BOIGA IRREGULARIS
Als Mitte der fünfziger Jahre der Bestand der
einheimischen Vögel auf der Insel Guam stark zurückging und sie in
den sechziger und siebziger Jahren ganz verschwanden, wusste
niemand, warum. Der Verdacht der Forscher fiel auf DDT,
Pflanzenschutzmittel, den Verlust von Lebensraum sowie Epidemien,
und erst als Julie Savidge Anfang der achtziger Jahre
Feldforschungen für ihre Dissertation betrieb, fiel das
wissenschaftliche Augenmerk auf ein bis dahin wenig beachtetes
Reptil, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf Guam aufgetaucht
war. Die in Australien, Malaysia und Neuguinea beheimatete Braune
Nachtbaumnatter war wohl in einer Munitionskiste, im Motorraum
eines Militärfahrzeugs oder vielleicht im Radkasten eines
Transportflugzeugs der Marine auf die Insel gelangt. Ihr Auftreten
wurde zwar registriert, doch da diese Tiere nachtaktiv sind und auf
Bäumen leben, kamen nur wenige Menschen mit ihnen in Kontakt.
Nachdem Savidge alle anderen Faktoren ausgeschlossen hatte,
beschloss sie, die Ausbreitung der Schlangen von Apra, dem im
Westen gelegenen Haupthafen, bis zu den südlichen, östlichen und
nördlichen Küsten der Insel zu dokumentieren, und stellte fest,
dass es eine Korrelation zwischen ihrer Zunahme und dem
weitgehenden Verschwinden der einheimischen Vogelwelt gab. Das
Rätsel war gelöst. Das Problem bestand weiter.
Auf Guam fand die Braune Nachtbaumnatter ein
Schlangenparadies vor. Die einzige andere Schlangenart war ein
harmloses Tierchen, so groß wie ein Regenwurm, und stellte keine
Konkurrenz dar, und es gab keinerlei Raubtiere, die die Zahl der
Nachtbaumnattern begrenzt hätten. Das Nahrungsangebot war reichlich
und bestand aus etwa achtzehn weltweit einzigartigen Vogelarten,
die, wie andere Inselspezies, jener Naivität zum Opfer fielen, die
dem Dodo und seinesgleichen zum Verhängnis geworden war. In ihrem
angestammten Lebensraum lebt Boiga irregularis in einem
natürlichen Gleichgewicht mit anderen Spezies und ist nicht
besonders beeindruckend oder gefährlich. So ist ihr Gift, das durch
Giftzähne im hinteren Bereich des Mauls injiziert wird, relativ
schwach und für Menschen kaum gefährlich. Außerdem ist sie
nachtaktiv und daher nur selten zu sehen, und da sie sehr schlank
ist – Exemplare von etwa einem Meter Länge sind nicht dicker als
der Zeigefinger eines Mannes –, wirkt sie nicht annähernd so
bedrohlich wie einige andere tropische Schlangen, wie die Kobras,
Boomslangs, Mambas und Wassermokassinottern, die durch die
Alpträume der Ophiophoben gleiten.
Dennoch hat sie sich als eine der
erfolgreichsten und schädlichsten invasiven Spezies überhaupt
erwiesen. Von den erwähnten achtzehn endemischen Vogelarten gibt es
noch elf, zwei davon – die Guamralle und der Zimtkopfliest –
existieren nur noch in Gefangenschaft, sechs sind in ihrem Bestand
bedroht und drei weitere stark dezimiert. Die Populationsdichte der
Braunen Nachtbaumnatter – bis zu fünftausend pro Quadratkilometer –
gehört weltweit zu den höchsten. Sie ist unglaublich
anpassungsfähig und frisst, wenn sie keine Vögel fangen kann,
ebenso gern einheimische Frösche und Eidechsen sowie die
eingeführten Geckos, Skinke, Aga-Kröten und alle anderen Tiere, die
durch ihren Schlund passen. Sie wird bis zu drei Meter lang und
erscheint in Toiletten, Duschen und Babybetten. Seit 1978 gab es
zwölftausend Stromausfälle, weil Nachtbaumnattern auf Strommasten
geklettert waren und Kurzschlüsse verursacht hatten – unabsichtlich
natürlich, aber trotzdem fielen Lampen, Computer und Kühlschränke
aus. Vor allem sind Nachtbaumnattern hervorragende, furchtlose und
zunehmend gierige Kletterer, auf deren Speiseplan inzwischen nicht
nur Tierfutter, sondern auch Haustiere stehen (in einem
dokumentierten Fall ein drei Wochen alter Golden-Retriever-Welpe),
ja eigentlich alles, was nach Fleisch riecht. Oder nach Blut.
Daran denkt Alma, als sie den Ausdruck des
Artikels »Der Einsatz von Paracetamol zur Bekämpfung von Boiga
irregularis in insulären Habitaten« liest, der neben ihrem
Laptop liegt. Sie sitzt an einem der leise schwankenden
Resopaltische in der Hauptkajüte der Islander, die nach
Anacapa unterwegs ist. Sie trinkt etwas Kaffee aus dem Pappbecher
und starrt auf den Bildschirm, wo die ordentlich ausgerichteten
Zeilen sich mit der Tischplatte, dem Deck und dem Rumpf darunter
hypnotisch heben und senken, und sie hat noch nicht gemerkt, dass
sich Kopfschmerz ankündigt, aber einmal pro Minute hebt sie wie im
Reflex den Blick vom Bildschirm und sieht über das Meer, als wollte
sie ihren Augen mehr Weite gönnen. Dann kehrt sie zu ihrem Text
zurück, schlägt die Rücktaste an und fügt eine Formulierung ein
oder ergänzt einen Satz, wobei sie lautlos die Lippen bewegt. Ihre
Stirn ist gerunzelt, aber auch das merkt sie nicht.
In der Kajüte sowie auf dem Vorder- und
Achterdeck ist Platz für etwa hundertfünfzig Menschen, und heute
sind fünfundachtzig dieser Plätze für Angestellte des National Park
Service und verschiedene am Anacapa-Wiederherstellungsprogramm
beteiligte Biologen reserviert, darunter auch Tim. Außerdem sind
einige Journalisten von AP, Los Angeles Times und
Santa Barbara Press Citizen, ein Dutzend Lokalpolitiker und
Multiplikatoren sowie ein Fernsehteam vom örtlichen NBC-Büro an
Bord. Im Laderaum stehen drei große Kühlschränke, vollgestopft mit
mariniertem Hähnchenfleisch, Putenwurst und Tofuburgern zum
Grillen, verschiedenen Salaten, Vollkornbroten und einem Topf Chili
und Reis, ein vierter enthält Erfrischungsgetränke, in Flaschen
abgefülltes Trinkwasser und Desserts, und in einem fünften befindet
sich ausschließlich Champagner. Zwei Kartons. Gut gekühlt.
