SUS SCROFA

Aus Träumen voller Erschöpfung – ihr Traum-Ich ist so erledigt, dass es gar nicht mehr denken kann, die Beine sind wie aus Stein, die Arme bleischwer, die Hände so schwach, dass es kaum die Decke zurückschlagen und ins Bett kriechen kann – erwacht Alma im ersten zaghaften Schimmern des Morgenlichts. Es liegt bebend auf der Zimmerdecke über ihr, noch nicht ganz bereit, sich zu verdichten, und die Bäume vor dem offenen Fenster sind noch dunkel, hager und steifbeinig. Vom Meer ertönt das sanfte, unaufhörliche Rauschen der Brandung, das nicht zu unterscheiden ist vom Rauschen der Schnellstraße jenseits der Schlafzimmerwand und nur vom fernen, einsamen Schrei eines über den Wellen schwebenden Vogels unterbrochen wird. Sie liegt da und findet sich langsam zurecht, begleitet von einem beharrlichen Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist, bis sie sich ganz allmählich des starken, durchdringenden Aromas bewusst wird, das sich durch den Flur ausgebreitet hat und nun die Treppe hinauf und durch die Ritze unter der Tür kriecht, um sie zurück in ihre Kindheit zu zerren: Speck brät in der Pfanne und gibt seine Salze und Nitrate und die schwere Last tierischen Fetts frei.
Sie braucht einen Augenblick, um zu begreifen: Dies ist ihre Kindheit. So unwahrscheinlich es auch sein mag, zumal in einem vegetarischen Haushalt, macht sich um – sie blinzelt in Richtung Digitalwecker – halb sieben Uhr morgens in der Küche eine mütterliche Gestalt zu schaffen, prüft Töpfe und Pfannen, schaltet die Kaffeemaschine und den Toaster ein und legt dünne Streifen gepökelten Schweinefleischs kreuzweise übereinander in die Edelstahlpfanne, ohne Deckel. Überall werden Fettspritzer sein, auf dem Herd, dem Boden, der Teekanne, und der Geruch nach versengtem Fleisch wird wie Zigarettenrauch in einem Nichtraucherhaus in die Ecken, die Teppiche und Vorhänge ziehen und wochen-, ja vielleicht monatelang nicht verschwinden. Sie hat noch nicht mal die Decke zurückgeworfen und sich aufgesetzt, da ist sie schon beunruhigt – oder nein, nicht beunruhigt, denn es ist ihre Mutter, die mit ihrem Stiefvater gestern abend zur Essenszeit unangekündigt gekommen ist, aber immerhin aus dem Rhythmus gebracht. Sie ist verärgert. Genervt. Aber was soll’s? Tatsache ist: Tim ist auf der Insel, ihre Mutter ist in der Küche, und sie selbst hat um Viertel vor acht ein Frühstücksmeeting.
Katherine »Kat« Boyd – den Namen Takesue hat sie nach dem Tod ihres Mannes abgelegt, und bei der zweiten Eheschließung hat sie ihren Mädchennamen behalten, denn das ist es, was sie immer war, das ist der Name, mit dem sie sich wohl fühlt – ist neunundfünfzig, klein, stämmig und leidet an einsetzender Diabetes und einer schleichenden Sucht nach Wodka und Diät-Tonic. Sie trägt das pfirsichfarbene Haar in einem Pagenschnitt, der sie jünger wirken lässt, als sie ist – jedenfalls hält man sie gewöhnlich für fünfzig oder fünfundfünfzig –, und sie trägt am liebsten Jeans und T-Shirt, die Uniform ihrer Generation. Zweiundzwanzig Jahre lang hat sie die dritte Klasse der Cœur-D’Alene-Grundschule in Venice unterrichtet, bevor sie sich in Scottsdale zur Ruhe gesetzt hat. Sie hat eine Antipathie gegen das Meer, eine Angst und Abneigung, die an Hass grenzt, und findet, dass sie genug Nebel für den Rest ihres Lebens gesehen hat. Im Augenblick hat sie so viel aufgestaute Energie, dass sie nicht weiß, wohin damit, also kocht sie. Alma wird den Speck nicht anrühren. Seit sie in der siebten Klasse Vegetarierin geworden ist, unter dem Einfluss ihrer besten Freundin, die aus Indien stammte, deren Eltern Ärzte waren und die bis zum Ende der Junior High School darauf bestand, das rote Kastenzeichen auf der Stirn zu tragen, hat sie kein Fleisch mehr gegessen. Aber Ed wird sich über den Speck hermachen. Und vielleicht wird Kat auch etwas davon essen.
Sie ist sich dessen nicht voll bewusst, aber in gewisser Weise steckt sie hier ihr Territorium ab, denn warum sollte sie sich in der Küche ihrer eigenen Tochter wie eine Fremde fühlen? Sie hat die Becher so an die Haken unter dem Oberschrank gehängt, dass die Öffnung nicht zur Wand, sondern zum Raum zeigt, sie hat das Geschirr in die Spülmaschine geräumt und den gekachelten Boden gewischt, erst einmal und dann noch einmal, um die Streifen zu beseitigen, und schließlich hat sie einen Radiosender eingestellt, bei dem sie mitsummen kann. Jetzt gerade singt Cat Stevens, der Verteidiger des Islams, »Peace Train«, und davor waren die Carpenters dran und davor die Gruppe, die »Up Up and Away in My Beautiful Balloon« gemacht hat. Die Speckstreifen brutzeln – ein erfreuliches Geräusch. Sie sticht mit einer Gabel hinein und legt einen nach dem anderen auf ein Stück Küchenpapier. Dann verringert sie die Hitze und gibt Tomaten, Paprika und Zwiebeln für huevos rancheros in die Pfanne. Später, wenn die Eier stocken, wird sie noch eine großzügige Dosis Tabascosauce darüber spritzen. Und wenn Alma zur Arbeit gegangen ist und Ed mit seinen Eiern und Speck und der morgendlichen Bloody Mary vor dem Fernseher sitzt, wird sie den Ofen vorheizen und Eigelb und Eiweiß für den Kuchenteig trennen.
Oben im Badezimmer schlüpft Alma aus dem Morgenmantel und geht unter die Dusche. Für kurze Zeit steigt Dampf auf, aber das Duschwasser ist nie warm genug, irgendwas ist mit dem Durchlauferhitzer, und jetzt ist das Wasser auf einmal ganz kalt. Sie fährt zurück, weicht dem eiskalten Guss aus, der Schock durchzuckt sie wie ein Stromschlag. Sofort bekommt sie eine Gänsehaut. Ihr Ellbogen rammt schmerzhaft den Aluminiumgriff der Kabinentür, und sie stößt einen kurzen, widerhallenden Fluch aus. Wahrscheinlich lässt ihre Mutter das warme Wasser laufen, füllt die Teekanne oder hat womöglich die Geschirrspülmaschine eingeschaltet, was bedeuten würde, dass der ganze Rest der Dusche eine Übung in Masochismus wäre; ihre Füße auf den Kacheln sind kalt, und kaltes Wasser spritzt an die Knöchel Sie ist kurz davor, mit der Faust an die Wand zu schlagen und loszubrüllen, als plötzlich wieder warmes Wasser kommt; sie hält den Kopf unter den Strahl und macht eine schnelle Pirouette, um die Wärme zu verteilen. Obwohl ihr unter der Dusche die besten Gedanken kommen – das muss irgendwas mit der beruhigenden Wirkung rinnenden Wassers und dem Öffnen der Poren zu tun haben –, beschränkt sie sich strikt auf fünf Minuten, gemessen mit der Taucheruhr, die Tim ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Das reicht kaum, um das Haar zu waschen, auszuspülen, den Conditioner aufzutragen, wieder auszuspülen, den Detangler aufzusprühen und anschließend durchzukämmen – besonders, wenn das Wasser fünfzehn Sekunden lang eiskalt ist –, aber sie ist entschlossen, kein Wasser zu verschwenden, nicht während der anhaltenden, ewigen Dürre, erzeugt durch Abholzung, globale Erwärmung und einen Bedarf, der täglich exponentiell steigt, denn die Bauunternehmer wollen Profite machen und stampfen eine Wohnsiedlung nach der anderen aus dem Boden. Schuld – das ist es, was Almas Ressourcenverbrauch definiert. Schuld, weil sie lebt, weil sie Dinge braucht, Dinge verbraucht, weil sie den Wasserhahn aufdreht oder die Flamme des Gasbrenners entzündet.
