BOIGA IRREGULARIS

Als Mitte der fünfziger Jahre der Bestand der einheimischen Vögel auf der Insel Guam stark zurückging und sie in den sechziger und siebziger Jahren ganz verschwanden, wusste niemand, warum. Der Verdacht der Forscher fiel auf DDT, Pflanzenschutzmittel, den Verlust von Lebensraum sowie Epidemien, und erst als Julie Savidge Anfang der achtziger Jahre Feldforschungen für ihre Dissertation betrieb, fiel das wissenschaftliche Augenmerk auf ein bis dahin wenig beachtetes Reptil, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf Guam aufgetaucht war. Die in Australien, Malaysia und Neuguinea beheimatete Braune Nachtbaumnatter war wohl in einer Munitionskiste, im Motorraum eines Militärfahrzeugs oder vielleicht im Radkasten eines Transportflugzeugs der Marine auf die Insel gelangt. Ihr Auftreten wurde zwar registriert, doch da diese Tiere nachtaktiv sind und auf Bäumen leben, kamen nur wenige Menschen mit ihnen in Kontakt. Nachdem Savidge alle anderen Faktoren ausgeschlossen hatte, beschloss sie, die Ausbreitung der Schlangen von Apra, dem im Westen gelegenen Haupthafen, bis zu den südlichen, östlichen und nördlichen Küsten der Insel zu dokumentieren, und stellte fest, dass es eine Korrelation zwischen ihrer Zunahme und dem weitgehenden Verschwinden der einheimischen Vogelwelt gab. Das Rätsel war gelöst. Das Problem bestand weiter.
Auf Guam fand die Braune Nachtbaumnatter ein Schlangenparadies vor. Die einzige andere Schlangenart war ein harmloses Tierchen, so groß wie ein Regenwurm, und stellte keine Konkurrenz dar, und es gab keinerlei Raubtiere, die die Zahl der Nachtbaumnattern begrenzt hätten. Das Nahrungsangebot war reichlich und bestand aus etwa achtzehn weltweit einzigartigen Vogelarten, die, wie andere Inselspezies, jener Naivität zum Opfer fielen, die dem Dodo und seinesgleichen zum Verhängnis geworden war. In ihrem angestammten Lebensraum lebt Boiga irregularis in einem natürlichen Gleichgewicht mit anderen Spezies und ist nicht besonders beeindruckend oder gefährlich. So ist ihr Gift, das durch Giftzähne im hinteren Bereich des Mauls injiziert wird, relativ schwach und für Menschen kaum gefährlich. Außerdem ist sie nachtaktiv und daher nur selten zu sehen, und da sie sehr schlank ist – Exemplare von etwa einem Meter Länge sind nicht dicker als der Zeigefinger eines Mannes –, wirkt sie nicht annähernd so bedrohlich wie einige andere tropische Schlangen, wie die Kobras, Boomslangs, Mambas und Wassermokassinottern, die durch die Alpträume der Ophiophoben gleiten.
Dennoch hat sie sich als eine der erfolgreichsten und schädlichsten invasiven Spezies überhaupt erwiesen. Von den erwähnten achtzehn endemischen Vogelarten gibt es noch elf, zwei davon – die Guamralle und der Zimtkopfliest – existieren nur noch in Gefangenschaft, sechs sind in ihrem Bestand bedroht und drei weitere stark dezimiert. Die Populationsdichte der Braunen Nachtbaumnatter – bis zu fünftausend pro Quadratkilometer – gehört weltweit zu den höchsten. Sie ist unglaublich anpassungsfähig und frisst, wenn sie keine Vögel fangen kann, ebenso gern einheimische Frösche und Eidechsen sowie die eingeführten Geckos, Skinke, Aga-Kröten und alle anderen Tiere, die durch ihren Schlund passen. Sie wird bis zu drei Meter lang und erscheint in Toiletten, Duschen und Babybetten. Seit 1978 gab es zwölftausend Stromausfälle, weil Nachtbaumnattern auf Strommasten geklettert waren und Kurzschlüsse verursacht hatten – unabsichtlich natürlich, aber trotzdem fielen Lampen, Computer und Kühlschränke aus. Vor allem sind Nachtbaumnattern hervorragende, furchtlose und zunehmend gierige Kletterer, auf deren Speiseplan inzwischen nicht nur Tierfutter, sondern auch Haustiere stehen (in einem dokumentierten Fall ein drei Wochen alter Golden-Retriever-Welpe), ja eigentlich alles, was nach Fleisch riecht. Oder nach Blut.
Daran denkt Alma, als sie den Ausdruck des Artikels »Der Einsatz von Paracetamol zur Bekämpfung von Boiga irregularis in insulären Habitaten« liest, der neben ihrem Laptop liegt. Sie sitzt an einem der leise schwankenden Resopaltische in der Hauptkajüte der Islander, die nach Anacapa unterwegs ist. Sie trinkt etwas Kaffee aus dem Pappbecher und starrt auf den Bildschirm, wo die ordentlich ausgerichteten Zeilen sich mit der Tischplatte, dem Deck und dem Rumpf darunter hypnotisch heben und senken, und sie hat noch nicht gemerkt, dass sich Kopfschmerz ankündigt, aber einmal pro Minute hebt sie wie im Reflex den Blick vom Bildschirm und sieht über das Meer, als wollte sie ihren Augen mehr Weite gönnen. Dann kehrt sie zu ihrem Text zurück, schlägt die Rücktaste an und fügt eine Formulierung ein oder ergänzt einen Satz, wobei sie lautlos die Lippen bewegt. Ihre Stirn ist gerunzelt, aber auch das merkt sie nicht.
In der Kajüte sowie auf dem Vorder- und Achterdeck ist Platz für etwa hundertfünfzig Menschen, und heute sind fünfundachtzig dieser Plätze für Angestellte des National Park Service und verschiedene am Anacapa-Wiederherstellungsprogramm beteiligte Biologen reserviert, darunter auch Tim. Außerdem sind einige Journalisten von AP, Los Angeles Times und Santa Barbara Press Citizen, ein Dutzend Lokalpolitiker und Multiplikatoren sowie ein Fernsehteam vom örtlichen NBC-Büro an Bord. Im Laderaum stehen drei große Kühlschränke, vollgestopft mit mariniertem Hähnchenfleisch, Putenwurst und Tofuburgern zum Grillen, verschiedenen Salaten, Vollkornbroten und einem Topf Chili und Reis, ein vierter enthält Erfrischungsgetränke, in Flaschen abgefülltes Trinkwasser und Desserts, und in einem fünften befindet sich ausschließlich Champagner. Zwei Kartons. Gut gekühlt. Kalifornischer Champagner aus dem mittleren Preissegment, wie es dem Budget des NPS ansteht, aber dennoch Champagner – oder vielmehr Sekt.
Das Meer ist ruhig, der Nebel löst sich bereits auf. Der Kapitän hat die Fahrt verlangsamt, weil eine Schule Delphine in Sicht gekommen ist, und die meisten Passagiere – Touristen, Wanderer, eine von Zucker und Hormonen befeuerte Gruppe von Sechstklässlern, die der Kontrolle der beiden geplagten Lehrerinnen zunehmend entgleitet – sind an Deck gegangen, um die glänzenden Cetazeen wie zum Leben erweckte Schatten durch das Wasser schießen zu sehen. Als sie aufblickt, entdeckt sie Tim unter ihnen, in der linken Hand einen Pappbecher mit Kaffee, in der rechten ein Fernglas.
Es ist Anfang Juni, zehn Uhr morgens, knapp zweieinhalb Jahre nach dem ersten Abwurf des Bekämpfungsmittels, und sie machen diesen kleinen Ausflug einzig und allein um zu feiern: Während die Journalisten auf ihre Tastaturen einhämmern, die Fotografen mit Digitalkameras hantieren und das Fernsehteam filmt, wird sie zusammen mit Freeman Lorber, dem Direktor des Parks, das Sektglas erheben und verkünden, dass die drei Inseln, aus denen Anacapa besteht, zu hundert Prozent rattenfrei sind. Im Augenblick ist sie damit beschäftigt, ihre Presseerklärung zu formulieren – der Artikel des Reptilienforschers Robert Ford Smith, mit dem sie auf Guam zusammengearbeitet hat, muss warten, bis sie einen Augenblick Zeit hat. Er ist heute morgen per E-Mail von der Forschungsstation in Ritidian Point an der Nordspitze der Insel, wo die Strände waschpulverweiß sind, wo die Vegetation wuchert und es von Schlangen wimmelt, in ihrem Büro eingetroffen, bevor sie es um Viertel nach sieben verlassen hat, und sie freut sich darauf wie ein Kind auf ein neues Computerspiel, aber die Pflicht ruft, sie ruft wie immer und geht wie immer vor.
Die Presseerklärung, an der sie seit zwei Tagen feilt, soll die anwesenden Journalisten und durch sie die Allgemeinheit darüber informieren, dass das Rattenbekämpfungsprojekt ein voller Erfolg war. Seit dem Einsatz des Mittels konnten auf Anacapa keinerlei Hinweise auf Ratten mehr gefunden werden, weder Nester noch Kot oder Spuren oder irgendwelche Anzeichen von Nesträubern – die Eierattrappen, welche die Ornithologen in die Nester verschiedener Vogelarten geschmuggelt haben, sind unberührt, während sie früher Bissspuren von Nagezähnen aufwiesen. Aufgrund eingehender Beobachtungen in den vergangenen zwei Jahren kann sie mit absoluter Gewissheit sagen, dass sämtliche Exemplare der Zielspezies eliminiert sind. Die Folgen waren unmittelbar sichtbar: Die Bestände der Seevögel haben sich erholt, ganz zu schweigen von denen des Channel-Islands-Salamanders, des Seitenfleckleguans – dessen Zahl sich verdoppelt hat – und der Hirschmaus, deren Population auf achttausend Exemplare geschätzt wird, was der höchste je ermittelte Stand wäre. Und mehr noch: Tim Sickafoose, beratender Ornithologe, hauseigener Humorist und überhaupt der reinste Märchenprinz, hat zum erstenmal seit Menschengedenken ein Brutpaar Aleutenalken entdeckt, und zwar auf Rat Rock, einem Felsen, der – und das wird ein subtiler, aber triumphaler Scherz in ihrem sonst recht trockenen Text sein – in naher Zukunft wohl wird umbenannt werden müssen. Wie wär’s mit Auklet Rock? denkt sie. Höre ich noch andere Gebote? Warum nicht Sickafoose Point? Das hätte doch was.