Kalifornischer Champagner aus dem mittleren Preissegment, wie es
dem Budget des NPS ansteht, aber dennoch Champagner – oder vielmehr
Sekt.
Das Meer ist ruhig, der Nebel löst sich bereits
auf. Der Kapitän hat die Fahrt verlangsamt, weil eine Schule
Delphine in Sicht gekommen ist, und die meisten Passagiere –
Touristen, Wanderer, eine von Zucker und Hormonen befeuerte Gruppe
von Sechstklässlern, die der Kontrolle der beiden geplagten
Lehrerinnen zunehmend entgleitet – sind an Deck gegangen, um die
glänzenden Cetazeen wie zum Leben erweckte Schatten durch das
Wasser schießen zu sehen. Als sie aufblickt, entdeckt sie Tim unter
ihnen, in der linken Hand einen Pappbecher mit Kaffee, in der
rechten ein Fernglas.
Es ist Anfang Juni, zehn Uhr morgens, knapp
zweieinhalb Jahre nach dem ersten Abwurf des Bekämpfungsmittels,
und sie machen diesen kleinen Ausflug einzig und allein um zu
feiern: Während die Journalisten auf ihre Tastaturen einhämmern,
die Fotografen mit Digitalkameras hantieren und das Fernsehteam
filmt, wird sie zusammen mit Freeman Lorber, dem Direktor des
Parks, das Sektglas erheben und verkünden, dass die drei Inseln,
aus denen Anacapa besteht, zu hundert Prozent rattenfrei sind. Im
Augenblick ist sie damit beschäftigt, ihre Presseerklärung zu
formulieren – der Artikel des Reptilienforschers Robert Ford Smith,
mit dem sie auf Guam zusammengearbeitet hat, muss warten, bis sie
einen Augenblick Zeit hat. Er ist heute morgen per E-Mail von der
Forschungsstation in Ritidian Point an der Nordspitze der Insel, wo
die Strände waschpulverweiß sind, wo die Vegetation wuchert und es
von Schlangen wimmelt, in ihrem Büro eingetroffen, bevor sie es um
Viertel nach sieben verlassen hat, und sie freut sich darauf wie
ein Kind auf ein neues Computerspiel, aber die Pflicht ruft, sie
ruft wie immer und geht wie immer vor.
Die Presseerklärung, an der sie seit zwei Tagen
feilt, soll die anwesenden Journalisten und durch sie die
Allgemeinheit darüber informieren, dass das
Rattenbekämpfungsprojekt ein voller Erfolg war. Seit dem Einsatz
des Mittels konnten auf Anacapa keinerlei Hinweise auf Ratten mehr
gefunden werden, weder Nester noch Kot oder Spuren oder
irgendwelche Anzeichen von Nesträubern – die Eierattrappen, welche
die Ornithologen in die Nester verschiedener Vogelarten
geschmuggelt haben, sind unberührt, während sie früher Bissspuren
von Nagezähnen aufwiesen. Aufgrund eingehender Beobachtungen in den
vergangenen zwei Jahren kann sie mit absoluter Gewissheit sagen,
dass sämtliche Exemplare der Zielspezies eliminiert sind. Die
Folgen waren unmittelbar sichtbar: Die Bestände der Seevögel haben
sich erholt, ganz zu schweigen von denen des
Channel-Islands-Salamanders, des Seitenfleckleguans – dessen Zahl
sich verdoppelt hat – und der Hirschmaus, deren Population auf
achttausend Exemplare geschätzt wird, was der höchste je ermittelte
Stand wäre. Und mehr noch: Tim Sickafoose, beratender Ornithologe,
hauseigener Humorist und überhaupt der reinste Märchenprinz, hat
zum erstenmal seit Menschengedenken ein Brutpaar Aleutenalken
entdeckt, und zwar auf Rat Rock, einem Felsen, der – und das wird
ein subtiler, aber triumphaler Scherz in ihrem sonst recht
trockenen Text sein – in naher Zukunft wohl wird umbenannt werden
müssen. Wie wär’s mit Auklet Rock? denkt sie. Höre ich noch andere
Gebote? Warum nicht Sickafoose Point? Das hätte doch was.
Aber Scherz beiseite – sie macht sich Gedanken
über kleine Details: Zeichensetzung, Absätze, die abgedroschenen
Phrasen, die ihr jedesmal, wenn ihr Blick darauf fällt, dümmer
vorkommen. Nein, nicht nur dümmer, sondern regelrecht idiotisch.
Zum Beispiel hier, gleich im ersten Absatz, bezeichnet sie Lorber
als »vorbildlichen Kämpfer für den Naturschutz«, und das ist zwar
wahr, aber macht es ihn nicht auch zu etwas Statischem, zu einem
dieser aus dem Fels gehauenen Präsidentenköpfe am Mount Rushmore
oder einer stumpf gewordenen Schwertklinge? Oder schlimmer noch: zu
etwas Totem? Auf dessen Grabstein steht: »Liebender Ehemann und
Vater, vorbildlicher Kämpfer für den Naturschutz«?
»Hallo«, haucht Tim und lässt sich auf den Platz
neben ihr sinken. Das Boot hat wieder Fahrt aufgenommen, und die
Passagiere kehren in die Kajüte zurück, alle bis auf die
Sechstklässler, die an der Reling stehen, bis sie durchnässt sind
und frieren und dringend die heiße Schokolade, das Popcorn und die
in der Mikrowelle erwärmten Burritos brauchen, die es in der
Kombüse gibt. »Bist du damit immer noch nicht fertig?« fragt er
anzüglich. Sie sieht ihn von der Seite an. Da sitzt er also, dringt
in ihre Privatsphäre ein – was, wie sie sich ermahnen muss, das
Vorrecht eines Liebhabers ist – und grinst sie schief an. »Es gibt
nämlich, wie du weißt, einen Punkt, an dem man anfängt, das Ding zu
Tode zu verbessern. Und außerdem soll das hier doch eine Party
sein, oder irre ich mich?«
Sie ist drauf und dran, ihn anzufahren, kann
sich aber bremsen. Lange starrt sie ihm in die Augen. Vor den
Fenstern fliegt Gischt vorbei, die aufgeregten Rufe der
Sechstklässler klingen wie die Schreie von Verzückten. »Ja«, sagt
sie schließlich und kann jetzt ebenfalls lächeln, sich entspannen,
feiern, denn er hat recht – das Schlimmste liegt hinter ihr, und
dies ist ein Tag, an dem sie nach vorn blicken sollte, nicht
zurück. »Ja, du hast recht.«
Und es funktioniert. Alles ist wieder im Lot.
