben das kriegen, was sie verdient haben. Okay? Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Denken Sie einfach nicht daran.«
»Aber ich habe … ich meine, ich habe nie auch nur einen Strafzettel wegen zu schnellem Fahren bekommen.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde mich um alles kümmern, okay?« Sie hielt inne und wartete auf Almas Widerspruch, dann fügte sie in sanfterem Ton hinzu: »Machen Sie einen Strandspaziergang, gehen Sie ins Kino oder so. Was ist mit Tim? Lassen Sie sich von Tim zum Abendessen einladen.«
Alles war so falsch, dass Alma gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte, und so murmelte sie nur: »Okay.«
»Ich sage Ihnen, das ist nichts, bloß ein verzweifeltes Ablenkungsmanöver. Sie werden sehen. Vertrauen Sie mir.«
Und jetzt, da der Hörer wieder auf der Gabel liegt, der kalte, trockene Nachgeschmack des Sake auf ihrer Zunge verweilt und ihre Gedanken ins Leere gehen, hebt sie das Glas erneut an den Mund, stellt es dann aber abrupt hin. Was denkt sie sich eigentlich? Sie darf keinen Alkohol trinken. Nichts, keinen Tropfen. Und dabei hat sie gestern erst Alkohol getrunken, als wäre sie irgendeine durchgeknallte schwangere Teeniebraut im Ghetto. Sie lehrt das Glas in die Spüle und denkt an Alkoholembryopathie, kognitive Behinderung, mentale Entwicklungsstörung, und als sie es abstellt, zittert ihre Hand. Sie muss sich zusammenreißen. Muss stark sein. Das Steuer in der Hand behalten. Die Sache ist nur: Sie fühlt sich schwach, verwirrt und verletzt.
Es ist kurz nach zehn Uhr morgens. Sie hat auf dem Rückweg auf dem Boot geschlafen, doch es war ein leichter, oft unterbrochener Schlaf, und jedesmal wenn sie die Augen aufgemacht hat, haben Toni Walsh und die anderen beiden Frauen sie angestarrt, als wäre sie ihre Gefängniswärterin und als warteten sie nur auf eine Gelegenheit zur Flucht, als könnten sie fliegen oder über das Wasser gehen, und jetzt spürt sie, wie Müdigkeit sie durchdringt, eine so vollkommene Erschöpfung, dass ihre Beine sich anfühlen, als gehörten sie nicht ihr, und sie einen Stuhl heranziehen und sich schwer darauf sinken lassen muss. Lange sitzt sie da und starrt aus dem Fenster, und dann greift sie zum Telefon und wählt – es ist unvermeidlich, demütigend, sinnlos – Tims Nummer.
Sie erwartet gar nichts. Er betreibt Feldforschung auf den Farallon-Inseln, und dort gibt es kein Mobilfunknetz, das weiß sie so gut wie jeder andere. Aber vielleicht ist er nach San Francisco gefahren, um Proviant zu besorgen, um sich ein paar Tage zu erholen, und weil er gerade erst angekommen, gerade erst an Land gegangen ist, hat er sie noch nicht angerufen, und gleich wird er sich melden, er muss sich melden, denn sie will, sie muss seine Stimme hören … Ihr Magen ist in Aufruhr. Unter dem Tisch beginnt eines ihrer Knie zu wippen. Aber sie erwartet nichts, und nichts ist genau das, was sie bekommt. Es läutet zweimal, sie hört ein leises Klicken und dann nichts mehr.
Am nächsten Morgen zieht sie eine weiße Seidenbluse, frisch aus der Reinigung, und einen marineblauen Hosenanzug an, schlüpft in Strümpfe und Pumps und fährt zum Gericht. Maria Campos ist da, und es passiert nicht viel, außer dass sie einen ganzen Vormittag damit verschwendet, herumzusitzen, während ein Fall nach dem anderen aufgerufen wird, bis sie schließlich für zwei Minuten vor den Richter treten muss, der sie kaum ansieht und sie mit der Auflage entlässt, in einem Monat wieder zu erscheinen. Endlich im Büro, ist von Alicia nichts zu sehen – es hat einen Notfall gegeben, sagt Suzie Jessup, die das benachbarte Büro hat, und Alicia hat sich einen Tag freigenommen. Papier türmt sich zu Bergen, und die Liste der E-Mails ist ungefähr einen Kilometer lang. Arbeit. Das ist es, was sie jetzt braucht – und was sie in Anspruch nimmt –, und erst um halb drei verspürt sie das Bedürfnis nach einem großen Eistee mit Zitrone und etwas zu essen. Sie steht vom Schreibtisch auf und geht die Treppe hinunter und auf dem Fußweg am Yachthafen entlang zum Docksider. In Gedanken versunken schlendert sie dahin und versucht, einen klaren Kopf zu bekommen, als sie plötzlich innehält. Etwas ist anders, anders als sonst, aber was? Sie sieht den Fußweg entlang (schlendernde Touristen), sieht zurück zum Park-Service-Gebäude (wimmelnde Touristen, die hinein- und hinausgehen, um sich die Reliefkarte der Insel und die anderen Ausstellungsstücke im Erdgeschoss anzusehen) und schließlich über die weite Fläche des Parkplatzes (Sonnenlicht blitzt auf dem Glas und Chrom der in ordentlichen Reihen geparkten Wagen), und dann erst dringt es zu ihr durch: Die Demonstranten sind weg.
Es ist verblüffend. Als wäre sie in ihrer Betonhütte in Guam aufgewacht und vor die Tür gegangen, um festzustellen, dass der Urwald über Nacht verschwunden war. Die Demonstranten sind weg. Keine Sprechchöre, keine verleumderischen Schilder, keine Graffiti. Haben sie aufgegeben? Endlich? Ihr kommt der Gedanke – ein freudiger Gedanke, begleitet von einer Welle der Heiterkeit –, dass sie verschwunden sind, weil ihre treibende Kraft verschwunden ist. Weil Dave LaJoy hinter Gittern oder gegen Kaution auf freiem Fuß ist und in irgendeiner Gasse herumschleicht und sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf zieht wie ein Mafioso oder ein bloßgestellter Senator. Er hat den entscheidenden Fehler begangen. Er ist fertig. Erledigt. Und die Schweinejagd geht unerwartet gut voran. Wenn LaJoy irgendwann wiederauftaucht, ist das Projekt abgeschlossen, und dann gibt es nichts mehr, wogegen er protestieren könnte. Das wird ein Festtag sein!