Aber Scherz beiseite – sie macht sich Gedanken über kleine Details: Zeichensetzung, Absätze, die abgedroschenen Phrasen, die ihr jedesmal, wenn ihr Blick darauf fällt, dümmer vorkommen. Nein, nicht nur dümmer, sondern regelrecht idiotisch. Zum Beispiel hier, gleich im ersten Absatz, bezeichnet sie Lorber als »vorbildlichen Kämpfer für den Naturschutz«, und das ist zwar wahr, aber macht es ihn nicht auch zu etwas Statischem, zu einem dieser aus dem Fels gehauenen Präsidentenköpfe am Mount Rushmore oder einer stumpf gewordenen Schwertklinge? Oder schlimmer noch: zu etwas Totem? Auf dessen Grabstein steht: »Liebender Ehemann und Vater, vorbildlicher Kämpfer für den Naturschutz«?
»Hallo«, haucht Tim und lässt sich auf den Platz neben ihr sinken. Das Boot hat wieder Fahrt aufgenommen, und die Passagiere kehren in die Kajüte zurück, alle bis auf die Sechstklässler, die an der Reling stehen, bis sie durchnässt sind und frieren und dringend die heiße Schokolade, das Popcorn und die in der Mikrowelle erwärmten Burritos brauchen, die es in der Kombüse gibt. »Bist du damit immer noch nicht fertig?« fragt er anzüglich. Sie sieht ihn von der Seite an. Da sitzt er also, dringt in ihre Privatsphäre ein – was, wie sie sich ermahnen muss, das Vorrecht eines Liebhabers ist – und grinst sie schief an. »Es gibt nämlich, wie du weißt, einen Punkt, an dem man anfängt, das Ding zu Tode zu verbessern. Und außerdem soll das hier doch eine Party sein, oder irre ich mich?«
Sie ist drauf und dran, ihn anzufahren, kann sich aber bremsen. Lange starrt sie ihm in die Augen. Vor den Fenstern fliegt Gischt vorbei, die aufgeregten Rufe der Sechstklässler klingen wie die Schreie von Verzückten. »Ja«, sagt sie schließlich und kann jetzt ebenfalls lächeln, sich entspannen, feiern, denn er hat recht – das Schlimmste liegt hinter ihr, und dies ist ein Tag, an dem sie nach vorn blicken sollte, nicht zurück. »Ja, du hast recht.«
Und es funktioniert. Alles ist wieder im Lot. Ihr Kopfschmerz – der beginnende Kopfschmerz, dessen sie sich gerade erst bewusst geworden ist – fährt seine Fühler aus und zieht sie noch im selben Augenblick wieder zurück. Sie verschiebt die Maus, klappt den Laptop zu, beugt sich hinunter zu ihrem Rucksack und holt eine Tüte Studentenfutter hervor, damit ihre Energie nicht absackt. Party hin oder her – sie muss nach der Presseerklärung eine Rede halten, sie muss Wade beaufsichtigen, ihren Assistenten, der für das Essen zuständig ist, und sie muss brennendes Interesse heucheln, wenn Freeman seine eigene Rede hält, wie immer mit peinlichen Pausen, heftigem Zupfen an der Unterlippe und Witzen, die nur theoretisch welche sind. Aber dies ist tatsächlich eine Party oder jedenfalls ihr Anfang, und so schiebt sie den Laptop mit einem entschlossenen Schulterzucken in die Hülle, reibt demonstrativ die Handflächen aneinander und öffnet den Verschluss der Studentenfuttertüte. Sie wirft sich eine Handvoll in den Mund und zermahlt mit den Backenzähnen die Mischung aus Sonnenblumenkernen, Datteln, Rosinen und Schokoladenstückchen. Der Zuckerkick kommt beinahe sofort. Sie hält Tim die Tüte hin, der sie geistesabwesend nimmt. Er sieht sie zweifelnd an, als würde er an etwas ganz anderes denken, sich stellvertretend für sie Sorgen machen, sich ihren Kopf zerbrechen. »Ich will schwer hoffen, dass der Drucker da draußen funktioniert –«
Ihr Lächeln ist jetzt wärmer, es breitet sich aus, bis sie ein Ziehen in den Muskeln am Mundwinkeln spürt. Wie heißen die noch? Zygomaticus major. Oder minor. Oder beides. Das klingt ungefähr richtig, aber ihr Anatomiekurs liegt lange zurück, und wenn sie sich recht erinnert, braucht man ungefähr sechzehn verschiedene Muskeln, um ein Lächeln zu erzeugen, das diesen Namen verdient. Aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sie lächelt, denn Tim lächelt zurück, und sie beide kommen in den seltenen Genuss eines gemeinsamen freien Tages, sofern man es so nennen kann.
»Kennst du mich, oder kennst du mich nicht?« sagt sie und klopft auf den Rucksack zu ihren Füßen. »Ich habe meinen eigenen mitgenommen, nur für den Fall.« Bevor er etwas sagen kann, hebt sie die Hand. »Ja«, sagt sie, »ja, ich weiß. Und Papier.«
Vor sieben Jahren ist sie nach Guam gegangen, weil sich die Möglichkeit bot, weil Julie Savidge eine ihrer großen Heldinnen war und weil sie selbst sich gerade von Rayfield Armstrong getrennt hatte, der in den Bars und Cafés von Berkeley Gitarre spielte, wenn er nicht an seiner Dissertation über die Auswirkungen der Ausbreitung einer bestimmten eingeschleppten Krabbenart – der Gemeinen Strandkrabbe – auf die Populationen der Wirbellosen in der San Francisco Bay schrieb, und dessen Brust-, Schultern- und Rückenmuskeln von all den Stunden, die er im Wasser verbrachte, so trainiert und akzentuiert waren, dass er aussah wie ein menschliches Mosaik. Sie war bei ihm eingezogen, und das war eine Entscheidung gewesen, die erste Entscheidung dieser Art in ihrem Leben, aber die Monate waren vergangen, und schließlich waren ihre Geduld, ihre Hoffnung und ihr guter Wille erschöpft gewesen. Er war nie zu Hause, ständig musste er tauchen oder in irgendeiner Bar, irgendeinem Café im Licht des Scheinwerfers stehen und Gitarre spielen oder mit dem Greyhound-Bus zu einem Auftritt in irgendeinem Nest fahren, von dem noch nie jemand gehört hatte, und wenn er zu Hause war, gab es für ihn nur Krabben und Gitarre, Krabben und Gitarre, und er schien nicht viel Zeit für sie zu haben. Also zog sie wieder aus. Und nahm eine Forschungsstelle an. In Guam.
Sie erwartete, dass es dort in etwa so sein würde wie in Hawaii, nur primitiver, härter, weniger entwickelt, und sie wurde nicht enttäuscht. Die durch den Dschungel gebahnten Straßen waren pausenlos verstopft und voll tödlicher Gefahren, die Architekten bevorzugten Stahlbeton (aus schierer Notwendigkeit und um den Taifunen in dieser Weltgegend zu trotzen, die von Meteorologen als »Wiege der Taifune« bezeichnet wurde), und alles, selbst der Plastikkanister mit Bleichmittel, den sie unter dem Waschbecken ihres bunkerartigen Ein-Zimmer-Apartments aufbewahrte, roch nach den schwärenden, sich explosionsartig vermehrenden Mikroorganismen der Tropen. Der Dschungel wucherte, doch viele im Krieg zerstörte einheimische Bäume waren durch aus Südamerika importierte Tangantangan ersetzt worden, und es war gespenstisch still, weil es keine Vögel gab. Deshalb hatten die Insekten überhandgenommen, mit dem Ergebnis, dass sich die Spinnen – handtellergroß, mit leuchtendgelben Streifen auf den glänzendschwarzen Körpern – rasant vermehrt hatten und ihre großen, zeltartigen, bebenden Netze im Unterholz ebenso wie zwischen den Ästen der Bäume spannten, weswegen man sich unmöglich durch den Dschungel bewegen konnte, ohne dass dieses Zeug an einem klebte wie eine zweite Haut. Ganz zu schweigen von der Spinne selbst, die vermutlich nicht gerade erbaut war, mitsamt ihrem Netz davongerissen zu werden und sich auf einem Ärmel, einem Kopf, einem Gesicht wiederzufinden.
Die Einheimischen – hauptsächlich Chamorros und Filipinos – hatten nie mehr als einen flüchtigen neugierigen Blick für sie übrig. Sie betrachteten sie als Asiatin oder irgendeine Variante davon und fanden sie trotz ihrer Big-Dog-Shorts und den T-Shirts mit Bildern von Micah Stroud und Carmela Sexton-Jones weniger exotisch als jemanden wie Robert Ford Smith und seine Frau Veronica, die beide aus Lancashire stammten und große englische Hakennasen sowie eine Haut so stumpf und bleich wie Kartoffelmehl besaßen. Sie fühlte sich zu Hause, nicht anders als in Hawaii und in Berkeley, und vielleicht wäre das anders gewesen, wenn sie ins blütenweiße Wisconsin gegangen wäre, um die Auswirkungen streunender Katzen auf die Waldvogelpopulation zu untersuchen, oder nach Salt Lake City, um die Schwarzhalstaucher auf dem Großen Salzsee zu studieren, aber das hatte sie eben nicht getan.