Ihr Kopfschmerz – der beginnende Kopfschmerz, dessen sie sich
gerade erst bewusst geworden ist – fährt seine Fühler aus und zieht
sie noch im selben Augenblick wieder zurück. Sie verschiebt die
Maus, klappt den Laptop zu, beugt sich hinunter zu ihrem Rucksack
und holt eine Tüte Studentenfutter hervor, damit ihre Energie nicht
absackt. Party hin oder her – sie muss nach der Presseerklärung
eine Rede halten, sie muss Wade beaufsichtigen, ihren Assistenten,
der für das Essen zuständig ist, und sie muss brennendes Interesse
heucheln, wenn Freeman seine eigene Rede hält, wie immer mit
peinlichen Pausen, heftigem Zupfen an der Unterlippe und Witzen,
die nur theoretisch welche sind. Aber dies ist tatsächlich eine
Party oder jedenfalls ihr Anfang, und so schiebt sie den Laptop mit
einem entschlossenen Schulterzucken in die Hülle, reibt
demonstrativ die Handflächen aneinander und öffnet den Verschluss
der Studentenfuttertüte. Sie wirft sich eine Handvoll in den Mund
und zermahlt mit den Backenzähnen die Mischung aus
Sonnenblumenkernen, Datteln, Rosinen und Schokoladenstückchen. Der
Zuckerkick kommt beinahe sofort. Sie hält Tim die Tüte hin, der sie
geistesabwesend nimmt. Er sieht sie zweifelnd an, als würde er an
etwas ganz anderes denken, sich stellvertretend für sie Sorgen
machen, sich ihren Kopf zerbrechen. »Ich will schwer hoffen, dass
der Drucker da draußen funktioniert –«
Ihr Lächeln ist jetzt wärmer, es breitet sich
aus, bis sie ein Ziehen in den Muskeln am Mundwinkeln spürt. Wie
heißen die noch? Zygomaticus major. Oder minor. Oder
beides. Das klingt ungefähr richtig, aber ihr Anatomiekurs liegt
lange zurück, und wenn sie sich recht erinnert, braucht man
ungefähr sechzehn verschiedene Muskeln, um ein Lächeln zu erzeugen,
das diesen Namen verdient. Aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist
nur, dass sie lächelt, denn Tim lächelt zurück, und sie beide
kommen in den seltenen Genuss eines gemeinsamen freien Tages,
sofern man es so nennen kann.
»Kennst du mich, oder kennst du mich nicht?«
sagt sie und klopft auf den Rucksack zu ihren Füßen. »Ich habe
meinen eigenen mitgenommen, nur für den Fall.« Bevor er etwas sagen
kann, hebt sie die Hand. »Ja«, sagt sie, »ja, ich weiß. Und
Papier.«
Vor sieben Jahren ist sie nach Guam gegangen,
weil sich die Möglichkeit bot, weil Julie Savidge eine ihrer großen
Heldinnen war und weil sie selbst sich gerade von Rayfield
Armstrong getrennt hatte, der in den Bars und Cafés von Berkeley
Gitarre spielte, wenn er nicht an seiner Dissertation über die
Auswirkungen der Ausbreitung einer bestimmten eingeschleppten
Krabbenart – der Gemeinen Strandkrabbe – auf die Populationen der
Wirbellosen in der San Francisco Bay schrieb, und dessen Brust-,
Schultern- und Rückenmuskeln von all den Stunden, die er im Wasser
verbrachte, so trainiert und akzentuiert waren, dass er aussah wie
ein menschliches Mosaik. Sie war bei ihm eingezogen, und das war
eine Entscheidung gewesen, die erste Entscheidung dieser Art in
ihrem Leben, aber die Monate waren vergangen, und schließlich waren
ihre Geduld, ihre Hoffnung und ihr guter Wille erschöpft gewesen.
Er war nie zu Hause, ständig musste er tauchen oder in irgendeiner
Bar, irgendeinem Café im Licht des Scheinwerfers stehen und Gitarre
spielen oder mit dem Greyhound-Bus zu einem Auftritt in irgendeinem
Nest fahren, von dem noch nie jemand gehört hatte, und wenn er zu
Hause war, gab es für ihn nur Krabben und Gitarre, Krabben und
Gitarre, und er schien nicht viel Zeit für sie zu haben. Also zog
sie wieder aus. Und nahm eine Forschungsstelle an. In Guam.
Sie erwartete, dass es dort in etwa so sein
würde wie in Hawaii, nur primitiver, härter, weniger entwickelt,
und sie wurde nicht enttäuscht. Die durch den Dschungel gebahnten
Straßen waren pausenlos verstopft und voll tödlicher Gefahren, die
Architekten bevorzugten Stahlbeton (aus schierer Notwendigkeit und
um den Taifunen in dieser Weltgegend zu trotzen, die von
Meteorologen als »Wiege der Taifune« bezeichnet wurde), und alles,
selbst der Plastikkanister mit Bleichmittel, den sie unter dem
Waschbecken ihres bunkerartigen Ein-Zimmer-Apartments aufbewahrte,
roch nach den schwärenden, sich explosionsartig vermehrenden
Mikroorganismen der Tropen. Der Dschungel wucherte, doch viele im
Krieg zerstörte einheimische Bäume waren durch aus Südamerika
importierte Tangantangan ersetzt worden, und es war gespenstisch
still, weil es keine Vögel gab. Deshalb hatten die Insekten
überhandgenommen, mit dem Ergebnis, dass sich die Spinnen –
handtellergroß, mit leuchtendgelben Streifen auf den
glänzendschwarzen Körpern – rasant vermehrt hatten und ihre großen,
zeltartigen, bebenden Netze im Unterholz ebenso wie zwischen den
Ästen der Bäume spannten, weswegen man sich unmöglich durch den
Dschungel bewegen konnte, ohne dass dieses Zeug an einem klebte wie
eine zweite Haut. Ganz zu schweigen von der Spinne selbst, die
vermutlich nicht gerade erbaut war, mitsamt ihrem Netz
davongerissen zu werden und sich auf einem Ärmel, einem Kopf, einem
Gesicht wiederzufinden.
Die Einheimischen – hauptsächlich Chamorros und
Filipinos – hatten nie mehr als einen flüchtigen neugierigen Blick
für sie übrig. Sie betrachteten sie als Asiatin oder irgendeine
Variante davon und fanden sie trotz ihrer Big-Dog-Shorts und den
T-Shirts mit Bildern von Micah Stroud und Carmela Sexton-Jones
weniger exotisch als jemanden wie Robert Ford Smith und seine Frau
Veronica, die beide aus Lancashire stammten und große englische
Hakennasen sowie eine Haut so stumpf und bleich wie Kartoffelmehl
besaßen. Sie fühlte sich zu Hause, nicht anders als in Hawaii und
in Berkeley, und vielleicht wäre das anders gewesen, wenn sie ins
blütenweiße Wisconsin gegangen wäre, um die Auswirkungen
streunender Katzen auf die Waldvogelpopulation zu untersuchen, oder
nach Salt Lake City, um die Schwarzhalstaucher auf dem Großen
Salzsee zu studieren, aber das hatte sie eben nicht getan.