Der Gedanke erfüllt sie mit einem inneren Licht. Alles ringsum leuchtet, als wäre es aus Schlacke neu erstanden, schimmernd und glänzend. In dieser Stimmung geht sie zum Docksider und ertappt sich dabei, dass sie Leuten zunickt, die ihr entfernt bekannt vorkommen, und stehenbleibt, um einer jungen Mutter und ihrem kleinen Kind zuzulächeln, die sich eine rosarote Wolke aus Zuckerwatte teilen. Aber dann, als sie die Treppe hinaufgeht, kommt wieder die Schwere über sie, spürt sie wieder die Last in ihr, so unverrückbar wie eine Ziegelmauer: Wie gern würde sie es Tim erzählen, ihre Freude und den süßen Geschmack des Triumphs und der Rehabilitierung mit ihm teilen. Aber es gibt keinen Tim, alle anderen haben ihre Mittagspause längst beendet, und das Café ist leer und wirkt leicht deprimierend. Sie ist allein und will etwas essen, und als die Kellnerin sie an einen winzigen Tisch in der Mitte des Raums setzen will, besteht sie auf eine Nische am Fenster, die sonst für Gruppen von vier oder fünf Personen reserviert ist, und warum auch nicht? Sie ist es leid, sich herumschubsen zu lassen. Sie ist alles leid. Sie ist müde.
Sie starrt auf die Speisekarte und versucht sich zu entscheiden, ob sie zu ihren Krabben eine kleine oder große Schale Clamchowder bestellen soll, und darum dauert es einen Augenblick, bis sie bemerkt, dass die Koreanerin aus dem Lädchen im Erdgeschoss neben ihrem Tisch steht. Mrs. Kim. Sie hält eine Zeitung in der Hand, den Press Citizen, und sie hält sie so, als wollte sie sie ihr anbieten. »Sie haben schon gesehen?« fragt sie.
Alma hat die Zeitung noch nicht gelesen. Am Morgen war sie dazu nicht imstande, zu angespannt, weil sie vor Gericht erscheinen musste und nicht wusste, ob sie die Bluse über der Hose tragen könnte, um die Tatsache zu verbergen, dass sie die Jacke nicht mehr schließen konnte, und so hat sie es ganz vergessen. Ohnehin überfährt sie die Zeitung meist, und dann fällt sie ihr erst wieder ein, wenn sie abends in die Einfahrt biegt und sie schmutzig und zerrissen dort liegen sieht. Was eigentlich nicht weiter schlimm ist, denn es ist ein Käseblatt, laut, besserwisserisch und bestenfalls halbkompetent, das praktisch nichts von dem vertritt, woran sie glaubt. Tim hat es immer den Press Critizen genannt.
»Nein«, sagt Alma. »Warum?«
Mrs. Kim, eine große, kerzengerade Frau in den Siebzigern, die Alma einmal nach beiläufiger Begrüßung mit der Bemerkung »Sie Nihon-jin, ja?« überrascht hat, legt die Zeitung auf den Tisch und schiebt sie ihr mit einem verschwörerischen Lächeln zu. »Sie werden mögen, was da steht. Umsonst. Für Sie.«
Noch bevor sie den Dank ausgesprochen hat, sieht sie die Schlagzeile: Tod auf Santa Cruz. Und darunter: Fragwürdiges Vorgehen der FPA führt zum Tod von Studentin, von Toni Walsh.
Mrs. Kim tritt langsam einen Schritt zurück und macht eine kleine Verbeugung, die Alma erwidert, so gut es im Sitzen geht. »Keine Demonstranten mehr, ja?« sagt die alte Frau zwinkernd. »Schlecht für Geschäft. Für Ihr Geschäft und mein Geschäft.«
Alma sieht sie mit klopfendem Herzen an und lächelt. »Das kann man wohl sagen.«
Der Artikel ist nicht so, wie sie ihn sich gewünscht hätte, aber immerhin ist die maßgebliche Zeitung von Santa Barbara zum erstenmal, seit das alles angefangen hat, offenbar bemüht, zu Dave LaJoy und seiner Bande von Verrückten auf Distanz zu gehen. Zwar betrachtet man ihn noch immer als Streiter für ein hehres Ziel und den Park Service und Nature Conservancy als Feinde, aber Toni Walsh – die gestern schlamm- und blutverschmiert und höchst erbittert war – bezieht deutlich Stellung und klingt dabei nicht so sehr wie eine Reporterin als vielmehr wie eine Kommentatorin:
Der örtliche Geschäftsmann und Aktivist David Francis LaJoy (47) aus Montecito, Gründer und Vorsitzender der Tierschutzorganisation For the Protection of Animals, wurde nach einem bizarren und tragischen Vorfall auf der Insel Santa Cruz am späten Samstag abend verhaftet. LaJoy führte eine Gruppe von Gefolgsleuten an, die angeblich das Projekt des Park Service zur Beseitigung der verwilderten Schweine auf der Insel sabotieren wollten, nachdem eine in letzter Minute beantragte einstweilige Verfügung vom zuständigen Gericht abgelehnt worden war. Mitglieder der Gruppe behaupten, LaJoy habe sich trotz der am Wochenende herrschenden schlechten Witterungsbedingungen leichtsinnig und unverantwortlich verhalten. Bei dem Versuch, auf Anweisung von LaJoy einen steilen Hang oberhalb eines erheblich angeschwollenen Bachs zu queren, stürzte Kelly Ann Johannson (19) aus Goleta in den Tod.
LaJoy wird des unbefugten Betretens von Privatgrund, der vorsätzlichen Sachbeschädigung und der Verabredung zu einer Straftat beschuldigt. Die Eltern der ums Leben gekommenen Studentin, Ronald und Eva Johannson aus Goleta, wollten sich telefonisch nicht äußern. Ein Freund der Familie, der nicht genannt werden will, bestätigte jedoch, dass sie wegen fahrlässiger Tötung gerichtlich gegen LaJoy vorgehen werden.
Sie liest den Artikel zweimal und fühlt sich besser, viel besser. Als das Essen gebracht wird, legt sie die Zeitung ausgebreitet auf den Tisch, damit sie die Schlagzeile und das körnige Archivfoto der Pier in Prisoners’ Harbor betrachten kann, das sie für diesen Artikel ausgegraben haben. Der Clamchowder ist köstlich, mit vielen Muscheln, Kartoffelstückchen und Butter, und die Krabben haben ihr noch nie so gut geschmeckt. Zum Schluss wischt sie den Teller mit Stücken von dem warmen Sauerteigbrot ab, worauf man hier so stolz ist, und stellt dann fest, dass sie zuviel gegessen hat. So jedenfalls fühlt sie sich. Als sie schließlich aufsieht, ist es nach drei Uhr, und trotz des Energieschubs, den ihr der Eistee gegeben hat, schafft sie es kaum, sich vom Stuhl zu erheben. Sie ist schläfrig und erschöpft, doch als ihr der Gedanke kommt, sie könnte heute einmal früher Feierabend machen, schiebt sie ihn sogleich beiseite.