Robert – nicht Bob oder Rob oder Robbie, sondern einfach Robert – war Mitte Fünfzig und arbeitete an der Bekämpfung der Braunen Nachtbaumnatter, seit Julie Savidge, die inzwischen anderswo arbeitete, das Ausmaß der Katastrophe enthüllt hatte. Er wurde im Rahmen des Programms zur Erforschung dieser Schlangenart vom amerikanischen Landwirtschaftsministerium bezahlt, und sein erstes Augenmerk galt der Entwicklung von Sperren, die den Schlangen den Zugang zu den Containern im Hafen und den Frachtmaschinen am Flughafen verwehren sollten, denn es bestand Grund zu der Sorge, einzelne Exemplare könnten als blinde Passagiere auf eine der benachbarten Inseln oder gar nach Hawaii gelangen. Das war der erste Schritt – die Verhinderung einer weiteren Ausbreitung –, doch der zweite und weit wichtigere war, ein biologisches Mittel zu finden, ein Bakterium, ein Virus oder einen Parasiten, mit dessen Hilfe sich die Zahl der Schlangen begrenzen ließ, so dass die in Gefangenschaft gezüchteten Vögel wieder ausgewildert werden konnten. Zu diesem Zweck fing er Nachtbaumnattern und experimentierte mit ihnen. Und ihre Aufgabe war es, bei Tag und bei Nacht mit einer Stirnlampe und einem Stock für die Spinnweben nach den Fallen zu sehen und mit den gefangenen Schlangen – es waren stets viele – ins Labor zurückzukehren, damit sie sie sezieren und feststellen konnte, was sie gefressen hatten. Es war ein einsamer Job – »irgendwie gruselig«, fand Tim, der kein Schlangenfreund war –, aber sie war viel in der freien Natur, und darum ging es ja, wenn man im Bereich Naturschutz arbeitete.
Ein Jahr hatte dreihundertfünfundsechzig Tage, das war unbestreitbar, doch in den drei Jahren, die sie auf der Insel verbrachte, kam es ihr so vor, als wäre die Zeit elastisch geworden, als dehnte sie sich wie ein feinkalibriertes Bungeeseil, bis ein Tag ihr so lang erschien wie sonst zwei oder drei Tage. Sie lernte, ohne Zivilisation auszukommen – ohne amerikanische Zivilisation jedenfalls –, und obgleich sie einige Freundschaften schloss, an diversen Familienfesten und anderen Feiern teilnahm und Oktopus auf malaiische Art und in Kokosmilch gekochte Brotfrucht liebenlernte, lebte sie nicht wie die Einheimischen – etwas, was viele andere, die in der Forschungsstation arbeiteten, früher oder später taten. Sie verbrachte ihre Zeit vornehmlich allein und bewegte sich im Dschungel, als wäre sie ein Urwaldtier: klein, mit gesundem Haarwuchs, wachen Sinnen und schnellen Reflexen, die es ihr erlaubten, mit Spinnweben behängten Zweigen auszuweichen. Sie fing die Schlangen in Drahtkörben, die einen weiteren, viel kleineren Drahtkorb mit einer weißen Maus und ihrer Ration kleingeschnittener Kartoffeln enthielten, stopfte sie in einen Sack und brachte sie zur Station, wo sie die Tiere tötete und sezierte oder ihnen Halsbänder mit winzigen Sendern anlegte und sie wieder freiließ, um herauszufinden, wohin sie sich bewegten.
Die Schlangen waren wie Peitschen aus Muskeln, stark genug, um drei Viertel des Körpers in die Luft zu recken und minutenlang so zu verharren, doch Almas Muskeln waren die eines Primaten und denen der Schlangen überlegen. Sie tötete Tausende. Sie wurde ein halbes Dutzend Male gebissen. Der eigenartige, säuerlich-trockene Geruch, den die Eingeweide der Schlangen verströmten, wurde ihr innig vertraut. Sie stellte fest, dass diese Spezies im Gegensatz zur landläufigen Meinung und dem ersten Gesetz der Schlangenliebhaber keine lebende Beute, ja eigentlich nicht einmal Beute im herkömmlichen Sinne brauchte. Sie war beängstigend anpassungsfähig. Wenn es keine Vögel gab, fraß sie Ratten und Eidechsen. Und wenn sie keine Ratten oder Eidechsen finden konnte, kam sie in den Garten oder ins Haus und schnappte sich alles, was sie finden konnte, ob lebendig oder nicht. Zweimal stieß sie beim Öffnen der Bauchhöhle einer Schlange auf blasse, zerdrückte Reste von Plastikfolien, in denen rohe Hamburger verpackt waren. Und einmal – es war ein Bild wie aus einem Buñuel-Film – entdeckte sie den blutgetränkten Zylinder eines gebrauchten Tampons. Noch heute sieht sie manchmal, wenn sie nachts die Augen schließt, im Zwielicht ihres Bewusstseins die Schlangen, die sich hoch aufrichten, die Köpfe hierhin und dorthin recken und nach etwas suchen, an dem sie emporklettern könnten.
Tim plaudert. Das Boot hüpft. In ihrem Magen blubbern das Studentenfutter und der Kaffee, mit dem sie es hinuntergespült hat, aber sie wird nicht seekrank – nie. Der Geist ist stärker als die Materie – oder vielmehr die Verdauung. Und der Reflux. Manche können das kontrollieren, manche nicht. Tim zum Beispiel ist unerschütterlich. Er könnte ein siebengängiges Menü verspeisen und den ganzen Tag am Magic Mountain Achterbahn fahren, ohne dass es ihm das geringste ausmachen würde – ja, wenn die Zentrifugalkräfte nicht wären, würde er sich wahrscheinlich die Serviette umbinden und das Menü in der Achterbahn verspeisen. Einige Passagiere scheinen allerdings empfindlicher zu sein, darunter mindestens eine der Journalistinnen, die Alma mit diesem kleinen Ausflug gewinnen will, und unwillkürlich ist sie ein wenig besorgt. Toni Walsh von der Zeitung in Santa Barbara, die bisher nicht sonderlich enthusiastisch über das Rattenprojekt und die sich daraus ergebende Frage der Schweinebekämpfung auf Santa Cruz berichtet hat, wirkte schon als sie an Bord kam, als hätte sie eine schwere Nacht hinter sich. Das Boot hatte den Hafen kaum verlassen, da setzte sie sich auf einen Platz am Fenster, legte den Kopf auf den Tisch und schloss die Augen. Jetzt, kaum zwei Kilometer von der Küste entfernt, steht sie abrupt auf und taumelt hinaus zum Achterdeck, wo der Wind ihr Frühstück davontragen kann. Kein guter Anfang. Und natürlich muss Tim, nur um sie ein bisschen zu ärgern, die Augenbrauen hochziehen und flüstern: »Wir erleben gerade die Entstehung eines bösen Artikels.«
Das Boot verlangsamt die Fahrt und gleitet zum Anlegesteg, die Sonne wirft lange Lichtsäulen durch das, was vom Nebel noch übrig ist, die Klippen ragen auf, Vögel schreien, und in die Passagiere kommt Bewegung. Leute, die während der ganzen Fahrt keinen Ton gesagt haben, plappern plötzlich mit hohen, aufgeregten Stimmen, die Sechstklässler sind außer Rand und Band – Was haben die nur davon, denkt sie, außer Zucker und Sonnenbrand? –, und auf den Gesichtern ihrer Kollegen liegt jener seltene Ausdruck von Freude und Entspannung, den sie sonst nur freitags nachmittags zu sehen bekommt. Sie ist mitten unter den Leuten, hilft ihnen die Leiter hinauf, plaudert, flachst und wird von Alicia, der blassen, schüchternen Sekretärin, sonst so verschlossen wie eine Truhe, deren Schlüssel verlorengegangen ist, sogar mit einem Lächeln belohnt, und dann schüttelt sie Fausto Carillo, dem Bürgermeister von Oxnard, die Hand – er lächelt breit und strahlend – und führt die leicht taumelnde Toni Walsh zur Leiter.
Sie hat eine kurze Unterredung mit Wade, und dann werden die Kühlboxen ausgeladen und auf ihren Kunststoffkufen donnernd über die sonnengebleichten Planken des Stegs geschoben. Alle Einzelheiten sind geklärt, das Picknick ist in Vorbereitung, und sie muss jetzt nur noch für Ablenkung sorgen, und zwar mit dem, wie sie hofft, Höhepunkt des Tages: dem Spaziergang. Während Wade und ein paar andere den Grill entzünden und im Garten des Besucherzentrums – von wo sich eine Aussicht über den Kanal bietet, die selbst den nüchternsten, zynischsten Bürohengst beeindruckt – Picknicktische aufstellen, gehen sie und Tim, wie verabredet, langsam den Hügel hinauf und führen den gemeinschaftlichen Spaziergang auf dem Rundweg an. Sie achtet darauf, langsam zu gehen, besonders auf den Stufen, wo sie immer wieder stehenbleibt, um auf diese oder jene Pflanze hinzuweisen und den weniger Durchtrainierten Gelegenheit zum Verschnaufen zu geben. Wenn sie erst einmal oben sind, verläuft der Weg ebener, und dann wird sie reichlich Gelegenheit haben, die Grundsätze und Methoden der Inselregeneration ins rechte Licht zu rücken, sie wird den Gästen die Nester von Westmöwen und anderen Vogelarten zeigen, deren Bestände sich erholen, und dabei dezent, aber dennoch deutlich darauf hinweisen, dass all dies nur durch das Rattenprojekt möglich geworden ist, das übrigens aufgrund eines Gerichtsbeschlusses von einem der größten Verschmutzer dieses Ökosystems – der Montrose Chemical Corporation, die von 1947 bis 1982 über hundert Tonnen DDT-verseuchten Abfall in die Santa Monica Bay geleitet hat – finanziert wurde und den Steuerzahler somit praktisch nichts gekostet hat.
Detailversessen, wie sie ist, hat sie ihre Gäste in wiederholten E-Mails gebeten, ihre Kleidung so zu wählen, dass sie einem etwa vier Kilometer langen, nicht sonderlich anspruchsvollen Spaziergang bei wechselhaftem Wetter angemessen ist, und die meisten scheinen die Nachricht verstanden zu haben. Sie sieht Wanderschuhe und Windjacken, Tagesrucksäcke, Wasserflaschen und dergleichen, aber Toni Walsh, die in blutroten Espadrilles, einer kurzen Hose aus Krepp mit Tarnmuster und einem enganliegenden, ärmellosen Top das Schlusslicht bildet, hat bereits die Arme verschränkt und sieht aus, als brauchte sie dringend eine Zigarette. Nein, ruft Alma sich zur Ordnung, das ist gemein und voreingenommen – sie weiß ja nicht mal, ob die Frau überhaupt Raucherin ist. Aber alle Schriftsteller und Journalisten rauchen, oder? Und trinken. Und sitzen vor ihren Bildschirmen, bis ihre Arterien verstopft und die Muskeln atrophiert sind. Jetzt ist Tim gerade dabei, den um ihn gescharten Gästen das Brutverhalten der Möwen zu erklären, und erzählt, dass die Partner einander ihr Leben lang treu bleiben und ihr Nest Jahr für Jahr an derselben Stelle bauen, die sie so aggressiv verteidigen, dass sie sogar Küken aus benachbarten Nestern töten, wenn diese sich auf ihr Territorium verirren, und so winkt sie ihm nur kurz zu und geht zurück, um Toni Walsh die zusätzliche Windjacke anzubieten, die sie eigens für einen Fall wie diesen mitgenommen hat.