Robert – nicht Bob oder Rob oder Robbie, sondern
einfach Robert – war Mitte Fünfzig und arbeitete an der Bekämpfung
der Braunen Nachtbaumnatter, seit Julie Savidge, die inzwischen
anderswo arbeitete, das Ausmaß der Katastrophe enthüllt hatte. Er
wurde im Rahmen des Programms zur Erforschung dieser Schlangenart
vom amerikanischen Landwirtschaftsministerium bezahlt, und sein
erstes Augenmerk galt der Entwicklung von Sperren, die den
Schlangen den Zugang zu den Containern im Hafen und den
Frachtmaschinen am Flughafen verwehren sollten, denn es bestand
Grund zu der Sorge, einzelne Exemplare könnten als blinde
Passagiere auf eine der benachbarten Inseln oder gar nach Hawaii
gelangen. Das war der erste Schritt – die Verhinderung einer
weiteren Ausbreitung –, doch der zweite und weit wichtigere war,
ein biologisches Mittel zu finden, ein Bakterium, ein Virus oder
einen Parasiten, mit dessen Hilfe sich die Zahl der Schlangen
begrenzen ließ, so dass die in Gefangenschaft gezüchteten Vögel
wieder ausgewildert werden konnten. Zu diesem Zweck fing er
Nachtbaumnattern und experimentierte mit ihnen. Und ihre Aufgabe
war es, bei Tag und bei Nacht mit einer Stirnlampe und einem Stock
für die Spinnweben nach den Fallen zu sehen und mit den gefangenen
Schlangen – es waren stets viele – ins Labor zurückzukehren, damit
sie sie sezieren und feststellen konnte, was sie gefressen hatten.
Es war ein einsamer Job – »irgendwie gruselig«, fand Tim, der kein
Schlangenfreund war –, aber sie war viel in der freien Natur, und
darum ging es ja, wenn man im Bereich Naturschutz arbeitete.
Ein Jahr hatte dreihundertfünfundsechzig Tage,
das war unbestreitbar, doch in den drei Jahren, die sie auf der
Insel verbrachte, kam es ihr so vor, als wäre die Zeit elastisch
geworden, als dehnte sie sich wie ein feinkalibriertes Bungeeseil,
bis ein Tag ihr so lang erschien wie sonst zwei oder drei Tage. Sie
lernte, ohne Zivilisation auszukommen – ohne amerikanische
Zivilisation jedenfalls –, und obgleich sie einige Freundschaften
schloss, an diversen Familienfesten und anderen Feiern teilnahm und
Oktopus auf malaiische Art und in Kokosmilch gekochte Brotfrucht
liebenlernte, lebte sie nicht wie die Einheimischen – etwas, was
viele andere, die in der Forschungsstation arbeiteten, früher oder
später taten. Sie verbrachte ihre Zeit vornehmlich allein und
bewegte sich im Dschungel, als wäre sie ein Urwaldtier: klein, mit
gesundem Haarwuchs, wachen Sinnen und schnellen Reflexen, die es
ihr erlaubten, mit Spinnweben behängten Zweigen auszuweichen. Sie
fing die Schlangen in Drahtkörben, die einen weiteren, viel
kleineren Drahtkorb mit einer weißen Maus und ihrer Ration
kleingeschnittener Kartoffeln enthielten, stopfte sie in einen Sack
und brachte sie zur Station, wo sie die Tiere tötete und sezierte
oder ihnen Halsbänder mit winzigen Sendern anlegte und sie wieder
freiließ, um herauszufinden, wohin sie sich bewegten.
Die Schlangen waren wie Peitschen aus Muskeln,
stark genug, um drei Viertel des Körpers in die Luft zu recken und
minutenlang so zu verharren, doch Almas Muskeln waren die eines
Primaten und denen der Schlangen überlegen. Sie tötete Tausende.
Sie wurde ein halbes Dutzend Male gebissen. Der eigenartige,
säuerlich-trockene Geruch, den die Eingeweide der Schlangen
verströmten, wurde ihr innig vertraut. Sie stellte fest, dass diese
Spezies im Gegensatz zur landläufigen Meinung und dem ersten Gesetz
der Schlangenliebhaber keine lebende Beute, ja eigentlich nicht
einmal Beute im herkömmlichen Sinne brauchte. Sie war beängstigend
anpassungsfähig. Wenn es keine Vögel gab, fraß sie Ratten und
Eidechsen. Und wenn sie keine Ratten oder Eidechsen finden konnte,
kam sie in den Garten oder ins Haus und schnappte sich alles, was
sie finden konnte, ob lebendig oder nicht. Zweimal stieß sie beim
Öffnen der Bauchhöhle einer Schlange auf blasse, zerdrückte Reste
von Plastikfolien, in denen rohe Hamburger verpackt waren. Und
einmal – es war ein Bild wie aus einem Buñuel-Film – entdeckte sie
den blutgetränkten Zylinder eines gebrauchten Tampons. Noch heute
sieht sie manchmal, wenn sie nachts die Augen schließt, im
Zwielicht ihres Bewusstseins die Schlangen, die sich hoch
aufrichten, die Köpfe hierhin und dorthin recken und nach etwas
suchen, an dem sie emporklettern könnten.
Tim plaudert. Das Boot hüpft. In ihrem Magen
blubbern das Studentenfutter und der Kaffee, mit dem sie es
hinuntergespült hat, aber sie wird nicht seekrank – nie. Der Geist
ist stärker als die Materie – oder vielmehr die Verdauung. Und der
Reflux. Manche können das kontrollieren, manche nicht. Tim zum
Beispiel ist unerschütterlich. Er könnte ein siebengängiges Menü
verspeisen und den ganzen Tag am Magic Mountain Achterbahn fahren,
ohne dass es ihm das geringste ausmachen würde – ja, wenn die
Zentrifugalkräfte nicht wären, würde er sich wahrscheinlich die
Serviette umbinden und das Menü in der Achterbahn
verspeisen. Einige Passagiere scheinen allerdings empfindlicher zu
sein, darunter mindestens eine der Journalistinnen, die Alma mit
diesem kleinen Ausflug gewinnen will, und unwillkürlich ist sie ein
wenig besorgt. Toni Walsh von der Zeitung in Santa Barbara, die
bisher nicht sonderlich enthusiastisch über das Rattenprojekt und
die sich daraus ergebende Frage der Schweinebekämpfung auf Santa
Cruz berichtet hat, wirkte schon als sie an Bord kam, als hätte sie
eine schwere Nacht hinter sich. Das Boot hatte den Hafen kaum
verlassen, da setzte sie sich auf einen Platz am Fenster, legte den
Kopf auf den Tisch und schloss die Augen. Jetzt, kaum zwei
Kilometer von der Küste entfernt, steht sie abrupt auf und taumelt
hinaus zum Achterdeck, wo der Wind ihr Frühstück davontragen kann.
