DER SCHIFFBRUCH DER WINFIELD SCOTT
Obwohl Alma sich die größte Mühe gibt, es zu
unterdrücken, geht ihr das Geräusch der Schnellstraße auf die
Nerven. Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, die Kirschtomaten
und Babykarotten zu schneiden, sie kann keinen klaren Gedanken
fassen, kann kaum hören, wie Micah Stroud aus den großen
Lautsprechern im Wohnzimmer auf den Wellen seiner Gefühle reitet.
Abgesehen vom gelegentlichen spätnächtlichen Sirenenjaulen und dem
Rumpeln der Sattelschlepper, die auf der langen Fahrt entlang der
Küste gegen den Luftwiderstand ankämpfen, ist das Geräusch
normalerweise ein gleichmäßiges weißes Rauschen, es ist wie ein
Naturphänomen, nicht anders als das Flüstern des Windes in den
Eukalyptusbäumen oder das regelmäßige Donnern der Brandung am
Butterfly Beach, und sie hat gelernt, es zu überhören. Oder
wenigstens damit zu leben. Aber jetzt ist Berufsverkehr, wo jedes
Geräusch wie vergrößert ist, wo die Leute willkürlich
beschleunigen, nur um eine halbe Sekunde später wieder zu bremsen,
und ihre Hupe geschätzte siebenundachtzig Prozent häufiger
betätigen als zu jeder anderen Tageszeit – sie hat diese Statistik
in einer Tageszeitung gelesen und allen Kollegen davon erzählt, um
ihre Ansicht zu untermauern, dass die mechanisierte Gesellschaft
auf vier Rädern in den Untergang rollt. Nicht dass sie irgend
jemand davon hätte überzeugen müssen. Und ihre Eigentumswohnung –
überdurchschnittlich teuer und unterdurchschnittlich schallgedämmt
– liegt genau im Kriegsgebiet zwischen der Schnellstraße davor und
den Eisenbahngleisen dahinter, ein Umstand, den sie ertragen kann,
wegen der Nähe zum Strand, der kühlen Nachtluft und der Option (die
sie, sogar wenn es regnet, fast immer wahrnimmt), zu jeder
Jahreszeit bei offenem Fenster zu schlafen, fest eingehüllt in ihre
Decke.
Heute aber, heute abend, ist sie gereizt und
versagt sich auch den Trost, den ein Glas Wein spenden würde. Oder
vielmehr Sake on the rocks, denn das ist es, was sie am liebsten
trinken würde. Sake aus der Flasche im Kühlschrank, über knisternde
Eiswürfel in einem Cocktailglas gegossen, einem der sechs
besonderen Gläser aus einer Serie von acht, die sie von ihrer
Großmutter geerbt hat, unten durchsichtig, oben mattiert und mit
dem B der Besitzerin graviert. Bei dem Gedanken daran
schluckt sie unwillkürlich. Nur ein halbes Glas, ein
Viertel. Die Karotten – glatt, geschält und feucht in der
Zellophanverpackung – fühlen sich an, als wären sie lebendig, wenn
sie sie festhält und ihrer natürlichen Neigung entgegenwirkt,
wegzurollen und sich der Messerklinge zu entziehen. Mit einem
Zischen ergießt sich Wasser aus dem Hahn, in den Tiefen des Siebes
tanzen die Tomaten im Brausestrahl. Auf der Schnellstraße ertönt
eine Hupe, ein plötzliches verärgertes, tadelndes Blöken, eine
zweite Hupe antwortet und dann noch eine. Sie stellt sich die
Fahrer vor, freiwillig eingesperrt, die eine Hand umklammert das
Lenkrad, die andere das Handy. Sie gieren. Allesamt. Sie gieren
nach Dingen, nach Platz, nach Mitteln, nach Erfüllung ihrer
unmittelbaren Bedürfnisse, doch sie bekommen nichts davon – oder
jedenfalls nicht genug. Nie genug.
Natürlich gehört auch sie zu ihnen, obgleich
ihre Bedürfnisse bescheidener sind – wenigstens denkt sie das gern.
Nein, der Sake ist keine echte Versuchung – es geht auch ohne. Es
muss. Wenn sie irgendein hervorstechendes Merkmal hat, dann ist es
Selbstbeherrschung. Und Energie. Und Grips. Die Leute sehen sie an
und denken, sie sei eine verkniffene Fachidiotin – jedenfalls
diejenigen, die sie zu Fall bringen wollen –, doch das ist sie
keineswegs. Aber sie kann sich konzentrieren. Alles zu seiner Zeit
und an seinem Ort. Und die Zeit für den Sake – aus dem Glas ihrer
Großmutter mit dem eingravierten B für Boyd – ist nach dem
Vortrag. Oder dem Informationsabend. Oder der Kreuzigung. Je
nachdem, was die Fanatiker diesmal daraus machen werden.
Die Wut beginnt in den Schultern und strahlt in
ihre Arme und bis in die Finger, das Messer, die stummen,
störrischen Karotten aus. Plötzlich ist sie aufgebracht, wirft das
Messer hin und stapft ins Wohnzimmer, wo sie die Lautstärke
aufdreht und durch das Fenster auf die Ausfahrt der Schnellstraße
und die starre Reihe der Neophyten sieht, die Caltrans dort hat
pflanzen lassen, um die Straße vor ihren Blicken zu verbergen –
oder sie vor den Blicken der Fahrer, obwohl sie nicht annimmt, dass
die Bürokraten in Sacramento ihr Wohl im Sinn hatten, als sie eine
Firma beauftragten, zu beiden Seiten der Straße abwechselnd
dunkelrot, weiß und lachsrot blühenden Oleander zu pflanzen. Wenn
dort draußen ein Vogel oder eine Eidechse oder sonst irgendein
lebendes Wesen außer Homo sapiens ist, so ist es nicht zu
entdecken. Sie sieht durch die Lücken zwischen den Büschen
lediglich das unregelmäßige Aufblitzen von Licht auf funkelnden
Stoßstangen, Radkappen und Schwellern, während die endlose Reihe
der Kohlendioxid speienden Fahrzeuge vorbeizieht, und denkt:
Sieben Milliarden bis 2013, sieben Milliarden, und es werden
immer mehr. Und wo sollen die alle hin?
Während sie dort steht und Micah Stroud sich mit
seinem nasalen Louisiana-Slang über einem Tiefdrucksystem aus
rasenden Akkorden und einem synkopierten Bass zu tonalen Höhen
aufschwingt, löst sich einer der Wagen aus dem Fluss – oder
vielmehr dem immer wieder stockenden Fluss – und jagt über die
Ausfahrt direkt vor ihr. Es ist ein weißer Prius, bucklig,
hässlich, langweilig, aber heilbringend, und im Gegensatz zu den
anderen weißen Priusen auf der Straße sitzt in diesem ihr Partner –
soll heißen: ihr Lebensgefährte Tim Sickafoose –, und er starrt sie
mit einem Ausdruck verblüfften Erkennens an und winkt, während der
Wagen aus ihrem Blickfeld verschwindet und in die Einfahrt
einbiegt.
Als er durch die Tür tritt, ist sie schon wieder
in der Küche und beschränkt sich auf einfache Tätigkeiten: das
Pitabrot toasten, die Karotten würfeln, die Tomaten in Scheiben
schneiden, den Salat mischen. Hummus aus dem Plastikschälchen, eine
dicke Scheibe Feta, so vollkommen, als hätte die Ziege sie selbst
zur Welt gebracht. Irgendwo auf dem Bauernhof. Wo all die anderen
Ziegen sind. Mäh, mäh, mäh.
Sie und Tim gehören nicht zu den Pärchen, die
sich zur Begrüßung küssen oder in der Öffentlichkeit
aneinanderhängen wie Einkaufstüten. Sie lassen einander Raum, geben
einander Zeit anzukommen. Bevor sie noch »Hallo« sagen kann, ihre
übliche Begrüßung, sitzt er auch schon am Tisch und öffnet ein
Bier; sein Rucksack liegt offen auf dem Boden.
Der Blick durch das Küchenfenster geht auf
Raffiapalmen vor einer weißverputzten, von Bougainvilleen
überrankten Mauer, an deren Fuß sich Klivien und Frauenhaarfarne
aus einem dick gemulchten Beet über einen überwässerten Rasen aus
Bermudagras neigen, dessen tiefes, sattes Grün alles andere blass
erscheinen lässt. Hinter der Mauer verströmt ein Eukalyptushain in
der Regensaison ein durchdringendes Mentholaroma, so dass alles
nach fermentierenden Hustenbonbons riecht, und jenseits der
Eukalyptusbäume ist die Schneise der Eisenbahnlinie. Dahinter
leuchten die hellrot verblassten Dachziegel des Hotels am Meer –
das Meer selbst kann sie von hier aus gar nicht und vom ersten
Stock aus so gerade eben sehen. Sie hat eine Aussicht, über die sie
sich ärgert. Eine Aussicht, die so widersinnig ist wie nur was, und
zwar nicht bloß, weil sie öde und zerklüftet und beinahe
ausschließlich von fremden Spezies bevölkert ist, sondern weil sie
den eigentlichen Grund dafür, in Sichtweite des Meeres zu wohnen,
ad absurdum führt.
»Die Musik ist ganz schön laut«, bemerkt
er.
Sie dreht sich um, die Hände halten im Halbieren
der Tomaten inne. »Ich hab meinen iPod im Büro gelassen.«
Dazu hat er nichts zu sagen, obwohl sie weiß,
wie sehr er Micah Stroud und Carmela Sexton-Jones und die anderen
New-Wave-Folksänger hasst, die sie sich im Büro den größten Teil
des Tages in zufälliger Reihenfolge anhört. Als sie sich
kennenlernten, in der ersten Woche, legte sie eine CD auf, von der
sie dachte, sie könnte ihm gefallen, und er trank erst einmal den
größten Teil seiner Halbliterdose Guinness, bevor er sein Urteil
sprach. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ohne unhöflich zu
sein oder so«, sagte er und sah sie so sanft wie möglich an, um zu
zeigen, dass er nur versuchte, aufrichtig zu sein, »aber wie kann
man sich dieses … dieses … wie immer man das nennen soll bloß
anhören? Ich meine: Rock and Roll, ja, jederzeit – die White
Stripes, die Strokes, die Queens of the Stone Age.« Es war eine
Herausforderung, ein Test, und sie machte ihm keinen Vorwurf –
eigentlich sprach es ja für ihn, denn um eine gute Beziehung zu
haben, musste man ja nicht der Zwilling des anderen sein. Dennoch
zuckte sie innerlich ein wenig zusammen. »Aber wenigstens haben sie
was zu sagen«, erwiderte sie, »wenigstens singen sie über was
anderes als Sex und Drogen.« »Was hast du gegen Sex?« konterte er,
etwas zu schnell und mit einem ganz leisen Lächeln, und sie wusste,
dass sie ihm in die Falle getappt war. Er hielt einen Augenblick
inne und ließ das Lächeln breiter werden. »Oder, wo wir schon davon
sprechen, gegen Drogen?«
»Ich hab in der Zeitung nachgesehen«, sagt er
jetzt und erhebt die Stimme, um gegen die Musik anzukommen, »ob was
über heute abend drinsteht.«
Obgleich sie angespannt ist, schießt ihr die
Bezeichnung für das Verhalten, das er gerade gezeigt hat, durch den
Kopf: Es ist der Lombard-Effekt, und damit ist gemeint, dass man
unwillkürlich lauter spricht, um die Geräusche der Umgebung zu
übertönen, etwa – das geläufigste Beispiel – das Summen der Stimmen
in einem Restaurant. Sie geht von der Küche ins Wohnzimmer, um die
Musik leiser zu stellen. Sogleich kehren die Autos und Lastwagen
und hupenden Hupen in ihr Leben zurück, als wären sie nie
fortgewesen. Warum die Schnellstraßen nicht in den Untergrund
verlegen und die so gewonnenen Flächen in Parks umwandeln? Mit
Spazierwegen. Mit Gemüsegärten für die Hungrigen. Mit Bäumen,
Wildkräutern und so weiter. Wenn sie genug Geld hätte – so um die
fünfhundert Milliarden –, würde sie sämtliche Grundstücke der Stadt
kaufen, alle Gebäude abreißen, die Straßen entfernen und
Grizzlybären ansiedeln.