Der Weg ist zentimeterhoch mit grobkörnigem Staub bedeckt. Die Sonne hat den Nebel aufgelöst, doch es weht ein Nordwind, der die gefühlte Temperatur auf zehn bis zwölf Grad senkt, und als sie sich an den Leuten vorbeischiebt (»Was ist los, Alma?« fragt der Bürgermeister mit rotem Mondgesicht, hervorstehenden Augen und hechelndem Mund. »Geben Sie etwa schon auf?«) und den sanften Abhang hinunter zu Toni Walsh geht, die mühsam einen Fuß vor den anderen setzt, zieht sie schon die Windjacke aus dem Tagesrucksack. Obwohl ihre Absicht klar auf der Hand liegt, blickt die Reporterin – Wie alt mag sie sein? Vierzig? Fünfundvierzig? – sie nur verständnislos an. »Alles okay?« fragt Alma.
»Ich?« Toni Walsh hat kein Make-up aufgetragen, nicht einmal Lippenstift. Ihre Schuhe sind staubbedeckt. Das in einem unnatürlichen Rotton gefärbte Haar hängt schlaff auf ihre Schultern, brüchig und trocken wie das Gras zu ihren Füßen. »Ja, mir geht’s prima. Ich bin’s nur nicht gewöhnt, mit einem Boot zu fahren. Nicht morgens jedenfalls.«
»Sie sehen aus, als wäre Ihnen kalt.« Alma hält ihr die Windjacke hin. »Die können Sie haben, wenn Sie wollen. Sie ist überzählig, also «
Etwas im Gesicht der Frau warnt sie, und es ist ihr mit einemmal peinlich, als hätte sie irgendwie und unabsichtlich versucht, sie zu bestechen oder wenigstens versucht, sich einzuschmeicheln, obwohl das überhaupt nicht der Fall ist. Sie ist lediglich zuvorkommend, sonst nichts, denn alle hier sind in gewisser Weise ihre Gäste, und eine gute Gastgeberin oder es ist einfach ein Gebot der Höflichkeit
»Nein, nein, danke«, sagt Toni Walsh und kramt in ihrer Tasche nach jawohl, nach einer Zigarette. Die sie sich in den Mund steckt und mit windverwehtem Paffen entzündet. Auf den Oberarmen hat sie eine Gänsehaut. Ihre Augen sind gerötet. Die trockenen, gespaltenen Haarspitzen hängen auf ihre Schultern.
Alma lässt verlegen den Arm sinken. Das zurückgewiesene Kleidungsstück bauscht sich im Wind und flattert wie ein Kissenbezug auf der Wäscheleine. »Wenn Sie wollen, können Sie auch zum Besucherzentrum zurückgehen und eine Tasse Kaffee trinken – Wade hat den Grill bestimmt schon in Gang gebracht. Oder Wein, wenn Sie wollen. Wir sind bald wieder zurück.«
Toni Walsh sieht über die Schulter zurück zu dem weißen Monolithen des Leuchtturms, der vor der weiten, schimmernden Fläche des Ozeans aus den Büschen aufragt. Das Licht ist wie gehämmertes Kupfer, das schmale Segel einer Yacht in der Ferne sieht aus wie ein vom Wind verwehter Stoffetzen. Der Rest der Gruppe hat sich wieder in Bewegung gesetzt, Tim geht mit hängenden Schultern voraus und redet immer weiter. »Ja«, sagt Toni Walsh schließlich, spitzt die Lippen, stößt Rauch aus und sieht zu, wie der Wind ihn fortreißt, »das klingt gut. Ich glaube, das werde ich tun.«
Später, als sie die Gruppe eingeholt hat, um Tims Monolog mit eigenen Kommentaren und Bemerkungen zu ergänzen, und die Leute Gelegenheit gehabt haben, die einzigartige Schönheit und Abgeschiedenheit dieser Insel selbst zu erleben, beginnt sie, ihre Funktion zu vergessen, und versucht, dies alles mit den Augen ihrer Gäste zu sehen, als wäre sie zum erstenmal hier. Geologisch unterscheidet sich diese Landschaft überhaupt nicht von der entlang der Küste des Festlands, wo der Highway 1 sich bei Port Hueneme durch die Hügel windet und die mit einem Mantel aus Mädchenauge und Coyotenbusch bedeckten Klippen vor dem Ansturm der Brecher zurückweichen, nur dass es hier keinen Highway gibt, keine Straßen, keine Gebäude, keinen Abfall. Und es ist still, so still, wie die Welt vor der Erfindung des Verbrennungsmotors gewesen sein muss. Meer und Wind bilden den Hintergrund für das Bellen der Seelöwen und die klagenden Schreie der Möwen. Manchmal, wenn sie allein hier draußen ist, kann sie den Puls von etwas Größerem spüren, als wäre alles Belebte im Einklang miteinander, und dann überkommt sie ein so herrliches Gefühl der Verbundenheit, dass sie aus sich selbst, aus ihrem Bewusstsein heraustritt und nichts mehr einen Namen hat, weder in Latein noch in Englisch oder irgendeiner anderen Sprache.
Aber heute ist sie natürlich zu aufgeregt, um an diesen Punkt oder auch nur in seine Nähe zu gelangen. Dennoch wirkt alles frisch und ewig zugleich: Wildblumen blühen, die Aussichten sind unverstellt, die Möwen kooperieren, Eidechsen huschen auf dem Weg dahin, als wollten sie noch einmal besonders darauf hinweisen, dass die Ratten fort sind und alles gut ist. Die Spaziergänger genießen den Ausflug, das ist nicht zu übersehen – persönliche Erfahrung ist mehr wert als tausend Presseerklärungen. War das nicht der Grund, warum sie diesen Job angenommen hat: um der Öffentlichkeit die Besonderheit dieser Inseln und mittelbar auch all der anderen immer kleiner werdenden Zufluchtsorte auf der Welt, die durch ihr Schwinden nur um so kostbarer sind, vor Augen zu führen? Um die Menschen zu begeistern? Sie zu Fürsprechern zu machen? Sie aufzufordern, gegen Grundstücksspekulanten und Stadtentwickler und Leute wie Dave LaJoy zu kämpfen, die es vielleicht gut meinen, oder jedenfalls glauben, es gut zu meinen, deren Handeln letztlich aber einzig und allein von Dummheit und Rachsucht bestimmt wird?
Sie hat ihr Haar gelöst. Der Wind greift hinein und wirft es ihr ins Gesicht, und als sie den Kopf schüttelt, sind alle Gedanken an Dave LaJoy und die anderen selbsternannten Retter und Erlöser verschwunden. Sie schließt die Augen und hebt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Alles ist so vollkommen. Ein vollkommener Tag. Sie fühlt sich wie eine Eroberin, wie eine Königin, wie die erste Chumashfrau, die vor zehntausend Jahren hier an Land gegangen ist. Sie schwebt. Sie ist high von diesem Moment. Und dieses Gefühl erfüllt sie für volle dreißig Sekunden – bis sie auf ihre Uhr sieht. Wo ist nur die Zeit geblieben? Sie sind zehn Minuten hinter dem Zeitplan zurück, mindestens zehn Minuten.
Sie spürt den vertrauten Stachel des Unbehagens, dreht sich um und geht zu Tim an die Spitze der Gruppe. Er hat aus Steinen eine Plattform gebaut, so groß wie eine Ottomane, und darauf steht er nun, die Arme in die Seiten gestemmt, in einer Hand die Sonnenbrille. Die ausgefranste Baseballmütze, die er gestern nacht an den Bettpfosten gehängt hat, damit er sie nicht vergisst, ist tief in die Stirn gezogen, so dass nur die untere Hälfte seines Gesichts der Sonne ausgesetzt ist. Er erzählt gerade von den Lebensgewohnheiten und Vorlieben des Kaninchenkauzes, und die Zuhörer betrachten die Erdhöhle dieses Wesens, das im Augenblick ausgeflogen zu sein scheint. Sie räuspert sich. »Wie sieht’s mit Ihrem Hunger aus?« fragt sie. »Ich jedenfalls könnte jetzt was vertragen.«
O ja, die anderen auch. Natürlich. Es gibt eine unausgesprochene Vereinbarung: Immer wenn sie aus PR-Gründen zu einer Begehung einlädt, gibt es ein gutes und reichliches Mittagessen und gekühlten Wein. Eine stämmige Frau mit einem unpraktischen Strohhut, dessen Krempe der Wind so verbiegt, dass er wie eine dieser Plastikmanschetten aussieht, die der Tierarzt einem Hund um den Hals legt – ist sie die Frau des Bürgermeisters oder seine Geliebte? –, wirkt besonders hungrig, und so lächelt Alma ihr zu und sagt: »Gut, dann folgen Sie mir.«
Sie führt sie zurück zum Besucherzentrum, wo Wade und seine Helfer, darunter auch Alicia, das Fleisch, die Salate und alles andere auf einem langen Tisch angerichtet haben, der durch ein gebügeltes weißes Tischtuch und eine Vase voller Wildblumen etwas Festliches hat. Jenseits davon, nicht weit entfernt, erhebt sich der freundliche, in der Sonne schimmernde Leuchtturm, dahinter weitet sich das Meer in einem Geflirr von Farben, alles ist einladend und wohltuend. Wie eine Party. Genau so. Die Gäste kommen näher, erst noch im Gänsemarsch, dann bilden sich schlendernde Grüppchen, man unterhält sich leise, trinkt aus Wasserflaschen, lacht und scherzt in jenem Geist der Kameraderie, den ein gemeinsames Naturerlebnis anscheinend stets hervorbringt. Alma betrachtet die Szenerie mit kritischem Blick; sie bewertet nicht, registriert aber, wer keinen Anschluss gefunden hat, und versucht Haltungen, Stimmungen zu ermitteln: Sehen sie hungrig aus, gelangweilt, zufrieden? Solche Sachen. Es ist bei ihr fast ein Reflex.