Kein guter Anfang. Und natürlich muss Tim, nur um sie ein bisschen
zu ärgern, die Augenbrauen hochziehen und flüstern: »Wir erleben
gerade die Entstehung eines bösen Artikels.«
Das Boot verlangsamt die Fahrt und gleitet zum
Anlegesteg, die Sonne wirft lange Lichtsäulen durch das, was vom
Nebel noch übrig ist, die Klippen ragen auf, Vögel schreien, und in
die Passagiere kommt Bewegung. Leute, die während der ganzen Fahrt
keinen Ton gesagt haben, plappern plötzlich mit hohen, aufgeregten
Stimmen, die Sechstklässler sind außer Rand und Band – Was haben
die nur davon, denkt sie, außer Zucker und Sonnenbrand? –, und auf
den Gesichtern ihrer Kollegen liegt jener seltene Ausdruck von
Freude und Entspannung, den sie sonst nur freitags nachmittags zu
sehen bekommt. Sie ist mitten unter den Leuten, hilft ihnen die
Leiter hinauf, plaudert, flachst und wird von Alicia, der blassen,
schüchternen Sekretärin, sonst so verschlossen wie eine Truhe,
deren Schlüssel verlorengegangen ist, sogar mit einem Lächeln
belohnt, und dann schüttelt sie Fausto Carillo, dem Bürgermeister
von Oxnard, die Hand – er lächelt breit und strahlend – und führt
die leicht taumelnde Toni Walsh zur Leiter.
Sie hat eine kurze Unterredung mit Wade, und
dann werden die Kühlboxen ausgeladen und auf ihren Kunststoffkufen
donnernd über die sonnengebleichten Planken des Stegs geschoben.
Alle Einzelheiten sind geklärt, das Picknick ist in Vorbereitung,
und sie muss jetzt nur noch für Ablenkung sorgen, und zwar mit dem,
wie sie hofft, Höhepunkt des Tages: dem Spaziergang. Während Wade
und ein paar andere den Grill entzünden und im Garten des
Besucherzentrums – von wo sich eine Aussicht über den Kanal bietet,
die selbst den nüchternsten, zynischsten Bürohengst beeindruckt –
Picknicktische aufstellen, gehen sie und Tim, wie verabredet,
langsam den Hügel hinauf und führen den gemeinschaftlichen
Spaziergang auf dem Rundweg an. Sie achtet darauf, langsam zu
gehen, besonders auf den Stufen, wo sie immer wieder stehenbleibt,
um auf diese oder jene Pflanze hinzuweisen und den weniger
Durchtrainierten Gelegenheit zum Verschnaufen zu geben. Wenn sie
erst einmal oben sind, verläuft der Weg ebener, und dann wird sie
reichlich Gelegenheit haben, die Grundsätze und Methoden der
Inselregeneration ins rechte Licht zu rücken, sie wird den Gästen
die Nester von Westmöwen und anderen Vogelarten zeigen, deren
Bestände sich erholen, und dabei dezent, aber dennoch deutlich
darauf hinweisen, dass all dies nur durch das Rattenprojekt möglich
geworden ist, das übrigens aufgrund eines Gerichtsbeschlusses von
einem der größten Verschmutzer dieses Ökosystems – der Montrose
Chemical Corporation, die von 1947 bis 1982 über hundert Tonnen
DDT-verseuchten Abfall in die Santa Monica Bay geleitet hat –
finanziert wurde und den Steuerzahler somit praktisch nichts
gekostet hat.
Detailversessen, wie sie ist, hat sie ihre Gäste
in wiederholten E-Mails gebeten, ihre Kleidung so zu wählen, dass
sie einem etwa vier Kilometer langen, nicht sonderlich
anspruchsvollen Spaziergang bei wechselhaftem Wetter angemessen
ist, und die meisten scheinen die Nachricht verstanden zu haben.
Sie sieht Wanderschuhe und Windjacken, Tagesrucksäcke,
Wasserflaschen und dergleichen, aber Toni Walsh, die in blutroten
Espadrilles, einer kurzen Hose aus Krepp mit Tarnmuster und einem
enganliegenden, ärmellosen Top das Schlusslicht bildet, hat bereits
die Arme verschränkt und sieht aus, als brauchte sie dringend eine
Zigarette. Nein, ruft Alma sich zur Ordnung, das ist gemein und
voreingenommen – sie weiß ja nicht mal, ob die Frau überhaupt
Raucherin ist. Aber alle Schriftsteller und Journalisten rauchen,
oder? Und trinken. Und sitzen vor ihren Bildschirmen, bis ihre
Arterien verstopft und die Muskeln atrophiert sind. Jetzt ist Tim
gerade dabei, den um ihn gescharten Gästen das Brutverhalten der
Möwen zu erklären, und erzählt, dass die Partner einander ihr Leben
lang treu bleiben und ihr Nest Jahr für Jahr an derselben Stelle
bauen, die sie so aggressiv verteidigen, dass sie sogar Küken aus
benachbarten Nestern töten, wenn diese sich auf ihr Territorium
verirren, und so winkt sie ihm nur kurz zu und geht zurück, um Toni
Walsh die zusätzliche Windjacke anzubieten, die sie eigens für
einen Fall wie diesen mitgenommen hat.
Der Weg ist zentimeterhoch mit grobkörnigem
Staub bedeckt. Die Sonne hat den Nebel aufgelöst, doch es weht ein
Nordwind, der die gefühlte Temperatur auf zehn bis zwölf Grad
senkt, und als sie sich an den Leuten vorbeischiebt (»Was ist los,
Alma?« fragt der Bürgermeister mit rotem Mondgesicht,
hervorstehenden Augen und hechelndem Mund. »Geben Sie etwa schon
auf?«) und den sanften Abhang hinunter zu Toni Walsh geht, die
mühsam einen Fuß vor den anderen setzt, zieht sie schon die
Windjacke aus dem Tagesrucksack. Obwohl ihre Absicht klar auf der
Hand liegt, blickt die Reporterin – Wie alt mag sie sein? Vierzig?
Fünfundvierzig? – sie nur verständnislos an. »Alles okay?« fragt
Alma.