»Hier, hier ist es«, ruft er.
Die Notiz, ein winziger Absatz unter der Rubrik
»Veranstaltungen«, steht zwischen der Ankündigung einer Vorstellung
ausgewählter Szenen aus »Les Sylphides« im Junior Dance Studio in
Goleta und dem Hinweis auf einen Vortrag über die Ethnobotanik der
Chumash im Maritime Museum:
Vortrag und Diskussion – Alma Boyd Takesue,
Projektkoordinatorin und Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit
beim National Park Service, Abteilung Santa-Barbara-Inseln,
spricht über die geplante Aktion zur Beseitigung der Ratten auf
Anacapa. 19.00, Natural History Museum, 2559 Puesta del Sol, Santa
Barbara.
Sie beugt sich neben ihm über den Tisch, die
Schrift wird größer und kleiner, denn sie hat ihre Brille auf der
Küchentheke liegenlassen. Sie ist dreiunddreißig, eine schlanke,
hübsche Frau mit den blassgrauen Augen ihrer Mutter – und ihrer
Großmutter – und den muskulösen, nicht ganz kerzengeraden Beinen
und dem pechschwarzen Haar ihres Vaters. Sie trägt es taillenlang,
und eine Strähne, die sie zuvor hinters Ohr gestrichen hat, löst
sich und fällt, als er ihr die Zeitung hinhält, über seinen
Unterarm.
»Nur das Nötigste«, sagt er. »Mehr kann man wohl
nicht erwarten, oder?«
Es ist irgendwie überraschend, es gedruckt zu
lesen. Die Sache, mit der sie insgeheim seit einer Woche gerungen
hat, ist jetzt offiziell und steht da in der vertrauten,
zurückhaltenden Schrifttype, die sie jeden Morgen überfliegt. Das
sind die Tatsachen: Sie wird zur angegebenen Zeit am angegebenen
Ort erscheinen, um den Standpunkt des Park Service in Hinblick auf
ein Vorgehen darzulegen, das ihr angesichts der Konsequenzen, die
Untätigkeit haben würde, höchst angemessen und vernünftig
erscheint. Und da das die Ausrottung einer invasiven und
schädlichen Spezies erfordert – also das Töten, das bedauerliche
Töten unschuldiger Tiere –, wird sie erklären, dass es dazu keine
Alternative gibt, weil die Gesundheit und das Wohlergehen, ja die
Existenz der auf der Insel brütenden Vögel davon abhängt. Das
gesamte Brutgebiet der Lummenalke liegt zwischen Baja und Point
Conception, und es gibt nur noch zweitausend Brutpaare. Die Ratten
dagegen sind überall. Und Ratten fressen Alkeneier.
»Klingt nicht gerade spannend.«
»Nein«, gibt sie zu, richtet sich auf und reckt
sich, als wäre sie eben erst aus dem Bett aufgestanden, und
vielleicht, denkt sie, sollte sie sich eine Tasse grünen Tee
gönnen, einen kleinen Extrakick Koffein. Für einen Augenblick steht
sie reglos da und sieht auf ihn hinab, auf seinen Hinterkopf und
die eigenartig fleischigen Ohrläppchen, auf sein mittellanges,
nerzbraunes Haar, das an den Spitzen zu einem Rostbraun verbleicht
ist und über den Ausschnitt seines T-Shirts und die Tonperlen
hängt, die auf eine für sechzig Pfund ausgelegte Angelschnur
gefädelt sind. (»Warum sechzig Pfund?« hat sie ihn einmal gefragt.
»Damit sie beim Surfen nicht reißt«, hat er geantwortet, als wäre
es das Selbstverständlichste von der Welt. »Du nimmst die Kette nie
ab?« »Nie.«) Sie legt ihm die Hand auf die Schulter, ganz leicht
nur, aber es ist dennoch ein Kontakt. »Andererseits, wenn man
bedenkt, wie es letzte Woche in Ventura war« – sie sieht ihn an,
wendet den Blick dann ab und presst bei dem Gedanken daran die
Lippen zusammen, denn die Wunde ist frisch und noch nicht verheilt
–, »wollen wir vielleicht gar nicht allzuviel Publikum. Vielleicht
wollen wir nur, ach, ich weiß nicht, vielleicht dreißig Leute, die
sich mit der Materie befasst haben –«
»Dreißig Ökologen.«
Sie lächelt rasch und dankbar. Er schafft es
immer, ihre Stimmung aufzuhellen. »Ja«, sagt sie, »das wäre nicht
schlecht.«
Auch er lächelt jetzt und hängt über der
perspektivischen Linie des Tisches wie eine Figur auf dem Gemälde,
das sie sich gerade vorstellt: das Pitabrot auf der Theke, die
Abendsonne, die schräg durch das Fenster fällt und seine
Bartstoppeln beleuchtet, während die Schnellstraße verschwunden
ist, ebenso wie die düstere, trübselige Stimmung, die sie, Alma,
ins Wohnzimmer gebracht hat. Alles ist gut. Alles ist sehr, sehr
gut. »Ich wollte mich nur vergewissern«, sagt er und reißt sie aus
ihrem Tagtraum, »falls du mich als Ordner brauchst, um die Leute in
Schach zu halten.« Er hält inne, nimmt ihre Hand, streicht mit dem
Daumen über die Handfläche, streichelt und streichelt und holt sie
in die Gegenwart zurück. »Keine Rattenfreunde, okay? Sind wir uns
da einig?«
Am 2. Dezember 1853 traf der Kapitän der
S.S. Winfield Scott, eines Seitenraddampfers, der am Vortag
von San Francisco zu der zweiwöchigen Reise nach Panama
aufgebrochen war, eine fatale Entscheidung, die, ob sie nun auf
Selbstüberschätzung, Übereifer oder einem schlichten Rechenfehler
beruhte, dem Schiff und, im Lauf der Jahre, Generationen von
Seevögeln zum Verhängnis wurde. Die S.S. Winfield Scott war
erst drei Jahre zuvor in New York für den Linienverkehr zwischen
dieser Stadt und New Orleans gebaut worden; 1851 wurde sie jedoch
verkauft und in den Dienst an der Westküste gepresst, wo die
Passagierzahlen nach der Entdeckung von Gold in Nordkalifornien
geradezu explodiert waren. Sie war für rauhes Wetter gebaut, etwa
siebzig Meter lang und zehn Meter breit und benannt nach
Generalmajor Winfield Scott, dem Löwen des
amerikanisch-mexikanischen Krieges, dessen vergoldete Büste mit
strenger, unbewegter Miene über das Vorderdeck blickte. Auf der
besagten Fahrt waren 465 Passagiere, 801 871 Dollar in Gold und
Goldstaub sowie mehrere Tonnen Post und eine volle Besatzung an
Bord. Ob die Ratten aus New York oder New Orleans oder dem Hafen
von San Francisco stammten, wusste niemand. Aber sie waren da, wie
sie hin und wieder auf jedem Schiff dieser Größenordnung waren, und
die Winfield Scott schien ihnen zuzusagen: Der Speisesaal
bot Platz für bis zu hundert Menschen, es gab Kombüsen und
Vorratsräume sowie Tonnen voller Abfall, die darauf warteten, ins
Meer entleert zu werden, und eine Unzahl feuchter Winkel und Löcher
unter Deck und in den Aufbauten bot ihnen Unterschlupf – eine
eigene Welt, getrennt von der jener anderen Allesfresser, die sie
mit all den feinen Leckerbissen versorgten. Auf einem Schiff dieser
Größe hätten Hunderte, ja mehr als tausend Ratten sein können –
niemand konnte sagen, wie viele es waren, und diejenigen, die in
die Fallen der Stewards gingen, schwiegen sich aus.
Kapitän Simon F. Blunt war ein erfahrener,
entschlossener Mann. Er war mit dem Santa-Barbara-Kanal vertraut,
denn er war ein wichtiges Mitglied der Kommission gewesen, die zwei
Jahre zuvor, kurz nach Kaliforniens Aufnahme in die Union, die
Küste vermessen hatte. Als er am Vortag von San Francisco
ausgelaufen war, hatte er mit schwerer See und starkem Gegenwind zu
kämpfen gehabt, was nicht nur die Geschwindigkeit verminderte,
sondern auch dafür sorgte, dass die meisten Passagiere sich von
Salon und Speisesaal fernhielten und es vorzogen, in den Kojen zu
bleiben. Um die verlorene Zeit wettzumachen, beschloss er, durch
den Santa-Barbara-Kanal und die Anacapa-Passage zwischen Santa Cruz
und Anacapa zu fahren, anstatt die Inseln seewärts zu umfahren, was
deutlich länger gedauert hätte. Normalerweise wäre dies eine
bewundernswerte – und zeitsparende – Entscheidung gewesen. Doch
unglücklicherweise zog, als an jenem Abend das Essen serviert
wurde, Nebel auf, wie es im Santa-Barbara-Kanal häufig geschieht,
weil dort der kalte Kalifornienstrom, der von Norden nach Süden
fließt, auf den wärmeren südkalifornischen Gegenstrom trifft, ein
Umstand, der den außerordentlichen Fischreichtum im Kanal erklärt,
diesen für die Schiffahrt aber auch sehr gefährlich macht.
Infolgedessen war Captain Blunt gezwungen, seine Position nicht
durch Sichtzeichen, sondern durch Koppeln zu ermitteln, wobei die
zurückgelegte Distanz durch die Messung der Geschwindigkeit in
festgelegten Intervallen berechnet wird. Dennoch war er
zuversichtlich: Es war Routine, nichts, was ernste Schwierigkeiten
gemacht hätte – er war diese Route ein Dutzendmal oder mehr
gefahren –, und um zehn Uhr dreißig war er sicher, die Inseln
passiert zu haben, und gab Anweisung, auf südöstlichem Kurs
parallel zur Küste zu gehen.