Der Minutenzeiger kriecht, die Sekunden ticken dahin, und sie spült ihr Haar zum zweitenmal aus und dreht neun Sekunden vor der Zeit beide Hähne zu. Zitternd trocknet sie sich rasch ab, bevor sie mit Tims Elektrorasierer über ihre Beine fährt und ein trockenes Handtuch um den Kopf wickelt. Trotz des Dampfs und des hartnäckigen Geruchs der diversen Duftstoffe, die die Hersteller irgendwie in ihre angeblich geruchsneutralen Kosmetikprodukte schmuggeln, riecht sie die ganze Zeit verbranntes Fleisch. Womit behandeln die den Speck eigentlich? Mit Salz und Karzinogenen, womit sonst? Durch die beschlagene Badezimmertür kann sie hören, dass ihre Mutter in der Küche die leichte Unterhaltungsmusik aus dem Radio mitsingt.
Gestern abend, gerade als sie sich zum Essen setzen und den Film ansehen wollte, den sie auf dem Heimweg von der Arbeit in der Videothek ausgeliehen hatte (einfache Kost: brauner Reis und Wokgemüse, dazu Madame Bovary, in der ersten Verfilmung von Jean Renoir), läutete es. Sie drückte die Stopptaste, als die vollbusige Emma mit den gestrafften Schultern, dem Kussmündchen und den messerdünnen Augenbrauen der dreißiger Jahre auf einem bukolischen Bauernhof mit muhenden Kühen und saugenden Ferkeln zum erstenmal dem Landarzt gegenübertrat, und dachte, es sei vielleicht irgendein Vertreter, doch vor der Tür standen ihre Mutter und ihr hagerer Stiefvater, der Alkoholiker, mit Einkaufstüten in den Händen. Ihre Mutter bestand darauf zu kochen – »Wir haben einen Riesenhunger, und du weißt ja, wie ich diese Raststätten hasse« –, und zehn Minuten später standen sie alle drei in der winzigen Küche, sie selbst mit Sake on the rocks und ihre Mutter und Ed mit großen Gläsern voller Wodka, versehen mit einem Schuss Diät-Tonic und einem papierdünnen Streifen Zitronenschale, und ihre Mutter rührte rasch eine Tomatensauce zusammen. »Natürlich vegetarisch, Schätzchen, mit Auberginen, Paprika und Pilzen und ein bisschen Putenwurst für deinen Vater. Ed, meine ich.«
Erst als sie an dem kleinen Arbeits- und Esstisch in der Küche saßen und die Drinks zum zweitenmal nachgeschenkt worden waren, als Reis und Wokgemüse zum späteren Verbrauch in einer Tupperwaredose ganz hinten im Kühlschrank verstaut waren und die Nudeln auf den Tellern dampften, fragte ihre Mutter, wo Tim eigentlich sei. »Macht er Überstunden oder so?« Sie beugte sich über ihre Spaghetti und schwenkte ihr Glas, so dass die Eiswürfel leise klirrten. »Alles in Ordnung zwischen euch?«
»Ja«, sagte Alma und hatte dabei das Gefühl, der Wahrheit oder jedenfalls ihrem Kern auszuweichen, obwohl das überhaupt nicht der Fall war und sie und Tim sich so nahe waren wie noch nie zuvor. »Prima. Er ist diese Woche auf der Insel.«
Ihr Stiefvater – er hatte weiße Haare und ein Hüftleiden und war sechs Jahre älter als ihre Mutter, sah aber so aus, als wäre der Altersunterschied zwischen ihnen doppelt so groß – wickelte ein paar Spaghetti um seine Gabel, legte diese dann hin und sagte: »Wie läuft’s denn dort so? Gut?«
Sie war sich bewusst, dass der Blick ihrer Mutter auf sie gerichtet war, und antwortete automatisch: »Ja, gut, sehr gut.«
»Hast du den Artikel gekriegt, den ich dir geschickt hab? Aus der Sun?« Ihre Mutter beugte sich vertraulich vor. Sie hatte ihr Essen noch nicht angerührt – das war ihr Muster: reden, trinken, noch ein bisschen mehr reden und das Essen kalt werden lassen. Die Wurst, die sie an die innere Rundung des Tellers gelegt hatte, war säuberlich in sechs oder sieben Stücke geschnitten, doch keins davon war in ihren Mund gewandert.
Mit einemmal war ihr Kopf leer. Artikel? Was für ein Artikel?
»Den über die Proteste? Auf dem Foto war euer Gebäude zu sehen, auch das Fenster von deinem Büro im ersten Stock, und im Vordergrund waren na ja, Demonstranten eben, mit Schildern und so.« Ihre Mutter sah kurz zu Ed und dann wieder zu ihr. »Dein Name wurde drei- oder viermal erwähnt. War es viermal, Ed?«
Ed nickte unbestimmt. Er war mit den Gedanken ganz woanders, und seine Frage Wie läuft’s denn dort so? war nichts als der Versuch gewesen, höflich zu sein. Er hatte an der Schule ihrer Mutter Sport unterrichtet, und die beiden hatten erst geheiratet, als Alma bereits Doktorandin gewesen war. Er kannte sie kaum, und Tim kannte er noch weniger – die beiden waren einander ein- oder zweimal begegnet, als Ed in Gesellschaft ihrer Mutter eine seiner seltenen Reisen an die Küste gemacht hatte. Er mochte Sport. Redete gern über diese oder jene Mannschaft und zitierte Sportstatistiken. Von Vogelpopulationen, Ökologie, der Zerstörung der Inseln und den Inseln selbst wusste er so gut wie nichts, und das wenige, was er wusste, war unbestimmt und berührte ihn ebensowenig wie die Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien oder bei den Dayaks in Borneo. Sie warf ihm das nicht vor. Er war wie alle, er lebte in der Welt der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Fernsehens und des Vergessens.
Der Ton ihrer Mutter war vorwurfsvoll. »Ich hab deinen Namen mit dem Stift eingekreist. In Blau. Mit dem blauen Stift, den ich immer für die Kreuzworträtsel nehme, das weiß ich noch genau. Und sag nicht, ich hätte ihn nicht abgeschickt – so vertrottelt bin ich noch nicht.«
»Nein, du hast ihn abgeschickt, Mom, vielen Dank. Er liegt irgendwo herum, wahrscheinlich im Büro – ich versuche, für jedes Projekt eine Akte anzulegen mit Reaktionen der Öffentlichkeit und so weiter, damit man später darauf zurückgreifen kann. Nicht dass sich irgend jemand wirklich dafür interessieren würde.«
In diesem Moment überkam sie ein vertrautes Gefühl der Angst, das Gefühl, dass die Dinge außer Kontrolle geraten waren und dass es eine bestimmte Aufgabe gab, die abgeschlossen werden musste, damit alles wieder in Ordnung war, nur dass sie nicht genau sagen konnte, nicht mehr genau wusste, worin diese Aufgabe eigentlich bestand. Tatsache war, dass AP die Story über die Proteste vor dem Gebäude des National Park Service aufgegriffen und jede Tierschutzgruppe im Land sich begierig darauf gestürzt hatte. Dave LaJoy – sein Freispruch lag inzwischen zwei Jahre zurück, und noch immer trug er den Triumph vor sich her wie eine Brust voller Orden – führte die Demonstration aus dreißig oder vierzig Teilnehmern an; es waren hauptsächlich Studenten vom City College und der UCSB, die in einem großen Kreis marschierten und Parolen skandierten. Seit einem Monat ging das nun schon so, und sie parkte ihren Wagen inzwischen am anderen Ende des Hafens, wo die Restaurants und Souvenirläden waren, um dem Geschrei zu entgehen, das sie veranstalteten, wenn sie in Tims Prius auf den Parkplatz vor dem Büro fuhr.