Sobald sie draußen ist, zwingt sie sich zu einer schnelleren Gangart, marschiert zügig voran und atmet die Meerluft in tiefen Zügen ein. Der Yachthafen liegt ruhig da, der Parkplatz ist wieder nur ein Parkplatz. Es weht ein leichter, duftender Wind aus Süd, der einen Vorgeschmack des Frühlings mit sich bringt, und sie bleibt einen Augenblick auf dem Stück Rasen hinter dem Park-Service-Gebäude stehen und wendet ihm ihr Gesicht zu, während der Hausmeister aus der Hintertür tritt, um seinen Mop auszuschütteln, und ein halbes Dutzend Stare sich um ein paar auf dem Weg verstreute Pommes frites streiten. Dann sitzt sie wieder an ihrem Schreibtisch, und ihre Stimmung wird finsterer, als sie Alicias leeren Platz sieht. Wenn sie Alicias Beurteilungsbogen auszufüllen hat, wird sie ihrem Gewissen folgen müssen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und sollten dabei irgendwelche Gefühle verletzt werden, dann tut es ihr leid.
Sie arbeitet bis sechs und versucht, die am Vormittag wegen des Gerichtstermins liegengebliebene Arbeit zu erledigen, ist aber nicht allzu streng mit sich selbst, denn ohne den Vorfall in Willows Cove wäre sie jetzt noch immer auf der Insel. Sie denkt daran, an die Szene am Strand, an die tote Frau, als sie die Tür abschließt und die Treppe hinunter und über den leeren Parkplatz zu ihrem Wagen geht. Als sie zusammen mit den Männern und den Hunden über den Strand ging, fühlte sie sich stark, als hätte sie alles fest in der Hand, und als sie die Umrisse des dicken, reglosen Bündels unter dem nassen Poncho sah, dachte sie zunächst, es handle sich um ein Schwein, um eines der abgeschossenen Schweine, das man aus einem Graben geborgen hatte, um es zum Festland zu bringen und auszustellen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Es war gesetzlich verboten, irgend etwas von der Insel zu entfernen, sei es Tier, Pflanze oder Mineral, und nun hatten sie diese Leute auf frischer Tat ertappt: Als wäre es noch nicht genug damit, dass sie unbefugt hier waren und versuchten, ein Projekt zu sabotieren, das den Steuerzahler bereits Millionen gekostet hatte, hatten sie nun auch noch versucht, sich ein Wildtier anzueignen, es zu stehlen und für ihre Zwecke zu benutzen, wo doch jeder wusste, dass alle Wildtiere, ob auf öffentlichem oder privatem Grund, Eigentum des Staates waren. Sie war erregt, erfüllt von grimmiger Freude, sie erwischt, endlich erwischt zu haben, doch dann ließen ein paar Tropfen Harz das Feuer auflodern, und sie erkannte, dass das Bündel unter dem Poncho etwas ganz anderes war.
Der Verkehr auf der dunklen Schnellstraße ist dicht, ein sich windender Strom aus sacht leuchtenden roten Lichtern, der sie dahinträgt. Sie schaltet das Radio ein, hört sich die Nachrichten an, wechselt zu einem Musiksender und versucht, nicht an die tote Frau zu denken, nicht an Tim und das Kind, das in ihr wächst, und nicht daran, was sie den Leuten sagen wird, wenn es nicht mehr zu verbergen ist. Es wird ein Song gespielt, den sie mag und der kaum je im Radio zu hören ist – »I Came So Far for Beauty« von Leonard Cohen, gesungen von Jennifer Warnes –, und sie versucht mitzusingen, aber die Worte purzeln an ihr vorbei, und nach dem zweiten Refrain verstummt sie.
Zuerst hält sie an dem Lebensmittelgeschäft im Lower Village – nach dem reichlichen Mittagessen braucht sie nicht viel: ein Stück Lachs (aus Aquakultur, mit Farbstoff) und einen Beutel Spinat für die Mikrowelle – und dann beim Videoverleih. Sie braucht lange, um sich etwas auszusuchen, und arbeitet sich durch die Neuerscheinungen (die Tim und sie meist schon im Kino gesehen haben, als sie gerade angelaufen waren) und die Komödien, die durchweg für pubertierende Kinder gemacht und nur laut Definition witzig sind, bevor sie in die Klassikerabteilung geht und sich für einen Lubitsch-Film entscheidet, den sie schon mindestens zwei- oder dreimal gesehen hat, allerdings nicht in letzter Zeit. Der Plan – das Grundthema des Abends – ist Leichtigkeit, nur ein bisschen Ablenkung, und dann ins Bett, damit das Vergessen über sie kommt wie eine dunkle Flut aus Nichts.
Gut. Super. Aber als sie, zu Hause angekommen, den Schlüssel ins Schloss steckt, stellt sie fest, dass die Tür gar nicht abgeschlossen ist. Das ist seltsam, denn sie gehört nicht zu den Menschen, die vergessen, die Haustür abzuschließen. Das passiert ihr nie. Sie geht in Gedanken noch einmal den Morgen durch – der Wecker hat gesummt, sie ist panisch aus dem Bett gesprungen und mit einem altbackenen, hektisch mit Frischkäse beschmierten Bagel aus dem Haus gestürzt – und versucht, das Bild heraufzubeschwören, wie sie die Tür hinter sich zuzieht und sie abschließt, doch das Bild will sich nicht einstellen. Mit einemmal hat sie Angst. In den vergangenen Wochen hat es in der Nachbarschaft eine Serie von Einbrüchen gegeben; in einem Fall – in der Olive Mill Road, keine drei Blocks entfernt – ist eine Frau angegriffen worden, als sie die Einbrecher überraschte, die gerade dabei waren, ihre Möbel zu verrücken, um die Orientteppiche einzurollen. Ganz langsam und leise, als wäre sie selbst eine Einbrecherin, dreht sie den Türknopf und schiebt die Hand durch den Spalt, um das Flurlicht einzuschalten.
Sie verharrt auf der Schwelle, bereit zu fliehen, wenn es sein muss, doch als sie die Tür langsam aufschwingen lässt – bis zur Wand, um sicher zu sein, dass niemand dahintersteht –, sieht sie nichts als den vertrauten Flur, den Tisch, auf dem Jacken, Schirme, ungelesene Zeitschriften und die drei Handtaschen liegen, die sie gründlich satt hat. »Hallo?« ruft sie. »Ist da jemand?« Und dann macht ihr Herz einen Satz, und sie denkt an Tim. Er ist doch derjenige, der immer vergisst, hinter sich die Tür abzuschließen – meistens weiß er nicht mal, wo seine Schlüssel sind. »Tim?« ruft sie und sieht vor ihrem geistigen Auge bereits eine Versöhnung: Tim ist gekommen, um sie zu überraschen, und würde es ihm nicht ähnlich sehen, plötzlich aus einem dunklen Winkel zu springen und sie zu Tode zu erschrecken? »Tim, bist du das?«
Erst als sie drinnen ist, als sie durch Küche und Wohnzimmer ins Schlafzimmer gegangen ist, begreift sie. Tim war hier, aber jetzt ist er weg. Seine Sachen – alles, sein Fahrrad, seine Bücher und Videospiele, selbst seine Unterwäsche und die T-Shirt-Sammlung – sind weg. Er hat leere Schubladen zurückgelassen. Staubmäuse. Ein altes Paar Basketballschuhe mit zerrissenen Schnürsenkeln und durchgelaufenen Sohlen.