Sie entdeckt Toni Walsh, ein Glas Wein in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand, jenseits des Grills, wo sie mit Alicia plaudert. Alicia? Aber Alma kann ja nicht alles steuern und kontrollieren, und was Alicia – dunkeläugig, stylisch, etwas über zwanzig und ungefähr so gesprächig wie ein Stein – Toni Walsh zu erzählen hat, kann nicht viel sein und wird der Sache gewiss nicht schaden. Alicia ist nur Sekretärin, unerschütterlich und tüchtig, wenn auch ein wenig blutleer, und von Regenerationsökologie weiß sie nur, was sie durch Osmose aufgenommen hat. Alma ist ganz sicher, dass es ihr völlig egal ist, ob sie für den Park Service oder die Industrie und die Umweltverschmutzer arbeitet.
Sie erinnert sich an einen Abend, an dem sie und Alicia allein im Büro waren und Überstunden machten, um das Manuskript für eine Rede zu überarbeiten, die Freeman auf einer Konferenz unter Vorsitz des Innenministers halten sollte. Alma las den Text laut vor, und Alicia verglich ihn mit ihrem Manuskript. Es war eine ziemlich langweilige Tätigkeit – Freeman war nicht gerade ein mitreißender Redner –, und irgendwann machten sie eine Pause und gingen auf die Terrasse, um zuzusehen, wie die Nebelschwaden sich in den Büschen verfingen. Alma bestritt den größten Teil der Unterhaltung; sie sprach über dies und das, Alltägliches, das nichts mit der Arbeit zu tun hatte, und wenn Alicia sich nicht öffnen wollte, nicht einmal jetzt, da die Stimmung entspannter war als während der Bürozeiten, wo sich die Kluft zwischen Chefin und Untergebener vielleicht als zu groß erwies, so konnte Alma das verstehen. Aber es war so gut wie unmöglich, diese Frau dazu zu bringen, irgend etwas zu erzählen, über ihren Freund, ihre Eltern, einen Film, den sie gesehen hatte. Sie sagte nur ja, nein, mh-mh, und wenn sie irgendwelche Meinungen hatte, behielt sie diese für sich. Doch bei dieser Gelegenheit, nur dieses eine Mal, sagte sie etwas, ganz unvermittelt. Der Aufhänger war, wie Alma später merkte, eine Bemerkung, die Freeman über biologische Kontrolle in geschlossenen Ökosystemen gemacht hatte.
»Ich weiß nicht, warum wir alles töten müssen«, sagte Alicia so leise, dass Alma sie kaum hören konnte, und betrachtete ihre Fingernägel, die zweifarbig lackiert waren, in Aquamarin und Brombeer. Kein Blickkontakt. Blickkontakt wäre konfrontativ gewesen, durchsetzungsfähig, und Alicia war alles andere als das, mehr Gefäß als Inhalt. »Was wäre, wenn wir die Welt sich selbst überlassen würden wie damals, bevor es uns gab – als Gott sie gemacht hat? Wäre das nicht einfacher?«
Alma war verblüfft. Diese junge Frau, diese verschlossene Auster, hatte hier gearbeitet, geatmet und gedacht, ohne irgend etwas aufzunehmen? Nichts? Absolut nichts? Und vielleicht hätte sie einfühlsamer reagieren sollen, instruktiver, mehr wie die Aufklärerin, die sie doch sein sollte, doch es war das Ende des Gesprächs, das Ende von Alicias Versuch, ein themenorientiertes Gespräch zu beginnen, denn Alma sagte nur: »Aber das wäre ja genau falsch! Weil wir schließlich diejenigen sind, die diese Tiere dorthin gebracht haben – die Schafe und Rinder und Schweine auf Santa Cruz und Santa Rosa, die Ratten auf Anacapa, die Katzen und Kaninchen auf Santa Barbara –, und es ist unsere Pflicht –«, und dann begann sie zu dozieren, sie konnte nicht anders, und Alicia sah nicht mehr vom Nest ihrer Hände auf und sagte nie mehr etwas anderes als ja oder nein oder mh-mh.
Jedenfalls, ruft Alma sich abermals ins Gedächtnis, ist das hier eine Party, und sie sollte sich einfach entspannen, wenigstens heute. Sie winkt Toni Walsh und Alicia zu und versucht ein Lächeln, schüttelt ein halbes Dutzend Hände und wirft einen kurzen Blick auf den Tisch. Wade hat – mit Alicias Hilfe – wie üblich gute Arbeit geleistet, und jetzt kann es losgehen. Wunderbar. Alles bestens. Und sollte es ein Detail geben, das sie übersehen hat, irgendein winziges Ding, das sie – da ist sie ganz sicher – vergessen hat, als wäre sie in einem dieser frühmorgendlichen Träume gefangen, in denen sie zum Seminar oder zum Abflug zu spät kommt oder ihre Bluse, ihre Jeans, ihren BH nicht finden kann, dann ist es eben nicht zu ändern. Entschlossen nimmt sie ein leeres Glas vom Tisch, geht von einem Grüppchen zum anderen und ermuntert die Leute, zum Büfett zu gehen. Der Wind treibt den verheißungsvollen Geruch von Grillfleisch herüber, und es gibt nichts Ursprünglicheres, Festlicheres: ein Tier, im Busch erlegt, wird dem Stamm dargeboten. Man bildet eine unregelmäßige Schlange, man nimmt Teller, Besteck und die Pappbecher, auf denen sie bestanden hat, denn Plastik ist das Polymer des Teufels – aber das ist ein anderes Thema, und sie verbannt den Gedanken daran, kaum dass er aufgetaucht ist, aus ihrem Kopf.
Sie wartet, beobachtet und wird immer nervöser, während die Leute sich am Tisch entlangschieben, ihre Teller füllen und in Dreier- oder Vierergrüppchen stehenbleiben, um mit Wade oder einem der anderen zu plaudern, die das Essen austeilen. Sobald auch das letzte Paar (der Bürgermeister und seine Frau, definitiv seine Frau, und wie heißt sie noch? Yolanda?) versorgt ist, packt sie eine tropfnasse, eisgekühlte Flasche Piper Sonoma am Hals, als wäre sie etwas Lebendiges, hebt sie hoch und schlägt mit einem Löffel dagegen, so dass ein scharfes Klirren ertönt. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, sagt sie und dreht sich um sich selbst, damit alle sie ansehen. »Es ist Zeit für den Champagner« – sie grinst und blickt in die Gesichter –, »denn schließlich haben wir etwas zu feiern.«
Wade ist neben ihr, entfernt eilends die Sicherungsdrähte an den Flaschen und lässt einen Korken nach dem anderen knallen. Die Leute strecken ihre Pappbecher aus, während die Flaschen herumgehen. Gelächter erklingt. Witzige Bemerkungen werden gemacht. Freeman kommt, in der einen Hand einen Teller, in der anderen einen Becher, auf sie zu. Die blitzende, insektenhafte Fernsehkamera nähert sich. Alles lächelt. Als die Becher gefüllt sind, spürt sie einen Triumph, eine Bestätigung, so durch und durch befriedigend wie nur irgend etwas, das sie je erfahren hat. Sie hebt ihren Becher, Freeman tut es ihr nach. Für eine herrliche Sekunde hält sie die Hand ausgestreckt, und dann ruft sie, mit einem Grinsen, so breit, dass sie die Worte kaum herausbringt: »Auf Anacapa, das jetzt zu hundert Prozent rattenfrei ist!«
Auf Guam gab es keinen Champagner, denn Guam war nicht schlangenfrei und würde es nie werden. Es waren zu viele Spezies betroffen, es gab zuviel Vegetation, zu viele invasive Arten, die Plage war nicht auszurotten. Ein halbes Dutzend Mal glaubte Robert, eine Lösung gefunden zu haben; die letzte war ein Virus, das nur in Kaltblütern überlebte, und so impfte er den Schlangen dieses Pathogen ein und ließ sie dann frei, doch offenbar wirkte das Mittel nicht, denn es gab keine merkliche Veränderung des Bestands. Im Scherz sagte er, um sie auszurotten, müsse man Atombomben über der Insel abwerfen, und selbst dann wäre er bereit zu wetten, dass einige überleben würden, verborgen in irgendeiner Spalte oder einem Bleirohr. Einmal, als sie ihn bei seinen Feldstudien begleitete, fanden sie ein Stück PVC-Schlauch mit einem Durchmesser von nicht einmal drei Zentimetern, und darin waren sechs Schlangen, aneinandergepresst wie die Drähte in einem Elektrokabel. Jetzt hatte er, wie aus dem Artikel hervorging, den er ihr geschickt hatte, eine neue Hoffnung: Acetaminophen. Einfach herzustellen, billig, der wirksame Bestandteil von Paracetamol. Ein Blutverdünner wie Brodifacoum, jedoch weit wählerischer in der Art seine Opfer.
Erste Experimente waren vielversprechend. Zwei Hundert-Milligramm-Tabletten, verborgen im Kadaver einer Maus, töteten eine Braune Nachtbaumschlange innerhalb von drei Stunden durch innere Blutungen. Ja. Aber wie sollte das Gift verabreicht werden? Robert und seine Kollegen warfen tausend mit Paracetamol präparierte Mäuse über einem sorgsam abgesperrten Waldgebiet ab, doch die meisten blieben in den Zweigen hängen und verwesten, bevor die Schlangen sie entdecken konnten. Außerdem stellte sich die Frage, was das Mittel bei anderen Spezies, die es aufnahmen, anrichten würde. Und wie viele Mäuse würde man brauchen? Wie viele Abwürfe? Schätzungen zufolge gab es über zwei Millionen Schlangen auf der Insel, und selbst wenn man es schaffte, den enormen Betrag aufzubringen, den eine solche Operation kosten würde, und selbst wenn sich das Mittel als für andere Tiere unschädlich erwies, waren die Chancen, die Braune Nachtbaumschlange gänzlich auszurotten, ungefähr – nein, genau – gleich Null. Die Schlangen würden bleiben. Und darum würden die einheimischen Bäume immer weniger werden, denn es gab nicht genug Vögel, die ihre Samen verbreiteten, und die Zahl der Spinnen und anderen Insekten würde zunehmen, und in fünfzig bis hundert Jahren würde Guam nicht mehr Guam sein.