Morgen, zum Frühstück, würde sie sich in einem dieser Restaurants – dem Docksider – mit Frazier Carter von den Island Healers, Annabelle Yuell, die bei Nature Conservancy die Öffentlichkeitsarbeit machte, und Freeman treffen, und zwar um den Demonstranten aus dem Weg zu gehen und ungestört die Fortführung von Phase III des Wildschweinprojekts diskutieren zu können. Bei Omeletts. Und Caffè Latte. Und sehr süßem thailändischem Gewürztee. Mit einem Blick, der über die Masten der Boote hinausging, dorthin, wo der Ozean sich weitete und die Wellen dahinrollten bis nach Santa Cruz, wo Tim keine Alken beringte oder Nestlinge zählte, sondern Adler fing, Steinadler, die zurück aufs Festland gebracht werden sollten.
Ihre Mutter sagte etwas, und es war, als wäre sie gerade erst aufgewacht. »Tut mir leid, Mom. Danke. Das meine ich wirklich. Danke, dass du an mich denkst. Es ist nur so, dass diese ganze Sache, dieses Projekt kompliziert ist. Und ich habe nicht ich weiß, ich sollte öfter anrufen, aber –«
Ihre Mutter senkte den Blick und die Gabel auf den Teller. Sie wickelte die langen Nudeln mit Hilfe eines Suppenlöffels ordentlich um die Zinken und legte die Gabel wieder ab. »Das meine ich nicht«, sagte sie. »Ich will nur, dass du weißt, dass ich an dich denke.« Sie sah Ed an. »Wir haben jede Menge zu tun, musst du wissen – als wir noch unterrichtet haben, war unser Leben in mancherlei Hinsicht weniger hektisch als jetzt. Komitees, Bridge-Partien, Partys. Und Golf. Habe ich dir erzählt, dass Ed mir Golf beibringt?«
»Ja«, sagte Ed und erwachte zum erstenmal, seit sie sich gesetzt hatten, zum Leben, »nicht mehr lange, und sie kann beim PGA-Turnier der Frauen mitmachen. Deine Mutter ist ein echtes Naturtalent, wusstest du das?«
Ihre Mutter lächelte, ihre Augen blickten warm, sie hatte Grübchen. Der Wodka in ihrem Glas schimmerte silbrig, wie ein geläutertes seltenes Metall. Sie sah ihren Mann mit einem langen, schmachtenden Blick an – die beiden waren sich einig.
»Nein«, sagte Alma und schüttelte mit übertriebener Geste den Kopf. Sie lächelte jetzt ebenfalls, die Last war von ihr genommen oder wenigstens leichter geworden, wenigstens für den Augenblick. »Ich hatte keine Ahnung.«
Jetzt, im Badezimmer, wischt sie den beschlagenen Spiegel ab, um ihr Make-up aufzulegen, und die Stimme ihrer Mutter – eine angenehme, bebende Altstimme, trainiert in all den Jahren, in denen sie mit ihren Drittklässlern »Lean On Me«, »The Man in the Mirror« und »The Lion Sleeps Tonight« gesungen hat – ist eigenartig beruhigend. Sie ertappt sich dabei, dass sie beim Anziehen mitsummt. Wie alle Meetings, die sie arrangiert, ist auch dieses informell, und so zieht sie nichts anderes an als sonst: eine lohfarbene Vliesweste von Patagonia über einem Micah-Stroud-T-Shirt, rehbraune Kordshorts und Wanderstiefel aus Veloursleder. Es ist Ende Oktober, die Sonne ist aufgegangen, es gibt keinen Nebel, aber am Meer ist es immer kühl, und darum trägt sie die Weste (oder vielmehr die Westen, denn sie hat drei davon, in Braun, Dunkelrot und Rostrot) jahrein, jahraus – mit einem T-Shirt im Sommer und einem langärmligen Hemd oder Pullover im Winter. Diese Westen sind äußerst praktisch. Obwohl sie weder heute noch an irgendeinem anderen Tag der Woche zur Insel hinausfahren wird, könnte sie jederzeit aufbrechen, denn die diversen Taschen sind ideal für Sunblocker, Lippenbalsam, Leatherman, Kompass, Landkarten, Wasserflasche und dergleichen. Schließlich wickelt sie das Handtuch vom Kopf, kämmt das Haar und geht hinunter, wo es nach Speck riecht, wo Ed und ihre Mutter sind und die Küche ein einziges Durcheinander ist.
Ihre Mutter, erstaunlich munter angesichts der Wodkamengen, die sie gestern abend in sich hineingeschüttet hat, trällert ein fröhliches: »Guten Morgen, Schatz! Kaffee?« Sie schwenkt einladend die Glaskanne.
»Ja, okay«, hört Alma sich sagen. »Aber ich muss ihn mitnehmen, bin sowieso schon spät dran, also tu ihn « Sie greift nach ihrem Becher, dem mit dem zähnefletschenden Wildschwein, den Freeman ihr im Scherz geschenkt hat, aber er ist nicht da. Ihre Mutter hat aus unerfindlichen Gründen alles umgeräumt, nicht nur die Becher, sondern auch den Toaster, die Kaffeemaschine, die Mikrowelle und das Radio. Der Abfalleimer ist verschwunden. Die Fotos auf dem Kühlschrank sind willkürlich umarrangiert. Und wo ist der Kalender?
Aber da ist der Kaffee, ihre Mutter schenkt ihn ein und fragt sie, ob sie nicht Zeit hat, wenigstens einen Happen zu essen, und sie sagt: »Nein, Mom, ich muss los«, gerade als Ed – auch er munter und noch immer athletisch gebaut, trotz der Hüfte – mit seiner morgendlichen Bloody Mary hereinkommt und sich an den Tisch setzt, wo ihn ein Teller mit gebratenem Speck und Rührei à la mexicaine erwartet. »Morgen«, sagt er.
»Morgen, Ed.« Sie versucht ein Lächeln, er ebenfalls.
Hat sie alles? Sie stellt den Becher hin, klopft ihre Taschen ab, geht ins Wohnzimmer, um Laptop, Sonnenbrille und Ringbuch zu holen, und ergreift dann unter einem Schwall von Entschuldigungen die Flucht. »Ich wollte, ich könnte bleiben und den Vormittag mit euch verbringen«, sagt sie, als sie durch die Tür geht, »aber wir sehen uns ja heute abend. Und denk dran, Mom: Du brauchst nicht zu kochen – ich will euch doch in dieses Fischrestaurant einladen, okay?«
Sie ist angeschnallt, Laptop und Ringbuch liegen auf dem Beifahrersitz, der Becher steht im Halter, der Wagen summt leise. Dann verlässt sie die Einfahrt, um sich in den Verkehr einzufädeln, der sich von der Schnellstraße herabwindet und sich bereits am Stoppschild am Ende des Blocks staut. Um nach Süden zu kommen, muss sie an der Kreuzung links abbiegen, zwischen einem Einerlei aus Wohnblocks hindurch zwei Blocks nach Norden, dann abermals nach links über die Brücke und schließlich nach rechts im großen Bogen auf die Schnellstraße in Richtung Süden fahren. Als sie vor einem gelben, zu schnellen Cabrio aus der Einfahrt auf die Straße einbiegt, jagt etwas vor ihr über die Fahrbahn, ein verschwommener Schatten, und sie tritt auf die Bremse – ein wütendes Hupen des Cabriofahrers – und spürt den dumpfen Schlag von etwas Sterblichem unter dem linken Hinterrad. Im nächsten Augenblick hält sie mit klopfendem Herzen am rechten Fahrbahnrand, das Cabrio saust vorbei, und sie späht ängstlich in den Rückspiegel, um zu sehen, was sie da überfahren hat, das Tier, das Lebewesen – ein Eichhörnchen, ist es ein Eichhörnchen? –, das sich am Straßenrand windet.