Eine halbe Stunde später rammte die Winfield
Scott mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von zehn Knoten einen
Felsen vor der Nordküste der mittleren Anacapa-Insel, der ein
großes Loch in den Rumpf riss. Sogleich brach unter den Passagieren
Panik aus. Sie wurden aus ihren Kojen geschleudert, Gepäckstücke
flogen über die Decks, Laternen flackerten und erloschen, und die
undurchdringliche Finsternis aus Nacht und Nebel senkte sich über
das Schiff. Niemand konnte etwas sehen, doch alle spürten und
hörten, was geschah: Irgendwo unten brach Wasser ein, und um ihm
Platz zu machen, stieß das Schiff eine Reihe langgezogener Seufzer
aus. Als die Passagiere auf die Beine kamen und sich durch die
Korridore drängten, immer in der Angst, das Wasser könnte sie
einholen und unter Deck einschließen – die Füße waren bereits nass,
Fremde klammerten sich aneinander, während sie über unsichtbare
Beine und Stiefel und Gepäckstücke stolperten, ins Taumeln
gerieten, stürzten, wieder aufstanden, zur Eile getrieben durch das
beständige grimmige Rauschen –, hörte man ein gewaltiges tiefes
Mahlen und spürte ein lang anhaltendes Beben, als der Rumpf an dem
Felsen scheuerte. Schreie und Flüche hallten durch die Dunkelheit.
Ein Kind rief nach seiner Mutter. Irgendwo bellte ein Hund.
Das bleiche Gesicht des Wachoffiziers auf der
Brücke schien wie eine Glühbirne in der Luft zu hängen und war nur
schemenhaft zu erkennen. Er gab Alarm, und der entsetzte Kapitän
befahl volle Kraft zurück, damit das Schiff von dem Hindernis
loskam und weiterer Schaden verhindert wurde. Die Maschinen mühten
sich, beißender Rauch quoll aus den Schornsteinen, bis man an Deck
kaum noch atmen konnte, die großen Schaufelräder fuhren durch das
Wasser, als wollten sie den Ozean mit Eimern ausschöpfen, alles
stand auf Messers Schneide – der Kapitän verharrte wie
festgenagelt, die Offiziere flüsterten Stoßgebete, auf Deck schrie
die Menge –, bis das Schiff unter lautem Seufzen und dem krachenden
Splittern von Holz zurücksetzte. Die Winfield Scott war
frei. Sie bebte, sie schlingerte, aber sie war frei und schwamm.
Für Mannschaft und Passagiere muss es ein erhebender Augenblick
gewesen sein, doch er währte nur kurz, denn im nächsten Moment lief
das Heck des Schiffs auf Grund. Das Ruder riss ab, und das Schiff
war manövrierunfähig. Beinahe sofort bekam es Schlagseite, und
alles, was nicht befestigt war, rutschte auf die unsichtbaren
Felsen und die weißgesäumten Wellen vier Decks tiefer zu.
Kapitän Blunt war in schweren Nöten:
Menschenleben standen auf dem Spiel, seine Karriere war ruiniert,
seine Hände zitterten, seine Kehle war wie ausgetrocknet. Er gab
Befehl zum Verlassen des Schiffs. Im Licht der verbliebenen
Laternen ließ er Offiziere und Mannschaft antreten, um eine
geordnete Evakuierung zu gewährleisten, doch dies wurde erschwert
durch Gruppen zu allem entschlossener Männer – Goldsucher, die
monate- und in einigen Fällen jahrelang Hunger, Durst und Mühsal
auf sich genommen, auf weibliche Gesellschaft und die Segnungen der
Zivilisation verzichtet und den Lohn für diese Strapazen
schließlich auf die Rücken ihrer nach Schweiß stinkenden Maultiere
geladen hatten –, die auf dem Oberdeck herumliefen, ihre prallen,
schweren, abgewetzten Satteltaschen hinter sich her zerrten und um
einen Platz in einem der Rettungsboote kämpften, ohne an irgend
etwas anderes zu denken als daran, wie sie ihr Gold an Land bringen
könnten. Der Kapitän war gezwungen, seine Pistole zu ziehen, um die
Disziplin zu wahren. Das Heck war jetzt von Wasser überspült, und
immer mehr Passagiere drängten in wilder Flucht auf das Oberdeck,
zappelnde Gestalten, getrieben von schreienden Mündern und
fuchtelnden Händen. Er feuerte in die Luft. »Ruhe bewahren!« rief
er immer wieder, bis er heiser war. »Frauen und Kinder zuerst. Es
gibt genug Platz für alle. Keine Panik.«
Die Boote wurden zu Wasser gelassen. Die
Menschen an Deck konnten sehen, dass sie nicht mehr in
unmittelbarer Gefahr waren, und das wirkte sich sehr beruhigend
aus. Es ging nun darum, die Leute zu dem dunklen, zerklüfteten
Felsen überzusetzen, gegen den das Schiff im Dunkeln geprallt war,
und dazu brauchte es nur Geduld, mehr nicht. Niemand würde
ertrinken. Niemand würde seine Habe verlieren. Ruhe. Bewahrt Ruhe.
Wartet, bis ihr dran seid. Und so geschah es: In den folgenden zwei
Stunden fuhren die Boote hin und her, bis alle evakuiert waren,
dann folgten die Besatzung und der Kapitän. In der sehr feuchten
und kühlen Nacht mit aufkommender Flut und sich verdichtendem
Nebel, der alle Proportionen verzerrte, merkten sie nicht, dass der
Fels, auf dem sie gelandet waren, etwa zweihundert Meter von der
Hauptinsel entfernt war, so dass sie am Morgen ein zweites Mal
durch die Brandung rudern mussten.
Sie wurden erst nach einer Woche gerettet. Bevor
das Schiff unterging, barg man Proviant, doch dieser reichte nicht
annähernd für alle. Es gab Kämpfe, sowohl um die zugeteilten
Rationen als auch um Gold, so dass Captain Blunt schließlich
gezwungen war, zwei Golddiebe vor den Augen der versammelten
Passagiere an einen Felsen binden und zur allgemeinen Befriedigung
und unter spärlichem Applaus auspeitschen zu lassen. Einige Männer
angelten vom Ufer aus, in der Hoffnung, die Versorgungslage zu
verbessern. Andere sammelten Muscheln und Abalone, wieder andere
schossen einen Seelöwen und brieten ihn über offenem Feuer. Als die
Nachricht von dem Schiffbruch schließlich San Francisco erreichte
und die drei Schiffe Goliath, Republic und California
die Küste absuchten und die Passagiere bargen, tat es niemandem
leid, die schwarzen Klippen von Anacapa im Nebel zurückbleiben zu
sehen. Das Schiff war verloren. Die Passagiere hatten eine Nacht
voller Schrecken und eine Woche voller Langeweile, Sonnenbrand und
Zwangsdiät hinter sich, aber niemand war ums Leben gekommen, und
auch das Gold war gerettet, jedenfalls zum größten Teil.
Ratten sind gute Schwimmer, sie besitzen große
Ausdauer und einen starken Überlebenswillen. Experimente haben
gezeigt, dass eine durchschnittliche Ratte sich etwa achtundvierzig
Stunden über Wasser halten, mit der Geschicklichkeit eines
Eichhörnchens an senkrechten Drähten, Seilen, Trossen oder glatten
Bäumen emporklettern und sich durch Öffnungen mit einem Durchmesser
von zweieinhalb Zentimetern zwängen kann. Ratten verfügen außerdem
über einen hervorragenden Gleichgewichtssinn und erreichen das Land
meist auf schwimmenden Trümmerteilen wie Kissen, Planken,
Whiskeyflaschen, Handkoffern und anderem Treibgut oder auf Ästen,
die bei heftigen Regenfällen aus Schluchten ins Meer gespült
werden. Sicherlich ertranken einige der Ratten an Bord der
Winfield Scott, weil sie im Laderaum eingeschlossen wurden,
als die Gepäckstücke verrutschten, oder weil sie es nicht schnell
genug auf das Oberdeck schafften, doch wahrscheinlich gelangte die
Mehrzahl an Land. Natürlich hätte schon ein einziges Pärchen
gereicht. Oder auch nur ein trächtiges Weibchen.
Jedenfalls wird Alma das Publikum darüber
informieren, dass es den überlebenden Hausratten – mit
wissenschaftlichem Namen Rattus rattus – nach dem Untergang
der Winfield Scott gelungen ist, von jenem Felsen aus die
mittlere Insel zu erreichen und sich im Lauf von Generationen über
die östliche und schließlich, auf Treibholzstücken oder angetrieben
von hurtig rudernden Pfoten, auch über die westliche Insel
auszubreiten. Nur pures Glück und die fast zehn Kilometer breite
Anacapa-Passage mit ihrer starken Strömung und schäumenden Gischt
haben ihr Vordringen nach Santa Cruz bislang verhindert. Und eine
solche Ausbreitung würde niemand wollen, nicht einmal der
entschiedenste Nagetierfreund.
Das Innere des Prius erglüht im sanften
bernsteinfarbenen Licht der Armaturenbeleuchtung, als der Wagen
sich beinahe lautlos in den dahinströmenden Verkehr auf der
Schnellstraße einfädelt. Tim sitzt entspannt am Steuer und
kommentiert die Radionachrichten – das ist seine Art, sie zu
beruhigen und so zu tun, als wäre dieser kleine Ausflug zum Museum
etwas ganz Normales. Als wollten sie Arm in Arm durch die
Ausstellung schlendern, zum zwanzigstenmal den Chumash-tomol
und das Skelett des Santa-Rosa-Zwergmammuts betrachten, mit
gedämpfter Stimme lachen und scherzen und sich in der trockenen,
stickigen Museumsluft wie zu Hause fühlen. Alma wäre selbst
gefahren, aber sie hat gern den Kopf frei, bevor sie vor Publikum
spricht, und weiß aus Erfahrung, dass die Konzentration auf den
Verkehr – und sei sie noch so oberflächlich und die Strecke noch so
kurz – sie nur ablenkt. Jedesmal gibt es irgendein Problem:
Entweder hat sich ein Unfall ereignet oder eine Spur ist gesperrt,
damit der Asphalt ausgebessert oder der Seitenstreifen befestigt
werden kann oder was immer es ist, was diese Bauarbeiter nachts auf
der Schnellstraße machen, oder es herrscht einfach Wahnsinn,
schlichter Wahnsinn – schlechte Manieren, Handytelefonate,
allgemeine Unaufmerksamkeit –, und diese Verzögerungen bringen sie
aus dem inneren Gleichgewicht. Wenn man vor sich eine Kette von
Bremslichtern sieht, weiß man nie, ob man für fünf Minuten oder
eine Stunde aufgehalten wird. Oder für immer. Für den Rest des
Lebens.
Und natürlich: Einen Kilometer vor ihrer
Ausfahrt erwartet sie ein Meer von roten Lichtern, und im nächsten
Augenblick stehen sie hinter einem Pick-up, dessen mittels eines
Gespinstes aus glänzenden Streben höhergelegte Karosserie so hoch
aufragt, dass der Rüssel eines Zwergmammuts das Dach nicht hätte
erreichen können. »Scheiße«, zischt sie und beißt sich auf die
Unterlippe, eine schlechte Angewohnheit, wie sie weiß, aber sie
kann nicht anders. »Ich wusste, wir hätten außen herum fahren
sollen.«
Tim zuckt die Schultern und wechselt den Sender,
worauf die beruhigende Stimme des Sprechers sich im Schlagen und
Rasseln von Trommeln, Congas und Kuhglocken und dem klagenden,
beinahe menschlichen Klang einer Gitarre auflöst, der sich über
dieser rhythmischen Sturzflut aufschwingt. »Wahrscheinlich geht’s
gleich weiter«, sagt er. »Außerdem haben wir noch zwanzig Minuten.