Die Sonne scheint ihr in die Augen. Sie muss sie zusammenkneifen, als sie den Kopf in den Nacken legt und die kühle Bestätigung ihres Triumphs durch die Kehle rinnen lässt. Sie wird ihre kleine Rede halten und die Presseerklärung verteilen, und dann wird sie sich neben Tim auf eine Decke legen und den Vögeln zusehen, die an einem bis in die Unendlichkeit aufgerissenen Himmel vorübergleiten. Das wird ihre Belohnung sein, ihr Friede, ihre Freude. Sie war ein Werkzeug des Guten, sie hat die Invasoren besiegt, die ihrer Großmutter vor all den Jahren so zugesetzt und die Eier und Nestlinge von Vögeln gefressen haben, deren Brutgebiet eine Welt ohne Ratten sein muss. Und diese Welt hat sie ihnen zurückgegeben. Sie hat ihnen eine Chance gegeben. Und jetzt ist sie, wie sie beim nächsten Erheben ihres Pappbechers verkünden wird, bereit, unerschrocken ein neues Projekt anzugehen, unterstützt von Freeman Lorber und all den anderen phantastischen Leuten vom National Park Service. Die nächste, weit größere Herausforderung heißt: Santa Cruz.
»Santa Cruz!« wird sie rufen, der hämmernde Trochäus wird von tief in ihrer Kehle aufsteigen wie ein Schlachtruf, und alle werden ihre Becher heben, als Ermunterung, als Zeichen der Entschlossenheit und Unterstützung, Menschen mit dem richtigen Bewusstsein, gebildete Menschen, überwältigt vom Rausch des Augenblicks an diesem Ort, den sie inzwischen mehr liebt als irgendeinen anderen, mehr als Hawaii, mehr als die Berkeley Hills, sogar mehr als Guam. »Auf nach Santa Cruz!«
Und dann bricht der nächste Morgen an, ein Sonntagmorgen: frisch gepresster Orangensaft, Bagel mit Frischkäse, die Zeitung. Tim schläft aus, wann immer er kann, und heute ist es nicht anders. Als sie zu ihrer gewohnten Zeit – halb sieben – aus dem Bett geschlüpft ist, lag er leicht und ruhig atmend da und wirkte, als würde er bis Mittag schlafen, und sie sah keinen Grund, ihn zu wecken. Soll er doch schlafen. Ihr Leben ist nicht einer dieser Weichzeichnerfilme, in denen Paare sich über Frühstückseier und salatschüsselgroße Kaffeeschalen hinweg verliebt anlächeln und anschließend Hand in Hand am Strand spazierengehen – nein, ihr Leben ist echt, und sie hat eine echte Beziehung mit einem echten, lebendigen Mann, der gern länger schläft als sie. Na und? Es tut ihm gut. Tim hat sein Leben, und sie hat ihres. Und wenn ihre Wege sich kreuzen, um so besser.
Draußen löst sich der Nebel bereits auf, die Sonne steht als blasse Scheibe zwischen den Bäumen, bis sie plötzlich einen leuchtenden Strahl durch das Fenster wirft, der die Küche erleuchtet und die aus rostfreiem Stahl gefrästen Bedienungsknöpfe des Herds und das Glas über dem Zifferblatt der Uhr an der Wand aufblitzen lässt. Der Garten erwacht mit einemmal zum Leben. Die Begonien stehen in Flammen. Morgen in Montecito. Sie hat einen trägen Blick auf die Schlagzeile geworfen – Bush und sein Krieg – und das Geschirr in die Maschine geräumt. Um diese Zeit werden am Strand nur ein paar Hundebesitzer und Jogger sein, das hofft sie jedenfalls, und so schlüpft sie in ihre Sneaker und tritt hinaus in den Morgen.
Den Block hinunter, vorbei am Hotel und seiner epikureischen Rasenfläche, die Luft ist kühl und noch frisch, auf der Zufahrtsstraße ist kein Verkehr. Sie überquert die Straße diagonal, auf dem kürzesten Weg zu der Treppe, die zum Strand führt. Sie hat den Tidenkalender nicht im Kopf – keine Zeit für so was, und außerdem lässt sie sich lieber überraschen –, und so freut sie sich, als sie die weite Fläche aus nassem Sand sieht, die sich bis zu den Untiefen mit den dunklen, vom zweimal täglich vorbeiströmenden Wasser glattgeschliffenen Felsbuckeln erstreckt. Ebbe. Bei Flut schlägt die Brandung an die Mauer, und Alma muss den gepflasterten Fußweg auf der Uferbefestigung nehmen. Vom Strand aus sieht man Santa Cruz als langen, braunen Streifen am Horizont. Hier gibt es keine großen Wellen – die laufen parallel zur Küste durch den Santa-Barbara-Kanal –, und darum ist dieser Strand eigentlich nicht besonders interessant. Es ist ein hübscher Strand, kein Zweifel, aber es gibt viele Tidentümpel, und es wird kaum etwas angespült. Abgesehen von Abfall. Und Hundescheiße, sorgsam in Plastiktüten verpackt. Macht sie das wahnsinnig? Und wie. Dass die Leute etwas Natürliches, biologischen Abfall, Fäkalien, das Endprodukt eines tierischen Prozesses in Plastik verpacken, damit zukünftige Archäologen es in tausend Jahren aus einer ehemaligen Müllkippe ausgraben können, ist reiner Wahnsinn. Diese Welt. Diese verrückte, zum Untergang verurteilte Welt.
Sie steht auf dem Strand und erwägt die Optionen – links oder rechts –, bevor sie sich entscheidet, nach rechts zu den Klippen zu gehen, die Santa Barbara an dieser Seite umschließen, in Richtung der Pier und des verrückten Treibens der Zivilisation, um zu sehen, ob sie zwischen den Felsen, die im Lauf der Jahre abgebröckelt und in die Brandung gestürzt sind, vielleicht etwas Interessantes findet. Wenn die Ebbe besonders mickrig ist, wie es jetzt der Fall zu sein scheint, taucht dort ein Riff mit ein paar Tümpeln auf, in denen die üblichen Verdächtigen sitzen: Muscheln, Seeigel, Strandschnecken, Seeanemonen und Einsiedlerkrebse, außerdem vielleicht hin und wieder als Überraschung ein leuchtend blau-weißer Nacktkiemer oder ein gestrandeter Oktopus. In einem Frühjahr ist dort der Kadaver eines jungen Grauwals angeschwemmt worden, mit Bisswunden, die auf einen Weißen Hai hindeuteten, und im vorletzten Sommer, während der Planktonblüte, ist sie auf eine Gruppe von Menschen gestoßen, die ein Seelöwenjunges ins Wasser zerren wollten, das offenbar an Land gekommen war, um sich zu wärmen.
Das Tier war deutlich unterernährt – sie vermutete eine Domoinsäurevergiftung, weil das mit dem Plankton aufgenommene Toxin sich in der Nahrungskette anreichert und mit der Muttermilch in hoher Konzentration abgegeben wird –, und als sie bei der Gruppe ankam, versuchte ein kahlrasierter junger Latino in einem engen T-Shirt, es über die Felsen und ins Meer zu ziehen. Ohne nachzudenken sprang sie hinzu und fiel ihm wütend in den Arm, obgleich er deutlich größer war als sie. In ihrem Kopf ertönte ein Schrei – wieder ein wohlmeinender Tierfreund, der genau das Falsche, genau das Tödliche tat –, und sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Lassen Sie los!« brüllte sie, starr vor Wut, und stand da wie angenagelt – ihre Hand hielt seinen Arm umklammert, als wäre sie etwas Mechanisches aus Schrauben, Muttern und Titanröhrchen –, bis er gehorchte. Und dann, als das Seelöwenjunge seinem Griff entglitt und der Mann sie so verständnislos ansah, dass sie beinahe Mitleid mit ihm bekam, fügte sie hinzu, mit einer Stimme, so hart wie Stahl: »Treten Sie zurück, alle!«
Sie stellte sich zwischen ihn und das Tier, das panisch über die Felsen kriechen wollte, aber zu schwach war und sich lediglich auf den Flossen aufrichtete und wieder zusammensank, und in diesem Augenblick kam Leben in den Mann. Er starrte sie an und sagte: »Wer sind Sie überhaupt?« Auf der Innenseite des linken Handgelenks hatte er eine kleine, verblasste Tätowierung – einen springenden Delphin –, und sein Atem roch nach Mandarinen, als wäre er soeben durch eine Mandarinenplantage spaziert.
Interessante Frage: Wer war sie überhaupt? Das zielte auf ihre Autorität ab: Was gab ihr das Recht, sich einzumischen, wenn er doch zuerst hiergewesen war und nur das Naheliegende tun wollte, wenn er seine Muskel- und Willenskraft einsetzte, um seiner Freundin und seinen Kumpeln und vielleicht auch den anderen Schaulustigen zu imponieren, indem er sich als barmherziger Samariter erwies, getrieben nicht von Selbstliebe, sondern vielmehr von Liebe für alles Lebendige? Noch heute spürt sie den Stich der Peinlichkeit, wenn sie an ihre Antwort denkt: »Ich bin Wissenschaftlerin.«
Na gut. Wenigstens war das Tier gerettet. Sie rief mit ihrem Handy das Zentrum für Meeressäugetiere an, während die Schaulustigen zurücktraten und der junge Seelöwe, der nur aus Haut und eckigen Knochen zu bestehen schien, sich langsam beruhigte. Jetzt, da sie auf die Felsen zugeht, verblasst die Erinnerung an diesen Zwischenfall, denn sie entdeckt etwa zweihundert Meter vom Strand entfernt eine Schule Rundkopfdelphine, fünf oder sechs Exemplare. Sie sind drei bis vier Meter lang, bis zu fünfhundert Kilo schwer und gehören zu den größten Delphinen überhaupt; normalerweise jagen sie in tieferem Wasser, und ihr Anblick so nah am Strand ist für Alma ein seltenes Vergnügen. Sie geht zügig dahin und versucht, mit den in Richtung der Felsen schwimmenden Tieren Schritt zu halten, als sie vor sich eine Gestalt sieht, einen Mann mit zwei Hunden, der ihr entgegenkommt. Die Hunde – Köpfe, wie mit dem Airbrush gezeichnet, abfallende Kruppen, auf die Knochen gemalte Haut – sind Greyhounds, wie sie jetzt sieht, und sie denkt: Ein guter Mensch, er hat sie von einer Hunderennbahn in Florida gerettet, bis sie ihn genauer ins Auge fasst und ihren Irrtum erkennt. Da sind die breiten Schultern, der Unterkiefer, der zu lange Hals und irgend etwas in seinem Gang – aber nichts davon macht ihn unverwechselbar. Es gibt viele Männer mit einer solchen Statur, Männer, die ausschreiten, als würden sie mit jedem Schritt irgend etwas oder irgend jemand in den Staub treten. Nein, es sind die Dreads. Sandfarbene Dreads, die von seinem Kopf abstehen, als würde er durch einen Windkanal gehen.