Drei, vier andere Wagen fahren vorbei, als sie mit fliegenden Händen die Warnblinkanlage einschaltet und aussteigt. Gegenüber steht, ganz ungewöhnlich in dieser Gegend voller Wohnblocks, eine weiße Villa im Kolonialstil mit dunklen Türen und Fensterläden, einem großzügig bemessenen Garten und einer Reihe von Bäumen, die es von der Schnellstraße weiter unten abschirmen. Eichen, denkt sie, dahinten müssen ein paar Eichen stehen, oder warum sonst ein Eichhörnchen? Die sind hier eher selten, denn die einheimische Vegetation ist durch Ziersträucher und Zitrusbäume verdrängt und die ökologische Nische der Baumnager von Dachratten besetzt worden, die sich von den Avocados, Orangen und Loquats ernähren, die die Baufirmen haben pflanzen lassen. Aber – sie geht darauf zu, sie sieht seine Augen, dunkelbraun und weit aufgerissen – es ist eindeutig ein Eichhörnchen, ein Westliches Graues Eichhörnchen, Sciurus grisens, zur falschen Zeit am falschen Ort.
Das Gewicht des Wagens hat Hinterbeine und Schwanz zerquetscht und als klebrige Masse aus Fell, Knorpel, Knochen und Blut auf den Asphalt gedrückt. Hals und Kopf sind gereckt, und die Vorderbeine, die winzigen Pfoten mit den wie Bleistiftspitzen schimmernden Krallen kratzen wie wild am harten Teer. Sie versucht, sich zu distanzieren: Sie wird zu spät zu einem Meeting kommen, bei dem es um das Schicksal zahlreicher Spezies in einem geschlossenen Ökosystem geht, während dieses Tier, dieses unglückselige Tier vor ihr, in seinem Lebensraum weit verbreitet ist. Aber als sie vor ihm steht und es sie aus bebenden, glänzenden, unergründlichen Augen anstarrt und sie die feinen grauen Haare mit den schwarzen Spitzen und die makellos cremeweiße Rundung der Brust sieht, wallen Gefühle in ihr auf. Dieses vollkommene Lebewesen, und sie hat es getötet. Oder verkrüppelt. So verkrüppelt, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Aber was soll sie jetzt tun? Es mit der Schuhspitze in den Rinnstein schieben? Es in etwas einwickeln – eine Zeitung, die alte Shorts, die im Kofferraum liegt, weil Tim sie immer unter dem Neoprenanzug trägt – und es zum Tierarzt bringen? Zur Tierklinik? Oder soll sie es einfach von seinem Leiden erlösen?
Die Entscheidung wird ihr abgenommen, denn in diesem Moment kommt ein Junge, den sie ein paarmal gesehen hat – zwölf, dreizehn Jahre alt, er wohnt in einer der teuren Wohnanlagen gegenüber dem Hotel, mit Blick aufs Meer –, auf seinem Skateboard angeschossen und stößt einen leisen Pfiff aus. »O Mann«, sagt er und sieht von ihr zu dem sich windenden Eichhörnchen, »krass. Haben Sie das überfahren?«
»Ja«, sagt sie. Warum ist ihre Stimme ein Flüstern? Warum ist sie mit einemmal kurz davor, in Tränen auszubrechen?
Bevor sie noch irgend etwas sagen oder denken kann, ergreift der Junge die Initiative, tritt einen Schritt vor und stampft mit dem Absatz auf den Kopf des Tiers, so dass die rosige, graue Gehirnmasse hervorquillt und aussieht wie Spaghetti.
Sie hat sich für das Docksider entschieden, weil es nah am Büro liegt und weil der Blick unschlagbar und die Qualität gehoben ist. Frazier stammt aus Neuseeland, wo die invasiven Spezies die einheimischen zu verdrängen drohen, und hat dort Island Healers gegründet. Er ist ein Mann, der stolz darauf ist, mit allem zurechtzukommen, mit jedem Terrain, jeder Tierart. Ihm wäre irgendein Café ohne einen Hauch von Ambitionen sicher lieber gewesen, aber sie findet, eine etwas gehobenere Atmosphäre kann nicht schaden. Außerdem hat sie festgestellt, dass er sich zwar gern rauh gibt, so rauh wie das Fell, in das sich der Buschmann zum Schutz gegen die nächtliche Kälte hüllt, jedoch gegen guten Wein, Nouvelle cuisine und einen Schwenker mit Armagnac ebensowenig einzuwenden hat wie sonst irgend jemand, den sie in den Konferenzräumen von Sacramento oder Washington, D.C., kennengelernt hat. Und was Freeman und Annabelle betrifft, so werden sie sich einfach freuen, mal aus dem Büro herauszukommen und anstelle eines zerkratzten Tischs mit einer Kanne Kaffee und einem Korb altbackener Bagels ein Tischtuch vor sich zu haben.
Natürlich ist anfangs alles ein bisschen aus dem Lot, denn als sie schließlich einen Parkplatz gefunden hat und über die Außentreppe zum Restaurant hinaufgestiegen ist, hat sie dreizehn Minuten Verspätung, und man wartet auf sie. Alle sind schon beim zweiten oder dritten Kaffee und reden ununterbrochen. Sie geht, Laptop und Ringbuch unter den Arm geklemmt, so eilig durch den Raum, dass ihr Haar wie ein Fallschirm hinter ihr her weht, sieht ihre erwartungsvollen Gesichter und erwägt, ihnen die Verspätung zu erklären, ihnen von dem Zwischenfall mit dem Eichhörnchen zu erzählen, von dem Stau auf der Schnellstraße und den Ampeln, die jedesmal direkt vor ihr auf Rot geschaltet haben, als hätte irgendein bösartiger Bürokrat in der Verkehrsleitzentrale ihren Prius auf den Bildschirmen verfolgt, aber Erklärungen sind was für Kinder wie diesen Jungen mit dem Skateboard und dem verschmierten Schuh, der seiner Mutter die Blutspur auf dem Teppich wird erklären müssen, und so setzt sie sich einfach neben Annabelle und flüstert: »Tut mir leid.«
Aber alle sind entspannt, alle ziehen am selben Strang, alle arbeiten auf dasselbe Ziel hin, ohne Animosität, Zickigkeit oder Futterneid. Was macht es schon, dass Annabelles Arbeitgeber neunmal soviel Land verwaltet wie der National Park Service? Was macht es schon, dass die Hauptranch, das Juwel der Insel, mitten auf dem Land liegt, das Nature Conservancy gehört, und dass Alma Gott weiß was dafür geben würde, sich ein Büro in dem alten Stanton-Haus einrichten zu dürfen, sich aber mit der Scorpion Ranch zufriedengeben muss? Was macht es schon, dass Carey Stanton, den die Funktionäre des National Park Service vor zwanzig Jahren so intensiv bearbeitet haben, seinen Besitz nicht Freeman und dem Volk der Vereinigten Staaten, sondern lieber Nature Conservancy vermacht hat? Was macht es schon, dass Annabelle so sehr darauf gedrungen hat, nicht Island Healers, sondern eine Firma aus Wet Bone, Idaho, zu beauftragen, dass Freeman zweimal hinausgestürmt ist? Was macht das alles schon? Sie alle sind an dieser Sache beteiligt, sie sind Freunde – alte Freunde inzwischen –, und sie sind an einem Ort zusammengekommen, der so gestaltet ist, dass man sich dort wohl fühlt, um gemeinsam zu frühstücken und zu hören, was die anderen über den Fortgang des Projekts von den Phasen I und II zum Höhepunkt, zur Phase III, zu berichten haben: über den massiven Einsatz der Jäger, ganz zu schweigen von dem ihrer Hunde, Geländefahrzeuge, Hubschrauber und ihrer bleifreien Munition, der nun schon in den vierten Monat geht.
Freeman achtet auf seine Figur. Er bestellt sich Grapefruit, Hüttenkäse und Kaffee. »Schwarz, ohne Milch.« Er hat, soweit sie feststellen kann, kein Übergewicht, aber er ist einer jener Männer, die einfach überall groß sind, breit in den Schultern, Armen, Handgelenken, Fingern bis hin zu den Fingernägeln. Sein Kopf ist massig, sein Nacken so dick wie einer der Pfosten unter der Pier. Das einzige, was nicht dazu passt, sind die Füße, die viel zu klein sind, so dass er immer über ihnen zu schweben scheint, als wäre er vollgepumpt mit Helium.