»Ich?« Toni Walsh hat kein Make-up aufgetragen,
nicht einmal Lippenstift. Ihre Schuhe sind staubbedeckt. Das in
einem unnatürlichen Rotton gefärbte Haar hängt schlaff auf ihre
Schultern, brüchig und trocken wie das Gras zu ihren Füßen. »Ja,
mir geht’s prima. Ich bin’s nur nicht gewöhnt, mit einem Boot zu
fahren. Nicht morgens jedenfalls.«
»Sie sehen aus, als wäre Ihnen kalt.« Alma hält
ihr die Windjacke hin. »Die können Sie haben, wenn Sie wollen. Sie
ist überzählig, also …«
Etwas im Gesicht der Frau warnt sie, und es ist
ihr mit einemmal peinlich, als hätte sie irgendwie und
unabsichtlich versucht, sie zu bestechen oder wenigstens versucht,
sich einzuschmeicheln, obwohl das überhaupt nicht der Fall ist. Sie
ist lediglich zuvorkommend, sonst nichts, denn alle hier sind in
gewisser Weise ihre Gäste, und eine gute Gastgeberin … oder
es ist einfach ein Gebot der Höflichkeit …
»Nein, nein, danke«, sagt Toni Walsh und kramt
in ihrer Tasche nach … jawohl, nach einer Zigarette. Die sie
sich in den Mund steckt und mit windverwehtem Paffen entzündet. Auf
den Oberarmen hat sie eine Gänsehaut. Ihre Augen sind gerötet. Die
trockenen, gespaltenen Haarspitzen hängen auf ihre Schultern.
Alma lässt verlegen den Arm sinken. Das
zurückgewiesene Kleidungsstück bauscht sich im Wind und flattert
wie ein Kissenbezug auf der Wäscheleine. »Wenn Sie wollen, können
Sie auch zum Besucherzentrum zurückgehen und eine Tasse Kaffee
trinken – Wade hat den Grill bestimmt schon in Gang gebracht. Oder
Wein, wenn Sie wollen. Wir sind bald wieder zurück.«
Toni Walsh sieht über die Schulter zurück zu dem
weißen Monolithen des Leuchtturms, der vor der weiten, schimmernden
Fläche des Ozeans aus den Büschen aufragt. Das Licht ist wie
gehämmertes Kupfer, das schmale Segel einer Yacht in der Ferne
sieht aus wie ein vom Wind verwehter Stoffetzen. Der Rest der
Gruppe hat sich wieder in Bewegung gesetzt, Tim geht mit hängenden
Schultern voraus und redet immer weiter. »Ja«, sagt Toni Walsh
schließlich, spitzt die Lippen, stößt Rauch aus und sieht zu, wie
der Wind ihn fortreißt, »das klingt gut. Ich glaube, das werde ich
tun.«
Später, als sie die Gruppe eingeholt hat, um
Tims Monolog mit eigenen Kommentaren und Bemerkungen zu ergänzen,
und die Leute Gelegenheit gehabt haben, die einzigartige Schönheit
und Abgeschiedenheit dieser Insel selbst zu erleben, beginnt sie,
ihre Funktion zu vergessen, und versucht, dies alles mit den Augen
ihrer Gäste zu sehen, als wäre sie zum erstenmal hier. Geologisch
unterscheidet sich diese Landschaft überhaupt nicht von der entlang
der Küste des Festlands, wo der Highway 1 sich bei Port Hueneme
durch die Hügel windet und die mit einem Mantel aus Mädchenauge und
Coyotenbusch bedeckten Klippen vor dem Ansturm der Brecher
zurückweichen, nur dass es hier keinen Highway gibt, keine Straßen,
keine Gebäude, keinen Abfall. Und es ist still, so still, wie die
Welt vor der Erfindung des Verbrennungsmotors gewesen sein muss.
Meer und Wind bilden den Hintergrund für das Bellen der Seelöwen
und die klagenden Schreie der Möwen. Manchmal, wenn sie allein hier
draußen ist, kann sie den Puls von etwas Größerem spüren, als wäre
alles Belebte im Einklang miteinander, und dann überkommt sie ein
so herrliches Gefühl der Verbundenheit, dass sie aus sich selbst,
aus ihrem Bewusstsein heraustritt und nichts mehr einen Namen hat,
weder in Latein noch in Englisch oder irgendeiner anderen
Sprache.
Aber heute ist sie natürlich zu aufgeregt, um an
diesen Punkt oder auch nur in seine Nähe zu gelangen. Dennoch wirkt
alles frisch und ewig zugleich: Wildblumen blühen, die Aussichten
sind unverstellt, die Möwen kooperieren, Eidechsen huschen auf dem
Weg dahin, als wollten sie noch einmal besonders darauf hinweisen,
dass die Ratten fort sind und alles gut ist. Die Spaziergänger
genießen den Ausflug, das ist nicht zu übersehen – persönliche
Erfahrung ist mehr wert als tausend Presseerklärungen. War das
nicht der Grund, warum sie diesen Job angenommen hat: um der
Öffentlichkeit die Besonderheit dieser Inseln und mittelbar auch
all der anderen immer kleiner werdenden Zufluchtsorte auf der Welt,
die durch ihr Schwinden nur um so kostbarer sind, vor Augen zu
führen? Um die Menschen zu begeistern? Sie zu Fürsprechern zu
machen? Sie aufzufordern, gegen Grundstücksspekulanten und
Stadtentwickler und Leute wie Dave LaJoy zu kämpfen, die es
vielleicht gut meinen, oder jedenfalls glauben, es gut zu meinen,
deren Handeln letztlich aber einzig und allein von Dummheit und
Rachsucht bestimmt wird?
Sie hat ihr Haar gelöst. Der Wind greift hinein
und wirft es ihr ins Gesicht, und als sie den Kopf schüttelt, sind
alle Gedanken an Dave LaJoy und die anderen selbsternannten Retter
und Erlöser verschwunden. Sie schließt die Augen und hebt ihr
Gesicht der Sonne entgegen. Alles ist so vollkommen. Ein
vollkommener Tag. Sie fühlt sich wie eine Eroberin, wie eine
Königin, wie die erste Chumashfrau, die vor zehntausend Jahren hier
an Land gegangen ist. Sie schwebt. Sie ist high von diesem Moment.
Und dieses Gefühl erfüllt sie für volle dreißig Sekunden – bis sie
auf ihre Uhr sieht. Wo ist nur die Zeit geblieben? Sie sind zehn
Minuten hinter dem Zeitplan zurück, mindestens zehn Minuten.
