DER SCHIFFBRUCH DER WINFIELD SCOTT

Obwohl Alma sich die größte Mühe gibt, es zu unterdrücken, geht ihr das Geräusch der Schnellstraße auf die Nerven. Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, die Kirschtomaten und Babykarotten zu schneiden, sie kann keinen klaren Gedanken fassen, kann kaum hören, wie Micah Stroud aus den großen Lautsprechern im Wohnzimmer auf den Wellen seiner Gefühle reitet. Abgesehen vom gelegentlichen spätnächtlichen Sirenenjaulen und dem Rumpeln der Sattelschlepper, die auf der langen Fahrt entlang der Küste gegen den Luftwiderstand ankämpfen, ist das Geräusch normalerweise ein gleichmäßiges weißes Rauschen, es ist wie ein Naturphänomen, nicht anders als das Flüstern des Windes in den Eukalyptusbäumen oder das regelmäßige Donnern der Brandung am Butterfly Beach, und sie hat gelernt, es zu überhören. Oder wenigstens damit zu leben. Aber jetzt ist Berufsverkehr, wo jedes Geräusch wie vergrößert ist, wo die Leute willkürlich beschleunigen, nur um eine halbe Sekunde später wieder zu bremsen, und ihre Hupe geschätzte siebenundachtzig Prozent häufiger betätigen als zu jeder anderen Tageszeit – sie hat diese Statistik in einer Tageszeitung gelesen und allen Kollegen davon erzählt, um ihre Ansicht zu untermauern, dass die mechanisierte Gesellschaft auf vier Rädern in den Untergang rollt. Nicht dass sie irgend jemand davon hätte überzeugen müssen. Und ihre Eigentumswohnung – überdurchschnittlich teuer und unterdurchschnittlich schallgedämmt – liegt genau im Kriegsgebiet zwischen der Schnellstraße davor und den Eisenbahngleisen dahinter, ein Umstand, den sie ertragen kann, wegen der Nähe zum Strand, der kühlen Nachtluft und der Option (die sie, sogar wenn es regnet, fast immer wahrnimmt), zu jeder Jahreszeit bei offenem Fenster zu schlafen, fest eingehüllt in ihre Decke.
Heute aber, heute abend, ist sie gereizt und versagt sich auch den Trost, den ein Glas Wein spenden würde. Oder vielmehr Sake on the rocks, denn das ist es, was sie am liebsten trinken würde. Sake aus der Flasche im Kühlschrank, über knisternde Eiswürfel in einem Cocktailglas gegossen, einem der sechs besonderen Gläser aus einer Serie von acht, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat, unten durchsichtig, oben mattiert und mit dem B der Besitzerin graviert. Bei dem Gedanken daran schluckt sie unwillkürlich. Nur ein halbes Glas, ein Viertel. Die Karotten – glatt, geschält und feucht in der Zellophanverpackung – fühlen sich an, als wären sie lebendig, wenn sie sie festhält und ihrer natürlichen Neigung entgegenwirkt, wegzurollen und sich der Messerklinge zu entziehen. Mit einem Zischen ergießt sich Wasser aus dem Hahn, in den Tiefen des Siebes tanzen die Tomaten im Brausestrahl. Auf der Schnellstraße ertönt eine Hupe, ein plötzliches verärgertes, tadelndes Blöken, eine zweite Hupe antwortet und dann noch eine. Sie stellt sich die Fahrer vor, freiwillig eingesperrt, die eine Hand umklammert das Lenkrad, die andere das Handy. Sie gieren. Allesamt. Sie gieren nach Dingen, nach Platz, nach Mitteln, nach Erfüllung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse, doch sie bekommen nichts davon – oder jedenfalls nicht genug. Nie genug.
Natürlich gehört auch sie zu ihnen, obgleich ihre Bedürfnisse bescheidener sind – wenigstens denkt sie das gern. Nein, der Sake ist keine echte Versuchung – es geht auch ohne. Es muss. Wenn sie irgendein hervorstechendes Merkmal hat, dann ist es Selbstbeherrschung. Und Energie. Und Grips. Die Leute sehen sie an und denken, sie sei eine verkniffene Fachidiotin – jedenfalls diejenigen, die sie zu Fall bringen wollen –, doch das ist sie keineswegs. Aber sie kann sich konzentrieren. Alles zu seiner Zeit und an seinem Ort. Und die Zeit für den Sake – aus dem Glas ihrer Großmutter mit dem eingravierten B für Boyd – ist nach dem Vortrag. Oder dem Informationsabend. Oder der Kreuzigung. Je nachdem, was die Fanatiker diesmal daraus machen werden.
Die Wut beginnt in den Schultern und strahlt in ihre Arme und bis in die Finger, das Messer, die stummen, störrischen Karotten aus. Plötzlich ist sie aufgebracht, wirft das Messer hin und stapft ins Wohnzimmer, wo sie die Lautstärke aufdreht und durch das Fenster auf die Ausfahrt der Schnellstraße und die starre Reihe der Neophyten sieht, die Caltrans dort hat pflanzen lassen, um die Straße vor ihren Blicken zu verbergen – oder sie vor den Blicken der Fahrer, obwohl sie nicht annimmt, dass die Bürokraten in Sacramento ihr Wohl im Sinn hatten, als sie eine Firma beauftragten, zu beiden Seiten der Straße abwechselnd dunkelrot, weiß und lachsrot blühenden Oleander zu pflanzen. Wenn dort draußen ein Vogel oder eine Eidechse oder sonst irgendein lebendes Wesen außer Homo sapiens ist, so ist es nicht zu entdecken. Sie sieht durch die Lücken zwischen den Büschen lediglich das unregelmäßige Aufblitzen von Licht auf funkelnden Stoßstangen, Radkappen und Schwellern, während die endlose Reihe der Kohlendioxid speienden Fahrzeuge vorbeizieht, und denkt: Sieben Milliarden bis 2013, sieben Milliarden, und es werden immer mehr. Und wo sollen die alle hin?
Während sie dort steht und Micah Stroud sich mit seinem nasalen Louisiana-Slang über einem Tiefdrucksystem aus rasenden Akkorden und einem synkopierten Bass zu tonalen Höhen aufschwingt, löst sich einer der Wagen aus dem Fluss – oder vielmehr dem immer wieder stockenden Fluss – und jagt über die Ausfahrt direkt vor ihr. Es ist ein weißer Prius, bucklig, hässlich, langweilig, aber heilbringend, und im Gegensatz zu den anderen weißen Priusen auf der Straße sitzt in diesem ihr Partner – soll heißen: ihr Lebensgefährte Tim Sickafoose –, und er starrt sie mit einem Ausdruck verblüfften Erkennens an und winkt, während der Wagen aus ihrem Blickfeld verschwindet und in die Einfahrt einbiegt.
Als er durch die Tür tritt, ist sie schon wieder in der Küche und beschränkt sich auf einfache Tätigkeiten: das Pitabrot toasten, die Karotten würfeln, die Tomaten in Scheiben schneiden, den Salat mischen. Hummus aus dem Plastikschälchen, eine dicke Scheibe Feta, so vollkommen, als hätte die Ziege sie selbst zur Welt gebracht. Irgendwo auf dem Bauernhof. Wo all die anderen Ziegen sind. Mäh, mäh, mäh.
Sie und Tim gehören nicht zu den Pärchen, die sich zur Begrüßung küssen oder in der Öffentlichkeit aneinanderhängen wie Einkaufstüten. Sie lassen einander Raum, geben einander Zeit anzukommen. Bevor sie noch »Hallo« sagen kann, ihre übliche Begrüßung, sitzt er auch schon am Tisch und öffnet ein Bier; sein Rucksack liegt offen auf dem Boden.
Der Blick durch das Küchenfenster geht auf Raffiapalmen vor einer weißverputzten, von Bougainvilleen überrankten Mauer, an deren Fuß sich Klivien und Frauenhaarfarne aus einem dick gemulchten Beet über einen überwässerten Rasen aus Bermudagras neigen, dessen tiefes, sattes Grün alles andere blass erscheinen lässt. Hinter der Mauer verströmt ein Eukalyptushain in der Regensaison ein durchdringendes Mentholaroma, so dass alles nach fermentierenden Hustenbonbons riecht, und jenseits der Eukalyptusbäume ist die Schneise der Eisenbahnlinie. Dahinter leuchten die hellrot verblassten Dachziegel des Hotels am Meer – das Meer selbst kann sie von hier aus gar nicht und vom ersten Stock aus so gerade eben sehen. Sie hat eine Aussicht, über die sie sich ärgert. Eine Aussicht, die so widersinnig ist wie nur was, und zwar nicht bloß, weil sie öde und zerklüftet und beinahe ausschließlich von fremden Spezies bevölkert ist, sondern weil sie den eigentlichen Grund dafür, in Sichtweite des Meeres zu wohnen, ad absurdum führt.
»Die Musik ist ganz schön laut«, bemerkt er.
Sie dreht sich um, die Hände halten im Halbieren der Tomaten inne. »Ich hab meinen iPod im Büro gelassen.«
Dazu hat er nichts zu sagen, obwohl sie weiß, wie sehr er Micah Stroud und Carmela Sexton-Jones und die anderen New-Wave-Folksänger hasst, die sie sich im Büro den größten Teil des Tages in zufälliger Reihenfolge anhört. Als sie sich kennenlernten, in der ersten Woche, legte sie eine CD auf, von der sie dachte, sie könnte ihm gefallen, und er trank erst einmal den größten Teil seiner Halbliterdose Guinness, bevor er sein Urteil sprach. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ohne unhöflich zu sein oder so«, sagte er und sah sie so sanft wie möglich an, um zu zeigen, dass er nur versuchte, aufrichtig zu sein, »aber wie kann man sich dieses … dieses … wie immer man das nennen soll bloß anhören? Ich meine: Rock and Roll, ja, jederzeit – die White Stripes, die Strokes, die Queens of the Stone Age.« Es war eine Herausforderung, ein Test, und sie machte ihm keinen Vorwurf – eigentlich sprach es ja für ihn, denn um eine gute Beziehung zu haben, musste man ja nicht der Zwilling des anderen sein. Dennoch zuckte sie innerlich ein wenig zusammen. »Aber wenigstens haben sie was zu sagen«, erwiderte sie, »wenigstens singen sie über was anderes als Sex und Drogen.« »Was hast du gegen Sex?« konterte er, etwas zu schnell und mit einem ganz leisen Lächeln, und sie wusste, dass sie ihm in die Falle getappt war. Er hielt einen Augenblick inne und ließ das Lächeln breiter werden. »Oder, wo wir schon davon sprechen, gegen Drogen?«
»Ich hab in der Zeitung nachgesehen«, sagt er jetzt und erhebt die Stimme, um gegen die Musik anzukommen, »ob was über heute abend drinsteht.«
Obgleich sie angespannt ist, schießt ihr die Bezeichnung für das Verhalten, das er gerade gezeigt hat, durch den Kopf: Es ist der Lombard-Effekt, und damit ist gemeint, dass man unwillkürlich lauter spricht, um die Geräusche der Umgebung zu übertönen, etwa – das geläufigste Beispiel – das Summen der Stimmen in einem Restaurant. Sie geht von der Küche ins Wohnzimmer, um die Musik leiser zu stellen. Sogleich kehren die Autos und Lastwagen und hupenden Hupen in ihr Leben zurück, als wären sie nie fortgewesen. Warum die Schnellstraßen nicht in den Untergrund verlegen und die so gewonnenen Flächen in Parks umwandeln? Mit Spazierwegen. Mit Gemüsegärten für die Hungrigen. Mit Bäumen, Wildkräutern und so weiter. Wenn sie genug Geld hätte – so um die fünfhundert Milliarden –, würde sie sämtliche Grundstücke der Stadt kaufen, alle Gebäude abreißen, die Straßen entfernen und Grizzlybären ansiedeln.