Frazier – sechsundvierzig und ebenfalls nicht klein – trägt Khakishorts und ein dazu passendes kurzärmliges Buschhemd mit vielen Taschen, sein silbrigmeliertes Haar ist militärisch kurzgeschnitten, und er streckt die Beine lässig aus. Er bestellt das Captain’s Breakfast: mit Krabbenfleisch gefüllte Crêpes, frischer Obstsalat, Eier Benedict und in Butter gebratener Sauerteigtoast, dazu Pommes frites und hausgemachter Coleslaw. Er löffelt Zucker in seinen Kaffee und gießt Kondensmilch hinein, bis der Becher randvoll ist. Dann lächelt er in die Runde. »Harte Arbeit, diese Schweine durch die Canyons zu jagen«, sagt er. »Da verheizt man ganz schön Kalorien. Ganz zu schweigen von dem einen oder anderen Bier und vielleicht einem kleinen Schluck aus der Flasche, nach Feierabend, versteht sich.«
»Kleinen Schluck?« wiederholt Alma und grinst ihn an, während die Kellnerin auf die Bestellung wartet – ist ja nicht böse gemeint. Ein »kleiner Schluck« ist bei Frazier ein Viertelliter, also die Menge, die in seinen gravierten Silberflachmann passt. Sie hat ihn immer wieder einen tüchtigen Schluck daraus nehmen sehen, als sie gemeinsam die Zäune kontrolliert und nach Anzeichen von Schweinen gesucht haben, und als sie in Christy Beach am anderen Ende der Insel vor dem Ranchhaus am Picknicktisch saßen, hat er ganz allein ein Sixpack getrunken, und nie, auch nicht für eine Sekunde, hat sie dabei eine Veränderung an ihm festgestellt. Ein Viertelliter mexikanischer Brandy und ein Sixpack Bier in einem verschwitzten Körper, und keine unbeholfenen Bewegungen, kein Lallen, nur ein beständiger Strom von Kiwi-Englisch über Gott und die Welt. Sie sieht die Kellnerin an und nickt Annabelle zu, um zu hören, wofür die sich entschieden hat. Sie selbst hätte am liebsten Erdbeer-Crêpes mit Crème fraîche.
Annabelle ist genauso alt wie Alma, weißblond, mit durchsichtigen Augenbrauen und unsichtbaren Wimpern, und heute fürs Büro gekleidet, denn sie trägt einen Hosenanzug aus blauer Seide und dazu passende Pumps in einem Farbton, der geradezu unheimlich genau dem ihrer Augen entspricht. Wie viele Geschäfte hat sie abgeklappert, um dieses Ensemble zu finden? fragt sich Alma und stellt sich ganze Regimenter zur Beratung aufmarschierter Verkäuferinnen vor, vielfältiges Licht unterschiedlicher Wellenlänge, das auf das schimmernde Material und die prüfend blickenden Augen fällt. Woher hat sie so viel Zeit? Ganz zu schweigen vom Geld? Wie Alma ist sie unverheiratet, im Gegensatz zu Alma allerdings zur Zeit Single, und eine Tätigkeit für eine gemeinnützige Umweltschutzorganisation ist nichts, womit man reich wird. Sie muss einen Riecher für Schnäppchen haben. Entweder das, oder ihre Familie hat Geld. Sie schiebt die Speisekarte mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk beiseite und hebt den Blick zur Kellnerin. »Ich glaube, ich nehme das Omelett mit Spinat und Schafskäse und dazu einen Salat, den Endiviensalat. Der ist doch mit Balsamico-Dressing, oder? Keine Crème fraîche?«
Die Kellnerin – ganze neunzehn oder zwanzig, mit einem Pferdeschwanz bis zur Taille und einem so kurzen Rock, als käme sie gerade vom Morgentraining der Cheerleaders – bestätigt das und wendet sich an Alma. »Haben Sie schon etwas gewählt, Ma’am?«
»Ja«, sagt sie, gibt ihr die Speisekarte zurück und wirft einen raschen Blick in die Runde, »für mich nur die Bio-Haferflocken. Mit fettarmer Milch.«
In Phase I des Projekts – Administration, Infrastruktur und Beschaffung – ging es darum, bei den Bossen in Washington und, in Annabelles Fall, bei Nature Conservancy die nötigen Mittel lockerzumachen, Mitarbeiter zur Begleitung des Projekts einzustellen, Ausrüstung und Vorräte anzuschaffen und Angebote von Zaunbauern und professionellen Jägern einzuholen. Nicht zu vergessen den Umgang mit der empörten Presse (7 Millionen Dollar für ausländische Jäger – Abschlachten der Schweine auf Santa Cruz wird teuer, lautete eine Überschrift im Press Citizen) und das fortgesetzte Störfeuer von Dave LaJoy und Anise Reed, sowohl vor Gericht als auch auf dem Parkplatz vor ihrem Büro in Ventura. Phase II, die Unterteilung der Insel in fünf Zonen und die Errichtung von siebzig Kilometern schweinesicherer Zäune, damit jede Zone so lange bejagt werden kann, bis sie schweinefrei ist, wurde im Frühjahr abgeschlossen, was bedeutet, dass Phase III begonnen hat. Danach, und man schätzt, dass eine inselweite Ausrottung bis zu sechs Jahre dauern wird, kommt Phase IV, in der die Zäune weitere zwei Jahre lang überwacht werden, um sicher zu sein, dass wirklich keine Schweine mehr auf der Insel leben, und dann wird man die Zäune entfernen, und Santa Cruz wird wieder zu dem Zustand zurückkehren, in dem es war, bevor Menschen ihn verändert haben. Das ist jedenfalls der Plan. Das hoffen sie. Das hoffen sie alle inständig.
»Also«, sagt Freeman und schwenkt den Kaffeebecher in einem Rhythmus, den nur er hört, »wir haben Schilder aufgestellt und Pressemitteilungen herausgegeben, dass die gesamte Insel, nicht nur der Teil, der Nature Conservancy gehört, für die Dauer der Jagd gesperrt ist. Wir erklären das als Maßnahme zum Schutz der Öffentlichkeit, verbunden mit dem Versprechen, dass der Zeltplatz in Scorpion wieder geöffnet wird, sobald Zone 1 erledigt ist.«
»So bald wie möglich«, wirft Alma ein und blickt in die Runde. »Wir wollen den Leuten nicht noch mehr Grund zum Meckern geben.«
»Ach?« Frazier sieht sie mit seinem sardonischen Grinsen an. »Die Leute meckern? Hatte ich noch gar nicht mitgekriegt.«
»Ich kann’s ihnen nicht verdenken«, sagt Annabelle, zu ihm gewandt.
»Ich schon«, erwidert Alma.
»Weil sie nicht gern mit Gewalt konfrontiert sind – genau wie ich, genau wie wir. Leben ist heilig, das glaube ich auch. Und trotzdem –«
»Und trotzdem kapieren sie’s nicht, ganz gleich, wie oft man es ihnen erklärt« – Almas Stimme wird heller –, »und zwar weil sie es nicht kapieren wollen. Logik bedeutet diesen Menschen gar nichts. Langfristige Zielsetzungen. Die Meinung von Experten.« Sie spürt das Koffein, das sie beinahe zittern, zuviel reden und andere Leute unterbrechen lässt – sie braucht etwas im Magen, sie braucht ihre Haferflocken mit fettarmer Milch. »Aber das haben wir ja alles schon besprochen, und es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als es mit lächelndem Gesicht zu ertragen. Zum Wohl des Ganzen. Zum Wohl der Füchse.«
»Oder es mit erträglichem Gesicht zu belächeln«, sagt Freeman lahm.
»Wenigstens sind die Gerichte auf unserer Seite.« Alma spürt, wie ihr Lächeln aufblüht und wieder erstirbt. Sie greift nach dem Kaffeebecher, besinnt sich und legt die Hände in den Schoß.