Sie spürt den vertrauten Stachel des Unbehagens,
dreht sich um und geht zu Tim an die Spitze der Gruppe. Er hat aus
Steinen eine Plattform gebaut, so groß wie eine Ottomane, und
darauf steht er nun, die Arme in die Seiten gestemmt, in einer Hand
die Sonnenbrille. Die ausgefranste Baseballmütze, die er gestern
nacht an den Bettpfosten gehängt hat, damit er sie nicht vergisst,
ist tief in die Stirn gezogen, so dass nur die untere Hälfte seines
Gesichts der Sonne ausgesetzt ist. Er erzählt gerade von den
Lebensgewohnheiten und Vorlieben des Kaninchenkauzes, und die
Zuhörer betrachten die Erdhöhle dieses Wesens, das im Augenblick
ausgeflogen zu sein scheint. Sie räuspert sich. »Wie sieht’s mit
Ihrem Hunger aus?« fragt sie. »Ich jedenfalls könnte jetzt was
vertragen.«
O ja, die anderen auch. Natürlich. Es gibt eine
unausgesprochene Vereinbarung: Immer wenn sie aus PR-Gründen zu
einer Begehung einlädt, gibt es ein gutes und reichliches
Mittagessen und gekühlten Wein. Eine stämmige Frau mit einem
unpraktischen Strohhut, dessen Krempe der Wind so verbiegt, dass er
wie eine dieser Plastikmanschetten aussieht, die der Tierarzt einem
Hund um den Hals legt – ist sie die Frau des Bürgermeisters oder
seine Geliebte? –, wirkt besonders hungrig, und so lächelt Alma ihr
zu und sagt: »Gut, dann folgen Sie mir.«
Sie führt sie zurück zum Besucherzentrum, wo
Wade und seine Helfer, darunter auch Alicia, das Fleisch, die
Salate und alles andere auf einem langen Tisch angerichtet haben,
der durch ein gebügeltes weißes Tischtuch und eine Vase voller
Wildblumen etwas Festliches hat. Jenseits davon, nicht weit
entfernt, erhebt sich der freundliche, in der Sonne schimmernde
Leuchtturm, dahinter weitet sich das Meer in einem Geflirr von
Farben, alles ist einladend und wohltuend. Wie eine Party. Genau
so. Die Gäste kommen näher, erst noch im Gänsemarsch, dann bilden
sich schlendernde Grüppchen, man unterhält sich leise, trinkt aus
Wasserflaschen, lacht und scherzt in jenem Geist der Kameraderie,
den ein gemeinsames Naturerlebnis anscheinend stets hervorbringt.
Alma betrachtet die Szenerie mit kritischem Blick; sie bewertet
nicht, registriert aber, wer keinen Anschluss gefunden hat, und
versucht Haltungen, Stimmungen zu ermitteln: Sehen sie hungrig aus,
gelangweilt, zufrieden? Solche Sachen. Es ist bei ihr fast ein
Reflex.
Sie entdeckt Toni Walsh, ein Glas Wein in der
einen und eine Zigarette in der anderen Hand, jenseits des Grills,
wo sie mit Alicia plaudert. Alicia? Aber Alma kann ja nicht alles
steuern und kontrollieren, und was Alicia – dunkeläugig, stylisch,
etwas über zwanzig und ungefähr so gesprächig wie ein Stein – Toni
Walsh zu erzählen hat, kann nicht viel sein und wird der Sache
gewiss nicht schaden. Alicia ist nur Sekretärin, unerschütterlich
und tüchtig, wenn auch ein wenig blutleer, und von
Regenerationsökologie weiß sie nur, was sie durch Osmose
aufgenommen hat. Alma ist ganz sicher, dass es ihr völlig egal ist,
ob sie für den Park Service oder die Industrie und die
Umweltverschmutzer arbeitet.
Sie erinnert sich an einen Abend, an dem sie und
Alicia allein im Büro waren und Überstunden machten, um das
Manuskript für eine Rede zu überarbeiten, die Freeman auf einer
Konferenz unter Vorsitz des Innenministers halten sollte. Alma las
den Text laut vor, und Alicia verglich ihn mit ihrem Manuskript. Es
war eine ziemlich langweilige Tätigkeit – Freeman war nicht gerade
ein mitreißender Redner –, und irgendwann machten sie eine Pause
und gingen auf die Terrasse, um zuzusehen, wie die Nebelschwaden
sich in den Büschen verfingen. Alma bestritt den größten Teil der
Unterhaltung; sie sprach über dies und das, Alltägliches, das
nichts mit der Arbeit zu tun hatte, und wenn Alicia sich nicht
öffnen wollte, nicht einmal jetzt, da die Stimmung entspannter war
als während der Bürozeiten, wo sich die Kluft zwischen Chefin und
Untergebener vielleicht als zu groß erwies, so konnte Alma das
verstehen. Aber es war so gut wie unmöglich, diese Frau dazu zu
bringen, irgend etwas zu erzählen, über ihren Freund, ihre Eltern,
einen Film, den sie gesehen hatte. Sie sagte nur ja, nein, mh-mh,
und wenn sie irgendwelche Meinungen hatte, behielt sie diese für
sich. Doch bei dieser Gelegenheit, nur dieses eine Mal, sagte sie
etwas, ganz unvermittelt. Der Aufhänger war, wie Alma später
merkte, eine Bemerkung, die Freeman über biologische Kontrolle in
geschlossenen Ökosystemen gemacht hatte.
»Ich weiß nicht, warum wir alles töten müssen«,
sagte Alicia so leise, dass Alma sie kaum hören konnte, und
betrachtete ihre Fingernägel, die zweifarbig lackiert waren, in
Aquamarin und Brombeer. Kein Blickkontakt. Blickkontakt wäre
konfrontativ gewesen, durchsetzungsfähig, und Alicia war alles
andere als das, mehr Gefäß als Inhalt. »Was wäre, wenn wir die Welt
sich selbst überlassen würden wie damals, bevor es uns gab – als
Gott sie gemacht hat? Wäre das nicht einfacher?«
Alma war verblüfft. Diese junge Frau, diese
verschlossene Auster, hatte hier gearbeitet, geatmet und gedacht,
ohne irgend etwas aufzunehmen? Nichts? Absolut nichts? Und
vielleicht hätte sie einfühlsamer reagieren sollen, instruktiver,
mehr wie die Aufklärerin, die sie doch sein sollte, doch es war das
Ende des Gesprächs, das Ende von Alicias Versuch, ein
themenorientiertes Gespräch zu beginnen, denn Alma sagte nur: »Aber
das wäre ja genau falsch! Weil wir schließlich diejenigen sind, die
diese Tiere dorthin gebracht haben – die Schafe und Rinder und
Schweine auf Santa Cruz und Santa Rosa, die Ratten auf Anacapa, die
Katzen und Kaninchen auf Santa Barbara –, und es ist unsere
Pflicht –«, und dann begann sie zu dozieren, sie konnte
nicht anders, und Alicia sah nicht mehr vom Nest ihrer Hände auf
und sagte nie mehr etwas anderes als ja oder nein oder mh-mh.