»Hier, hier ist es«, ruft er.
Die Notiz, ein winziger Absatz unter der Rubrik »Veranstaltungen«, steht zwischen der Ankündigung einer Vorstellung ausgewählter Szenen aus »Les Sylphides« im Junior Dance Studio in Goleta und dem Hinweis auf einen Vortrag über die Ethnobotanik der Chumash im Maritime Museum:
Vortrag und Diskussion – Alma Boyd Takesue, Projektkoordinatorin und Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit beim National Park Service, Abteilung Santa-Barbara-Inseln, spricht über die geplante Aktion zur Beseitigung der Ratten auf Anacapa. 19.00, Natural History Museum, 2559 Puesta del Sol, Santa Barbara.
Sie beugt sich neben ihm über den Tisch, die Schrift wird größer und kleiner, denn sie hat ihre Brille auf der Küchentheke liegenlassen. Sie ist dreiunddreißig, eine schlanke, hübsche Frau mit den blassgrauen Augen ihrer Mutter – und ihrer Großmutter – und den muskulösen, nicht ganz kerzengeraden Beinen und dem pechschwarzen Haar ihres Vaters. Sie trägt es taillenlang, und eine Strähne, die sie zuvor hinters Ohr gestrichen hat, löst sich und fällt, als er ihr die Zeitung hinhält, über seinen Unterarm.
»Nur das Nötigste«, sagt er. »Mehr kann man wohl nicht erwarten, oder?«
Es ist irgendwie überraschend, es gedruckt zu lesen. Die Sache, mit der sie insgeheim seit einer Woche gerungen hat, ist jetzt offiziell und steht da in der vertrauten, zurückhaltenden Schrifttype, die sie jeden Morgen überfliegt. Das sind die Tatsachen: Sie wird zur angegebenen Zeit am angegebenen Ort erscheinen, um den Standpunkt des Park Service in Hinblick auf ein Vorgehen darzulegen, das ihr angesichts der Konsequenzen, die Untätigkeit haben würde, höchst angemessen und vernünftig erscheint. Und da das die Ausrottung einer invasiven und schädlichen Spezies erfordert – also das Töten, das bedauerliche Töten unschuldiger Tiere –, wird sie erklären, dass es dazu keine Alternative gibt, weil die Gesundheit und das Wohlergehen, ja die Existenz der auf der Insel brütenden Vögel davon abhängt. Das gesamte Brutgebiet der Lummenalke liegt zwischen Baja und Point Conception, und es gibt nur noch zweitausend Brutpaare. Die Ratten dagegen sind überall. Und Ratten fressen Alkeneier.
»Klingt nicht gerade spannend.«
»Nein«, gibt sie zu, richtet sich auf und reckt sich, als wäre sie eben erst aus dem Bett aufgestanden, und vielleicht, denkt sie, sollte sie sich eine Tasse grünen Tee gönnen, einen kleinen Extrakick Koffein. Für einen Augenblick steht sie reglos da und sieht auf ihn hinab, auf seinen Hinterkopf und die eigenartig fleischigen Ohrläppchen, auf sein mittellanges, nerzbraunes Haar, das an den Spitzen zu einem Rostbraun verbleicht ist und über den Ausschnitt seines T-Shirts und die Tonperlen hängt, die auf eine für sechzig Pfund ausgelegte Angelschnur gefädelt sind. (»Warum sechzig Pfund?« hat sie ihn einmal gefragt. »Damit sie beim Surfen nicht reißt«, hat er geantwortet, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. »Du nimmst die Kette nie ab?« »Nie.«) Sie legt ihm die Hand auf die Schulter, ganz leicht nur, aber es ist dennoch ein Kontakt. »Andererseits, wenn man bedenkt, wie es letzte Woche in Ventura war« – sie sieht ihn an, wendet den Blick dann ab und presst bei dem Gedanken daran die Lippen zusammen, denn die Wunde ist frisch und noch nicht verheilt –, »wollen wir vielleicht gar nicht allzuviel Publikum. Vielleicht wollen wir nur, ach, ich weiß nicht, vielleicht dreißig Leute, die sich mit der Materie befasst haben –«
»Dreißig Ökologen.«
Sie lächelt rasch und dankbar. Er schafft es immer, ihre Stimmung aufzuhellen. »Ja«, sagt sie, »das wäre nicht schlecht.«
Auch er lächelt jetzt und hängt über der perspektivischen Linie des Tisches wie eine Figur auf dem Gemälde, das sie sich gerade vorstellt: das Pitabrot auf der Theke, die Abendsonne, die schräg durch das Fenster fällt und seine Bartstoppeln beleuchtet, während die Schnellstraße verschwunden ist, ebenso wie die düstere, trübselige Stimmung, die sie, Alma, ins Wohnzimmer gebracht hat. Alles ist gut. Alles ist sehr, sehr gut. »Ich wollte mich nur vergewissern«, sagt er und reißt sie aus ihrem Tagtraum, »falls du mich als Ordner brauchst, um die Leute in Schach zu halten.« Er hält inne, nimmt ihre Hand, streicht mit dem Daumen über die Handfläche, streichelt und streichelt und holt sie in die Gegenwart zurück. »Keine Rattenfreunde, okay? Sind wir uns da einig?«
Am 2. Dezember 1853 traf der Kapitän der S.S. Winfield Scott, eines Seitenraddampfers, der am Vortag von San Francisco zu der zweiwöchigen Reise nach Panama aufgebrochen war, eine fatale Entscheidung, die, ob sie nun auf Selbstüberschätzung, Übereifer oder einem schlichten Rechenfehler beruhte, dem Schiff und, im Lauf der Jahre, Generationen von Seevögeln zum Verhängnis wurde. Die S.S. Winfield Scott war erst drei Jahre zuvor in New York für den Linienverkehr zwischen dieser Stadt und New Orleans gebaut worden; 1851 wurde sie jedoch verkauft und in den Dienst an der Westküste gepresst, wo die Passagierzahlen nach der Entdeckung von Gold in Nordkalifornien geradezu explodiert waren. Sie war für rauhes Wetter gebaut, etwa siebzig Meter lang und zehn Meter breit und benannt nach Generalmajor Winfield Scott, dem Löwen des amerikanisch-mexikanischen Krieges, dessen vergoldete Büste mit strenger, unbewegter Miene über das Vorderdeck blickte. Auf der besagten Fahrt waren 465 Passagiere, 801 871 Dollar in Gold und Goldstaub sowie mehrere Tonnen Post und eine volle Besatzung an Bord. Ob die Ratten aus New York oder New Orleans oder dem Hafen von San Francisco stammten, wusste niemand. Aber sie waren da, wie sie hin und wieder auf jedem Schiff dieser Größenordnung waren, und die Winfield Scott schien ihnen zuzusagen: Der Speisesaal bot Platz für bis zu hundert Menschen, es gab Kombüsen und Vorratsräume sowie Tonnen voller Abfall, die darauf warteten, ins Meer entleert zu werden, und eine Unzahl feuchter Winkel und Löcher unter Deck und in den Aufbauten bot ihnen Unterschlupf – eine eigene Welt, getrennt von der jener anderen Allesfresser, die sie mit all den feinen Leckerbissen versorgten. Auf einem Schiff dieser Größe hätten Hunderte, ja mehr als tausend Ratten sein können – niemand konnte sagen, wie viele es waren, und diejenigen, die in die Fallen der Stewards gingen, schwiegen sich aus.
Kapitän Simon F. Blunt war ein erfahrener, entschlossener Mann. Er war mit dem Santa-Barbara-Kanal vertraut, denn er war ein wichtiges Mitglied der Kommission gewesen, die zwei Jahre zuvor, kurz nach Kaliforniens Aufnahme in die Union, die Küste vermessen hatte. Als er am Vortag von San Francisco ausgelaufen war, hatte er mit schwerer See und starkem Gegenwind zu kämpfen gehabt, was nicht nur die Geschwindigkeit verminderte, sondern auch dafür sorgte, dass die meisten Passagiere sich von Salon und Speisesaal fernhielten und es vorzogen, in den Kojen zu bleiben. Um die verlorene Zeit wettzumachen, beschloss er, durch den Santa-Barbara-Kanal und die Anacapa-Passage zwischen Santa Cruz und Anacapa zu fahren, anstatt die Inseln seewärts zu umfahren, was deutlich länger gedauert hätte. Normalerweise wäre dies eine bewundernswerte – und zeitsparende – Entscheidung gewesen. Doch unglücklicherweise zog, als an jenem Abend das Essen serviert wurde, Nebel auf, wie es im Santa-Barbara-Kanal häufig geschieht, weil dort der kalte Kalifornienstrom, der von Norden nach Süden fließt, auf den wärmeren südkalifornischen Gegenstrom trifft, ein Umstand, der den außerordentlichen Fischreichtum im Kanal erklärt, diesen für die Schiffahrt aber auch sehr gefährlich macht. Infolgedessen war Captain Blunt gezwungen, seine Position nicht durch Sichtzeichen, sondern durch Koppeln zu ermitteln, wobei die zurückgelegte Distanz durch die Messung der Geschwindigkeit in festgelegten Intervallen berechnet wird. Dennoch war er zuversichtlich: Es war Routine, nichts, was ernste Schwierigkeiten gemacht hätte – er war diese Route ein Dutzendmal oder mehr gefahren –, und um zehn Uhr dreißig war er sicher, die Inseln passiert zu haben, und gab Anweisung, auf südöstlichem Kurs parallel zur Küste zu gehen.