»Im Augenblick«, sagt Annabelle. »Aber darauf ist kein Verlass. Jedesmal wenn einer dieser Verrückten eine gerichtliche Verfügung beantragt, zittere ich bei dem Gedanken, wir könnten an einen Richter geraten, der es ebenfalls nicht kapiert.«
»Amen«, sagt Alma. »Ich auch. Ich kann manchmal nicht einschlafen, wenn ich daran denke, was passieren würde, wenn sie uns jetzt stoppen, wo wir die Mittel investiert haben und es für die Füchse vielleicht bloß auf ein paar Wochen oder auch nur Tage ankommt. Ich meine« – wieder sieht sie in die Runde, ganz im Griff ihrer Emotionen, so angespannt, dass sie den Aus-Schalter nicht findet –, »die haben Geld im Rücken. Habt ihr euch mal die Website angesehen? Den Ticker, der zeigt, wieviel die Leute spenden? Und die örtlichen Zeitungen? Die Kommentare? Sie manipulieren die Öffentlichkeit. Es ist zynisch. Es ist dumm. Aber es funktioniert. Ich meine, dieses Schwein in der Zielscheibe?«
Schweigen, als wäre das alles nicht zu ertragen, besonders nicht um halb neun an einem herrlichen Morgen, da die Sonne das Meer bescheint und die Braunpelikane – kurz vor dem Aussterben gerettet, weil die Menschen endlich gemerkt haben, dass DDT nicht gerade ein Vitamin ist – tief über dem Wasser herangleiten, um über den Zustand der örtlichen Anchovisbestände zu berichten. Dies ist kein Morgen für Ängste oder Zweifel – es ist ein Morgen zum Feiern, ein Morgen für Eier Benedict und Kuchen, für Entschlossenheit und konzertierte Aktion.
»Dieser LaJoy«, sagt Frazier schließlich und sieht von dem Nest seiner gefalteten Hände auf, »muss der eigentlich auch mal arbeiten oder so? Der Mann scheint eine Menge Zeit zu haben. Herrgott, ich hab das Gefühl, jedesmal, wenn ich hierherkomme, marschiert er mit seinem blöden Schild da auf dem Parkplatz herum. Und ich kann euch sagen, diese bescheuerten Sprechchöre – ›Nazi‹ und ›Tiermörder‹ und so weiter – gehen mir richtig auf die Nerven.« Er hält inne, klopft sich die Brusttaschen ab und zieht tatsächlich eine Schachtel Zigaretten – Camel – hervor, besinnt sich aber. »Hätte ich fast vergessen: Rauchverbot an öffentlichen Orten in diesem wunderschönen Staat. Ich wollte nur sagen, vielleicht hätte zu Phase I gehören sollen ›Dave LaJoy ausschalten‹.« Er hebt den linken Arm, kneift ein Auge zu und betätigt mit der rechten Hand einen imaginären Abzug. »Peng!«
»Die Munition würde ich bezahlen«, sagt Freeman.
»Nicht dass ich gewalttätig veranlagt wäre oder so, aber manchmal müssen gewisse Spezies – oder einzelne Exemplare dieser Spezies – zum Wohl des Ganzen eliminiert werden, stimmt’s, Alma? Euthanasie. Das ist ein Wort, das mir gefällt. Hauptsache, es kommt ein Kaliber .223 zum Einsatz.«
Ach ja. Allgemeines Gelächter, ein Gefühl von Gemeinschaft, von Kameraderie, und dann kommt das Essen, Teller um Teller voller Essen, und die Sonne lässt jeden einzelnen Mast im Hafen hervortreten und setzt die Wanten und Stage in Brand, während draußen, am Horizont, die Inseln schweben. Alles gut und schön. Aber Alma ist diejenige, die das, was LaJoy sich ausdenkt, am meisten zu spüren bekommt, sie ist diejenige, die sich bei öffentlichen Versammlungen hinstellen und so geduldig wie möglich die Gründe für das Töten erklären muss, sie ist diejenige, der ihr Name aus der Morgenzeitung entgegenspringt wie ein Schlag ins Gesicht, und es zehrt an ihr.
Ein Ökosystem wiederherzustellen ist nie leicht – vielleicht ist es sogar unmöglich. Sie denkt an Guam, wo die Lage aussichtslos ist. Oder an Hawaii. An Florida. An Orte, wo so viele Spezies eingeführt worden sind, dass man kaum noch sagen kann, welche ursprünglich dort heimisch war und welche nicht. Gestern abend hat sie versucht, es ihrer Mutter zu erklären, denn die wollte es verstehen, wirklich, und Alma wollte, dass sie die Arbeit ihrer Tochter zu schätzen wusste oder wenigstens begriff, was sie durchmachte. Sie wartete auf eine kurze Unterbrechung – Ed stand auf, um nachzuschenken, der Eisbereiter klapperte gleichmütig, im Tonic Water zischte das freigesetzte Gas – und sagte: »Zum Beispiel Tim.«
»Ja«, sagte ihre Mutter, »zum Beispiel Tim. Du meinst also, er wird nicht mal an deinem Geburtstag hier sein? Also, ich weiß ja nicht, was du so vorhast, aber ich werde dir gleich am Morgen einen Kuchen backen: Devil’s Cake mit Mokkaglasur. Und wie heißt noch mal das Eis, das du so gern magst? Vanilla Swiss Almond? Ed wird eine Packung davon besorgen. Oder vielleicht zwei. Was meinst du, Ed?«
»Ich hab dir doch erzählt, Mom: Er muss die Steinadler fangen. Das muss sein, weil wir rausgefunden haben, dass die Steinadler die Füchse töten. Was die meisten nicht wissen, ist «
Und dann begann sie zu dozieren und erzählte eine Parabel über Ursache und Wirkung, die, wäre es darin nicht um eine Katastrophe gegangen, wie ein perverser kosmischer Witz gewirkt hätte. Das Ganze begann damit, dass Montrose Chemical während des Krieges DDT im Meer verklappt hatte, welches sich dann über die Nahrungskette in den heimischen Weißkopfseeadlern angereichert und verhindert hatte, dass die Schale ihrer Eier die nötige Stärke hatte. Die Eier zerbrachen, und die Zahl der Weißkopfseeadler, einer aggressiven, sich hauptsächlich von Fischen ernährenden Art, deren Angehörige ihr Territorium entschlossen verteidigen, ging zurück. Steinadler, die sich ausschließlich von Landtieren ernähren, kamen vom Festland herüber und kolonisierten die Inseln, angelockt von dem reichen Nahrungsangebot in Form von Wildschweinen, die auf diesen Inseln überhaupt nichts zu suchen hatten. Aber man weiß eben nie – und hier machte sie eine kleine Pause, um der Lektion den nötigen Nachdruck zu verleihen –, wie ein geschlossenes Ökosystem auf die Einführung neuer Elemente oder aber ihre Beseitigung reagiert. Die Schafe hatten die Landschaft überweidet und die invasiven Fenchelstauden kleingehalten, doch als man die Schafe entfernte, bildeten diese Stauden praktisch undurchdringliche und bis zu drei Meter hohe Dickichte, die den Schweinen ideale Deckung boten. »Und so«, sagte sie, während der zunächst noch wache Blick ihrer Mutter sich langsam trübte, »gab es keine Weißkopfseeadler, die die Steinadler vertrieben hätten, dafür aber brütende, hungrige Steinadler, die immer weniger Schweine erwischten. Und was, glaubst du, haben die also statt der Schweine gejagt?«
Ed, der sich inzwischen auf das Sofa gesetzt hatte, wo er, bei abgestelltem Ton, zwei Baseballspiele zugleich zu verfolgen schien, sah auf und sagte: »Füchse. Süße kleine Zwergfüchse.«
Erst als einer der Biologen feststellte, dass die Zahl der Füchse abnahm, begann man, die Tiere einzufangen und mit Halsbandsendern zu versehen. Mitte der achtziger Jahre war der Bestand robust und umfasste etwa dreißigtausend Exemplare. Ende der neunziger Jahre waren es nur noch ein Zehntel davon, und niemand konnte sagen, worauf dieser Rückgang zurückzuführen war.