Sie spürt den Impuls, die Schuhe zu nehmen, sie zu berühren, an ihre Wange zu drücken, doch sie kann es nicht. Ihre Knie werden weich, sie muss sich sofort setzen, auf die Bettkante. Sie kreuzt die Arme vor der Brust, hält sich an den Schultern fest und findet nicht die Kraft, den Kopf zu heben. Nach einer Weile beginnt sich das hinter die Ohren gestrichene Haar zu lösen, es gehorcht der Schwerkraft und fällt ihr ins Gesicht, bis dieses im Schatten liegt. Sie weiß nicht, wie lange sie so dasitzt, hoffnungslos, zusammengesunken, auf ihre zusammengepressten Knie unter dem marineblauen Stoff der Hose starrend, die sie für den Gerichtstermin angezogen hat, die Knie, die er gestreichelt und liebkost hat, die Oberschenkel … Wo ist er? Hätte er nicht anrufen können? Eine Nachricht hinterlassen? Irgendwas? Irgend etwas, was darauf hindeutet, dass sie einander etwas bedeutet haben, dass sie fünf Jahre im selben Bett geschlafen haben? Es ist obszön. Ein Witz. Es ist falsch, ganz und gar falsch.
Später, viel später schafft sie es, vom Bett aufzustehen, und geht schlurfend durch die Wohnung wie eine Patientin auf der chirurgischen Station, streicht mit dem Finger über Tische und Stühle und sucht nach einer Spur von Tim. Die Nachricht ist da, sie war die ganze Zeit da. Alma findet sie in der Küche, sie liegt, mit dem Wetzstein beschwert, auf dem Schneidbrett. Ein Blatt Papier, einmal gefaltet, darin zwei Schlüssel: ein Hausschlüssel und der Reserveschlüssel des Prius. Die Nachricht besteht aus drei Sätzen:
Alma –
ich liebe Dich, ich werde Dich immer lieben, aber wenn Du das durchziehen willst, wirst Du es allein tun müssen. Du kannst den Wagen haben, ich brauche ihn nicht – nach dem Projekt auf den Farallon-Inseln werde ich wohl für den Sommer weiter nach Norden ziehen und für einen Ornithologen an der University of Fairbanks arbeiten. Was danach kommt, weiß ich noch nicht.
Tim
Der Lachsgeruch bereitet ihr Übelkeit, doch sie zwingt sich zu essen. Die Küche ist zu hell erleuchtet, ein freudloser Ort, absolut still. Danach legt sie, um sich abzulenken, die ausgeliehene DVD ein, kann dem Film aber nicht folgen. Nichts als Geräusch und Bewegung. Sie hasst Tim, ja, sie hasst ihn, und sie ist froh, dass sie herausgefunden hat, wie er wirklich ist, bevor es zu spät war. Und sie hasst auch das Baby in ihr, diesen Embryo, dieses Ding, das er dort eingepflanzt hat, dieses Leben, noch ein Leben mehr. Als die Uhr sie dazu auffordert, geht sie zu Bett, doch sie kann nicht schlafen. Sie kann ihre Mutter nicht anrufen. Und Tim wird sie nicht anrufen.
Am nächsten Morgen ist alles noch schlimmer. Sie muss eingenickt sein und geträumt haben, erinnert sich aber nur daran, dass sie flach auf dem Rücken gelegen und an die Decke gestarrt hat, während das Tageslicht sich in den Raum schlich, als würde es sich schämen. Es ist Dienstag, ein Arbeitstag, doch sie geht nicht zur Arbeit. Nein, sie muss etwas anderes tun: Sie quält sich aus dem Bett, entleert ihre Blase, lässt das allmorgendliche Kotzritual über sich ergehen, wäscht sich das Gesicht und bürstet sich den sauren Geschmack aus dem Mund, zieht sich an und fährt in die Stadt. Zur Klinik. Sie ist in der zwanzigsten Woche schwanger und noch nie dort gewesen, nicht einmal daran vorbeigefahren, seit Tim im vergangenen November davon gesprochen hat. Sie weiß nicht mal, wann die Sprechzeiten sind und ob sie gleich einen Termin bekommen wird. Oder, um genauer zu sein: ob man dort Spätabbrüche durchführt. Sie weiß nur, dass der Fötus bei einem Abbruch in diesem Stadium mit Hilfe von Instrumenten und einer Zange entfernt werden muss und dass man danach eine Absaugung und schließlich eine Ausschabung vornehmen wird, um sicherzugehen, dass in der Gebärmutter keine Gewebereste mehr sind. Ihre Gebärmutter ist voll, das ist das Problem, sie drückt von innen nach vorn, bläht sie auf, lässt den Bauch anschwellen und ihre Kleider schrumpfen, und diese Leute, wer immer sie sind – irgend jemand, ein Arzt in einem grünen OP-Kittel –, müssen ihn leeren und machen, dass alles weg ist. Das ist der Sinn der Sache. Das ist der Plan.
Sie kann an nichts anderes denken, als sie sich in den Verkehr auf der Schnellstraße einreiht: Sie sollen machen, dass alles weg ist. Sie hat nichts im Magen, nicht einmal Kaffee oder einen trockenen Toast. Trotzdem ist die Übelkeit da und kratzt in der Kehle, als wollte sie mit spitzen Krallen herausklettern. Rings um sie her zischen andere Wagen dahin. Der Morgen ist schön, aufgeladen mit Sonne, und der Regen hat die Pflanzen an der Straße grün gemacht, doch das nimmt sie kaum wahr. Sie sieht den Asphalt, den Stahl und das Chrom der Wagen, die giftigen Abgaswolken, die aufsteigen, als der unvermeidliche Stau kommt und die Kette der Bremslichter aufleuchtet. Lastwagen. Minivans. Abfall auf dem Mittelstreifen. Doch dann, als sie von der Schnellstraße abbiegt, tritt die Natur wieder auf den Plan, und zwar in Form einer Möwe, die auf das gleißende Geriffel des Meers zusegelt und deren Flügel so ungerührt sind wie das Meer und das erste Wesen, das an Land kroch.