Eine halbe Stunde später rammte die Winfield Scott mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von zehn Knoten einen Felsen vor der Nordküste der mittleren Anacapa-Insel, der ein großes Loch in den Rumpf riss. Sogleich brach unter den Passagieren Panik aus. Sie wurden aus ihren Kojen geschleudert, Gepäckstücke flogen über die Decks, Laternen flackerten und erloschen, und die undurchdringliche Finsternis aus Nacht und Nebel senkte sich über das Schiff. Niemand konnte etwas sehen, doch alle spürten und hörten, was geschah: Irgendwo unten brach Wasser ein, und um ihm Platz zu machen, stieß das Schiff eine Reihe langgezogener Seufzer aus. Als die Passagiere auf die Beine kamen und sich durch die Korridore drängten, immer in der Angst, das Wasser könnte sie einholen und unter Deck einschließen – die Füße waren bereits nass, Fremde klammerten sich aneinander, während sie über unsichtbare Beine und Stiefel und Gepäckstücke stolperten, ins Taumeln gerieten, stürzten, wieder aufstanden, zur Eile getrieben durch das beständige grimmige Rauschen –, hörte man ein gewaltiges tiefes Mahlen und spürte ein lang anhaltendes Beben, als der Rumpf an dem Felsen scheuerte. Schreie und Flüche hallten durch die Dunkelheit. Ein Kind rief nach seiner Mutter. Irgendwo bellte ein Hund.
Das bleiche Gesicht des Wachoffiziers auf der Brücke schien wie eine Glühbirne in der Luft zu hängen und war nur schemenhaft zu erkennen. Er gab Alarm, und der entsetzte Kapitän befahl volle Kraft zurück, damit das Schiff von dem Hindernis loskam und weiterer Schaden verhindert wurde. Die Maschinen mühten sich, beißender Rauch quoll aus den Schornsteinen, bis man an Deck kaum noch atmen konnte, die großen Schaufelräder fuhren durch das Wasser, als wollten sie den Ozean mit Eimern ausschöpfen, alles stand auf Messers Schneide – der Kapitän verharrte wie festgenagelt, die Offiziere flüsterten Stoßgebete, auf Deck schrie die Menge –, bis das Schiff unter lautem Seufzen und dem krachenden Splittern von Holz zurücksetzte. Die Winfield Scott war frei. Sie bebte, sie schlingerte, aber sie war frei und schwamm. Für Mannschaft und Passagiere muss es ein erhebender Augenblick gewesen sein, doch er währte nur kurz, denn im nächsten Moment lief das Heck des Schiffs auf Grund. Das Ruder riss ab, und das Schiff war manövrierunfähig. Beinahe sofort bekam es Schlagseite, und alles, was nicht befestigt war, rutschte auf die unsichtbaren Felsen und die weißgesäumten Wellen vier Decks tiefer zu.
Kapitän Blunt war in schweren Nöten: Menschenleben standen auf dem Spiel, seine Karriere war ruiniert, seine Hände zitterten, seine Kehle war wie ausgetrocknet. Er gab Befehl zum Verlassen des Schiffs. Im Licht der verbliebenen Laternen ließ er Offiziere und Mannschaft antreten, um eine geordnete Evakuierung zu gewährleisten, doch dies wurde erschwert durch Gruppen zu allem entschlossener Männer – Goldsucher, die monate- und in einigen Fällen jahrelang Hunger, Durst und Mühsal auf sich genommen, auf weibliche Gesellschaft und die Segnungen der Zivilisation verzichtet und den Lohn für diese Strapazen schließlich auf die Rücken ihrer nach Schweiß stinkenden Maultiere geladen hatten –, die auf dem Oberdeck herumliefen, ihre prallen, schweren, abgewetzten Satteltaschen hinter sich her zerrten und um einen Platz in einem der Rettungsboote kämpften, ohne an irgend etwas anderes zu denken als daran, wie sie ihr Gold an Land bringen könnten. Der Kapitän war gezwungen, seine Pistole zu ziehen, um die Disziplin zu wahren. Das Heck war jetzt von Wasser überspült, und immer mehr Passagiere drängten in wilder Flucht auf das Oberdeck, zappelnde Gestalten, getrieben von schreienden Mündern und fuchtelnden Händen. Er feuerte in die Luft. »Ruhe bewahren!« rief er immer wieder, bis er heiser war. »Frauen und Kinder zuerst. Es gibt genug Platz für alle. Keine Panik.«
Die Boote wurden zu Wasser gelassen. Die Menschen an Deck konnten sehen, dass sie nicht mehr in unmittelbarer Gefahr waren, und das wirkte sich sehr beruhigend aus. Es ging nun darum, die Leute zu dem dunklen, zerklüfteten Felsen überzusetzen, gegen den das Schiff im Dunkeln geprallt war, und dazu brauchte es nur Geduld, mehr nicht. Niemand würde ertrinken. Niemand würde seine Habe verlieren. Ruhe. Bewahrt Ruhe. Wartet, bis ihr dran seid. Und so geschah es: In den folgenden zwei Stunden fuhren die Boote hin und her, bis alle evakuiert waren, dann folgten die Besatzung und der Kapitän. In der sehr feuchten und kühlen Nacht mit aufkommender Flut und sich verdichtendem Nebel, der alle Proportionen verzerrte, merkten sie nicht, dass der Fels, auf dem sie gelandet waren, etwa zweihundert Meter von der Hauptinsel entfernt war, so dass sie am Morgen ein zweites Mal durch die Brandung rudern mussten.
Sie wurden erst nach einer Woche gerettet. Bevor das Schiff unterging, barg man Proviant, doch dieser reichte nicht annähernd für alle. Es gab Kämpfe, sowohl um die zugeteilten Rationen als auch um Gold, so dass Captain Blunt schließlich gezwungen war, zwei Golddiebe vor den Augen der versammelten Passagiere an einen Felsen binden und zur allgemeinen Befriedigung und unter spärlichem Applaus auspeitschen zu lassen. Einige Männer angelten vom Ufer aus, in der Hoffnung, die Versorgungslage zu verbessern. Andere sammelten Muscheln und Abalone, wieder andere schossen einen Seelöwen und brieten ihn über offenem Feuer. Als die Nachricht von dem Schiffbruch schließlich San Francisco erreichte und die drei Schiffe Goliath, Republic und California die Küste absuchten und die Passagiere bargen, tat es niemandem leid, die schwarzen Klippen von Anacapa im Nebel zurückbleiben zu sehen. Das Schiff war verloren. Die Passagiere hatten eine Nacht voller Schrecken und eine Woche voller Langeweile, Sonnenbrand und Zwangsdiät hinter sich, aber niemand war ums Leben gekommen, und auch das Gold war gerettet, jedenfalls zum größten Teil.
Ratten sind gute Schwimmer, sie besitzen große Ausdauer und einen starken Überlebenswillen. Experimente haben gezeigt, dass eine durchschnittliche Ratte sich etwa achtundvierzig Stunden über Wasser halten, mit der Geschicklichkeit eines Eichhörnchens an senkrechten Drähten, Seilen, Trossen oder glatten Bäumen emporklettern und sich durch Öffnungen mit einem Durchmesser von zweieinhalb Zentimetern zwängen kann. Ratten verfügen außerdem über einen hervorragenden Gleichgewichtssinn und erreichen das Land meist auf schwimmenden Trümmerteilen wie Kissen, Planken, Whiskeyflaschen, Handkoffern und anderem Treibgut oder auf Ästen, die bei heftigen Regenfällen aus Schluchten ins Meer gespült werden. Sicherlich ertranken einige der Ratten an Bord der Winfield Scott, weil sie im Laderaum eingeschlossen wurden, als die Gepäckstücke verrutschten, oder weil sie es nicht schnell genug auf das Oberdeck schafften, doch wahrscheinlich gelangte die Mehrzahl an Land. Natürlich hätte schon ein einziges Pärchen gereicht. Oder auch nur ein trächtiges Weibchen.
Jedenfalls wird Alma das Publikum darüber informieren, dass es den überlebenden Hausratten – mit wissenschaftlichem Namen Rattus rattus – nach dem Untergang der Winfield Scott gelungen ist, von jenem Felsen aus die mittlere Insel zu erreichen und sich im Lauf von Generationen über die östliche und schließlich, auf Treibholzstücken oder angetrieben von hurtig rudernden Pfoten, auch über die westliche Insel auszubreiten. Nur pures Glück und die fast zehn Kilometer breite Anacapa-Passage mit ihrer starken Strömung und schäumenden Gischt haben ihr Vordringen nach Santa Cruz bislang verhindert. Und eine solche Ausbreitung würde niemand wollen, nicht einmal der entschiedenste Nagetierfreund.
Das Innere des Prius erglüht im sanften bernsteinfarbenen Licht der Armaturenbeleuchtung, als der Wagen sich beinahe lautlos in den dahinströmenden Verkehr auf der Schnellstraße einfädelt. Tim sitzt entspannt am Steuer und kommentiert die Radionachrichten – das ist seine Art, sie zu beruhigen und so zu tun, als wäre dieser kleine Ausflug zum Museum etwas ganz Normales. Als wollten sie Arm in Arm durch die Ausstellung schlendern, zum zwanzigstenmal den Chumash-tomol und das Skelett des Santa-Rosa-Zwergmammuts betrachten, mit gedämpfter Stimme lachen und scherzen und sich in der trockenen, stickigen Museumsluft wie zu Hause fühlen. Alma wäre selbst gefahren, aber sie hat gern den Kopf frei, bevor sie vor Publikum spricht, und weiß aus Erfahrung, dass die Konzentration auf den Verkehr – und sei sie noch so oberflächlich und die Strecke noch so kurz – sie nur ablenkt. Jedesmal gibt es irgendein Problem: Entweder hat sich ein Unfall ereignet oder eine Spur ist gesperrt, damit der Asphalt ausgebessert oder der Seitenstreifen befestigt werden kann oder was immer es ist, was diese Bauarbeiter nachts auf der Schnellstraße machen, oder es herrscht einfach Wahnsinn, schlichter Wahnsinn – schlechte Manieren, Handytelefonate, allgemeine Unaufmerksamkeit –, und diese Verzögerungen bringen sie aus dem inneren Gleichgewicht. Wenn man vor sich eine Kette von Bremslichtern sieht, weiß man nie, ob man für fünf Minuten oder eine Stunde aufgehalten wird. Oder für immer. Für den Rest des Lebens.