»Es bestand die Gefahr, dass die Füchse vor unseren Augen aussterben würden«, sagte sie. »Seht ihr?« Sie holte ihren Laptop, stellte ihn auf den Küchentisch, drehte ihn so, dass auch Ed ihn sehen konnte, und rief das Foto eines jungen Steinadlers auf, der stolz in seinem Horst saß. Darunter lagen die Überreste von zwanzig Zwergfüchsen; einige der Kadaver trugen noch die Halsbänder. »Das war unser Beweis. Wir sind den Signalen gefolgt, und das haben wir gefunden.«
Also mussten die Adler gefangen und entfernt werden. Keine leichte Aufgabe. Anfangs versuchten sie, Netze aus Hubschraubern auf fliegende Adler zu werfen, aber das war, als wollte man auf einer Achterbahn Schmetterlinge fangen, und außerdem stellte sich, selbst wenn sie erfolgreich waren, das Problem, wie die Adler den Sturz überleben sollten. Tim hatte die Idee, die Tiere mit Aas anzulocken und Fallen zu stellen, die ein Netz auswarfen, und das funktionierte bis zu einem gewissen Grad. In der Zwischenzeit fingen die Biologen so viele Füchse wie möglich und starteten ein Zuchtprogramm, aus dem bislang fünfundachtzig Jungfüchse hervorgegangen waren. Diese würden ausgesetzt werden, sobald die Steinadler verschwunden und Weißkopfseeadler in einer für eine Brutkolonie ausreichenden Anzahl aus Alaska herbeigebracht worden waren. Man hoffte, dass die Seeadler die Steinadler in Schach halten würden und diese keinen Anreiz mehr hätten, auf der Insel zu brüten, wenn die Schweine erst ausgerottet wären.
Die Frage, die an dieser Stelle jeder stellte, die Frage, die Dave LaJoy unablässig und bei jeder Gelegenheit stellte, in der Presse oder auf dem Parkplatz, die Frage, die auch ihre Mutter bewegte, lautete: »Warum könnt ihr die Schweine nicht lebend fangen? Und sie dann, ich weiß nicht, an irgendwelche Bauern verschenken? Oder schlachten? Denk doch mal an all die hungrigen Menschen auf der Welt.«
»Glaub mir«, sagte sie, »das würden wir, wenn wir könnten. Aber es gibt keine Bundesbehörde, die das zulassen würde. Es wäre einfach zu gefährlich.«
Tatsache war, dass es sich bei diesen Schweinen – den Inselschweinen von Santa Cruz – um eine diskrete Population handelte, die hundertfünfzig Jahre lang keinerlei Kontakt mit anderen Populationen gehabt hatte und daher als Überträger von Leptospirose, Maul- und Klauenseuche sowie Mutationen gewöhnlicher Bakterien und Viren in Frage kam, die die amerikanische Schweineindustrie verseuchen würden, bis sie zuckend im Matsch lag. Es blieb also gar nichts anderes übrig, als sie zu töten. Mit zwei Kugeln, die erste ins Herz, die zweite in den Kopf, nach den Richtlinien des amerikanischen Tierärzteverbandes. Ein schneller, sauberer Tod. So rasch und endgültig wie das Schicksal. Und die Kadaver? All das Fleisch verwilderter Schweine? Die Kadaver würde man liegenlassen, für die Raben und zur Anreicherung des Bodens.
»Die Sache ist«, sagt Frazier und wischt sich ein Stück Ei mit Sauce hollandaise aus dem Mundwinkel, »bei der Schweinejagd erwischt man gleich beim erstenmal neunzig Prozent, aber die restlichen zehn Prozent machen einem echte Probleme. Und man kann nicht riskieren, auch nur ein einziges Exemplar übrigzulassen, denn das könnte eine trächtige Bache sein, und dann geht alles wieder von vorn los.«
Die Haferflocken liegen ihr wie ein Stein im Magen. Sie hat sich das Falsche bestellt, eindeutig das Falsche. Plötzlich steht ihre Speiseröhre in Flammen – zuviel Kaffee, zuviel Anspannung, ihre Mutter, das Eichhörnchen, der Verkehr auf dem Weg hierher –, und sie muss sich aufrichten und starr und kerzengerade dasitzen, bis das Brennen vorübergeht. Bekommt sie jetzt ein Magengeschwür?
»Die Hubschrauberaktion startet nächste Woche? Ist das der angepeilte Termin?« fragt Freeman und beugt sich vor, die Grapefruitschale neben dem einen, den Kaffeebecher neben dem anderen Ellbogen. Der Stift in seiner Brusttasche hat das hellblaue Hemd mit einem dunkelblauen Rohrschachfleck versehen, und die silbernen Spitzen seines Bolo Tie sind angelaufen oder ebenfalls mit Tinte verschmiert. Er hängt der Meinung an, der Parkdirektor müsse ein Mann der Tat sein, wie der legendäre Bill Ehorn, der damals nach San Miguel geflogen ist, um persönlich die letzte trächtige Eselin zu erschießen und somit der eingeschleppten Eselspopulation ein Ende zu machen, und Alma weiß, dass er auf eine Einladung spekuliert.
Frazier nickt freundlich. »Soweit wir es sagen können. In ebenem Gelände haben wir bereits große Fortschritte gemacht, aber wir müssen auf die Hügel und uns von oben hinunterarbeiten. Und dazu muss man sagen: Man schießt nur, wenn man sicher ist, dass man die ganze Rotte erwischt. Wenn die Möglichkeit besteht, dass nur ein einziges Tier davonkommt, lässt man’s lieber bleiben. Denn die sind sehr schlau – man sagt, sie sind schlauer als Hunde, so schlau wie ein dreijähriges Kind, wobei meiner Meinung nach sogar der dämlichste Hund schlauer ist als ein Kind –, aber egal, jedenfalls warnen die dann die anderen Rotten, so dass die sich verstecken. Und das ist dann ein Alptraum.«
Alma fängt einen Blick der Kellnerin vom anderen Ende des Raums auf. Sie möchte diese Sache beschleunigen und die Rechnung bezahlen, doch die Frau missversteht ihren Wink und bringt statt dessen die Kaffeekanne. Frazier, der jetzt heftig gestikuliert, hält ihr seinen Becher zum Nachfüllen hin und zwinkert ihr zu, während er ausführt, dass die Hubschrauber zwar unerlässlich sind, die eigentliche Jagd aber jetzt, da die Hunde – seine eigenen, aus Neuseeland – endlich nicht mehr in Quarantäne sind, auf der Erde stattfindet. Freeman und Annabelle schieben ihre Becher vor, um nachschenken zu lassen, wogegen Alma die Hand über ihren hält und flüstert: »Die Rechnung, bitte.« Und dann erwähnt Frazier seine Judasschweine – eine Methode, deren Heimtücke sie jedesmal aufs neue fasziniert.
Annabelle, die mit den Einzelheiten der Jagd bis zu diesem Zeitpunkt nicht so befasst war wie sie selbst, lächelt verwirrt und senkt die Stimme. »Judasschweine?« wiederholt sie. Ihr Blick sagt: Erzähl mir was Lustiges.