Aber die Sache ist: Sie kann die Klinik nicht finden. Wo war die noch mal? In der Harley Street? In der Ortega? Oder nein: Garden Street. Es war die Garden Street, nicht? Verärgert, wütend – aber noch weint sie nicht – zieht sie am Lenkrad, behindert durch Einbahnstraßen und Ampeln, die willkürlich auf Rot zu schalten scheinen, als hätte sich die Stadt gegen sie verschworen. Fahrradfahrer rasen aus allen Richtungen durch ihr Blickfeld, Fußgänger errichten an einer Kreuzung nach der anderen menschliche Mauern. Sie fährt zu schnell, dann wieder zu langsam. Hinter ihr hupt jemand. Sie blättert in Stadtplänen, von denen keiner Santa Barbara zeigt, und versucht gleichzeitig, ihr Handy aus der Handtasche zu angeln – sie wird einfach dort anrufen, ja, das wird das Beste sein, sie wird anrufen und sie um eine Wegbeschreibung bitten, aber sie wird noch nicht sagen, dass sie einen Termin bei einem Arzt oder bei der Beraterin will, mit der Tim und sie damals gesprochen haben, nur eine Wegbeschreibung, das ist alles –, als eine Frau in einem winzigen silberfarbenen Wagen, der wie ein Fön aussieht, direkt vor Alma langsam aus einer Einfahrt auf die Straße fährt und sie zusehen muss, wie ihr Wagen ganz zart, fast liebevoll gegen den Wagen der anderen rollt, Stoßstange gegen Stoßstange, so sacht wie zwei Billardkugeln, die einander mitten auf dem grünen Filz des Tisches küssen.
Hinter ihr erneut ein Hupen, ein erschrockenes Bremsenquietschen. Alma sieht das Gesicht der Frau, einer Frau, die nicht viel anders ist als sie selbst, einer Frau in den Dreißigern auf dem Weg zur Arbeit, das Haar gebürstet, mit frischem Augen-Make-up. Für einen Moment mustern sie einander, die Miene der Frau spiegelt in rascher Folge verschiedene Gefühle wider, von Erschrecken über Verlegenheit, Verärgerung und Wut zu Resignation, und dann öffnen sie gleichzeitig die Fahrertüren und steigen aus. Erst da bemerkt Alma die beiden Kinder auf dem Rücksitz des anderen Wagens, zwei kleine Mädchen in Schuluniformen, die angeschnallt sind und die Hälse recken, um zu sehen, was eigentlich passiert ist.
Die Anubis mit Heimathafen Santa Barbara, ein Zwölf-Meter-Kabinenkreuzer mit Glasfiberrumpf und zwei Volvo-Dieselmotoren, die sie bei ruhiger See auf gut achtzig Stundenkilometer beschleunigten, wurde 2005 direkt ab Werft von einem Ehepaar aus Santa Barbara gekauft, das sich verbessern wollte. Todd und Laurie Gilfoy, beide Ende Zwanzig, waren erfahrene Skipper – von Kindesbeinen an hatte Todd die Sommerferien auf der Dreamweaver, dem Boot seines Vaters, verbracht. Todd und Laurie hatten nach ihrem Studium an der UCSB geheiratet – Laurie war Grundschullehrerin und unterrichtete die zweite Klasse an einer Privatschule in Hope Ranch, während Todd, der einen Abschluss in Betriebswirtschaft hatte, zusammen mit seinem Vater die örtliche GMC-Niederlassung leitete. Sie hatten keine Kinder und verbrachten die Wochenenden gern auf dem Wasser, oft in Gesellschaft anderer junger Paare. Eines ihrer Lieblingsziele war Santa Cruz, insbesondere die Südküste der Insel, wo es wenige andere Boote gab, die die Aussicht verdarben. Beide tranken gern. Und wenn sie tranken, wetteiferten sie um die Aufmerksamkeit ihrer Gäste, was diesen mitunter unbehaglich war, besonders wenn sie sich auf einem Boot mitten auf dem Kanal befanden und es kein Entkommen gab.
An einem klaren Samstag im September, knapp einen Monat nachdem sie das Boot gekauft und auf den Namen Anubis getauft hatten (das war Lauries Idee gewesen, die sich für ägyptische Mythologie interessierte und eines Tages die großen Pyramiden am Nil besuchen wollte), luden sie zwei andere Paare zu einem Wochenendausflug nach Coches Prietos ein. Mit Jonas und Sylvie Ryerson waren sie seit dem Grundstudium befreundet; Ed und Lucinda Cherwin waren neue Bekannte, zehn Jahre älter und Nachbarn von Jonas und Sylvie. Man traf sich um zehn Uhr am Yachthafen, das Wetter war ideal: Temperaturen um fünfundzwanzig Grad, schwacher bis mäßiger ablandiger Wind und leicht bewegte See. Laurie erwartete sie in einem mit einem Leopardenmuster bedruckten Bikini und rosaroten Crocs am Tor, um sie zum Boot zu führen, wo Todd, der nur Cargoshorts trug, bereits einen Krug Margaritas gemixt hatte. »Na, ihr Landratten?« rief er. »Ich dachte schon, ihr würdet gar nicht mehr kommen. Na los, worauf wartet ihr, an Bord mit euch.«
Noch bevor sie aus dem Hafen waren, schenkte Todd die zweite Runde aus, und als Lucinda Cherwin lächelnd ablehnte und darauf hinwies, es sei ja erst Viertel nach zehn und sie hätten noch den ganzen Tag – und den Abend – vor sich, verdüsterte sich seine Miene. »Waschlappen«, knurrte er. Und dann, an alle: »Alle Waschlappen und Landratten unter Deck! Stimmt’s?« Er lächelte verkniffen und stieß Jonas an. »Hab ich recht?«
Was kann man jemandem nachsehen und was nicht? Sie waren noch keine acht Kilometer gefahren, da waren alle vier Gäste in die Kajüte gegangen, während Todd und Laurie oben waren, im Cockpit, in der prallen Sonne (Hardtop und Seitenverkleidung waren abgenommen und verstaut worden), und sich über irgend etwas stritten. Laut. Heftig. Plötzlich ertönte ein dumpfer Schlag, und dann kam Laurie, deren Mundwinkel blutete, die Treppe herunter. Sie weinte – das jedenfalls behauptete Sylvie Ryerson, allerdings erst später – und schloss sich auf der Toilette ein. Inzwischen gab Todd Vollgas und fuhr enge Schleifen, ohne irgendeinen Grund, bloß weil es ihm Spaß machte. Es klapperte in den Schränken, und was nicht festgeschraubt war, rutschte über den Kajütenboden. Linda Cherwin wurde übel, und ihr Mann ging mit Jonas hinauf, um Todd zur Vernunft zu bringen, doch der saß mit steinernem Gesicht am Steuer und ignorierte sie.