Und natürlich: Einen Kilometer vor ihrer Ausfahrt erwartet sie ein Meer von roten Lichtern, und im nächsten Augenblick stehen sie hinter einem Pick-up, dessen mittels eines Gespinstes aus glänzenden Streben höhergelegte Karosserie so hoch aufragt, dass der Rüssel eines Zwergmammuts das Dach nicht hätte erreichen können. »Scheiße«, zischt sie und beißt sich auf die Unterlippe, eine schlechte Angewohnheit, wie sie weiß, aber sie kann nicht anders. »Ich wusste, wir hätten außen herum fahren sollen.«
Tim zuckt die Schultern und wechselt den Sender, worauf die beruhigende Stimme des Sprechers sich im Schlagen und Rasseln von Trommeln, Congas und Kuhglocken und dem klagenden, beinahe menschlichen Klang einer Gitarre auflöst, der sich über dieser rhythmischen Sturzflut aufschwingt. »Wahrscheinlich geht’s gleich weiter«, sagt er. »Außerdem haben wir noch zwanzig Minuten. Und die nächste Ausfahrt ist Mission. Siehst du sie? Da vorn, hinter dem Heck von diesem Idioten.«
Sie antwortet nicht. Sie wendet nur den Kopf, blickt aus dem Fenster auf das Autogeschäft neben der Schnellstraße – noch mehr Autos – und stößt einen langen, vernichtenden Seufzer aus. Es ist nicht Tims Schuld, und sie will ihn nicht dafür büßen lassen. Er tut sein Bestes, und die schnellste Verbindung ist zweifellos die Schnellstraße. Wie hätte er wissen sollen, dass das passieren würde? (Allerdings hat sie für den Schleichweg plädiert, als er den Blinker eingeschaltet hat, um auf die Schnellstraße zu fahren. Ist da nicht noch Berufsverkehr? hat sie gefragt, und er hat ihr versichert: Nein. Jetzt nicht mehr. Wir sind rechtzeitig da.) Es war also seine Entscheidung. Und sie war einverstanden. Und jetzt stehen sie hier. Es geht nicht vor und nicht zurück.
Nach einer Weile sagt er: »Muss ein Unfall sein.«
Sie ist ganz in Schwarz – gebügelte Baumwollhose, Lacklederpumps, ein Oberteil mit V-Ausschnitt, das Ganze akzentuiert durch eine Halskette und ein Armband, beides Silber, nichts Protziges, nichts, an dem irgend jemand Anstoß nehmen könnte –, und ihre Unterlagen sind in dem Schnellhefter auf dem Laptop, den sie auf dem Schoß hat. Am Nachmittag hat sie lange gebraucht, um zu entscheiden, was sie anziehen wird, sie hat versucht, die Mitte zwischen formell und lässig zu finden und auszusehen wie eine Ökologin, die eben noch in der freien Natur war und über das richtige Maß an Chic verfügt, um nicht einschüchternd, sondern sympathisch und überzeugend zu wirken, und dann hat sie eine Stunde vor dem Spiegel verbracht und sich das Haar ausgebürstet und Make-up aufgelegt. Zuviel Wimperntusche, und sie sähe aus wie ein Flittchen. Zuwenig, und man würde weder die Form ihrer Augen sehen noch die Art, wie sie das Licht einfangen (eine Eigenschaft, die Leute auf der Straße manchmal starrend stehenbleiben lässt). Ein gutes oder wenigstens modisches und interessantes Erscheinungsbild gehört in ihrem Job zum Anforderungsprofil. Wer will schon auf einem Stuhl mit harter Lehne sitzen und sich anhören, wie ein schlechtgekleideter Waldschrat Statistiken über den Rückgang dieser oder jener Spezies abspult? Sie ist da, damit man sie ansieht und ihr zuhört, und damit hat sie kein Problem. Wenn sie ihr Aussehen zur Förderung ihrer Ziele einsetzen kann – um so besser.
Aber verdammt, verdammt, dass sie ihr diese Sache so schwer machen. Und sie hätte niemals diesen Tee trinken sollen: Das Koffein lässt das Blut in ihren Ohren pochen und legt ihre Nerven blank, als hätte sie ihren Körper mit einem Gemüseschäler bearbeitet. »Ich wollte, ich wäre auf den Inseln«, sagt sie und sieht ihn abrupt an. »Wirbellose sammeln. Vögel beringen. Irgendwas. Ich hab diesen Kram so satt.«
Er sieht nach vorn, sein von den Bremslichtern des Pick-ups beleuchtetes Gesicht wirkt konzentriert. »Aber du bist die Sprecherin.«
»Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit.«
»Dasselbe in Grün. Was ich meine, ist: Sprecher müssen sprechen. Das ist es, was du tun sollst, und das ist es, was du gut kannst.« Er hält inne, die Finger trommeln auf dem Lenkrad, er geht ein paar Variationen durch. »Und warum heißt es eigentlich ›Sprecher‹ – sollte es nicht ›Verkünder‹ heißen? Oder ›Erklärer‹? ›In der heutigen Pressekonferenz erklärte der Erklärer des Präsidenten …‹« Er wendet sich zu ihr und ist unvermittelt ernst. »Ohne dich wären die aufgeschmissen, und das wissen sie auch.«
»Dave LaJoy«, sagt sie langsam und deutlich. »Anise Reed.«
Er winkt ab. »Okay, okay, aber Idioten gibt es überall. Besonders wenn du –«
»Wenn ich was?«
»Wenn du, ich weiß nicht, wenn du etwas Umstrittenes tust. Oder verteidigst. Es erklärst. Erklärungen machen dich immer angreifbar, als würdest du dich entschuldigen für etwas, was schon geschehen ist. Oder noch geschehen wird.«
Sie spürt Wut in sich aufwallen. »Ich entschuldige mich nicht. Es gibt nichts, wofür wir uns entschuldigen müssten. Wir sind Wissenschaftler. Wir fertigen Studien an. Wir sind nicht wie diese Tierschutzfanatiker, diese PETA-Idioten, die nur kommen, um einen niederzubrüllen, weil sie nichts Besseres zu tun haben – und die sind so uninformiert, so dumm. Die haben nicht die leiseste Ahnung, worum es eigentlich geht. Nicht den Hauch einer Ahnung. Wenn sie nur mal –«
»Dann klär sie auf.«
Sie ist jetzt erbittert, erbittert und empört. »Aufklären? Viel Glück! Diese Leute wollen keine Fakten, sie wollen nichts wissen von der Biogeographie von Inseln, von den Auswirkungen invasiver Spezies, von den Folgen eines Zusammenbruchs des Ökosystems und allem anderen. Sie wollen sich nur einmischen. Und herumschreien. Das tun sie nämlich am liebsten.«
»Ich weiß«, sagt er, »ich weiß«, und jetzt kommt Bewegung in den Stau, die Bremslichter erlöschen, Reifen drehen sich, rollen voran, die Ausfahrt rückt näher. »Ich stehe ja auf deiner Seite. Du musst nur gelassen bleiben. Sei freundlich. Aber bleib fest. Sei professionell. Denn das bist du doch, oder – ein Profi?«
Die Schnellstraße entlässt sie auf städtische Straßen: Am Bordstein parken Wagen, Schaufensterscheiben reflektieren gleißende Scheinwerferlichter, Bäume werfen Schatten. Leute kommen aus Restaurants, schließen mit Fernsteuerungen ihre Wagen auf, stehen ohne erkennbaren Grund in Gruppen auf dem Bürgersteig herum, sind unterwegs zu Veranstaltungen. Ein Bus verlässt die Haltestelle und reiht sich, bebend wie ein Schiff auf hoher See, in den Verkehr ein. Sie fahren an einem ehemaligen Laden vorbei, in dem jetzt Kung-Fu unterrichtet wird, und Alma sieht für einen kurzen Augenblick Gewänder, Gesichter, synchronisierte Bewegungen. Es ist Viertel vor sieben. Sofern es keine weiteren Überraschungen gibt, werden sie fünf Minuten vor Beginn des Informationsabends dasein, und irgendwie ist das besser, als noch eine halbe Stunde Zeit zu haben und in einem Hinterzimmer herumsitzen zu müssen, wo man dann den drei Meter großen ausgestopften Grizzly anstarrt, der dort steht, und nervös auf und ab geht und der Uhr zusieht, wie sie die Sekunden abzählt. Sie hebt die Hand, um das Haar aus dem Gesicht zu streichen, und legt sie wieder auf den Schnellhefter. Der Regen, der sich schon den ganzen Nachmittag angekündigt hat, wählt diesen Augenblick, um die Windschutzscheibe und die dunkle Zunge der Straße vor ihnen mit zischenden Tropfen zu besprengen. »Ja«, sagt sie schließlich, als die Frage längst vergessen ist, »das bin ich. Ein Profi.«
Sie ist überrascht, wie viele Wagen auf dem Parkplatz stehen. Alle Plätze scheinen besetzt zu sein, jedenfalls die in der Nähe des Eingangs, und andere Autofahrer fahren pirschend, lauernd durch die Reihen. Der Regen ist stärker geworden, prasselt auf den Asphalt und reflektiert das Licht der Scheinwerfer mit einem wächsernen Schimmer. »Sieht so aus, als hätten sich deinetwegen eine Menge Leute auf die Beine gemacht«, sagt Tim, beugt sich, beide Unterarme auf dem Lenkrad, vor und späht in die Nacht, während er darauf wartet, dass der Fahrer des Wagens vor ihnen, eines schwarzen BMW mit hektisch pulsierendem linkem Blinker, sich endlich entschließt: links, rechts oder geradeaus. Diese Verzögerung nervt. Es ist genau das, was sie wahnsinnig macht: Unentschlossenheit, Unaufmerksamkeit, die Faulheit der Leute, die nicht bis zum Ende des Parkplatzes fahren wollen, weil der Weg dann vielleicht zehn Meter länger ist, die auf der Couch sitzen, eine Tüte Chips in der einen und eine Cherry Coke in der anderen Hand, und sich fragen, warum Amerika fetter und fetter wird. Sie beugt sich nach links und will auf die Hupe drücken – Was sind das bloß für Leute? –, zieht die Hand aber wieder zurück. Sie kann es sich nicht leisten, unhöflich zu sein. Nicht hier. Nicht heute abend. Wie verheerend wäre es, als Ehrengast und Hauptrednerin in einen Streit auf dem Parkplatz verwickelt zu werden?
»Da muss irgendwo noch eine andere Veranstaltung sein«, sagt sie.
»Weiß nicht. In der Zeitung stand jedenfalls nichts davon.« Der Wagen vor ihnen kriecht weiter, das hektische Blinken links erstirbt, nur um auf der rechten Seite reanimiert zu werden. Dann leuchten die Bremslichter, und der Wagen bleibt stehen. Schon wieder. Davor sieht sie die von den Scheinwerfern beleuchteten Gestalten von Paaren, die den Bürgersteig entlangeilen, gebeugt unter Regenschirmen, und in diesem Augenblick fällt ihr ein, dass sie ihren Schirm vergessen hat.
»Tim? Hast du einen Schirm mitgenommen?«
Er sieht sie mit seinem erschrockenen Blick an: hochgezogene Brauen, die Augen weit aufgerissen, nach Worten suchende Lippen – das Ganze sowohl Parodie als auch Hommage auf seinen Lieblings-Talkmaster. Er kann sehr komisch sein, nichts ist ihm heilig, kein Anlass ist so feierlich oder so wichtig, dass er nicht einen Witz darüber machen würde. Aber dies ist nicht die rechte Zeit. Oder der rechte Ort.