Und Frazier hält inne, nimmt diesen Blick auf und lässt den seinen durch das Restaurant, über die sich entfernende Kellnerin und die Aussicht auf Hafen und Meer schweifen, bevor er sich wieder ihr zuwendet. »Ja«, sagt er, »bei einer solchen Operation ist das sehr effektiv. Verstehst du« – er beugt sich vor und sieht sie fest an –, »wir setzen ihren Sextrieb gegen sie ein, und wenn du jetzt denkst, das ist unfair, Schätzchen, dann hast du wahrscheinlich recht. Aber das hier ist kein Spiel. Es ist ein Krieg. Ein totaler Krieg. Winke, winke, kleine Schweinchen.«
»Okay«, sagt Annabelle und lächelt, »darüber sind wir uns einig. Aber wie funktioniert das?«
»Wir fangen so viele wie möglich und hoffen, dass ein paar rauschige Bachen dabei sind – in diesem Klima vermehren die sich das ganze Jahr über, also ist das nicht so schwierig, wie es sich anhört, besonders wenn man sie ein paar Tage lang mit einem Keiler zusammensperrt. Dann hängen wir ihnen Halsbandsender um und lassen sie laufen.« Er beugt sich so weit über den Tisch, dass er praktisch auf ihrem Schoß sitzt, und Alma, die sich steif aufgerichtet hat und gegen das Sodbrennen ankämpft, muss sich in Erinnerung rufen, dass es ihr eigentlich egal sein kann, wenn er ein bisschen weibliche Nähe sucht, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. »Und du wärst überrascht«, sagt er, »oder vielleicht auch nicht, vielleicht kannst du dir ja denken, was dann passiert. Jedenfalls marschiert um jede dieser Bachen eine ganze Parade von Keilern auf, die an ihr herumschnüffeln und miteinander kämpfen – selbst der schlaueste alte narbenbedeckte paranoide Keiler kommt aus seinem Versteck, um mitzumachen –, und meistens ist der ganze Rest, die Jungschweine und die anderen Bachen, ob rauschig oder nicht, ebenfalls dabei, einfach nur um zuzusehen. Wie in einer Schweine-Disco.«
»Und dann?«
»Dann folgen wir dem Funksignal und kreisen sie ein.«
Er trinkt einen Schluck Kaffee, während die anderen sich das Szenario ausmalen: borstige Haut, bewegliche Rüssel, animalischer Sex. »Und glaub mir«, sagt er, »da kommt kein Schwein lebend raus.«
Danach, als sie die Rechnung mit ihrer Kreditkarte bezahlt und sich von allen verabschiedet hat, steht sie in der leeren Damentoilette, durch deren hohes Fenster aus Glasbausteinen das Zehn-Uhr-morgens-Licht fällt. Sie sollte arbeiten. Und das wird sie auch gleich, das verspricht sie sich: Sie wird den Wagen stehenlassen und zu Fuß gehen, damit sie ein bisschen von der Sonne abbekommt und sich an den Demonstranten vorbeistehlen kann, indem sie sich unter die Touristen mischt und durch den Seiteneingang ins Haus geht, bevor die sie bemerken. Aber im Augenblick muss sie ihren Kopf klar kriegen. Und atmen, so tief wie möglich. Der Schmerz in ihrem Bauch ist nicht verschwunden – er ist sogar schlimmer geworden, als hätte sie irgendeine Säure verschluckt, einen Abflussreiniger, Emma Bovarys Strychnin, Brodifacoum. Das Bild einer Ratte schießt ihr durch den Kopf, kratzende Pfoten, starre Augen. Es muss der Kaffee gewesen sein. Und die Haferflocken. Wie ist sie nur auf den Gedanken gekommen, sich Haferflocken zu bestellen? Sie hätte Toast nehmen sollen, trockenen Toast, doch bei dem bloßen Gedanken daran – rauh, spröde, zerkaut, mit Speichel getränkt, im Schlund klebend – stürzt sie in eine der Kabinen, und plötzlich kommt alles hoch: der Kaffee, die Haferflocken, ein paar der Nudeln, die ihre Mutter gekocht hat, und sogar die letzten Reste des Onikoroshi-Sake, zuviel Sake und ursprünglich on the rocks.
Sogleich fühlt sie sich besser. Sie spült zweimal und sieht zu, wie das Wasser in der Schüssel wirbelnd abfließt, doch der Geruch hängt weiterhin in der Luft. Quietschend öffnet sich die äußere Tür, Schritte nähern sich mit scharfem, hochhackigem Klappern. Ihr erster Gedanke ist: Annabelle, doch das kann nicht sein, denn sie hat sie vor zehn Minuten angeregt mit Frazier plaudernd die Treppe hinuntergehen sehen. Vor mindestens zehn Minuten. Das Klappern kommt näher, und sie erstarrt, als der Türgriff gedrückt und dann losgelassen wird und die andere, wer immer es ist, die Tür der benachbarten Kabine schließt und sich mit einem Seufzer setzt. Gleich darauf ertönt das scharfe Zischen von Urin. Sie verlässt ihre Kabine, geht zum Waschbecken, fängt mit hohlen Händen etwas Wasser auf und spült ihren Mund aus. Sie wollte, sie hätte eine Zahnbürste oder wenigstens Pfefferminzpastillen, und nimmt sich vor, auf dem Weg zum Büro in einem der Geschäfte dort unten welche zu kaufen, und sie hätte gern kurz ihre Haare geordnet und etwas Lippenstift aufgelegt, wagt es aber nicht, denn die andere Frau reißt bereits geräuschvoll Toilettenpapier ab, und sie will nicht gesehen werden. Nicht jetzt. Nicht nachdem sie sich gerade übergeben hat. Und so geht sie hinaus und die Außentreppe hinunter. Sie wird sich auf der Toilette im Büro frisch machen und sich unterwegs eine Cola und vielleicht eine Tüte Cracker kaufen, um ihren Magen zu beruhigen. Und Pfefferminzpastillen, auf jeden Fall Pfefferminzpastillen.
Unterhalb des Restaurants, auf der Promenade, die am Yachthafen entlangführt, ist ein Laden für Touristen, in dem es alles mögliche gibt, von Tabletten gegen Seekrankheit, Sonnencreme und billigen Strohhüten für die Whalewatcher über Postkarten, T-Shirts und kitschige Puppen für die Landratten bis hin zu Softdrinks, Kaffee, fix und fertig verpackten Sandwiches, Cracker, scheibenweise eingeschweißtem Käse, Pfefferminzbonbons, Süßigkeiten, Zeitungen und dem ganzen Kram, den jeder täglich braucht. Sie will gerade hineingehen – ein Rudel metallisch glänzender Ballons, in papiernem Rot aus einer Styroporkugel sprießende künstliche Mohnblumen, Bügel mit wie zum Trocknen aufgehängten T-Shirts –, als sie innehält. An einem der weißen Plastiktische vor dem Laden sitzt, mit dem Rücken zu Alma, eine junge Frau, und das gleichmäßig kupferrot gefärbte Haar hängt ihr in Dauerwellen über Schultern und Rücken. Ist das nicht Alicia? Was macht sie hier? Mittagspause? Alma sieht auf die Uhr. Um halb elf?
Noch während sie überlegt, was sie tun soll – Ist es wirklich Alicia? Will sie sie wirklich zur Rede stellen, sie zusammenstauchen und fragen, warum sie während der Abwesenheit ihrer Chefin nicht im Büro ist, die Post öffnet und Anrufe entgegennimmt, Herrgott noch mal? –, verändert sich das Licht, als hätte jemand die Hand über die Linse einer Kamera gehalten, und ein Mann tritt rückwärts durch die Tür ins Freie, in den Händen ein Papptablett mit zwei Bechern Kaffee und einer Schachtel Doughnuts mit Puderzucker. Den kennt sie doch, oder? Der Ohrring, der Spitzbart, die Überraschung beim Anblick dieser blauen Augen im Gesicht eines Latinos – jedenfalls teilweise Latino oder Chicano oder Mestize oder wie immer man es nennen soll –, aber wer …?
Und dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Denn in diesem Moment erkennt er sie, und im selben Moment weiß sie, wer er ist, die Erinnerung kommt wie ein Blitz, und Alicia sieht sich über ihre Schulter nach ihm um. Alicia, deren Miene erstarrt, deren Blick sich zurückzieht. Alicia, die in sich zusammensinkt. Die entlarvte Alicia. Während er – Wilson, so heißt er, Wilson – ganz ungerührt ist. Er schlendert zum Tisch, stellt das Tablett ab und blickt zurück zu Alma, die wie angewurzelt an der Tür des Ladens steht, in dem sie Cola, Cracker und Pfefferminzpastillen erwarten. Dann lächelt er sie an, so lässig, als würde er für ein Foto posieren – es ist ein schönes, vollmundiges, fröhliches Lächeln, als wären sie die besten Freunde der Welt –, rückt seinen Stuhl langsam neben den von Alicia, legt den Arm um sie und zieht sie an sich.