Sie spürt einen Anflug von Panik. Er hat sie gesehen, dessen ist sie sicher. Muss das jetzt sein, eine hässliche Auseinandersetzung, an diesem Morgen, wo sie doch bloß einen Strandspaziergang machen und den Augenblick genießen will? Sie überlegt, ob sie ausweichen, die Richtung ändern, umkehren soll – das Riff kann sie sich jederzeit ansehen, morgen oder übermorgen –, als er ihren Namen ruft und sie erstarrt. »He, Alma!« ruft er. Die Hunde traben vor seinen nackten, ausschreitenden Beinen wie Abfangjäger. »Alma Boyd! Alma Boyd Takesue!«
Sie hat es Tim nie erzählt – er hat nicht gefragt und würde es ohnehin nicht glauben; sie kann es ja selbst kaum glauben –, aber sie hat einmal einen Abend mit Dave LaJoy verbracht, einen katastrophalen, vorzeitig beendeten Abend. Sie hat mit ihm zu Abend gegessen. Oder vielmehr: Sie wollte mit ihm zu Abend essen. Sie hat ihn in einem Musikclub in der Stadt kennengelernt, einem Café, in dem junge, unbekannte Songwriter auftreten. Eines Abends ging sie allein dorthin – sie war neu in der Stadt, hatte erst seit ein paar Wochen diesen Job und war glücklich, ihn bekommen zu haben, und bis sie Tim begegnete, sollten noch sechs Monaten vergehen –, und am Nachbartisch saß, mit einem Freund, ein gutaussehender Mann in den Dreißigern. Er trug ein Tournee-T-Shirt, auf dessen Rücken ein Bild von Micah Stroud mitsamt Gitarre war, und das war in ihren Augen ein Pluspunkt, denn damals war Micah Stroud nur Eingeweihten ein Begriff. Und ihr gefielen sein Lächeln, seine Haltung, seine Frisur, die eine Einstellung zum Ausdruck brachte: Es gab nicht viele Männer seines Alters mit Dreads. Sie hielt ihn für einen Musiker oder Künstler, einen Schriftsteller oder Fotografen vielleicht, für einen freien, unabhängigen Geist jedenfalls. »Sie sehen so allein aus«, sagte er. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«
Und das tat sie. Es war ein schöner Abend. Und als das Wochenende kam, rief er an und lud sie zum Essen ein, in ein Restaurant ihrer Wahl. Nach Rayfield und drei Jahren auf Guam, wo sie gelernt hatte, allein zurechtzukommen, war sie nicht sonderlich erpicht auf eine neue Beziehung, und da sie über ihn nicht mehr wusste als das, was er ihr selbst erzählt hatte – ihm gehörten ein paar Elektronikläden, er war geschäftlich erfolgreich, liebte die Natur und war Single –, entschied sie sich für ein Lokal im Lower Village. Teuer, aber welches Restaurant war das nicht? Die Küche war italienisch und gehoben, und sie war so oft dort gewesen, entweder allein oder in Gesellschaft einer Kollegin, dass man sie als Stammgast betrachtete. Oft genug jedenfalls, um von Giancarlo, dem Besitzer und Oberkellner, besonders zuvorkommend und fürsorglich behandelt zu werden, wenn sie mit einem Fremden dort zu Abend aß. Der sich möglicherweise als die große Liebe ihres Lebens erweisen würde. Oder als Katastrophe.
Es begann verheißungsvoll. Er erschien zu Fuß, brachte Lilien vom Blumenmädchen – oder vielmehr der Blumenfrau – um die Ecke mit und plauderte mit ihr über dies und das, während sie die Blumen in eine Vase stellte, ihren schwarzen Spitzenschal um die Schultern legte und ihn zur Tür führte. Sie gingen die Straße hinunter, überquerten auf der Brücke die Schnellstraße und schlenderten zum Lower Village. Die Unterhaltung lief leicht und locker dahin: Er hatte ein Haus dort oben auf dem Hügel, kaum einen Kilometer entfernt, und kam andauernd an ihrem Haus vorbei, und wie lange wohnte sie dort eigentlich schon? Drei Monate? Wieso hatte er sie dann noch nie gesehen? Er konnte es nicht glauben. Wahrscheinlich hatte sie keinen Hund, denn wenn sie einen hätte, wären sie sich bestimmt auf dem Hügel oder auf der Straße oder am Strand begegnet. Nein, sie hatte keinen Hund – das hatte er ja sicher bemerkt –, obwohl sie Hunde liebte, aber sie war noch dabei, sich einzuleben, und musste beruflich oft hinaus auf die Inseln, wo Hunde verboten waren, weil sie Krankheiten unter den Füchsen und Skunks verbreiten konnten. Die Inseln? sagte er. Ich liebe die Inseln.
Giancarlo begrüßte sie an der Tür und führte sie zu einem Tisch am Fenster, und dann kam der Ober – Fredo, ein hochgewachsener, düster blickender Chilene, der sich aus Gründen der Authentizität einen neapolitanischen Habitus und Akzent zugelegt hatte – mit der Weinkarte. »Was möchten Sie trinken?« fragte LaJoy sie. »Rotwein oder Weißwein?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich mag Rotwein lieber«, sagte sie.
»Ja«, sagte er, »ich auch. Es kommt natürlich auf das Essen an. Und den Anlass.«
»Ich bin eigentlich nicht so schwer zufriedenzustellen«, gestand sie. »Das kommt davon, wenn man drei Jahre auf Guam verbracht hat.« Sie lachte sarkastisch. »Auf Guam trinkt man, was man kriegen kann. Hauptsächlich Sake. Und Whiskey. Oder wie er dort heißt: Whieski. Whieski Soda. Und Gin natürlich. Gin Tonic, das alte Allheilmittel.«
Darauf hatte er nicht viel zu sagen. Er vertiefte sich in die Weinkarte, und seine Dreads fielen ihm in die Stirn, so dass sie das rosige Mosaik seiner Kopfhaut sehen konnte. Er fuhr mit dem Finger bis zum Fuß der Liste und sah auf zu Fredo. »Schicken Sie mir den Sommelier.«
Fredo stand da, die Hände auf den Rücken gelegt, korrekt wie ein Bestattungsunternehmer. »Leider«, sagte er und kämpfte mit seinem Akzent, »haben wir eigentlich keinen Sommelier.«
»Eigentlich?« LaJoy – Dave – sah ihn ungläubig und unwillig an. »Was soll das denn heißen? Haben Sie einen Sommelier oder nicht? Oder werden die Weine auf dieser Karte von der Zahnfee ausgeschenkt?«
»Nein, Sir, dafür sind ich«, begann Fredo, »oder Giancarlo –«
»Dann holen Sie ihn her.«
Fredo verbeugte sich knapp und verschwand. Als er fort war, biss LaJoy in ein Grissino, als wäre es aus Holz, und sah sie an. »Amateure«, sagte er. »Ich hasse Amateure.«
Sie sagte seinen Namen, langsam und mit sanftem Tadel. »Sie tun ihr Bestes. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal hier waren, aber das Essen ist ausgezeichnet, wirklich erstklassig.« Sie hielt inne. »Was haben Sie denn gesucht? Auf der Weinkarte, meine ich.«
Er ignorierte sie und starrte an ihr vorbei auf Giancarlo, der durch das gutbesetzte Restaurant ging – die Gäste grüßten ihn, schüttelten ihm die Hand, badeten in seinem Lächeln und schätzten sich glücklich, mit dem Besitzer des Lokals auf so vertrautem Fuß zu stehen. Und Giancarlo füllte seine Rolle hervorragend aus: Er war zweiundfünfzig, groß, in Turin geboren und aufgewachsen, er hatte ein offenes Gesicht, kleidete sich in schiefergraue italienische Seidenanzüge und trug das Haar zurückgekämmt wie ein Mafia-Don. Lächelnd trat er an ihren Tisch. »Alma«, sagte er und wiederholte ihren Namen, als er sich verbeugte und ihre Hand küsste. »Was kann ich für Sie und Ihren charmanten Begleiter tun?«
»Sie sind der Sommelier?« LaJoy funkelte ihn an. »Ich möchte eine Flasche Brunello di Montalcino Riserva, 1988 – den Castello Ruggiero.« Er zeigte auf das Fußende der letzten Seite der ledergebundenen Weinkarte und hob dann warnend den Finger. »Haben Sie mehr als eine Flasche davon? Denn es gibt nichts Enttäuschenderes, als einen erstklassigen Wein zu bestellen und nach der ersten Flasche zu merken, dass danach nur noch Zweitklassiges im Keller ist.«
»Allerdings«, sagte Giancarlo als Antwort auf beide Fragen. »Das ist einer unserer seltensten und besten Weine, und ich bin ganz sicher, dass wir mehrere Flaschen davon haben.« Und dann versuchte er ein Witzchen, das an LaJoy allerdings verloren war: »Sollten Sie sie alle trinken, würden Sie mich glücklich, vielleicht sogar überglücklich machen, und ich würde persönlich nach Hause fahren und Ihnen einige weitere Flaschen aus meinem privaten Keller bringen.«
Alma hatte währenddessen nicht aufgehört zu lächeln, doch sie sah LaJoy – Dave – mit einemmal in einem neuen Licht. Er war erregt, das war deutlich, aber warum? War es eine Art Machtspiel, bei dem er erst Fredo und nun auch noch Giancarlo zur Schnecke machen wollte, als könnte er ihr damit imponieren? Aber Giancarlo ging, um den Wein zu holen, einen Wein, der, wie ihr ein verstohlener Blick auf die Karte verriet, dreihundertfünfundzwanzig Dollar die Flasche kostete, und sie versuchte, die Sache zu überspielen. »Ich bin sicher, es ist ein guter Wein«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln ganz anderer Art, einem Lächeln aus zwei Teilen Zuversicht und einem Teil Unbehagen.