»Also nicht?«
Er schüttelt den Kopf, spielt noch immer den Trottel, als wäre das alles ein großer Witz, als könnte er sie auch nur ansatzweise beruhigen. »Nein. Tut mir leid. Soll ich zum Eingang fahren und dich vor der Tür absetzen? Oder nein, ich trage dich. Soll ich dich tragen?«
»Nein«, fährt sie ihn an und denkt an ihre ruinierte Frisur und das verlaufene Make-up, denkt daran, dass sie am Mikrofon stehen wird, als wäre sie gerade von einem Boot gefallen, »nein, ich will nicht, dass du mich trägst. Hast du denn nicht gesehen, dass es Regen geben wird? Hast du überhaupt nicht nachgedacht?«
Als sie einen Monat zusammen waren, hat sie ihm, bevor sie zusammen nach Scottsdale gefahren sind, wo er Katherine kennenlernen sollte, ein genaues Bild von ihrer Mutter gezeichnet, von ihrer Persönlichkeit, ihren Gewohnheiten und Vorlieben – ein zwar im großen und ganzen liebevolles, aber auch schonungsloses Porträt. Ihre Mutter war eine Käuferin, eine unermüdliche Käuferin. Eine Kaufsüchtige. Es gab nichts, was sie nicht sammelte – Tonperlen, Zuni-Türkisschmuck, Fiestazubehör, Porzellanpuppen, antike Abfalleimer und viktorianische Möbel, so wuchtig und dunkel, dass sie das Licht aus jedem Zimmer drängten. Angesichts eines sterbenden Planeten und ausgebeuteter Rohstoffreserven hätte sich wohl jede Tochter dafür geschämt, aber für eine Ökologin, die sich der Aufgabe verschrieben hatte, die Öffentlichkeit aufzuklären, war es niederschmetternd und unerklärlich. Und es tat weh, sehr weh. Sie fand es auf vielen Ebenen schlimm. Unter anderem fand sie schlimm, dass sie es überhaupt erwähnte – als würde sie dadurch ihre Mutter und die Liebe ihrer Mutter verraten. Und was war das erste, was Tim dazu sagte? »Ich weiß den Sammeltrieb zu schätzen«, erklärte er, als er sich mit dem Gimlet, den ihre Mutter ihm in die Hand gedrückt hatte, auf das Sofa im Wohnzimmer sinken ließ, »ganz gleich, ob das ökologisch korrekt ist oder nicht. Meine Mutter – die wirst du noch kennenlernen, sie lebt in Upstate New York, aber sie besucht mich ungefähr zweimal im Jahr –, meine Mutter war genauso. Aber dann hab ich zu ihr gesagt: ›Für Frauen ist die Jagd nach Antiquitäten das, was für Männer das Angeln ist. Ich verstehe das. Aber heutzutage geht es darum, Ressourcen zu schonen, und darum werfen die meisten ihre gefangenen Fische wieder ins Wasser. Du weißt schon: Man kostet die Aufregung aus, man schleicht sich an die Forellen an und wirft die Fliege aus, man zieht dieses geheimnisvolle, wunderschöne Wesen aus dem Wasser, eins von einer Million, so wertvoll wie Gold, aber dann lässt man es wieder frei.‹ Und jetzt macht meine Mutter es genauso. Sie ist total geheilt. Sie geht in ein Geschäft, stößt auf irgend etwas Wunderschönes, was immer es ist, feilscht so verbissen, als würde es sie umbringen, auch nur zehn Cent mehr zu bezahlen, und dann legt sie das Geld hin, lässt sich das Ding einpacken – und gibt es wieder zurück. Verstehst du? Fangen und wieder freilassen.«
Er gibt keine Antwort. Aber er lässt den Wagen vorwärtskriechen und betätigt die Lichthupe, um den Leuten in dem BMW zu signalisieren, dass ihr Verhalten korrekturbedürftig ist. »Warum parkt ihr denn nicht gleich mitten auf der Straße? Na los«, treibt er sie an, »nun macht schon.« Wer immer sie auch sind – im Gegenlicht heben sich plötzlich zwei Silhouetten ab, der Hinterkopf eines Mannes und das Profil der Frau neben ihm, deren Haar aussieht wie ein schlampig gewickelter Turban –, sie scheinen begriffen zu haben, worum es geht. Die Schultern des Mannes machen eine rasche Bewegung, er lenkt nach rechts und macht widerwillig den Weg frei.
Und in diesem Augenblick überkommt sie dieses Gefühl – was ist es? Entsetzen? Ärger? Hass? –, und sie will es nicht wissen, sie will nicht hinsehen, sie starrt wie im Kälteschock nach vorn, als Tim an ihm vorbeifährt, im gleißenden Licht der Scheinwerfer des Wagens hinter ihnen. Sie spürt, dass sein säuerlicher Blick über sie hinwegstreicht, der Motor des Prius summt, die Scheibenwischer fahren rhythmisch hin und her, und aus dem Radio dringt eine ganz leise Stimme, als sie sich an ihm vorbeischieben, doch sie wendet nicht den Kopf. Sie schließt sie aus, diese beiden, sie negiert sie, spielt Verstecken, doch zuvor springt ihr noch der Aufkleber auf dem Seitenfenster des BMW entgegen: Vor dem Hintergrund der Cartoonfigur eines Nagetiers mit menschenähnlichem Gesicht stehen drei knallrote, grellgelb eingerahmte Buchstaben: FPA, und darunter, in Lettern, die wie vom Fahrtwind verwischt aussehen: For the Protection of Animals.
Doch dann merkt sie, dass Tim beschleunigt, und sie rauschen durch den Regenvorhang, oder jedenfalls den von den Scheinwerfern beleuchteten Teil davon, zwischen den rechts und links abgestellten Wagen zum anderen Ende des Parkplatzes und auf der anderen Seite wieder zurück. Bevor sie irgendwelche Einwände machen kann, hält er vor dem Eingang an, auf dem breiten Streifen, der Nur für Fußgänger ist, neben der gewundenen Schlange aus Leuten mit Regenmänteln und Schirmen, die Eintrittskarten wollen, und kaum sind sie zum Stehen gekommen, da beugt er sich vor und streckt die Hand nach ihrem Türgriff aus. »Na los«, sagt er. Der Sicherheitsgurt zerrt an seiner Schulter, und sein Geruch – sein Rasierwasser, sein Shampoo, der warme, feuchte Geruch der Haare unter seinen Achseln und zwischen seinen Beinen, der Geruch ihres Bettgenossen, ihres Geliebten – steigt ihr in die Nase, urtümlich und tröstlich und doch auch verwirrend. Für einen Augenblick weiß sie nicht, was sie tun soll. »Ich parke irgendwo dahinten«, sagt er und weist mit einer unbestimmten Geste auf die weite Schattenarena hinter ihnen. »Ich komme dann nach.« Die Tür schwingt auf. Sie löst ihren Sicherheitsgurt, klemmt sich Laptop und Schnellhefter unter den Arm und steigt aus in den Wind und den windverwehten Regen –, den sie auf den Lippen schmeckt, süß und aufdringlich zugleich. Tim sieht ihr nach. Grinst. »Hals- und Beinbruch«, sagt er.
Bevor sie antworten kann – und was hätte sie schon sagen sollen? Ich werd’s versuchen? –, ist Frieda Kleinschmidt, die Museumsdirektorin, bei ihr und hält einen leuchtend rosaroten Schirm über sie. Die Lampen entlang des Wegs zum Eingang verschwimmen im Dunst, Leute kommen aus den Schatten und suchen Zuflucht unter dem Vordach, klappen Schirme zusammen, stampfen mit den Füßen auf und streifen Regentropfen von Schultern, Ärmeln und Hüten. Groß, mit schmalen Schultern und verkniffenem Gesicht steht Frieda steif da und starrt auf den Prius, der schräg auf dem Fußweg steht, wo noch nie zuvor ein Wagen gestanden hat. Ihre Stahlbrille schimmert, und aus vergrößerten Augen wirft sie einen ängstlichen Blick auf Tim – Nein, er ist kein Terrorist, will Alma ihr versichern, nur mein Freund –, und dann sagt sie: »Na, da haben Sie ja ein schönes Wetter erwischt. Wer hätte das gedacht?« Sie macht eine pumpende Bewegung mit dem Schirm und senkt ihn auf Almas Höhe. »Ich meine, vor einer Stunde war es noch wolkenlos. Oder nicht? Ich glaube schon. Als ich zuletzt geschaut habe.«
Alma murmelt eine Antwort, und dann gehen sie durch den Innenhof, vorbei am Eingang zum Vortragssaal und zu der Tür des Raums, in dem der unglückliche Grizzly (Ursus arctos californicus, 1924 für ausgestorben erklärt) Wache hält. »Diese vielen Leute – die sind doch nicht alle wegen mir gekommen, oder?«
»Ich wüsste nicht, wegen wem sonst«, sagt Frieda über ihre Schulter, beugt sich vor, klimpert mit einem Schlüsselbund und öffnet die Tür zu dem kalten, zu hell erleuchteten Raum. Sie bewegt sich schnell, verschränkt die Arme und geht in ihren Joggingschuhen mit federnden Schritten herum, als wollte sie gleich in die Nacht verschwinden. Sie ist nervös, das kann Alma sehen, nervös wegen des zahlreichen Publikums und wegen des Themas und dem, was letzte Woche in Ventura passiert ist. »Aber Sie haben ja alles, was Sie brauchen, oder? Auf dem Podium stehen eine Flasche Wasser und ein Glas. Und ich glaube, wir sollten zehn Minuten später anfangen, weil es ja regnet und damit jeder einen Platz hat.«
»Ja«, murmelt Alma, »ist gut. Ich muss nur den Laptop an den Projektor anschließen. Und das Mikrofon –«
»Ich habe den Soundcheck selbst gemacht. Werden Sie nach dem Vortrag Fragen beantworten?«
Der Grizzly mit den Glasaugen, der früher zur Ausstellung gehörte, jetzt aber aufgrund ungenannter Vergehen in diesen Raum verbannt ist, überragt sie und fletscht stumm die Zähne. Es gibt hier noch andere Ausstellungsstücke: In einer Ecke steht ein großer, steifer Kamm aus Walbarten, auf einem Eichentisch sind Mammutknochen ordentlich aufgereiht und sehen den ins Unwahrscheinliche vergrößerten Resten eines Kentucky Fried Chicken beunruhigend ähnlich, Pfeilspitzen und Tonscherben von Chumash-Gefäßen liegen in einer verstaubten Vitrine, die schräg in den Raum steht – Museumsplunder, der auf die Spenden wartet, die ihn vor dem Schicksal eines ewigen Depotdaseins bewahren sollen. »Ja. Ich meine, deswegen sind die doch gekommen. Die meisten jedenfalls.«
Frieda sieht sie an. »Wenn irgend jemand, ich weiß nicht, streitlustig wird, entziehen Sie ihm einfach das Wort. Und Bill Braithwaite steht an der Tür, nur für alle Fälle …«
Das ist der Punkt, wo sie sagen sollte: Keine Angst, ich komme schon zurecht – ich hab so was schon tausendmal gemacht. Aber sie sagt es nicht.