Und die nächste Ausfahrt ist Mission. Siehst du sie? Da vorn,
hinter dem Heck von diesem Idioten.«
Sie antwortet nicht. Sie wendet nur den Kopf,
blickt aus dem Fenster auf das Autogeschäft neben der Schnellstraße
– noch mehr Autos – und stößt einen langen, vernichtenden Seufzer
aus. Es ist nicht Tims Schuld, und sie will ihn nicht dafür büßen
lassen. Er tut sein Bestes, und die schnellste Verbindung ist
zweifellos die Schnellstraße. Wie hätte er wissen sollen, dass das
passieren würde? (Allerdings hat sie für den Schleichweg plädiert,
als er den Blinker eingeschaltet hat, um auf die Schnellstraße zu
fahren. Ist da nicht noch Berufsverkehr? hat sie gefragt,
und er hat ihr versichert: Nein. Jetzt nicht mehr. Wir sind
rechtzeitig da.) Es war also seine Entscheidung. Und sie war
einverstanden. Und jetzt stehen sie hier. Es geht nicht vor und
nicht zurück.
Nach einer Weile sagt er: »Muss ein Unfall
sein.«
Sie ist ganz in Schwarz – gebügelte
Baumwollhose, Lacklederpumps, ein Oberteil mit V-Ausschnitt, das
Ganze akzentuiert durch eine Halskette und ein Armband, beides
Silber, nichts Protziges, nichts, an dem irgend jemand Anstoß
nehmen könnte –, und ihre Unterlagen sind in dem Schnellhefter auf
dem Laptop, den sie auf dem Schoß hat. Am Nachmittag hat sie lange
gebraucht, um zu entscheiden, was sie anziehen wird, sie hat
versucht, die Mitte zwischen formell und lässig zu finden und
auszusehen wie eine Ökologin, die eben noch in der freien Natur war
und über das richtige Maß an Chic verfügt, um nicht einschüchternd,
sondern sympathisch und überzeugend zu wirken, und dann hat sie
eine Stunde vor dem Spiegel verbracht und sich das Haar
ausgebürstet und Make-up aufgelegt. Zuviel Wimperntusche, und sie
sähe aus wie ein Flittchen. Zuwenig, und man würde weder die Form
ihrer Augen sehen noch die Art, wie sie das Licht einfangen (eine
Eigenschaft, die Leute auf der Straße manchmal starrend
stehenbleiben lässt). Ein gutes oder wenigstens modisches und
interessantes Erscheinungsbild gehört in ihrem Job zum
Anforderungsprofil. Wer will schon auf einem Stuhl mit harter Lehne
sitzen und sich anhören, wie ein schlechtgekleideter Waldschrat
Statistiken über den Rückgang dieser oder jener Spezies abspult?
Sie ist da, damit man sie ansieht und ihr zuhört, und damit hat sie
kein Problem. Wenn sie ihr Aussehen zur Förderung ihrer Ziele
einsetzen kann – um so besser.
Aber verdammt, verdammt, dass sie ihr diese
Sache so schwer machen. Und sie hätte niemals diesen Tee trinken
sollen: Das Koffein lässt das Blut in ihren Ohren pochen und legt
ihre Nerven blank, als hätte sie ihren Körper mit einem
Gemüseschäler bearbeitet. »Ich wollte, ich wäre auf den Inseln«,
sagt sie und sieht ihn abrupt an. »Wirbellose sammeln. Vögel
beringen. Irgendwas. Ich hab diesen Kram so satt.«
Er sieht nach vorn, sein von den Bremslichtern
des Pick-ups beleuchtetes Gesicht wirkt konzentriert. »Aber du bist
die Sprecherin.«
»Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit.«
»Dasselbe in Grün. Was ich meine, ist: Sprecher
müssen sprechen. Das ist es, was du tun sollst, und das ist es, was
du gut kannst.« Er hält inne, die Finger trommeln auf dem Lenkrad,
er geht ein paar Variationen durch. »Und warum heißt es eigentlich
›Sprecher‹ – sollte es nicht ›Verkünder‹ heißen? Oder ›Erklärer‹?
›In der heutigen Pressekonferenz erklärte der Erklärer des
Präsidenten …‹« Er wendet sich zu ihr und ist unvermittelt ernst.
»Ohne dich wären die aufgeschmissen, und das wissen sie
auch.«
»Dave LaJoy«, sagt sie langsam und deutlich.
»Anise Reed.«
Er winkt ab. »Okay, okay, aber Idioten gibt es
überall. Besonders wenn du –«
»Wenn ich was?«
»Wenn du, ich weiß nicht, wenn du etwas
Umstrittenes tust. Oder verteidigst. Es erklärst. Erklärungen
machen dich immer angreifbar, als würdest du dich entschuldigen für
etwas, was schon geschehen ist. Oder noch geschehen wird.«
Sie spürt Wut in sich aufwallen. »Ich
entschuldige mich nicht. Es gibt nichts, wofür wir uns
entschuldigen müssten. Wir sind Wissenschaftler. Wir fertigen
Studien an. Wir sind nicht wie diese Tierschutzfanatiker, diese
PETA-Idioten, die nur kommen, um einen niederzubrüllen, weil sie
nichts Besseres zu tun haben – und die sind so uninformiert, so
dumm. Die haben nicht die leiseste Ahnung, worum es eigentlich
geht. Nicht den Hauch einer Ahnung. Wenn sie nur mal –«
»Dann klär sie auf.«
Sie ist jetzt erbittert, erbittert und empört.
»Aufklären? Viel Glück! Diese Leute wollen keine Fakten, sie
wollen nichts wissen von der Biogeographie von Inseln, von den
Auswirkungen invasiver Spezies, von den Folgen eines Zusammenbruchs
des Ökosystems und allem anderen. Sie wollen sich nur einmischen.
Und herumschreien. Das tun sie nämlich am liebsten.«
»Ich weiß«, sagt er, »ich weiß«, und jetzt kommt
Bewegung in den Stau, die Bremslichter erlöschen, Reifen drehen
sich, rollen voran, die Ausfahrt rückt näher. »Ich stehe ja auf
deiner Seite. Du musst nur gelassen bleiben. Sei freundlich. Aber
bleib fest. Sei professionell. Denn das bist du doch, oder – ein
Profi?«
Die Schnellstraße entlässt sie auf städtische
Straßen: Am Bordstein parken Wagen, Schaufensterscheiben
reflektieren gleißende Scheinwerferlichter, Bäume werfen Schatten.
Leute kommen aus Restaurants, schließen mit Fernsteuerungen ihre
Wagen auf, stehen ohne erkennbaren Grund in Gruppen auf dem
Bürgersteig herum, sind unterwegs zu Veranstaltungen. Ein Bus
verlässt die Haltestelle und reiht sich, bebend wie ein Schiff auf
hoher See, in den Verkehr ein. Sie fahren an einem ehemaligen Laden
vorbei, in dem jetzt Kung-Fu unterrichtet wird, und Alma sieht für
einen kurzen Augenblick Gewänder, Gesichter, synchronisierte
Bewegungen. Es ist Viertel vor sieben. Sofern es keine weiteren
Überraschungen gibt, werden sie fünf Minuten vor Beginn des
Informationsabends dasein, und irgendwie ist das besser, als noch
eine halbe Stunde Zeit zu haben und in einem Hinterzimmer
herumsitzen zu müssen, wo man dann den drei Meter großen
ausgestopften Grizzly anstarrt, der dort steht, und nervös auf und
ab geht und der Uhr zusieht, wie sie die Sekunden abzählt. Sie hebt
die Hand, um das Haar aus dem Gesicht zu streichen, und legt sie
wieder auf den Schnellhefter. Der Regen, der sich schon den ganzen
Nachmittag angekündigt hat, wählt diesen Augenblick, um die
Windschutzscheibe und die dunkle Zunge der Straße vor ihnen mit
zischenden Tropfen zu besprengen. »Ja«, sagt sie schließlich, als
die Frage längst vergessen ist, »das bin ich. Ein Profi.«
Sie ist überrascht, wie viele Wagen auf dem
Parkplatz stehen. Alle Plätze scheinen besetzt zu sein, jedenfalls
die in der Nähe des Eingangs, und andere Autofahrer fahren
pirschend, lauernd durch die Reihen. Der Regen ist stärker
geworden, prasselt auf den Asphalt und reflektiert das Licht der
Scheinwerfer mit einem wächsernen Schimmer. »Sieht so aus, als
hätten sich deinetwegen eine Menge Leute auf die Beine gemacht«,
sagt Tim, beugt sich, beide Unterarme auf dem Lenkrad, vor und
späht in die Nacht, während er darauf wartet, dass der Fahrer des
Wagens vor ihnen, eines schwarzen BMW mit hektisch pulsierendem
linkem Blinker, sich endlich entschließt: links, rechts oder
geradeaus. Diese Verzögerung nervt. Es ist genau das, was sie
wahnsinnig macht: Unentschlossenheit, Unaufmerksamkeit, die
Faulheit der Leute, die nicht bis zum Ende des Parkplatzes fahren
wollen, weil der Weg dann vielleicht zehn Meter länger ist, die auf
der Couch sitzen, eine Tüte Chips in der einen und eine Cherry Coke
in der anderen Hand, und sich fragen, warum Amerika fetter und
fetter wird. Sie beugt sich nach links und will auf die Hupe
drücken – Was sind das bloß für Leute? –, zieht die Hand
aber wieder zurück. Sie kann es sich nicht leisten, unhöflich zu
sein. Nicht hier. Nicht heute abend. Wie verheerend wäre es, als
Ehrengast und Hauptrednerin in einen Streit auf dem Parkplatz
verwickelt zu werden?
»Da muss irgendwo noch eine andere Veranstaltung
sein«, sagt sie.
»Weiß nicht. In der Zeitung stand jedenfalls
nichts davon.« Der Wagen vor ihnen kriecht weiter, das hektische
Blinken links erstirbt, nur um auf der rechten Seite reanimiert zu
werden. Dann leuchten die Bremslichter, und der Wagen bleibt
stehen. Schon wieder. Davor sieht sie die von den Scheinwerfern
beleuchteten Gestalten von Paaren, die den Bürgersteig
entlangeilen, gebeugt unter Regenschirmen, und in diesem Augenblick
fällt ihr ein, dass sie ihren Schirm vergessen hat.
»Tim? Hast du einen Schirm mitgenommen?«
Er sieht sie mit seinem erschrockenen Blick an:
hochgezogene Brauen, die Augen weit aufgerissen, nach Worten
suchende Lippen – das Ganze sowohl Parodie als auch Hommage auf
seinen Lieblings-Talkmaster. Er kann sehr komisch sein, nichts ist
ihm heilig, kein Anlass ist so feierlich oder so wichtig, dass er
nicht einen Witz darüber machen würde. Aber dies ist nicht die
rechte Zeit. Oder der rechte Ort.