»Hören Sie mich?« Die Adern an Eds Hals traten hervor. Er war Bauunternehmer und gewohnt, Anweisungen zu geben. »Ich sage Ihnen, ich habe genug von diesem Quatsch, und es interessiert mich nicht, was zwischen Ihnen und Ihrer Frau läuft. Ich will, dass Sie wenden und uns an Land bringen. Lucinda ist übel. Uns allen ist übel. Haben Sie mich verstanden?«
Todd sah ihn nicht mal an. Er riss das Ruder herum, als hätte er einen Wasserskifahrer im Schlepp, so dass die beiden gegen die Reling prallten.
»He, Todd, komm schon, Mann, das bringt’s doch nicht«, redete Jonas ihm heftig schwankend zu. Sie waren alte Freunde. Er appellierte an Todds Vernunft. »Und das weißt du auch. Entweder ihr vertragt euch wieder, oder du bringst uns zurück – ich meine, du hast Lucinda eine Heidenangst eingejagt …«
Letztlich wendete Todd tatsächlich – bei voller Geschwindigkeit und in einer so engen Kurve, dass sie beinahe gekentert wären –, aber während der ganzen Rückfahrt zum Hafen sagte er kein einziges Wort. Die Motoren liefen, als die Gäste ihr Zeug an Land brachten, der Gestank von Dieselabgasen lag in der Luft, und das Boot schaukelte noch auf der eigenen Kielwelle. Jonas war mittlerweile stinksauer, und als er auf dem Steg stand, drehte er sich zu Todd um und rief: »Weißt du was? Du kannst manchmal ein richtiges Arschloch sein.« Todd hob den Blick vom Armaturenbrett – er hatte schon wieder ein Glas in der Hand – und zeigte ihnen den gereckten Mittelfinger. »Waschlappen«, brüllte er so laut, dass die Leute auf den benachbarten Booten herumfuhren, »ihr seid nichts als Waschlappen! Alle miteinander!«
Keiner sah ihm nach. Hätten sie es getan, so hätten sie gesehen, dass Laurie an Deck war und auf ihn losging. Sie fluchte und verwünschte ihn, ihr Haar flog, und ihre Fäuste trommelten auf seine nackte Schulter mit dem eintätowierten Cartoon-Skunk. Er stieß sie von sich. Worum es bei dem Streit überhaupt ging, sollte man nie erfahren. Die Anubis lief eineinhalb Stunden später mit eingeschaltetem Autopiloten in China Beach auf Grund. Es war niemand an Bord. Vermutlich war die Gewalt irgendwann derart eskaliert, dass die beiden ineinander verkrallt ins Wasser gefallen waren und das Boot seine Fahrt ohne sie fortgesetzt hatte. Todds Leiche, unversehrt bis auf ein paar Abschürfungen an den Unterarmen, wurde am Abend desselben Tages etwa dort geborgen, wo sie, wie man annahm, über Bord gegangen waren. Der Leichnam seiner Frau wurde erst im folgenden Winter gefunden, als sie, noch immer im Bikini und das Gesicht zum Himmel gekehrt, in Prisoners’ Harbor angespült wurde.
Ohne ihre Mutter hätte Alma diese Geschichte nicht erfahren. Kat war im Internet darauf gestoßen und hatte den Artikel ausgedruckt und kommentarlos an ihre Tochter geschickt. Die Überschrift – Leichenfund auf Santa Cruz – war rot unterstrichen.
Der Winter dauerte noch bis in den März, doch der Regen hörte abrupt auf, und in den Bergen fiel zwanzig Prozent weniger Schnee als sonst, was für den Sommer Wasserknappheit verhieß. Meteorologen sprachen über die Auswirkungen der globalen Erwärmung – als ob irgendeine Jahrszeit, für sich allein genommen, irgendwelche Rückschlüsse auf irgend etwas anderes als sie selbst zuließe –, und im Press Citizen stand eine Reihe aufgeregter Artikel über schmelzende Polkappen, das allmähliche Versinken der Malediven und die Gefahr von Tsunamis an der kalifornischen Küste, und das war auch ganz gut so, wenn es die Leute nur zum Nachdenken brachte. Dann war es April, eine immer wärmere Sonne kroch mit jedem Tag höher über den Himmel, und obwohl Alma wusste, dass sie für einen letzten ergiebigen Regen beten sollte, freute sie sich doch über die Gelegenheit, einen Strandspaziergang zu machen und Gesicht und Beine von der Sonne bescheinen zu lassen. Nach der grauen Tristesse des Winters und allem, was sie durchgemacht hatte, fühlte sich das besonders gut an. Diese Gerichtssache war ausgestanden und hatte sich aufgelöst wie eine Tablette in einem Glas Wasser, als hätte es sie nie gegeben. Maria Campos hatte Wort gehalten: Der Richter hatte die Klagen gegen sie und Frazier, Clive und A. P. abgewiesen. Und warum? Weil es keinen Klagegrund gab, weil die Klage nicht schlüssig war, und auch der Staatsanwalt hatte das eingesehen und auf Rechtsmittel verzichtet.
Auf den April folgte ein grauer Mai, und jetzt, in der ersten Juniwoche, ist die Sonne verschwunden und der Himmel trüb. Die Juni-Trübheit. Es ist das vorherrschende Muster des Wetters um diese Jahreszeit: Der Hochnebel hängt den größten Teil des Tages über dem Meer und löst sich, wenn überhaupt, erst am späten Nachmittag auf. Es ist die Zeit, in der die Menschen an der Küste am anfälligsten für jahreszeitlich bedingte Affektstörungen sind, und das kann sie absolut nachvollziehen. Es ist ein La-Niña-Jahr, das Wasser ist kälter als sonst, und das bedeutet, dass die Wolkendecke, die über der Wohnanlage, dem Strand und dem größten Teil der Innenstadt, ganz zu schweigen vom Park-Service-Gebäude, von ganz Ventura und Oxnard liegt, noch dichter ist als sonst. Almas Gegenmaßnahme besteht darin, so oft wie möglich den Schreibtisch zu verlassen und hinauszufahren auf die Insel, die für sie zu einer Art Zufluchtsort geworden ist, besonders die Hauptranch, die mehr Sonne bekommt als Scorpion.
Dort ist sie auch jetzt. Sie liegt im hinteren Zimmer der Field Station auf dem Rücken und schließt die Augen. Nur für eine Minute. Es ist halb sieben am Abend, und bald wird es Essen geben, wenn sie den alles durchdringenden Geruch von bratendem Knoblauch, Ingwer und Frühlingszwiebeln richtig deutet, der aus der Küche herüberweht, wo die beiden verbleibenden Fuchswärterinnen Marguerite und Allison einen Wok voller Tofu und Fisch zubereiten. Sie hört Stimmengemurmel aus dem großen Zimmer, Gelächter, jemand spielt ein paar Akkorde auf der Gitarre. Es werden etwa ein Dutzend Leute am Tisch sitzen: Frazier, Annabelle, ein paar Jäger (Schweinemänner und Fuchsfrauen haben sich im Lauf des Jahres in verschiedenen Kombinationen zu Paaren zusammengefunden, und wer könnte es ihnen verdenken?) sowie der eine oder andere Biologe, Archäologe und Handwerker. Es herrscht ein guter Gemeinschaftsgeist, jeder tut, was gerade zu tun ist, heute koche ich, morgen kochst du.