Er sagte nur: »Das will ich auch hoffen. Bei diesen Preisen.«
Und dann war Giancarlo wieder da und ließ es sich nicht nehmen, die Flasche persönlich und auf eine weiße Serviette gebettet zu präsentieren. Er hielt sie LaJoy zur Begutachtung hin, öffnete sie und legte den Korken diskret auf ein Tellerchen. LaJoy nahm ihn, schnupperte daran, machte ein säuerliches Gesicht und legte ihn wieder hin. Es folgte das Ritual der Verkostung: LaJoy hob das Glas an die Nase, hielt es ins Licht und ließ den Wein kreisen, um ihm Luft zuzuführen – er war dunkel und schwer wie das Blut auf dem Boden der Styroporschalen mit Steaks im Kühlregal des Supermarkts, Steaks, die sie seit ihrer Teenagerzeit nicht mehr gesehen oder gar gegessen hatte, denn das war gegen ihre Prinzipien –, und dann schließlich nahm er einen Schluck.
Sie sah ihn erwartungsvoll an, ebenso wie Giancarlo, der beflissen und überkorrekt darauf wartete, einschenken zu dürfen. Doch LaJoy verzog das Gesicht. Er nahm einen zweiten Schluck, bewegte den Wein im Mund hin und her und spuckte ihn dann zurück ins Glas. »Fusel«, erklärte er.
Giancarlo sagte nichts. Er stand hoch aufgerichtet da, hinter ihm das Restaurant mit den hübsch gedeckten Tischen und der gedämpften Konversation der Gäste, mit den von diskreten Scheinwerfern beleuchteten Gemälden an den ockerfarbenen Wänden, mit den Topfpalmen und den zarten Farnen – seine Existenz, sein Stolz, sein Herzblut.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Auf jeden Fall konnte sie nicht verlangen – oder auch nur darum bitten –, den Wein ebenfalls probieren zu dürfen. LaJoy war der Experte. Er war derjenige, der zahlte – er hatte sie eingeladen –, und so musste sie sich fügen. Aber er war zweifellos unhöflich, nein, ungehobelt, und zwar ohne jeden Grund. Absolut ungehobelt. Er sagte nichts Abmilderndes, weder Entschuldigung, es tut mir sehr leid, und ich weiß, dass das nur selten vorkommt, aber … noch Er muss gekippt sein, sondern machte nur eine Bewegung aus dem Handgelenk, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen, und vertiefte sich abermals in die Weinkarte.
Diesmal bestellte er einen französischen Wein, den zweitteuersten auf der Karte, und diesmal war es Fredo, der die Flasche präsentierte und, tadellos wie immer, das Ritual des Öffnens, der Begutachtung des Korkens und der Verkostung zelebrierte. Und diesmal sagte LaJoy mit angeekelt verzogenenm Mund, ohne Fredo zu beachten, den Blick fest auf Alma gerichtet: »Essig.« Und als er dann zu Fredo aufsah, brannte in seinen Augen jener fanatische Hass, den man in denen von Revolutionären sieht, und er sagte sehr langsam und deutlich, als müsste er sich beherrschen: »Bringen Sie mir noch mal die Weinkarte.«
Das war der Augenblick, in dem sie nach ihren Sachen griff, nach ihrer Handtasche, dem Schal, der Brille, die sie kurz aufgesetzt hatte, um die Preise auf der Weinkarte entziffern zu können, der Weinkarte, die LaJoy ihr nicht angeboten hatte, als würde ihre Meinung – die Meinung einer Saketrinkerin – nicht zählen, und es war ihr egal, ob es ihre erste Verabredung war oder nicht. Sie schob den Stuhl zurück, als Giancarlo mit ernstem Gesicht an ihren Tisch trat, um ihnen oder vielmehr ihr und diesem gereizten, selbstgefälligen, unsensiblen, verkniffen lächelnden Angeber, in dessen Gesellschaft sie sich leider befand, zu sagen, es tue ihm sehr, sehr leid, aber er könne nicht Flasche um Flasche seiner besten Weine öffnen, wenn diese dann sogleich wieder zurückgeschickt würden.
Mit hängenden Schultern und brennendem Gesicht ging sie bereits zur Tür, als LaJoy – nicht Dave, sondern nur LaJoy und nie mehr anders – sagte: »Tja, scheiß drauf, dann gehen wir eben woandershin. In ein richtiges Restaurant. In einen Laden« – sie stellte sich vor, wie er über dem Tisch gestikulierte und ihm beim Aufstehen die Serviette vom Schoß glitt – »mit Klasse. Wo man was von Wein versteht.« Sie stürzte hinaus in den Abend und wandte sich nach rechts, fort von ihrer Wohnung, entgegengesetzt zu der Richtung, aus der sie gekommen waren, und sie bewegte sich rasch, hielt sich in den Schatten und hoffte leise fluchend, dass er sie nicht einholen würde.
Und jetzt ist er hier, an ihrem Strand, und kommt mit demselben hasserfüllten, selbstgerechten Blick auf sie zu, aber sie wird sich von ihm nicht den Morgen verderben lassen – sie wird ihn ignorieren, ja, das wird sie, sie wird an ihm vorbeigehen, als wäre er gar nicht vorhanden. Er ist noch zwanzig Meter entfernt, zehn, fünf, und die Hunde, straff gespannte Haut über Knochen und Sehnen, schnüffeln an ihr und stecken ihre überzüchteten Schnauzen in die Falten ihrer Jeans. »Hübscher Artikel in der Zeitung heute«, sagt er und bleibt genau vor ihr stehen, hämisch und schadenfroh. »Sagen Sie bloß, Sie haben ihn nicht gelesen. Über die kleine Feier gestern. Nein? He, bleiben Sie stehen, ich rede mit Ihnen!«
Sie ist an ihm vorbei, ihr Herz klopft heftig – Artikel? Welcher Artikel? –, und sie richtet den Blick auf die Felsen dort drüben und konzentriert sich darauf, ruhig weiterzugehen, denn sie wird nicht nachgeben, sie wird ihm nicht die Befriedigung zuteil werden lassen, sie rennen oder auch nur ihre Schritte beschleunigen zu sehen.
»He!« ruft er und wirbelt herum, um ihr die Worte nachzuschleudern, »he, Alma Boyd Takesue, Dr. Alma – wollen Sie nicht hören, was ich zu sagen habe? Oder wollen Sie es bestreiten? Sehen Sie mal im zweiten Teil nach, da steht ein hübscher Artikel von Toni Walsh. Mit einer tollen Überschrift: Die wahren Schädlinge auf Anacapa. Klingt doch gut, oder?«
Zwischen ihnen liegen jetzt dreißig Meter. Der Sand unter ihren Füßen ist feucht, die Wellen haben sich ganz zurückgezogen und sind so sanft wie in einer Badewanne. Vor ihr laufen Strandvögel herum. In der Ferne kommt ein weiterer Hundebesitzer in Sicht. Sie weiß: Der Morgen ist ihr verdorben. Sie kann jetzt nur noch daran denken, dass sie nach Hause gehen und diesen Artikel lesen muss, diesen Nagel im Sarg ihrer Bemühungen, die Gunst des Santa Barbara Press Citizen zu gewinnen. Wie sie bald feststellen wird, sind Toni Walshs erlauchter Meinung zufolge die Mitarbeiter des Park Service im allgemeinen und Dr. Takesue im besonderen die wahren Schädlinge auf Anacapa, denn sie glauben, sie könnten die Natur manipulieren und die Inseln in einen Themenpark verwandeln. Und Sickafoose, Tim Sickafoose, der beratende Ornithologe, der es doch eigentlich besser wissen müsste und mit einem Alkenküken in der behandschuhten Hand für kitschige Fotos posiert.
»Ich werde mit euch Schlitten fahren!« brüllt er ihr nach, und normalerweise würde sie über dieses Klischee lachen, doch es ist nichts Komisches an diesem kranken, hasserfüllten Mann, an seinen Zielen und der Schlacht, die bevorsteht. »Auf Santa Cruz kommt ihr damit nicht durch! Wir sehen uns vor Gericht, wartet’s nur ab!«
Sie fährt herum. Er steht da, in seinem T-Shirt, aufgeblasen, wütend, mit rotem Gesicht, und fordert sie heraus wie ein Schulhofschläger. Die Hunde haben sich von ihm entfernt, schnüffeln an einem Felsen am Wasser und werden gleich die Beine heben. Ein paar Joggerinnen – einheitliche weiße Shorts und Sonnenmützen, Arme und Beine in verschwommener Bewegung, die Gesichter ausradiert von der Sonne – nähern sich ihm von hinten, während ihr eigener Hund, ein zottiger Golden Retriever mit grauer Schnauze, voraus und zu den Greyhounds rennt. Sie sollte sich nicht darauf einlassen, das weiß sie, aber sie kann nicht anders. Das Wort »Gericht« ist schuld. Gericht. Er will sie vor Gericht zerren, wie er es im Fall der Rattenbekämpfung auf Anacapa getan hat, aber das ist eine leere Drohung, denn die Richter wissen, wer im Recht ist, wer den Interessen der Allgemeinheit dient und wer nicht.
Aber sie wird ihn vor Gericht sehen, in zwei Wochen. Und nicht sie wird diejenige sein, die sich windet – nein, sie wird im Zuschauerraum sitzen, wenn Tim gegen ihn aussagt, sie wird erleben, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Denn nun, da alle Verzögerungstaktiken, die seine Anwälte aus den Tiefen der juristischen Fachliteratur hervorzaubern konnten, ausgeschöpft und alle Fluchtwege verstellt sind, nun, da er den Konsequenzen seines Tuns nicht mehr entkommen kann, wird er wegen zweier Vergehen vor einem Bundesgericht erscheinen und erklären müssen, was er an jenem grauen, stürmischen Tag, an dem Tim ihn zur Rede gestellt und mit Unterstützung der Küstenwache festgenommen hat, auf Anacapa zu suchen hatte.
»Genau!« schreit sie und ignoriert die erschrockenen Blicke der Joggerinnen und die Hunde, die sich ob der Heftigkeit in ihrer Stimme verblüfft nach ihr umsehen. »Wir sehen uns vor Gericht!«