»Also nicht?«
Er schüttelt den Kopf, spielt noch immer den
Trottel, als wäre das alles ein großer Witz, als könnte er sie auch
nur ansatzweise beruhigen. »Nein. Tut mir leid. Soll ich zum
Eingang fahren und dich vor der Tür absetzen? Oder nein, ich trage
dich. Soll ich dich tragen?«
»Nein«, fährt sie ihn an und denkt an ihre
ruinierte Frisur und das verlaufene Make-up, denkt daran, dass sie
am Mikrofon stehen wird, als wäre sie gerade von einem Boot
gefallen, »nein, ich will nicht, dass du mich trägst. Hast du denn
nicht gesehen, dass es Regen geben wird? Hast du überhaupt nicht
nachgedacht?«
Als sie einen Monat zusammen waren, hat sie ihm,
bevor sie zusammen nach Scottsdale gefahren sind, wo er Katherine
kennenlernen sollte, ein genaues Bild von ihrer Mutter gezeichnet,
von ihrer Persönlichkeit, ihren Gewohnheiten und Vorlieben – ein
zwar im großen und ganzen liebevolles, aber auch schonungsloses
Porträt. Ihre Mutter war eine Käuferin, eine unermüdliche Käuferin.
Eine Kaufsüchtige. Es gab nichts, was sie nicht sammelte –
Tonperlen, Zuni-Türkisschmuck, Fiestazubehör, Porzellanpuppen,
antike Abfalleimer und viktorianische Möbel, so wuchtig und dunkel,
dass sie das Licht aus jedem Zimmer drängten. Angesichts eines
sterbenden Planeten und ausgebeuteter Rohstoffreserven hätte sich
wohl jede Tochter dafür geschämt, aber für eine Ökologin, die sich
der Aufgabe verschrieben hatte, die Öffentlichkeit aufzuklären, war
es niederschmetternd und unerklärlich. Und es tat weh, sehr weh.
Sie fand es auf vielen Ebenen schlimm. Unter anderem fand sie
schlimm, dass sie es überhaupt erwähnte – als würde sie dadurch
ihre Mutter und die Liebe ihrer Mutter verraten. Und was war das
erste, was Tim dazu sagte? »Ich weiß den Sammeltrieb zu schätzen«,
erklärte er, als er sich mit dem Gimlet, den ihre Mutter ihm in die
Hand gedrückt hatte, auf das Sofa im Wohnzimmer sinken ließ, »ganz
gleich, ob das ökologisch korrekt ist oder nicht. Meine Mutter –
die wirst du noch kennenlernen, sie lebt in Upstate New York, aber
sie besucht mich ungefähr zweimal im Jahr –, meine Mutter war
genauso. Aber dann hab ich zu ihr gesagt: ›Für Frauen ist die Jagd
nach Antiquitäten das, was für Männer das Angeln ist. Ich verstehe
das. Aber heutzutage geht es darum, Ressourcen zu schonen, und
darum werfen die meisten ihre gefangenen Fische wieder ins Wasser.
Du weißt schon: Man kostet die Aufregung aus, man schleicht sich an
die Forellen an und wirft die Fliege aus, man zieht dieses
geheimnisvolle, wunderschöne Wesen aus dem Wasser, eins von einer
Million, so wertvoll wie Gold, aber dann lässt man es wieder frei.‹
Und jetzt macht meine Mutter es genauso. Sie ist total geheilt. Sie
geht in ein Geschäft, stößt auf irgend etwas Wunderschönes, was
immer es ist, feilscht so verbissen, als würde es sie umbringen,
auch nur zehn Cent mehr zu bezahlen, und dann legt sie das Geld
hin, lässt sich das Ding einpacken – und gibt es wieder zurück.
Verstehst du? Fangen und wieder freilassen.«
Er gibt keine Antwort. Aber er lässt den Wagen
vorwärtskriechen und betätigt die Lichthupe, um den Leuten in dem
BMW zu signalisieren, dass ihr Verhalten korrekturbedürftig ist.
»Warum parkt ihr denn nicht gleich mitten auf der Straße? Na los«,
treibt er sie an, »nun macht schon.« Wer immer sie auch sind – im
Gegenlicht heben sich plötzlich zwei Silhouetten ab, der Hinterkopf
eines Mannes und das Profil der Frau neben ihm, deren Haar aussieht
wie ein schlampig gewickelter Turban –, sie scheinen begriffen zu
haben, worum es geht. Die Schultern des Mannes machen eine rasche
Bewegung, er lenkt nach rechts und macht widerwillig den Weg
frei.
Und in diesem Augenblick überkommt sie dieses
Gefühl – was ist es? Entsetzen? Ärger? Hass? –, und sie will es
nicht wissen, sie will nicht hinsehen, sie starrt wie im
Kälteschock nach vorn, als Tim an ihm vorbeifährt, im gleißenden
Licht der Scheinwerfer des Wagens hinter ihnen. Sie spürt, dass
sein säuerlicher Blick über sie hinwegstreicht, der Motor des Prius
summt, die Scheibenwischer fahren rhythmisch hin und her, und aus
dem Radio dringt eine ganz leise Stimme, als sie sich an ihm
vorbeischieben, doch sie wendet nicht den Kopf. Sie schließt sie
aus, diese beiden, sie negiert sie, spielt Verstecken, doch zuvor
springt ihr noch der Aufkleber auf dem Seitenfenster des BMW
entgegen: Vor dem Hintergrund der Cartoonfigur eines Nagetiers mit
menschenähnlichem Gesicht stehen drei knallrote, grellgelb
eingerahmte Buchstaben: FPA, und darunter, in Lettern, die
wie vom Fahrtwind verwischt aussehen: For the Protection of
Animals.
Doch dann merkt sie, dass Tim beschleunigt, und
sie rauschen durch den Regenvorhang, oder jedenfalls den von den
Scheinwerfern beleuchteten Teil davon, zwischen den rechts und
links abgestellten Wagen zum anderen Ende des Parkplatzes und auf
der anderen Seite wieder zurück. Bevor sie irgendwelche Einwände
machen kann, hält er vor dem Eingang an, auf dem breiten Streifen,
der Nur für Fußgänger ist, neben der gewundenen Schlange aus
Leuten mit Regenmänteln und Schirmen, die Eintrittskarten wollen,
und kaum sind sie zum Stehen gekommen, da beugt er sich vor und
streckt die Hand nach ihrem Türgriff aus. »Na los«, sagt er. Der
Sicherheitsgurt zerrt an seiner Schulter, und sein Geruch – sein
Rasierwasser, sein Shampoo, der warme, feuchte Geruch der Haare
unter seinen Achseln und zwischen seinen Beinen, der Geruch ihres
Bettgenossen, ihres Geliebten – steigt ihr in die Nase, urtümlich
und tröstlich und doch auch verwirrend. Für einen Augenblick weiß
sie nicht, was sie tun soll. »Ich parke irgendwo dahinten«, sagt er
und weist mit einer unbestimmten Geste auf die weite Schattenarena
hinter ihnen. »Ich komme dann nach.« Die Tür schwingt auf. Sie löst
ihren Sicherheitsgurt, klemmt sich Laptop und Schnellhefter unter
den Arm und steigt aus in den Wind und den windverwehten Regen –,
den sie auf den Lippen schmeckt, süß und aufdringlich zugleich. Tim
sieht ihr nach. Grinst. »Hals- und Beinbruch«, sagt er.
Bevor sie antworten kann – und was hätte sie
schon sagen sollen? Ich werd’s versuchen? –, ist Frieda
Kleinschmidt, die Museumsdirektorin, bei ihr und hält einen
leuchtend rosaroten Schirm über sie. Die Lampen entlang des Wegs
zum Eingang verschwimmen im Dunst, Leute kommen aus den Schatten
und suchen Zuflucht unter dem Vordach, klappen Schirme zusammen,
stampfen mit den Füßen auf und streifen Regentropfen von Schultern,
Ärmeln und Hüten. Groß, mit schmalen Schultern und verkniffenem
Gesicht steht Frieda steif da und starrt auf den Prius, der schräg
auf dem Fußweg steht, wo noch nie zuvor ein Wagen gestanden hat.
Ihre Stahlbrille schimmert, und aus vergrößerten Augen wirft sie
einen ängstlichen Blick auf Tim – Nein, er ist kein Terrorist, will
Alma ihr versichern, nur mein Freund –, und dann sagt sie: »Na, da
haben Sie ja ein schönes Wetter erwischt. Wer hätte das gedacht?«
Sie macht eine pumpende Bewegung mit dem Schirm und senkt ihn auf
Almas Höhe. »Ich meine, vor einer Stunde war es noch wolkenlos.
Oder nicht? Ich glaube schon. Als ich zuletzt geschaut habe.«
Alma murmelt eine Antwort, und dann gehen sie
durch den Innenhof, vorbei am Eingang zum Vortragssaal und zu der
Tür des Raums, in dem der unglückliche Grizzly (Ursus arctos
californicus, 1924 für ausgestorben erklärt) Wache hält. »Diese
vielen Leute – die sind doch nicht alle wegen mir gekommen,
oder?«
»Ich wüsste nicht, wegen wem sonst«, sagt Frieda
über ihre Schulter, beugt sich vor, klimpert mit einem
Schlüsselbund und öffnet die Tür zu dem kalten, zu hell
erleuchteten Raum. Sie bewegt sich schnell, verschränkt die Arme
und geht in ihren Joggingschuhen mit federnden Schritten herum, als
wollte sie gleich in die Nacht verschwinden. Sie ist nervös, das
kann Alma sehen, nervös wegen des zahlreichen Publikums und wegen
des Themas und dem, was letzte Woche in Ventura passiert ist. »Aber
Sie haben ja alles, was Sie brauchen, oder? Auf dem Podium stehen
eine Flasche Wasser und ein Glas. Und ich glaube, wir sollten zehn
Minuten später anfangen, weil es ja regnet und damit jeder einen
Platz hat.«
»Ja«, murmelt Alma, »ist gut. Ich muss nur den
Laptop an den Projektor anschließen. Und das Mikrofon –«
»Ich habe den Soundcheck selbst gemacht. Werden
Sie nach dem Vortrag Fragen beantworten?«
Der Grizzly mit den Glasaugen, der früher zur
Ausstellung gehörte, jetzt aber aufgrund ungenannter Vergehen in
diesen Raum verbannt ist, überragt sie und fletscht stumm die
Zähne. Es gibt hier noch andere Ausstellungsstücke: In einer Ecke
steht ein großer, steifer Kamm aus Walbarten, auf einem Eichentisch
sind Mammutknochen ordentlich aufgereiht und sehen den ins
Unwahrscheinliche vergrößerten Resten eines Kentucky Fried Chicken
beunruhigend ähnlich, Pfeilspitzen und Tonscherben von
Chumash-Gefäßen liegen in einer verstaubten Vitrine, die schräg in
den Raum steht – Museumsplunder, der auf die Spenden wartet, die
ihn vor dem Schicksal eines ewigen Depotdaseins bewahren sollen.