Sie werden wohl Wein trinken. Wein ist hier das Sakrament, und wenn man den ganzen Tag im Gelände unterwegs war, ist er ein geradezu unverzichtbares Sakrament. Sie sieht sie vor sich, wie sie, über den Raum verteilt, dasitzen, die diversen, nicht zueinander passenden Gläser einschenken, Witze reißen, sich angeregt unterhalten, Klatsch erzählen, über ihre Feldforschungen reden, über Politik, Skandale, Sexgeschichten und alles mögliche, das ihnen in Abwesenheit von Fernsehen und Handys durch den Kopf schießt. Almas Freunde. Ihre Familie. Die Leute, die mit ihr und unter ihrer Leitung nach den strengen Regeln wissenschaftlicher Forschung gearbeitet und keineswegs leichtfertig innerhalb von nur fünfzehn Monaten 5036 verwilderte Schweine getötet haben, ohne dass irgendwo auf der Insel Spuren irgendwelcher Überlebender auszumachen wären. Gleich wird sie sich mühsam erheben und hinübergehen. Sie wird essen – sie kann sich nicht erinnern, jemals so hungrig gewesen zu sein wie in den vergangenen Wochen –, aber sie wird keinen Wein trinken, nicht mal den winzigsten unschuldigsten Tropfen.
Es ist ein Kampf. Ellbogen, Unterarme und Handgelenke sind so schwach, als hätte jemand alle Knochen entfernt, doch sie schafft es, sich aufzusetzen, und im nächsten Augenblick schlüpfen ihre Füße in die Sandalen. Die Klettverschlüsse sind ihr allerdings zu anstrengend, und so bleiben die Riemen offen. Sie sitzt einen Moment da und sieht den Fliegen am Fenster zu: Ihre Welt ist ihnen fremd geworden, die freie und freigebige Luft, die sie mit ihren herrlichen Gerüchen nach Suppentöpfen, leeren Konservendosen und zartem Aas umfächelt hat, ist mit einemmal hart und undurchdringlich wie Stein – wie konnte das nur geschehen, welches Mysterium hat sich hier ereignet? Sie können es nicht wissen. Sie können nur fliegen, summen und sterben, das unerreichbare Paradies vor Augen. Wäre sie auf Guam, dann würde jetzt ein Gecko an der Wand hinaufkriechen und sich an ihnen gütlich tun, doch hier sind die Eidechsen weniger zutraulich. Aber das Essen ist eindeutig fertig, und sie steht auf und geht über die rissigen Dielenbretter hinüber in das große Zimmer, wo alle aufsehen und grinsen.
»Mensch, Alma«, ruft Frazier, und sein rotes Gesicht wird noch röter, »wir dachten schon, du hättest dahinten Drillinge gekriegt, dich einfach zusammengenommen und die Nabelschnur durchgebissen.« Er zwinkert den anderen zu, nimmt sein Glas von der rechten in die linke Hand, geht durch den Raum zu ihr, streicht über ihren dicken Bauch und verkündet: »Nein, Leute, sie sind noch dadrin. Und ich kann’s ihnen nicht verdenken – welches Baby, das noch alle beisammenhat, würde rauskommen wollen, wenn das erste, was es sieht, ein verdammter Haufen Trunkenbolde und Buschläufer ist?«
»Damit kannst ja wohl nur dich selbst meinen«, sagt jemand. Allgemeines Gelächter.
Annabelle kommt hereingeschwebt, schiebt Frazier freundlich beiseite und hält eine Flasche hoch, damit Alma sie in Augenschein nehmen kann. »Alkoholfreier Cidre. Vielleicht möchtest du ein Glas?«
»Ja, gern«, sagt sie. Ihre Stimme ist leise und zart, mit einem leisen Flattern, das auch sie selbst bemerkt. »Das heißt, wenn es noch ein sauberes Glas gibt.«
A. P. stößt demonstrativ einen unartikulierten Laut aus, wirft den Kopf in den Nacken und leert sein Glas in einem Zug. Dann wäscht er es in der Spüle aus, trocknet es umständlich mit der einzigen noch halb sauberen Ecke des Geschirrtuchs ab und reicht es ihr mit einer Verbeugung. Annabelle ist zur Stelle, schenkt aus der Cidreflasche ein und bringt einen Toast aus. »Auf Alma«, sagt sie. »Und das Baby!«
»Oder die Babys«, wirft Frazier ein.
»Du hast leicht reden« – Annabelle beugt sich vor und füllt ihr Glas aus der nächstbesten Flasche Pinot Grigio –, »du bist ja nicht derjenige, der dieses ganze Gewicht mit sich herumtragen muss.« Sie hält inne, sieht ihn nachdenklich an und tätschelt dann seinen Bauch. »Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege …«
»Ich schwöre, ich bin nicht schwanger.«
»Sechslinge!« ruft A. P. »Weniger wäre« – er schwankt, grinst, versucht, aus der Flasche zu trinken und gleichzeitig den Satz sinnvoll zu Ende zu bringen – »unerträglich. Oder untragbar. Oder … oder was auch immer.«
Der errechnete Termin ist in zweieinhalb Wochen. Alle wissen das, sogar Freeman Lorber, der sich alle Mühe gegeben hat, seine Autorität geltend zu machen, und, als ihre Schwangerschaft nicht mehr zu verbergen war, immer wieder betont hat, er stehe als Trauzeuge zur Verfügung, bis sie ihm klipp und klar gesagt hat, es werde keine Hochzeit geben, und das Ganze gehe ihn auch gar nichts an. Du musst dich nur darum kümmern, und hier hat sie ihre Stimme so hart werden lassen, dass Widerspruch unmöglich war, dass du während meines Mutterschaftsurlaubs eine Vertretung für mich hast – der wird allerdings nur eine Woche dauern, fünf Arbeitstage, du kannst dir diesen Gesichtsausdruck also gleich wieder abschminken. Sollte es irgendwelche Überraschungen geben – sollten die Wehen einsetzen, während sie noch auf der Insel ist –, bleibt noch genug Zeit, um zum Festland zu kommen, wenn nicht mit dem Boot, dann mit einem Hubschrauber. Aber das wird nicht geschehen, denn sie wird die letzte Woche zu Hause verbringen. Ihre Mutter wird dasein. Und Ed. Ed, der den Wagen volltanken und den Reifendruck prüfen und bereit sein wird, mit durchgetretenem Gaspedal zum Krankenhaus zu rasen.