Hoch aufgerichtet, mit blitzenden Brillengläsern und verschreckten taubengrauen Augen, faltet Frieda die Hände und dreht sich um, unter dem leisen Quietschen von Gummi oder Kunststoff oder was immer es ist, aus dem man heutzutage Joggingschuhe macht. »Na, dann lasse ich Sie jetzt allein. Ich hole Sie in« – sie hebt die Hand und sieht blinzelnd auf eine flache goldene Uhr an einem schnürsenkeldünnen Armband – »sagen wir siebeneinhalb Minuten ab.«
Es ist warm im Saal, sehr warm. Auch die Stehplätze sind gefüllt, was bedeutet, dass mindestens dreihundert Zuhörer gekommen sind, und die drängen sich auf engem Raum. Die meisten haben bereits gegessen und verdauen jetzt, wandeln Proteine und Kohlenhydrate um und erzeugen Wärme. Und es ist feucht, der Regen prasselt unaufhörlich auf das Dach und läuft mit peristaltischem Gluckern und Gurgeln durch die Regenrinnen. Außerdem ist es November, und darum ist die Klimaanlage des Museums längst abgeschaltet. Während Frieda eine Liste von Ankündigungen verliest – Veranstaltungen, Seminare, Spendensammlungen, Exkursionen, Filme und Diavorträge –, sitzt Alma in der Mitte der ersten Reihe und spürt, wie ihr der Schweiß aus den Poren tritt, sich im Nacken unter der Heizdecke ihrer Haare sammelt und tropfenweise das Rückgrat hinunterrinnt, wo ihr die Bluse bereits an der Haut klebt. Als sie durch den linken Seiteneingang gegangen ist und sich auf ihren Platz gesetzt hat, war sie abermals erstaunt, wie viele Leute erschienen sind, besonders an einem so verregneten Abend, aber sie hat ihren Blick nur schweifen lassen, so dass sie keine einzelnen Gesichter erkannt hat, auch nicht das von Tim, der wohl im überwiegend männlichen Teil des Publikums am hinteren Ende des Saals steht, das sich keine Hoffnung auf einen Sitzplatz machen kann. Vor ein paar Minuten, in dem grünen Raum mit Frieda und dem Grizzly, war sie noch nervös, aber das ist jetzt vorbei. Sie wünscht sich nur – sie hofft –, dass Friedas Begrüßung kurz und knapp ausfällt, damit sie zum Podium gehen und diese Sache hinter sich bringen kann.
Aber Frieda fasst sich nicht kurz. Nach den ersten stockenden Worten kommt sie in Schwung und genießt die rauschhafte Erfahrung, ihre Stimme durch die Drähte eines mit Schaumstoff ummantelten Mikrofons und die unter der Decke aufgehängten Lautsprecher zu jagen und die Aufmerksamkeit von dreihundert Zuhörern zu fesseln, ohne sich zu verhaspeln, zu versprechen oder sich auf andere Weise zum Narren zu machen. Ihre Einführung – Alma Boyd Takesue, Bachelor in Biologie an der University of Hawaii, Master und Promotion in Ökologie an der University of California in Berkeley, drei Jahre Feldforschung über Braunschlangen auf Guam und dann der ganze Rest bis hin zur Auflistung ihrer Publikationen in Fachjournalen, aller Publikationen in allen Journalen – ist ebenso langwierig wie langweilig, und als Frieda endlich vom Mikrofon zurücktritt, mit einer Hand das Scheinwerferlicht abschirmt und die andere in einer Willkommensgeste ausstreckt, ist das Publikum ungeduldig. Pflichtschuldiges, spärliches Klatschen ertönt, als Alma aufsteht, und erstirbt, noch bevor sie im Scheinwerferlicht angekommen ist und sich müht, das Mikrofon, das Frieda ihr hinterlassen hat, so einzustellen, dass es nicht mehr über ihrem Scheitel hängt.
»Hallo«, hört sie sich sagen, und der Verstärker schleudert ihre Stimme durch den Saal, so dass sie mit hallendem Vibrato in alle Winkel dringt. »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie gekommen sind, besonders an einem so« – und hier hält sie inne, sucht nach dem rechten Wort, das die Spannung herausnimmt und eine freundliche Atmosphäre erzeugt, und wie ist der Abend denn überhaupt? –, »an einem so ungemütlichen Abend.« Ja, ungemütlich. Allgemeines Geraschel, als säße das ganze Publikum auf einem riesigen, gespannten Papier, und dann beugt sie sich zu ihrem Computer, und auf der großen Leinwand hinter ihr erscheint das erste Foto: Anacapa bei Tagesanbruch, der Arch Rock leuchtet ikonisch, und das Meer blinkt so friedlich, als wäre es in Öl gemalt. »Das ist Anacapa«, sagt sie überflüssigerweise, »eine der Inseln des Nationalparks Santa-Barbara-Inseln, jener Inseln, die man oft als die Galapagos-Inseln Nordamerikas bezeichnet.«
Die Galapagos-Inseln Nordamerikas. Eine abgedroschene Phrase, die sie aber in Presseerklärungen und bei formellen und informellen Vorträgen gern gebraucht, denn sie verfehlt nie ihre Wirkung: Die Zuhörer denken sogleich an Sonderausgaben von National Geographic, sehen vor ihrem geistigen Auge Blaufußtölpel, Fregattvögel, Vampirfinken und Meerechsen in liebevollen Großaufnahmen, während im Hintergrund azurblaue Wellen an ein zerklüftetes Gestade schlagen, und stellen dann in Gedanken die gewünschte Verbindung her: Diese Inseln, unsere Inseln, sind ebenso einzigartig. Und haben es ebenso verdient, geschützt zu werden. Nicht bloß geschützt, sondern auch wiederhergestellt zu werden.
Sie hebt den Kopf und sieht ins Publikum, wendet den Kopf nach rechts und links, als spräche sie jeden einzelnen von ihnen persönlich an, obwohl sie wegen der Scheinwerfer und weil ihre Brille auf dem Podium liegt und das Licht im Saal gedimmt ist, kaum über die zweite Reihe hinaussehen kann. »Anacapa«, sagt sie und lässt jede Silbe für sich allein stehen, »ist, wie Sie sicher wissen, ein einzigartiges und unersetzliches Ökosystem, eine Heimat für eine ganze Reihe endemischer Tier- und Pflanzenarten, die es nirgendwo sonst gibt, vom Anacapa-Goldlack und einer autochthonen Malacothrix aus der Gattung der Wegwarten bis hin zu Schildgrille und Anacapa-Hirschmaus, Peromyscus maniculatus anacapae, so wie die anderen Inseln einzigartige Vogelarten sowie den Tüpfelskunk und« – hier klickt sie mit der Maus, so dass das nächste Foto erscheint, das jedesmal beifälliges Gemurmel hervorruft – »den Insel-Graufuchs beherbergen. Diese Füchse haben sich im Verlauf der sechzehntausend Jahre, die seit der Abtrennung der Inseln vom Festland vergangen sind, zu einer eigenen Unterart entwickelt, die den bei Inselpopulationen oft beobachteten Zwergwuchs aufweist. Diese kleinen Burschen« – sie sieht auf die Leinwand, wo der Fuchs im Dämmerlicht steht, die Ohren aufgestellt, die Vorderpfoten ordentlich nebeneinander und mit einem Blick, aus dem die ganze Wildheit eines Plüschtiers spricht – »wiegen im Durchschnitt drei bis fünf Pfund und sind so groß wie eine Hauskatze … eine Hauskatze, die sich ausgiebig und regelmäßig bewegt.« Die letzte Bemerkung, ihr Eisbrecher, sorgt immer für den ersten Lacher des Abends oder wenigstens für ein schuldbewusstes Schmunzeln, wenn die Katzenbesitzer an ihre übergewichtigen, an Trockenfutter gewöhnten Zimmertiger denken, die zu Hause schlafend auf dem Sofa liegen.
Jetzt hat sie es geschafft, das Publikum ist gefesselt. Was macht es schon, dass sie insgeheim findet, alle streunenden Katzen sollten abgeschossen werden? Sie findet ihren Rhythmus, die lateinischen Bezeichnungen gehen ihr so leicht über die Zunge, als wäre sie eine Novizin, sie hat alle Fakten und Zahlen parat und braucht nicht auf die Notizen zu sehen, die sie in einer 22-Punkt-Schrift ausgedruckt hat, damit sie keine Brille braucht und das Publikum ihr direkt in die Augen sehen kann. Hinter ihr erscheint ein Bild nach dem anderen, sie präsentiert einen kurzen Überblick über die Biogeographie der Inseln und erklärt, wie sich an isolierten Orten Spezies entwickeln und die Nischen des Ökosystems füllen und dass ein solches einzigartiges Gleichgewicht, wie es auf vielen Inseln in aller Welt herrscht, durch die Einfuhr von Festlandarten empfindlich gestört werden kann. Sie spricht vom Dodo, dem Paradebeispiel für eine ausgestorbene Inselspezies, einem taubenartigen Vogel, der irgendwie seinen Weg auf eine Insel im Indischen Ozean gefunden und sich, da es dort keinerlei Raubtiere gab, zu dem watschelnden, fettsteißigen, flugunfähigen Vogel entwickelt hat, der dann zum Inbegriff der Hilflosigkeit geworden ist.
»Der Dodo war naiv«, sagt sie und bedenkt sie mit einem strengen, nüchternen Blick, denn das ist die Realität, Leute, das ist es, worauf es hinausläuft – der unersetzliche Verlust einer Spezies –, und daran ist nichts Komisches oder auch nur entfernt Ironisches. »Das soll heißen, er hatte Misstrauen und Furcht im Verlauf von Generationen verloren und watschelte arglos auf den ersten Matrosen zu, der auf der Insel Mauritius landete. Und der drehte dem Dodo den Hals um, rupfte und briet ihn. Anschließend führte er Ratten und Schweine ein, die die Eier dieser Bodenbrüter fraßen. Fliegen ist teuer«, fährt sie fort, »jedenfalls in Hinblick auf den Kalorienverbrauch, und dasselbe gilt für das Anlegen von Nestern in Bäumen. Warum fliegen, warum Nester auf Bäumen bauen, wenn man an einem Ort ist, wo man nichts zu befürchten hat? Wie jedes Schulkind weiß, lautet die Antwort – oder vielmehr das Resultat – im Fall des Dodos: Ausrottung.«
Das Publikum ist ruhig geworden, das anfängliche Rascheln, Schneuzen und halbunterdrückte Husten ist einer Stille gewichen, die sie nicht als kollektiven Stupor, sondern als aufmerksames Schweigen deuten möchte. Und tatsächlich, sie sind aufmerksam: Sie kann es spüren, sie sind wach und gespannt, sie warten auf das Thema (Schlüsselworte: Ratten und Gift) und die heftige anschließende Diskussion. Nun gut. Dann also heraus damit. Sie klickt mit der Maus, und das nächste Bild, das die Leinwand befällt, ist das ebenjener Ratten. Augen funkeln dämonisch im Blitzlicht des Fotografen, und die Tiere selbst durchstöbern die Nester von Möwen und Alken, ihre Schnauzen und Pfoten sind verschmiert mit Eidotter, Eiweiß und Keimflecken.