»Ja. Ich meine, deswegen sind die doch gekommen. Die meisten
jedenfalls.«
Frieda sieht sie an. »Wenn irgend jemand, ich
weiß nicht, streitlustig wird, entziehen Sie ihm einfach das
Wort. Und Bill Braithwaite steht an der Tür, nur für alle Fälle
…«
Das ist der Punkt, wo sie sagen sollte: Keine
Angst, ich komme schon zurecht – ich hab so was schon tausendmal
gemacht. Aber sie sagt es nicht.
Hoch aufgerichtet, mit blitzenden Brillengläsern
und verschreckten taubengrauen Augen, faltet Frieda die Hände und
dreht sich um, unter dem leisen Quietschen von Gummi oder
Kunststoff oder was immer es ist, aus dem man heutzutage
Joggingschuhe macht. »Na, dann lasse ich Sie jetzt allein. Ich hole
Sie in« – sie hebt die Hand und sieht blinzelnd auf eine flache
goldene Uhr an einem schnürsenkeldünnen Armband – »sagen wir
siebeneinhalb Minuten ab.«
Es ist warm im Saal, sehr warm. Auch die
Stehplätze sind gefüllt, was bedeutet, dass mindestens dreihundert
Zuhörer gekommen sind, und die drängen sich auf engem Raum. Die
meisten haben bereits gegessen und verdauen jetzt, wandeln Proteine
und Kohlenhydrate um und erzeugen Wärme. Und es ist feucht, der
Regen prasselt unaufhörlich auf das Dach und läuft mit
peristaltischem Gluckern und Gurgeln durch die Regenrinnen.
Außerdem ist es November, und darum ist die Klimaanlage des Museums
längst abgeschaltet. Während Frieda eine Liste von Ankündigungen
verliest – Veranstaltungen, Seminare, Spendensammlungen,
Exkursionen, Filme und Diavorträge –, sitzt Alma in der Mitte der
ersten Reihe und spürt, wie ihr der Schweiß aus den Poren tritt,
sich im Nacken unter der Heizdecke ihrer Haare sammelt und
tropfenweise das Rückgrat hinunterrinnt, wo ihr die Bluse bereits
an der Haut klebt. Als sie durch den linken Seiteneingang gegangen
ist und sich auf ihren Platz gesetzt hat, war sie abermals
erstaunt, wie viele Leute erschienen sind, besonders an einem so
verregneten Abend, aber sie hat ihren Blick nur schweifen lassen,
so dass sie keine einzelnen Gesichter erkannt hat, auch nicht das
von Tim, der wohl im überwiegend männlichen Teil des Publikums am
hinteren Ende des Saals steht, das sich keine Hoffnung auf einen
Sitzplatz machen kann. Vor ein paar Minuten, in dem grünen Raum mit
Frieda und dem Grizzly, war sie noch nervös, aber das ist jetzt
vorbei. Sie wünscht sich nur – sie hofft –, dass Friedas Begrüßung
kurz und knapp ausfällt, damit sie zum Podium gehen und diese Sache
hinter sich bringen kann.
Aber Frieda fasst sich nicht kurz. Nach den
ersten stockenden Worten kommt sie in Schwung und genießt die
rauschhafte Erfahrung, ihre Stimme durch die Drähte eines mit
Schaumstoff ummantelten Mikrofons und die unter der Decke
aufgehängten Lautsprecher zu jagen und die Aufmerksamkeit von
dreihundert Zuhörern zu fesseln, ohne sich zu verhaspeln, zu
versprechen oder sich auf andere Weise zum Narren zu machen. Ihre
Einführung – Alma Boyd Takesue, Bachelor in Biologie an der
University of Hawaii, Master und Promotion in Ökologie an der
University of California in Berkeley, drei Jahre Feldforschung über
Braunschlangen auf Guam und dann der ganze Rest bis hin zur
Auflistung ihrer Publikationen in Fachjournalen, aller
Publikationen in allen Journalen – ist ebenso langwierig wie
langweilig, und als Frieda endlich vom Mikrofon zurücktritt, mit
einer Hand das Scheinwerferlicht abschirmt und die andere in einer
Willkommensgeste ausstreckt, ist das Publikum ungeduldig.
Pflichtschuldiges, spärliches Klatschen ertönt, als Alma aufsteht,
und erstirbt, noch bevor sie im Scheinwerferlicht angekommen ist
und sich müht, das Mikrofon, das Frieda ihr hinterlassen hat, so
einzustellen, dass es nicht mehr über ihrem Scheitel hängt.
»Hallo«, hört sie sich sagen, und der Verstärker
schleudert ihre Stimme durch den Saal, so dass sie mit hallendem
Vibrato in alle Winkel dringt. »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie
gekommen sind, besonders an einem so« – und hier hält sie inne,
sucht nach dem rechten Wort, das die Spannung herausnimmt und eine
freundliche Atmosphäre erzeugt, und wie ist der Abend denn
überhaupt? –, »an einem so ungemütlichen Abend.« Ja, ungemütlich.
Allgemeines Geraschel, als säße das ganze Publikum auf einem
riesigen, gespannten Papier, und dann beugt sie sich zu ihrem
Computer, und auf der großen Leinwand hinter ihr erscheint das
erste Foto: Anacapa bei Tagesanbruch, der Arch Rock leuchtet
ikonisch, und das Meer blinkt so friedlich, als wäre es in Öl
gemalt. »Das ist Anacapa«, sagt sie überflüssigerweise, »eine der
Inseln des Nationalparks Santa-Barbara-Inseln, jener Inseln, die
man oft als die Galapagos-Inseln Nordamerikas bezeichnet.«
Die Galapagos-Inseln Nordamerikas. Eine
abgedroschene Phrase, die sie aber in Presseerklärungen und bei
formellen und informellen Vorträgen gern gebraucht, denn sie
verfehlt nie ihre Wirkung: Die Zuhörer denken sogleich an
Sonderausgaben von National Geographic, sehen vor ihrem
geistigen Auge Blaufußtölpel, Fregattvögel, Vampirfinken und
Meerechsen in liebevollen Großaufnahmen, während im Hintergrund
azurblaue Wellen an ein zerklüftetes Gestade schlagen, und stellen
dann in Gedanken die gewünschte Verbindung her: Diese Inseln,
unsere Inseln, sind ebenso einzigartig. Und haben es ebenso
verdient, geschützt zu werden. Nicht bloß geschützt, sondern auch
wiederhergestellt zu werden.
Sie hebt den Kopf und sieht ins Publikum, wendet
den Kopf nach rechts und links, als spräche sie jeden einzelnen von
ihnen persönlich an, obwohl sie wegen der Scheinwerfer und weil
ihre Brille auf dem Podium liegt und das Licht im Saal gedimmt ist,
kaum über die zweite Reihe hinaussehen kann. »Anacapa«, sagt sie
und lässt jede Silbe für sich allein stehen, »ist, wie Sie sicher
wissen, ein einzigartiges und unersetzliches Ökosystem, eine Heimat
für eine ganze Reihe endemischer Tier- und Pflanzenarten, die es
nirgendwo sonst gibt, vom Anacapa-Goldlack und einer autochthonen
Malacothrix aus der Gattung der Wegwarten bis hin zu
Schildgrille und Anacapa-Hirschmaus, Peromyscus maniculatus
anacapae, so wie die anderen Inseln einzigartige Vogelarten
sowie den Tüpfelskunk und« – hier klickt sie mit der Maus, so dass
das nächste Foto erscheint, das jedesmal beifälliges Gemurmel
hervorruft – »den Insel-Graufuchs beherbergen. Diese Füchse haben
sich im Verlauf der sechzehntausend Jahre, die seit der Abtrennung
der Inseln vom Festland vergangen sind, zu einer eigenen Unterart
entwickelt, die den bei Inselpopulationen oft beobachteten
Zwergwuchs aufweist. Diese kleinen Burschen« – sie sieht auf die
Leinwand, wo der Fuchs im Dämmerlicht steht, die Ohren aufgestellt,
die Vorderpfoten ordentlich nebeneinander und mit einem Blick, aus
dem die ganze Wildheit eines Plüschtiers spricht – »wiegen im
Durchschnitt drei bis fünf Pfund und sind so groß wie eine
Hauskatze … eine Hauskatze, die sich ausgiebig und regelmäßig
bewegt.« Die letzte Bemerkung, ihr Eisbrecher, sorgt immer für den
ersten Lacher des Abends oder wenigstens für ein schuldbewusstes
Schmunzeln, wenn die Katzenbesitzer an ihre übergewichtigen, an
Trockenfutter gewöhnten Zimmertiger denken, die zu Hause schlafend
auf dem Sofa liegen.
Jetzt hat sie es geschafft, das Publikum ist
gefesselt. Was macht es schon, dass sie insgeheim findet, alle
streunenden Katzen sollten abgeschossen werden? Sie findet ihren
Rhythmus, die lateinischen Bezeichnungen gehen ihr so leicht über
die Zunge, als wäre sie eine Novizin, sie hat alle Fakten und
Zahlen parat und braucht nicht auf die Notizen zu sehen, die sie in
einer 22-Punkt-Schrift ausgedruckt hat, damit sie keine Brille
braucht und das Publikum ihr direkt in die Augen sehen kann. Hinter
ihr erscheint ein Bild nach dem anderen, sie präsentiert einen
kurzen Überblick über die Biogeographie der Inseln und erklärt, wie
sich an isolierten Orten Spezies entwickeln und die Nischen des
Ökosystems füllen und dass ein solches einzigartiges Gleichgewicht,
wie es auf vielen Inseln in aller Welt herrscht, durch die Einfuhr
von Festlandarten empfindlich gestört werden kann. Sie spricht vom
Dodo, dem Paradebeispiel für eine ausgestorbene Inselspezies, einem
taubenartigen Vogel, der irgendwie seinen Weg auf eine Insel im
Indischen Ozean gefunden und sich, da es dort keinerlei Raubtiere
gab, zu dem watschelnden, fettsteißigen, flugunfähigen Vogel
entwickelt hat, der dann zum Inbegriff der Hilflosigkeit geworden
ist.
»Der Dodo war naiv«, sagt sie und bedenkt sie
mit einem strengen, nüchternen Blick, denn das ist die Realität,
Leute, das ist es, worauf es hinausläuft – der unersetzliche
Verlust einer Spezies –, und daran ist nichts Komisches oder auch
nur entfernt Ironisches. »Das soll heißen, er hatte Misstrauen und
Furcht im Verlauf von Generationen verloren und watschelte arglos
auf den ersten Matrosen zu, der auf der Insel Mauritius landete.
Und der drehte dem Dodo den Hals um, rupfte und briet ihn.
Anschließend führte er Ratten und Schweine ein, die die Eier dieser
Bodenbrüter fraßen. Fliegen ist teuer«, fährt sie fort, »jedenfalls
in Hinblick auf den Kalorienverbrauch, und dasselbe gilt für das
Anlegen von Nestern in Bäumen. Warum fliegen, warum Nester auf
Bäumen bauen, wenn man an einem Ort ist, wo man nichts zu
befürchten hat? Wie jedes Schulkind weiß, lautet die Antwort – oder
vielmehr das Resultat – im Fall des Dodos: Ausrottung.«
Das Publikum ist ruhig geworden, das anfängliche
Rascheln, Schneuzen und halbunterdrückte Husten ist einer Stille
gewichen, die sie nicht als kollektiven Stupor, sondern als
aufmerksames Schweigen deuten möchte. Und tatsächlich, sie sind
aufmerksam: Sie kann es spüren, sie sind wach und gespannt, sie
warten auf das Thema (Schlüsselworte: Ratten und Gift) und die
heftige anschließende Diskussion. Nun gut. Dann also heraus damit.