Nach dem Essen nimmt sie ihren Stuhl und setzt sich hinaus, um zuzusehen, wie das Licht über dem Hügel hinter der Baracke vergeht. Ihr Buch liegt auf dem Bett, aber sie braucht kein Buch, nicht hier, nicht heute abend. Alles ist still, die Schwalben sitzen in ihren Nestern, die Grashüpfer, die den Füchsen so gut schmecken, kommen im hohen gelben Gras zur Ruhe, die Farben der Gebäude, der Wiesen und des Buschlands verblassen und verschmelzen genau so wie auf den Diebenkorn-Bildern im Hauptgebäude – und Diebenkorn war ja hier, er hat genau hier gewohnt, als Freund und Gast von Carey Stanton, zu der Zeit, als das alles noch nicht öffentliches oder vielmehr treuhänderisch für die Öffentlichkeit verwaltetes Eigentum war. Daran denkt sie: wie es sein muss, das sanft Geschwungene, Tröstliche dieser Szenerie mit Ölfarben oder auch mit Bleistift einzufangen, wie beinahe unmöglich das sein muss. Und sie denkt an ihre eigenen letzten Versuche an gegenständlicher Malerei, in der siebten oder achten Klasse, die dann eher wie abstrakter Expressionismus wirkten, als Allison, eine der Fuchswärterinnen, sich zu ihr gesellt.
Das Licht schwindet, Fledermäuse jagen im Zickzack über den Himmel, kühle Meeresluft kriecht den Pass hinauf. Allison setzt sich neben sie auf die Erde und lehnt sich an die rauh verputzte Wand. »Darf ich?« fragt sie und hält eine unangezündete Zigarette hoch.
»Ja. Ja, nur zu«, sagt sie, spürt aber unwillkürlich einen ganz leichten Ärger. Könnte sie nicht hinter dem Haus rauchen? Oder auf dem Hügel da? Oder auf einer der Bojen im Kanal? Irgendwo, nur nicht ausgerechnet hier?
»Ich meine, der Wind weht den Rauch von dir weg, glaube ich.« Das Aufflammen des Streichholzes, die gespitzten Lippen, der scharfe, beißende Geruch verglühender Pflanzenfasern, der jedoch sogleich verweht wird und am Haus entlang davonfliegt wie ein beschworener und mit einem Auftrag entsandter Geist.
Für einen Augenblick schweigen sie. Alma sieht über den weiten Vorplatz zum Kompostcontainer, der aufragt, als wäre er ebenfalls ein Gebäude. Allison beschäftigt sich mit ihrer Zigarette. Die Fledermäuse prallen von nichtvorhandenen Hindernissen ab, die Schatten werden eine Spur dunkler. Dann, nur um irgendwas zu sagen, um freundlich und liebenswürdig zu sein anstatt immer nur alt, schwanger und brummig, sagt Alma: »Das Abendessen war großartig. Ihr habt euch wirklich selbst übertroffen.«
»Hat’s dir geschmeckt?«
»Ich glaube, ich hab zuviel gegessen.«
»Ja, ich meine, als Marg und ich die Fische gesehen haben, die A. P. gefangen hat, dachten wir: panieren, fritieren und beiseite stellen, damit die Panade knusprig bleibt. Und der Rest war einfach. Gemüse aus dem Wok mit braunem Reis. Und Wein.« Sie lacht. »Wenn genug Wein drin ist, schmeckt alles prima.« Allison ist blond – Almas Mutter würde sagen: schmutzigblond –, sie hat ein schmales Gesicht, ist hübsch und nicht älter als die Studentin, die Dave LaJoy zum Sterben hergebracht hat.
»Jedenfalls wart ihr heute echt inspiriert«, sagt Alma. »Ihr solltet ein Restaurant eröffnen.«
Aber Allison antwortet nicht. Sie sieht in Richtung Kompostcontainer. »Was ist das?« flüstert sie. »Ein Fuchs? Nein, das kann doch kein Fuchs sein, oder?«
Die Füchse, die sich in der Gefangenschaft daran gewöhnt haben, gefüttert zu werden, lassen sich oft in der Umgebung der Ranch sehen, sogar bei hellem Tageslicht. Alma hat sechs verschiedene identifiziert, die jede Nacht den Kompostcontainer aufsuchen und sich über die Abfälle hermachen, zu denen heute abend geradezu unwiderstehliche Fischhäute, Innereien und Gräten gehören. Aber Allison – immerhin ist sie ja Fuchswärterin – hat recht, das sieht Alma sogar ohne Fernglas. Das ist kein Fuchs. Die Gestalt ist zu gedrungen, und sie bewegt sich falsch, zu ruckartig und nicht annähernd geschmeidig genug. »Skunk«, sagt Alma und erhebt sich im selben Moment von ihrem Stuhl, in dem auch Allison aufsteht. »Was sonst könnte es sein?«
Und hier wird es interessant. Die beiden gehen vorsichtig über den Vorplatz und die leichte Steigung hinauf, wo das Gras mit der Sense gemäht ist, so dass nur gelbe Stoppeln geblieben sind, zwischen denen hier und da eine Fenchelknolle wie eine geballte grüne Faust zu sehen ist. Der Boden ist uneben, und das schwindende Licht spielt ihren Augen Streiche. Beide versuchen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, wie in dem Kinderspiel »Rote Ampel, grüne Ampel«, sie halten die Arme an der Seite und verharren nach jedem Schritt. Der Container ist jetzt nur noch fünfzehn Meter entfernt. Sie kneifen die Augen zusammen, um in der herabsinkenden Dunkelheit etwas erkennen zu können, aber selbst im Dämmerlicht ist offensichtlich, dass dieses Wesen, das die Vorderpfoten bewegt wie eine Bäuerin, die sich nachts am Ufer eines Flusses über ihre Wäsche beugt, weder Fuchs noch Skunk ist. Zum einen ist es zu groß. Und die Bewegungen stimmen nicht. Das Fell. Wie es beim Fressen aufgerichtet auf den Hinterbeinen sitzt. Für einen Augenblick verwandelt sich Almas Verblüffung in Empörung. Sie sieht einen Hund, einen dreckigen, stinkenden, Krankheiten verbreitenden Hund, den irgendein Freizeitkapitän hier ausgesetzt hat, ohne einen Gedanken an die Folgen zu verschwenden, an das mögliche Wüten von Staupe und Parvoviren unter der Fuchspopulation, doch dann erkennt sie, dass dieses Tier keineswegs ein Hund ist. Es ist erstaunlich, es ist verwirrend, aber es scheint sich um etwas ganz anderes zu handeln. Um ein Wesen mit einer Maske, mit beweglichen Fingern und einem langen, buschigen, gestreiften Schwanz.