»Ratten«, verkündet sie und hält kurz inne, damit das ganze Gewicht dieser Information zur Geltung kommt, »sind weltweit für sechzig Prozent des Aussterbens von Inselpopulationen verantwortlich.« Wieder eine kurze Pause. »Und Ratten sind dabei, die Bodenbrüter auf Anacapa auszurotten.« Diesmal wird ihre Pause begleitet von dem stählernsten Blick, den sie angesichts der Tatsache, dass sie das Publikum praktisch nicht sehen kann, zustande bringt. »Und darum bin ich heute abend hier, um Ihnen zu erklären, dass wir schnell etwas unternehmen müssen, wenn wir diese endemischen Tier- und Pflanzenarten vor dem Schicksal bewahren wollen, das der Dodo, der Rodrigues-Solitär, der Stephenschlüpfer, Roosevelts Anolis und Dutzende, Hunderte, Tausende andere Arten erleiden mussten.«
Ein Rascheln, das Knarzen von Stühlen, Geflüster – Erregung geht durch das Publikum wie eine elektrische Ladung. Das ist es, wofür sie gekommen sind. Und das ist es auch, wofür Alma gekommen ist: der Augenblick der Wahrheit. Sie richtet sich auf und strafft die Schultern. Sie hat die Leute jetzt da, wo sie sie haben will, und jetzt ist der Augenblick gekommen, sich zum Mikrofon zu beugen, mit diesem stählernen Blick, und zu sagen: »Und darum haben wir, nach langer Beratung und mit voller Unterstützung der Biologen vom National Park Service, der Naturschutzbehörde und diverser wissenschaftlicher Institute, beschlossen, die auf die Santa-Barabara-Inseln vorgedrungene Rattenpopulation, die die Bestände der einheimischen Hirschmaus, des Alken, der Taubenteiste, der Westmöwe und des Kormorans gefährdet, durch ein auf dem Luftweg ausgebrachtes Mittel namens Brodifacoum zu beseitigen.« Sie klickt, und es erscheint eine Großaufnahme eines Lummenalken mit schwarzer Kappe und Maske über weißer Kehle und hellem Bauch. Der kleine Vogel sieht entsetzt auf die Ratte hinab, die an dem Ei nagt, das er bebrütet. »Und ich kann Ihnen versichern, dass dieses Mittel schnell und human wirkt und dass wir nur zu gern weniger drastische Maßnahmen ergreifen würden, wenn es denn welche gäbe. Angesichts der Dringlichkeit der Situation und unseres Vertrauens in diese Methode müssen wir aber …«
Es ist ganz still. Alles sieht zu einer Gestalt, die sie erst jetzt am Rand ihres Blickfelds entdeckt, der Gestalt eines Mannes, der sich von einem der Plätze am Rand der ersten Reihe erhoben hat. Er hat rostbraune Dreadlocks, er hält den Kopf gesenkt, die Muskeln sind angespannt, er beißt die Zähne zusammen. Sie kennt ihn. Natürlich kennt sie ihn. Und natürlich ist er hier, natürlich unterbricht er sie und benimmt sich wie ein SA-Mann, wie ein, ein –
»Quatsch«, ruft er. Seine Stimme hallt von einem Ende des Saals zum anderen. »Propaganda und Doppelsprech.« Er fährt zum Publikum herum, die Arme erhoben wie ein biblischer Prophet. »Sind wir gekommen, um uns die Parteilinie erklären zu lassen wie Arbeitssklaven in einer kommunistischen Diktatur, oder ist das hier eine öffentliche Versammlung? Wollen wir, dass unsere Fragen beantwortet werden? Wollen wir unseren eigenen Standpunkt darlegen? Oder ist das etwa ein Vortrag für Taubstumme?«
Aufbrandender Beifall und verschiedene Stimmen, männliche wie weibliche, die ihm beipflichten, und dann, zögernd zunächst wie ein aufkommender Wind, aber mit jeder Wiederholung stärker werdend, ein Sprechchor: »Dis-kus-sion! Dis-kus-sion! Dis-kus-sion!«
Sie hebt die ausgestreckten Hände, eine Geste, die um Ruhe bittet, um Geduld, um schlichte Höflichkeit, und auch sie bekommt Unterstützung. »Setzen!« ruft einer aus der Dunkelheit. »Halt den Rand!«
»Gut«, hört sie sich sagen, und ihre verstärkte Stimme donnert wie die eines Stentors, eines allmächtigen Gottes – sie hat das Mikrofon, und das Publikum hat es nicht. »Ich werde Ihre Fragen gleich beantworten. Und was Sie betrifft, Mr. LaJoy« – er steht noch immer da, die Arme trotzig verschränkt –, »so sind Ihre Einwände ja wohlbekannt, und Sie werden Gelegenheit bekommen, sie noch einmal vorzubringen, aber bis dahin setzen Sie sich bitte wieder und gedulden Sie sich.« Und dann fügt sie überflüssigerweise noch hinzu: »Alles zu seiner Zeit.«
Der Beifall, der jetzt ertönt, gilt eindeutig ihr und ihrer Bitte um Höflichkeit und Zurückhaltung, und er erstirbt erst, als Dave LaJoy sich auf seinen Platz hat sinken lassen und Alma einen Schluck Wasser aus dem Glas getrunken hat, das Frieda auf das Rednerpult gestellt hat. Zittert ihre Hand, als sie es zum Mund führt? Nein. Sie zittert nicht. Kein bisschen. Entschlossen, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, stellt sie das Glas energisch ab und macht weiter, wo sie unterbrochen worden ist. Sie beschreibt – und ja, sie verharmlost – die Wirkung des Mittels und weist abermals und mit eindringlichen Worten darauf hin, dass es absolut keine Alternative zu dem geplanten Vorhaben gibt, während das letzte Foto, das eines Alkes, erscheint, der vor einem verschwommenen Hintergrund aus Pflanzen, die sich an dunkles Vulkangestein klammern, seinen Nestling atzt. Sie nimmt den Applaus dankend entgegen, verbeugt sich und wartet, bis die hagere, hüftlose, hängeschultrige Frieda auf die Bühne und ins Scheinwerferlicht getreten ist. »Und jetzt«, sagt Frieda, begleitet von einer kurzen, warnenden Rückkopplung, »jetzt wird Dr. Takesue Ihre Fragen beantworten. Eine nach der anderen. Und immer nur einer, bitte.« Sie hält kurz inne, als erwartete sie Widerspruch, schirmt die Augen gegen das Scheinwerferlicht ab und ruft: »Schalten Sie das Licht im Saal ein, Guillermo. Wir wollen doch sehen, mit wem wir sprechen.«
Sofort ist Dave LaJoy aufgesprungen und reißt die Hand hoch – und da ist sie, neben ihm: Anise Reed mit dem Wirbelsturmhaar, den glühenden Augen, den im Schoß geballten Händen. Alma, die ihre Brille inzwischen fest auf die Nase gedrückt hat, ignoriert die beiden und deutet auf eine Frau in der zehnten Reihe. Die erhebt sich von ihrem Stuhl, mit gerötetem Gesicht, einer Haube aus milchweißem Haar und einer rechteckigen Stahlbrille, die aus demselben Geschäft wie Friedas stammen könnte, und sagt mit dünner, freundlicher Stimme: »Aber was ist mit den Mäusen? Werden die von dem Mittel nicht auch getötet?« Sogleich setzt sie sich wieder und verschwindet in der Anonymität der Menge, als würde es sie erdrücken, auch nur eine Sekunde länger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
»Eine gute Frage«, gratuliert Alma ihr, erleichtert, eine Frage von jemandem beantworten zu können, der sich informieren und etwas dazulernen will, anstatt Aufmerksamkeit zu saugen wie ein Parasit, denn das ist genau das, was Dave LaJoy ist: ein Parasit, der am Park Service und am Museum und an Frieda und allen anderen saugt, die sich bemühen, die Situation zu verbessern, und nicht alles kaputtmachen wollen. »Unsere Biologen« – ihre Stimme ist jetzt sanft und honigsüß, und die Befriedigung, die Alma empfindet, löst die Spannung, die sich in ihrem Bauch aufgebaut hat und bis in die Fingerspitzen ausstrahlt, so dass sie kribbeln, als wären sie erfroren –, »unsere Biologen haben eine repräsentative Population eingefangen, damit sie sich in Gefangenschaft vermehren und nach der Beseitigung der Ratten ausgesetzt werden können. Wir rechnen damit, dass der Bestand sich sehr schnell erholen wird, sobald keine Konkurrenz mit den Ratten mehr besteht.«
»Und die Vögel? Was ist mit den Vögeln? Es werden doch auch jede Menge Vögel sterben, oder etwa nicht?« Ein Mann zu ihrer Linken – ein Verbündeter von LaJoy? – ist aufgesprungen. Sie kennt ihn nicht, sieht einen Spitzbart, einen funkelnden goldenen Ohrring, die blauen, unverwandt starrenden Augen des Fanatikers, und will ihn im ersten Moment einfach ignorieren, entscheidet sich jedoch sogleich anders: Wenn sie ihm nicht antwortet, wird es so aussehen, als wollte sie der Frage ausweichen.
»Die Köder sind leuchtendblau eingefärbt und haben somit keinerlei Ähnlichkeit mit irgend etwas, was ein Vogel fressen würde. Und wir wollen diese Aktion bald, im Winter, durchführen, wenn sich weniger Vögel auf der Insel aufhalten.« Sie hebt beschwichtigend die Hand und lässt sie wieder sinken. »Wir glauben, dass die Kollateralschäden sehr klein sein werden.«
»Klein?« Schon wieder Dave LaJoy, der abermals aufgesprungen ist. »Der Tod auch nur eines einzigen Tiers – einer einzigen Ratte – ist unmenschlich, ungerecht und nicht hinnehmbar. Warum erzählen Sie uns nicht – Dr. Takesue –, was dieses Mittel mit einem Tier anrichtet, das das Pech hatte, etwas davon zu fressen, ganz gleich, ob es eine Ratte oder eines von Ihren kostbaren Vögelchen ist? Na? Warum erzählen Sie uns nicht davon?«
Sie sieht, dass Frieda auf ihrem Platz in der ersten Reihe hin und her rutscht. Frieda, der Wachhund. Sie reckt den Hals, und ihre Brille blitzt streitlustig. Und wo ist Bill Braithwaite – sollte er nicht als Ordner bereitstehen? Und Tim? Wo ist Tim?