Sie klickt mit der Maus, und das nächste Bild, das die Leinwand
befällt, ist das ebenjener Ratten. Augen funkeln dämonisch im
Blitzlicht des Fotografen, und die Tiere selbst durchstöbern die
Nester von Möwen und Alken, ihre Schnauzen und Pfoten sind
verschmiert mit Eidotter, Eiweiß und Keimflecken.
»Ratten«, verkündet sie und hält kurz inne,
damit das ganze Gewicht dieser Information zur Geltung kommt, »sind
weltweit für sechzig Prozent des Aussterbens von Inselpopulationen
verantwortlich.« Wieder eine kurze Pause. »Und Ratten sind dabei,
die Bodenbrüter auf Anacapa auszurotten.« Diesmal wird ihre Pause
begleitet von dem stählernsten Blick, den sie angesichts der
Tatsache, dass sie das Publikum praktisch nicht sehen kann,
zustande bringt. »Und darum bin ich heute abend hier, um Ihnen zu
erklären, dass wir schnell etwas unternehmen müssen, wenn wir diese
endemischen Tier- und Pflanzenarten vor dem Schicksal bewahren
wollen, das der Dodo, der Rodrigues-Solitär, der Stephenschlüpfer,
Roosevelts Anolis und Dutzende, Hunderte, Tausende andere
Arten erleiden mussten.«
Ein Rascheln, das Knarzen von Stühlen, Geflüster
– Erregung geht durch das Publikum wie eine elektrische Ladung. Das
ist es, wofür sie gekommen sind. Und das ist es auch, wofür Alma
gekommen ist: der Augenblick der Wahrheit. Sie richtet sich auf und
strafft die Schultern. Sie hat die Leute jetzt da, wo sie sie haben
will, und jetzt ist der Augenblick gekommen, sich zum Mikrofon zu
beugen, mit diesem stählernen Blick, und zu sagen: »Und darum haben
wir, nach langer Beratung und mit voller Unterstützung der Biologen
vom National Park Service, der Naturschutzbehörde und diverser
wissenschaftlicher Institute, beschlossen, die auf die
Santa-Barabara-Inseln vorgedrungene Rattenpopulation, die die
Bestände der einheimischen Hirschmaus, des Alken, der Taubenteiste,
der Westmöwe und des Kormorans gefährdet, durch ein auf dem Luftweg
ausgebrachtes Mittel namens Brodifacoum zu beseitigen.« Sie klickt,
und es erscheint eine Großaufnahme eines Lummenalken mit schwarzer
Kappe und Maske über weißer Kehle und hellem Bauch. Der kleine
Vogel sieht entsetzt auf die Ratte hinab, die an dem Ei nagt, das
er bebrütet. »Und ich kann Ihnen versichern, dass dieses Mittel
schnell und human wirkt und dass wir nur zu gern weniger drastische
Maßnahmen ergreifen würden, wenn es denn welche gäbe. Angesichts
der Dringlichkeit der Situation und unseres Vertrauens in diese
Methode müssen wir aber …«
Es ist ganz still. Alles sieht zu einer Gestalt,
die sie erst jetzt am Rand ihres Blickfelds entdeckt, der Gestalt
eines Mannes, der sich von einem der Plätze am Rand der ersten
Reihe erhoben hat. Er hat rostbraune Dreadlocks, er hält den Kopf
gesenkt, die Muskeln sind angespannt, er beißt die Zähne zusammen.
Sie kennt ihn. Natürlich kennt sie ihn. Und natürlich ist er hier,
natürlich unterbricht er sie und benimmt sich wie ein SA-Mann, wie
ein, ein –
»Quatsch«, ruft er. Seine Stimme hallt von einem
Ende des Saals zum anderen. »Propaganda und Doppelsprech.« Er fährt
zum Publikum herum, die Arme erhoben wie ein biblischer Prophet.
»Sind wir gekommen, um uns die Parteilinie erklären zu lassen wie
Arbeitssklaven in einer kommunistischen Diktatur, oder ist das hier
eine öffentliche Versammlung? Wollen wir, dass unsere Fragen
beantwortet werden? Wollen wir unseren eigenen Standpunkt darlegen?
Oder ist das etwa ein Vortrag für Taubstumme?«
Aufbrandender Beifall und verschiedene Stimmen,
männliche wie weibliche, die ihm beipflichten, und dann, zögernd
zunächst wie ein aufkommender Wind, aber mit jeder Wiederholung
stärker werdend, ein Sprechchor: »Dis-kus-sion! Dis-kus-sion!
Dis-kus-sion!«
Sie hebt die ausgestreckten Hände, eine Geste,
die um Ruhe bittet, um Geduld, um schlichte Höflichkeit, und auch
sie bekommt Unterstützung. »Setzen!« ruft einer aus der Dunkelheit.
»Halt den Rand!«
»Gut«, hört sie sich sagen, und ihre verstärkte
Stimme donnert wie die eines Stentors, eines allmächtigen Gottes –
sie hat das Mikrofon, und das Publikum hat es nicht. »Ich werde
Ihre Fragen gleich beantworten. Und was Sie betrifft, Mr. LaJoy« –
er steht noch immer da, die Arme trotzig verschränkt –, »so sind
Ihre Einwände ja wohlbekannt, und Sie werden Gelegenheit bekommen,
sie noch einmal vorzubringen, aber bis dahin setzen Sie sich bitte
wieder und gedulden Sie sich.« Und dann fügt sie überflüssigerweise
noch hinzu: »Alles zu seiner Zeit.«
Der Beifall, der jetzt ertönt, gilt eindeutig
ihr und ihrer Bitte um Höflichkeit und Zurückhaltung, und er
erstirbt erst, als Dave LaJoy sich auf seinen Platz hat sinken
lassen und Alma einen Schluck Wasser aus dem Glas getrunken hat,
das Frieda auf das Rednerpult gestellt hat. Zittert ihre Hand, als
sie es zum Mund führt? Nein. Sie zittert nicht. Kein bisschen.
Entschlossen, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, stellt
sie das Glas energisch ab und macht weiter, wo sie unterbrochen
worden ist. Sie beschreibt – und ja, sie verharmlost – die Wirkung
des Mittels und weist abermals und mit eindringlichen Worten darauf
hin, dass es absolut keine Alternative zu dem geplanten Vorhaben
gibt, während das letzte Foto, das eines Alkes, erscheint, der vor
einem verschwommenen Hintergrund aus Pflanzen, die sich an dunkles
Vulkangestein klammern, seinen Nestling atzt. Sie nimmt den Applaus
dankend entgegen, verbeugt sich und wartet, bis die hagere,
hüftlose, hängeschultrige Frieda auf die Bühne und ins
Scheinwerferlicht getreten ist. »Und jetzt«, sagt Frieda, begleitet
von einer kurzen, warnenden Rückkopplung, »jetzt wird Dr.
Takesue Ihre Fragen beantworten. Eine nach der anderen. Und immer
nur einer, bitte.« Sie hält kurz inne, als erwartete sie
Widerspruch, schirmt die Augen gegen das Scheinwerferlicht ab und
ruft: »Schalten Sie das Licht im Saal ein, Guillermo. Wir wollen
doch sehen, mit wem wir sprechen.«
Sofort ist Dave LaJoy aufgesprungen und reißt
die Hand hoch – und da ist sie, neben ihm: Anise Reed mit dem
Wirbelsturmhaar, den glühenden Augen, den im Schoß geballten
Händen. Alma, die ihre Brille inzwischen fest auf die Nase gedrückt
hat, ignoriert die beiden und deutet auf eine Frau in der zehnten
Reihe. Die erhebt sich von ihrem Stuhl, mit gerötetem Gesicht,
einer Haube aus milchweißem Haar und einer rechteckigen
Stahlbrille, die aus demselben Geschäft wie Friedas stammen könnte,
und sagt mit dünner, freundlicher Stimme: »Aber was ist mit den
Mäusen? Werden die von dem Mittel nicht auch getötet?« Sogleich
setzt sie sich wieder und verschwindet in der Anonymität der Menge,
als würde es sie erdrücken, auch nur eine Sekunde länger im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
»Eine gute Frage«, gratuliert Alma ihr,
erleichtert, eine Frage von jemandem beantworten zu können, der
sich informieren und etwas dazulernen will, anstatt Aufmerksamkeit
zu saugen wie ein Parasit, denn das ist genau das, was Dave LaJoy
ist: ein Parasit, der am Park Service und am Museum und an Frieda
und allen anderen saugt, die sich bemühen, die Situation zu
verbessern, und nicht alles kaputtmachen wollen. »Unsere Biologen«
– ihre Stimme ist jetzt sanft und honigsüß, und die Befriedigung,
die Alma empfindet, löst die Spannung, die sich in ihrem Bauch
aufgebaut hat und bis in die Fingerspitzen ausstrahlt, so dass sie
kribbeln, als wären sie erfroren –, »unsere Biologen haben eine
repräsentative Population eingefangen, damit sie sich in
Gefangenschaft vermehren und nach der Beseitigung der Ratten
ausgesetzt werden können. Wir rechnen damit, dass der Bestand sich
sehr schnell erholen wird, sobald keine Konkurrenz mit den Ratten
mehr besteht.«
»Und die Vögel? Was ist mit den Vögeln? Es
werden doch auch jede Menge Vögel sterben, oder etwa nicht?« Ein
Mann zu ihrer Linken – ein Verbündeter von LaJoy? – ist
aufgesprungen. Sie kennt ihn nicht, sieht einen Spitzbart, einen
funkelnden goldenen Ohrring, die blauen, unverwandt starrenden
Augen des Fanatikers, und will ihn im ersten Moment einfach
ignorieren, entscheidet sich jedoch sogleich anders: Wenn sie ihm
nicht antwortet, wird es so aussehen, als wollte sie der Frage
ausweichen.
»Die Köder sind leuchtendblau eingefärbt und
haben somit keinerlei Ähnlichkeit mit irgend etwas, was ein Vogel
fressen würde. Und wir wollen diese Aktion bald, im Winter,
durchführen, wenn sich weniger Vögel auf der Insel aufhalten.« Sie
hebt beschwichtigend die Hand und lässt sie wieder sinken. »Wir
glauben, dass die Kollateralschäden sehr klein sein werden.«
»Klein?« Schon wieder Dave LaJoy, der abermals
aufgesprungen ist. »Der Tod auch nur eines einzigen Tiers – einer
einzigen Ratte – ist unmenschlich, ungerecht und nicht hinnehmbar.