»Das Mittel wirkt schnell und schmerzlos«, hört sie sich sagen.
»Noch mehr Doppelsprech.« LaJoy fährt herum und will die Menge aufstacheln, er fuchtelt mit den Armen, und die Dreadlocks hüpfen, wenn er den Kopf auf dem kräftigen Hals dreht. »Tatsache ist, dass dieses Gift – denn das ist es ja schließlich, also warum nennen Sie’s nicht auch so? –, dass dieses Gift einen langsamen Tod durch innere Blutungen bewirkt, und das kann zwischen drei und zehn Tage dauern. Zehn Tage! Und das nennen Sie schnell und schmerzlos?«
Ein Raunen geht durch den Saal. Stühle quietschen. Entrüstetes Gemurmel erhebt sich. Das Publikum entgleitet ihr.
»Hören Sie, Mr. LaJoy«, sagt sie, und ihre Stimme ist so scharf wie die Pfeilspitzen in dem Hinterzimmer, die sie am liebsten auf ihn abschießen würde: einfach den Bogen spannen, zielen und den Pfeil loslassen, »ich werde hier nicht mit Ihnen diskutieren –«
»Wo denn dann? Na los, sagen Sie’s. Ich werde dasein. Dann kommt vielleicht die Wahrheit ans Licht: dass Sie und Ihre sogenannten Wissenschaftler –«
»Ehrlich gesagt: nirgends. Sie haben Ihre Meinung bereits dargelegt. Danke. Jetzt … ja, Sie dort hinten, der Herr mit dem karierten Hemd.«
Aber LaJoy gibt nicht auf, ebensowenig wie er in der Woche zuvor in Ventura aufgegeben hat, wo er Flüche und Drohungen ausgestoßen hat und man ihn hinauswerfen musste. »Nazis, ihr seid Nazis! Alles umbringen – das ist eure Lösung. Töten, töten, töten!«
Plötzlich steht Frieda neben ihr und hebt das Mikrofon an ihr empörtes Gesicht. »Das reicht jetzt. Wenn Sie sich nicht an die Regeln der Höflichkeit halten können –«
Er fällt ihr ins Wort: »Wie können Sie von den Regeln der Höflichkeit sprechen, wenn unschuldige Tiere zu Tode gefoltert werden sollen? Höflich? Ich werde erst wieder höflich sein, wenn das Schlachten vorbei ist, und keine Minute früher. Diese Ratten –«
Alma spürt, wie ihr das Herz sinkt. Sie steht an Friedas Seite, fühlt sich hilflos und ausgesetzt und versucht, die Schultern nicht hängen zu lassen. Sie hat das Mikrofon, ihr Zepter, ebenso verloren wie das Publikum. Frieda späht zum Ende des Saals und ruft: »Bill. Guillermo. Würden Sie diesen Herrn bitte aus dem Saal begleiten?«
Und da kommen sie, Bill Braithwaite mit seinen vierzig Kilo Übergewicht und Guillermo Díaz, der Techniker, mit gesenktem Kopf und hundert Pfund leichter. Sie gehen mit entschlossenen Mienen durch den rechten Seitengang auf LaJoy zu. »Diese Ratten sind schon seit zweihundertfünfzig Jahren auf der Insel!« ruft LaJoy und schiebt sich weiter in die Mitte, um ihnen auszuweichen. »Welche Welt wollen Sie wiederherstellen? Die von vor hundert Jahren? Tausend? Zehntausend? Warum« – er steht jetzt im anderen Seitengang und wendet sich an das Publikum – »nicht gleich einen Zwergmammut klonen und auf der Insel aussetzen, wie in Jurassic Park
»Bill«, sagt Frieda und stößt einen langen, entnervten Seufzer aus, der aus den Lautsprechern rauscht wie das letzte Stoßgebet eines Märtyrers. »Bill!«
Alle scheinen sich von ihren Plätzen erhoben zu haben, Stimmen hallen von dem offenen Gebälk der Decke wider, die Versammlung ist beendet, wieder ist ein Abend vertan – oder jedenfalls der nützlichste Teil davon. Warum hat sich niemand zu Wort gemeldet, der sich zuvor informiert hat? Oder Schulkinder, die etwas über die Gewohnheiten der Inselfüchse erfahren oder wissen wollen, was der Tüpfelskunk frisst und wieso er so klein ist? Warum dieser Streit? Warum diese Wut? Warum dieser Hass? Jurassic Park. Das war ein Tiefschlag, ein demagogischer Trick, um vom eigentlichen Thema abzulenken, und am liebsten würde sie das Mikrofon an sich reißen und ihm die Meinung sagen, aber das kann sie nicht, denn sie ist ein Profi, sie hält sich an die Regeln, sie hat Geschmack und Umgangsformen und die Wahrheit auf ihrer Seite, und sich auf einen lauthals geführten Wortwechsel mit einem Soziopathen einzulassen ist ihren Zielen nicht dienlich.
Sie blickt in den Saal. LaJoy ist bereits beim Ausgang, zwischen ihm und Bill und Guillermo ist gut die Hälfte des Publikums, so dass ihr nicht mal die Befriedigung bleibt zu sehen, wie man ihn hinauswirft. Er lässt sich Zeit, wiegt sich in den Hüften, schiebt die Schultern, dreht den Kopf keck hin und her, er bewegt sich wie ein Catcher, der die Arena betritt. Er ist beinahe draußen, die Leute machen ihm Platz, wie sie es für jeden Krawallmacher, jeden Spinner tun würden, aber im letzten Augenblick richtet er sich noch einmal auf, dreht sich um, wirft einen erbitterten Blick zum Rednerpult, an dem sie und Frieda unbeachtet stehen, reckt das Kinn und verschießt einen letzten Pfeil. So laut, dass alle es hören können, ruft er: »Wer hat Ihnen eigentlich erlaubt, Gott zu spielen, Frau Doktor
Danach, bei dem Empfang, den das Museum für sie ausgerichtet hat und bei dem man warmen Weißwein und weiche Tortillachips reicht, kommen einige Leute zu ihr, um ihr zu sagen, wie anregend und informativ ihr Vortrag war, wie sehr sie das, was sie für die Inseln tut, befürworten und wie beklagenswert sie die Dummheit und Grobheit finden, deren Zeugen sie heute abend geworden sind. Sie meinen es gut, aber mehr als ein reflexartiges Lächeln und ein freundliches »Danke« bekommt Alma nicht zustande. Nach LaJoys Abgang – Anise Reed ist zusammen mit ihm hinausgeschlichen – ist es Frieda gelungen, die Leute zu beruhigen, so dass die Fragestunde wie geplant fortgesetzt werden konnte. Alma hat Fragen von Menschen beantwortet, die echtes Interesse gezeigt haben, und die Gelegenheit genutzt, sie zu informieren, mit all der Verbindlichkeit und Redegewandtheit, die ihr zu Gebote stehen. Und das war schon eine Leistung angesichts der dramatischen Spannung, die noch immer in der Luft lag – eigenartigerweise hat LaJoys Ausbruch das Publikum nur aufgeschlossener und empfänglicher gemacht. Alles in allem hat sie den Abend ganz gut überstanden; sie hat, was noch wichtiger ist, ihr Anliegen dargelegt und die Menschen an ihren Überlegungen und Erkenntnissen teilhaben lassen, auf ruhige, vernünftige Weise, was die Anschuldigungen und Verzerrungen dieser PETA- und FPA-Leute wohl wirkungsvoller entkräftigt hat als alles andere. Ja. Sicher. Und warum steht sie dann hier, einen Plastikbecher mit abgestandenem, ungenießbarem Weißwein in der Hand, und setzt sich Blicken aus wie sie sonst für die kleine Turnerin reserviert sind, die bei den Olympischen Spielen vom Schwebebalken gefallen ist?
Sie spricht mit einer knochigen Siebzigerin in einer rosaroten Bluse, so groß wie ein Footballtrikot, über die Möglichkeit, von Inseln stammende Pflanzen in Gärten auf dem Festland anzusiedeln, als unvermittelt Tim erscheint, ihren Ellbogen nimmt – »Entschuldigung«, sagt er zu der alten Dame, »es handelt sich um einen Notfall« – und sie zum Ausgang führt. »Ich habe gerade bei Hana Sushi angerufen, die Küche ist noch bis zehn geöffnet. Willst du nun diesen Sake – Sake on the rocks, forsch auf der Zunge, mit einer zarten Note von Hokkaidowald, unterlegt mit einer Andeutung von Vanille und Granatapfel – oder nicht?«
»Aber ich muss mich noch von Frieda verabschieden.«
»Mit deutlichen Anklängen von Ananas und … ich weiß nicht … nassem Hund?«
»Aber Frieda –«
»Ruf sie von unterwegs an.«
»Das kann ich nicht«, sagt sie, aber da sind sie schon zur Tür hinaus und gehen durch die Nacht zum Parkplatz, der beinahe ganz leer ist. Aus tiefhängenden Wolken fällt neuerlicher Nieselregen. Sie denkt: Ich werde ihr eine Karte schicken. Sie denkt, dass es ihr für heute reicht, sie denkt an die in ruhiges, sanftes, vertrautes Licht getauchte Sushi-Bar, an leise Jazzmusik aus den Lautsprechern und an Shuhei und Hiro, die hinter der Theke stehen und lachen und tratschen und extra für sie etwas ganz Besonderes zaubern, sie denkt an Heilbutt und Albacore und Gelbflossen-Thunfisch aus den Tiefen des Ozeans und an Sake on the rocks in einem durchsichtigen, beschlagenen Glas.
Es sind noch etwa fünfzehn Meter bis zum Wagen, dessen mottenfarbene Karosserie in der tiefen Dunkelheit bleich schimmert, als sie sieht, dass irgend etwas nicht stimmt. Obwohl sie die Brille trägt, wirkt alles verschwommen. Sie gehen jetzt schneller, auch Tim hat es gemerkt, aber selbst als sie direkt neben dem Wagen stehen, kann sie nicht erkennen, was das für Linien sind. Es scheint sich um irgendwelche schwarzen Bänder zu handeln. Sprühlack?
Tim, eine schattenhafte Gestalt neben ihr, auch er nun Teil einer noch unklaren Komplikation, stößt mit vor Überraschung und Empörung bebender Stimme einen Fluch aus. »Scheiße! Scheiße! Die haben den Wagen vollgesprayt!«
Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, nehmen große, verschlungene Buchstaben Gestalt an. Stirb, liest sie. Schlampe, liest sie. Und schließlich: Japsfotze.