Warum erzählen Sie uns nicht – Dr. Takesue –, was dieses
Mittel mit einem Tier anrichtet, das das Pech hatte, etwas davon zu
fressen, ganz gleich, ob es eine Ratte oder eines von Ihren
kostbaren Vögelchen ist? Na? Warum erzählen Sie uns nicht
davon?«
Sie sieht, dass Frieda auf ihrem Platz in der
ersten Reihe hin und her rutscht. Frieda, der Wachhund. Sie reckt
den Hals, und ihre Brille blitzt streitlustig. Und wo ist Bill
Braithwaite – sollte er nicht als Ordner bereitstehen? Und Tim? Wo
ist Tim?
»Das Mittel wirkt schnell und schmerzlos«, hört
sie sich sagen.
»Noch mehr Doppelsprech.« LaJoy fährt herum und
will die Menge aufstacheln, er fuchtelt mit den Armen, und die
Dreadlocks hüpfen, wenn er den Kopf auf dem kräftigen Hals dreht.
»Tatsache ist, dass dieses Gift – denn das ist es ja schließlich,
also warum nennen Sie’s nicht auch so? –, dass dieses Gift einen
langsamen Tod durch innere Blutungen bewirkt, und das kann zwischen
drei und zehn Tage dauern. Zehn Tage! Und das nennen Sie schnell
und schmerzlos?«
Ein Raunen geht durch den Saal. Stühle
quietschen. Entrüstetes Gemurmel erhebt sich. Das Publikum
entgleitet ihr.
»Hören Sie, Mr. LaJoy«, sagt sie, und ihre
Stimme ist so scharf wie die Pfeilspitzen in dem Hinterzimmer, die
sie am liebsten auf ihn abschießen würde: einfach den Bogen
spannen, zielen und den Pfeil loslassen, »ich werde hier nicht mit
Ihnen diskutieren –«
»Wo denn dann? Na los, sagen Sie’s. Ich werde
dasein. Dann kommt vielleicht die Wahrheit ans Licht: dass Sie und
Ihre sogenannten Wissenschaftler –«
»Ehrlich gesagt: nirgends. Sie haben Ihre
Meinung bereits dargelegt. Danke. Jetzt … ja, Sie dort hinten, der
Herr mit dem karierten Hemd.«
Aber LaJoy gibt nicht auf, ebensowenig wie er in
der Woche zuvor in Ventura aufgegeben hat, wo er Flüche und
Drohungen ausgestoßen hat und man ihn hinauswerfen musste. »Nazis,
ihr seid Nazis! Alles umbringen – das ist eure Lösung. Töten,
töten, töten!«
Plötzlich steht Frieda neben ihr und hebt das
Mikrofon an ihr empörtes Gesicht. »Das reicht jetzt. Wenn Sie sich
nicht an die Regeln der Höflichkeit halten können –«
Er fällt ihr ins Wort: »Wie können Sie von den
Regeln der Höflichkeit sprechen, wenn unschuldige Tiere zu Tode
gefoltert werden sollen? Höflich? Ich werde erst wieder höflich
sein, wenn das Schlachten vorbei ist, und keine Minute früher.
Diese Ratten –«
Alma spürt, wie ihr das Herz sinkt. Sie steht an
Friedas Seite, fühlt sich hilflos und ausgesetzt und versucht, die
Schultern nicht hängen zu lassen. Sie hat das Mikrofon, ihr Zepter,
ebenso verloren wie das Publikum. Frieda späht zum Ende des Saals
und ruft: »Bill. Guillermo. Würden Sie diesen Herrn bitte aus dem
Saal begleiten?«
Und da kommen sie, Bill Braithwaite mit seinen
vierzig Kilo Übergewicht und Guillermo Díaz, der Techniker, mit
gesenktem Kopf und hundert Pfund leichter. Sie gehen mit
entschlossenen Mienen durch den rechten Seitengang auf LaJoy zu.
»Diese Ratten sind schon seit zweihundertfünfzig Jahren auf der
Insel!« ruft LaJoy und schiebt sich weiter in die Mitte, um ihnen
auszuweichen. »Welche Welt wollen Sie wiederherstellen? Die von vor
hundert Jahren? Tausend? Zehntausend? Warum« – er steht jetzt im
anderen Seitengang und wendet sich an das Publikum – »nicht gleich
einen Zwergmammut klonen und auf der Insel aussetzen, wie in
Jurassic Park?«
»Bill«, sagt Frieda und stößt einen langen,
entnervten Seufzer aus, der aus den Lautsprechern rauscht wie das
letzte Stoßgebet eines Märtyrers. »Bill!«
Alle scheinen sich von ihren Plätzen erhoben zu
haben, Stimmen hallen von dem offenen Gebälk der Decke wider, die
Versammlung ist beendet, wieder ist ein Abend vertan – oder
jedenfalls der nützlichste Teil davon. Warum hat sich niemand zu
Wort gemeldet, der sich zuvor informiert hat? Oder Schulkinder, die
etwas über die Gewohnheiten der Inselfüchse erfahren oder wissen
wollen, was der Tüpfelskunk frisst und wieso er so klein ist? Warum
dieser Streit? Warum diese Wut? Warum dieser Hass? Jurassic
Park. Das war ein Tiefschlag, ein demagogischer Trick, um vom
eigentlichen Thema abzulenken, und am liebsten würde sie das
Mikrofon an sich reißen und ihm die Meinung sagen, aber das kann
sie nicht, denn sie ist ein Profi, sie hält sich an die Regeln, sie
hat Geschmack und Umgangsformen und die Wahrheit auf ihrer Seite,
und sich auf einen lauthals geführten Wortwechsel mit einem
Soziopathen einzulassen ist ihren Zielen nicht dienlich.
Sie blickt in den Saal. LaJoy ist bereits beim
Ausgang, zwischen ihm und Bill und Guillermo ist gut die Hälfte des
Publikums, so dass ihr nicht mal die Befriedigung bleibt zu sehen,
wie man ihn hinauswirft. Er lässt sich Zeit, wiegt sich in den
Hüften, schiebt die Schultern, dreht den Kopf keck hin und her, er
bewegt sich wie ein Catcher, der die Arena betritt. Er ist beinahe
draußen, die Leute machen ihm Platz, wie sie es für jeden
Krawallmacher, jeden Spinner tun würden, aber im letzten Augenblick
richtet er sich noch einmal auf, dreht sich um, wirft einen
erbitterten Blick zum Rednerpult, an dem sie und Frieda unbeachtet
stehen, reckt das Kinn und verschießt einen letzten Pfeil. So laut,
dass alle es hören können, ruft er: »Wer hat Ihnen eigentlich
erlaubt, Gott zu spielen, Frau Doktor?«
Danach, bei dem Empfang, den das Museum für
sie ausgerichtet hat und bei dem man warmen Weißwein und weiche
Tortillachips reicht, kommen einige Leute zu ihr, um ihr zu sagen,
wie anregend und informativ ihr Vortrag war, wie sehr sie das, was
sie für die Inseln tut, befürworten und wie beklagenswert sie die
Dummheit und Grobheit finden, deren Zeugen sie heute abend geworden
sind. Sie meinen es gut, aber mehr als ein reflexartiges Lächeln
und ein freundliches »Danke« bekommt Alma nicht zustande. Nach
LaJoys Abgang – Anise Reed ist zusammen mit ihm hinausgeschlichen –
ist es Frieda gelungen, die Leute zu beruhigen, so dass die
Fragestunde wie geplant fortgesetzt werden konnte. Alma hat Fragen
von Menschen beantwortet, die echtes Interesse gezeigt haben, und
die Gelegenheit genutzt, sie zu informieren, mit all der
Verbindlichkeit und Redegewandtheit, die ihr zu Gebote stehen. Und
das war schon eine Leistung angesichts der dramatischen Spannung,
die noch immer in der Luft lag – eigenartigerweise hat LaJoys
Ausbruch das Publikum nur aufgeschlossener und empfänglicher
gemacht. Alles in allem hat sie den Abend ganz gut überstanden; sie
hat, was noch wichtiger ist, ihr Anliegen dargelegt und die
Menschen an ihren Überlegungen und Erkenntnissen teilhaben lassen,
auf ruhige, vernünftige Weise, was die Anschuldigungen und
Verzerrungen dieser PETA- und FPA-Leute wohl wirkungsvoller
entkräftigt hat als alles andere. Ja. Sicher. Und warum steht sie
dann hier, einen Plastikbecher mit abgestandenem, ungenießbarem
Weißwein in der Hand, und setzt sich Blicken aus wie sie sonst für
die kleine Turnerin reserviert sind, die bei den Olympischen
Spielen vom Schwebebalken gefallen ist?
Sie spricht mit einer knochigen Siebzigerin in
einer rosaroten Bluse, so groß wie ein Footballtrikot, über die
Möglichkeit, von Inseln stammende Pflanzen in Gärten auf dem
Festland anzusiedeln, als unvermittelt Tim erscheint, ihren
Ellbogen nimmt – »Entschuldigung«, sagt er zu der alten Dame, »es
handelt sich um einen Notfall« – und sie zum Ausgang führt. »Ich
habe gerade bei Hana Sushi angerufen, die Küche ist noch bis zehn
geöffnet. Willst du nun diesen Sake – Sake on the rocks, forsch auf
der Zunge, mit einer zarten Note von Hokkaidowald, unterlegt mit
einer Andeutung von Vanille und Granatapfel – oder nicht?«
»Aber ich muss mich noch von Frieda
verabschieden.«
»Mit deutlichen Anklängen von Ananas und … ich
weiß nicht … nassem Hund?«
»Aber Frieda –«
»Ruf sie von unterwegs an.«
»Das kann ich nicht«, sagt sie, aber da sind sie
schon zur Tür hinaus und gehen durch die Nacht zum Parkplatz, der
beinahe ganz leer ist. Aus tiefhängenden Wolken fällt neuerlicher
Nieselregen. Sie denkt: Ich werde ihr eine Karte schicken.
Sie denkt, dass es ihr für heute reicht, sie denkt an die in
ruhiges, sanftes, vertrautes Licht getauchte Sushi-Bar, an leise
Jazzmusik aus den Lautsprechern und an Shuhei und Hiro, die hinter
der Theke stehen und lachen und tratschen und extra für sie etwas
ganz Besonderes zaubern, sie denkt an Heilbutt und Albacore und
Gelbflossen-Thunfisch aus den Tiefen des Ozeans und an Sake on the
rocks in einem durchsichtigen, beschlagenen Glas.
Es sind noch etwa fünfzehn Meter bis zum Wagen,
dessen mottenfarbene Karosserie in der tiefen Dunkelheit bleich
schimmert, als sie sieht, dass irgend etwas nicht stimmt. Obwohl
sie die Brille trägt, wirkt alles verschwommen. Sie gehen jetzt
schneller, auch Tim hat es gemerkt, aber selbst als sie direkt
neben dem Wagen stehen, kann sie nicht erkennen, was das für Linien
sind. Es scheint sich um irgendwelche schwarzen Bänder zu handeln.
Sprühlack?
Tim, eine schattenhafte Gestalt neben ihr, auch
er nun Teil einer noch unklaren Komplikation, stößt mit vor
Überraschung und Empörung bebender Stimme einen Fluch aus.
»Scheiße! Scheiße! Die haben den Wagen vollgesprayt!«
Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt
haben, nehmen große, verschlungene Buchstaben Gestalt an.
Stirb, liest sie. Schlampe, liest sie. Und
schließlich: Japsfotze.