Jedenfalls, ruft Alma sich abermals ins
Gedächtnis, ist das hier eine Party, und sie sollte sich einfach
entspannen, wenigstens heute. Sie winkt Toni Walsh und Alicia zu
und versucht ein Lächeln, schüttelt ein halbes Dutzend Hände und
wirft einen kurzen Blick auf den Tisch. Wade hat – mit Alicias
Hilfe – wie üblich gute Arbeit geleistet, und jetzt kann es
losgehen. Wunderbar. Alles bestens. Und sollte es ein Detail geben,
das sie übersehen hat, irgendein winziges Ding, das sie – da ist
sie ganz sicher – vergessen hat, als wäre sie in einem dieser
frühmorgendlichen Träume gefangen, in denen sie zum Seminar oder
zum Abflug zu spät kommt oder ihre Bluse, ihre Jeans, ihren BH
nicht finden kann, dann ist es eben nicht zu ändern. Entschlossen
nimmt sie ein leeres Glas vom Tisch, geht von einem Grüppchen zum
anderen und ermuntert die Leute, zum Büfett zu gehen. Der Wind
treibt den verheißungsvollen Geruch von Grillfleisch herüber, und
es gibt nichts Ursprünglicheres, Festlicheres: ein Tier, im Busch
erlegt, wird dem Stamm dargeboten. Man bildet eine unregelmäßige
Schlange, man nimmt Teller, Besteck und die Pappbecher, auf denen
sie bestanden hat, denn Plastik ist das Polymer des Teufels – aber
das ist ein anderes Thema, und sie verbannt den Gedanken daran,
kaum dass er aufgetaucht ist, aus ihrem Kopf.
Sie wartet, beobachtet und wird immer nervöser,
während die Leute sich am Tisch entlangschieben, ihre Teller füllen
und in Dreier- oder Vierergrüppchen stehenbleiben, um mit Wade oder
einem der anderen zu plaudern, die das Essen austeilen. Sobald auch
das letzte Paar (der Bürgermeister und seine Frau, definitiv seine
Frau, und wie heißt sie noch? Yolanda?) versorgt ist, packt sie
eine tropfnasse, eisgekühlte Flasche Piper Sonoma am Hals, als wäre
sie etwas Lebendiges, hebt sie hoch und schlägt mit einem Löffel
dagegen, so dass ein scharfes Klirren ertönt. »Darf ich um Ihre
Aufmerksamkeit bitten«, sagt sie und dreht sich um sich selbst,
damit alle sie ansehen. »Es ist Zeit für den Champagner« – sie
grinst und blickt in die Gesichter –, »denn schließlich haben wir
etwas zu feiern.«
Wade ist neben ihr, entfernt eilends die
Sicherungsdrähte an den Flaschen und lässt einen Korken nach dem
anderen knallen. Die Leute strecken ihre Pappbecher aus, während
die Flaschen herumgehen. Gelächter erklingt. Witzige Bemerkungen
werden gemacht. Freeman kommt, in der einen Hand einen Teller, in
der anderen einen Becher, auf sie zu. Die blitzende, insektenhafte
Fernsehkamera nähert sich. Alles lächelt. Als die Becher gefüllt
sind, spürt sie einen Triumph, eine Bestätigung, so durch und durch
befriedigend wie nur irgend etwas, das sie je erfahren hat. Sie
hebt ihren Becher, Freeman tut es ihr nach. Für eine herrliche
Sekunde hält sie die Hand ausgestreckt, und dann ruft sie, mit
einem Grinsen, so breit, dass sie die Worte kaum herausbringt: »Auf
Anacapa, das jetzt zu hundert Prozent rattenfrei ist!«
Auf Guam gab es keinen Champagner, denn Guam war
nicht schlangenfrei und würde es nie werden. Es waren zu viele
Spezies betroffen, es gab zuviel Vegetation, zu viele invasive
Arten, die Plage war nicht auszurotten. Ein halbes Dutzend Mal
glaubte Robert, eine Lösung gefunden zu haben; die letzte war ein
Virus, das nur in Kaltblütern überlebte, und so impfte er den
Schlangen dieses Pathogen ein und ließ sie dann frei, doch offenbar
wirkte das Mittel nicht, denn es gab keine merkliche Veränderung
des Bestands. Im Scherz sagte er, um sie auszurotten, müsse man
Atombomben über der Insel abwerfen, und selbst dann wäre er bereit
zu wetten, dass einige überleben würden, verborgen in irgendeiner
Spalte oder einem Bleirohr. Einmal, als sie ihn bei seinen
Feldstudien begleitete, fanden sie ein Stück PVC-Schlauch mit einem
Durchmesser von nicht einmal drei Zentimetern, und darin waren
sechs Schlangen, aneinandergepresst wie die Drähte in einem
Elektrokabel. Jetzt hatte er, wie aus dem Artikel hervorging, den
er ihr geschickt hatte, eine neue Hoffnung: Acetaminophen. Einfach
herzustellen, billig, der wirksame Bestandteil von Paracetamol. Ein
Blutverdünner wie Brodifacoum, jedoch weit wählerischer in der Art
seine Opfer.
Erste Experimente waren vielversprechend. Zwei
Hundert-Milligramm-Tabletten, verborgen im Kadaver einer Maus,
töteten eine Braune Nachtbaumschlange innerhalb von drei Stunden
durch innere Blutungen. Ja. Aber wie sollte das Gift verabreicht
werden? Robert und seine Kollegen warfen tausend mit Paracetamol
präparierte Mäuse über einem sorgsam abgesperrten Waldgebiet ab,
doch die meisten blieben in den Zweigen hängen und verwesten, bevor
die Schlangen sie entdecken konnten. Außerdem stellte sich die
Frage, was das Mittel bei anderen Spezies, die es aufnahmen,
anrichten würde. Und wie viele Mäuse würde man brauchen? Wie viele
Abwürfe? Schätzungen zufolge gab es über zwei Millionen Schlangen
auf der Insel, und selbst wenn man es schaffte, den enormen Betrag
aufzubringen, den eine solche Operation kosten würde, und selbst
wenn sich das Mittel als für andere Tiere unschädlich erwies, waren
die Chancen, die Braune Nachtbaumschlange gänzlich auszurotten,
ungefähr – nein, genau – gleich Null. Die Schlangen würden bleiben.
Und darum würden die einheimischen Bäume immer weniger werden, denn
es gab nicht genug Vögel, die ihre Samen verbreiteten, und die Zahl
der Spinnen und anderen Insekten würde zunehmen, und in fünfzig bis
hundert Jahren würde Guam nicht mehr Guam sein.
Die Sonne scheint ihr in die Augen. Sie muss sie
zusammenkneifen, als sie den Kopf in den Nacken legt und die kühle
Bestätigung ihres Triumphs durch die Kehle rinnen lässt. Sie wird
ihre kleine Rede halten und die Presseerklärung verteilen, und dann
wird sie sich neben Tim auf eine Decke legen und den Vögeln
zusehen, die an einem bis in die Unendlichkeit aufgerissenen Himmel
vorübergleiten. Das wird ihre Belohnung sein, ihr Friede, ihre
Freude. Sie war ein Werkzeug des Guten, sie hat die Invasoren
besiegt, die ihrer Großmutter vor all den Jahren so zugesetzt und
die Eier und Nestlinge von Vögeln gefressen haben, deren Brutgebiet
eine Welt ohne Ratten sein muss. Und diese Welt hat sie ihnen
zurückgegeben. Sie hat ihnen eine Chance gegeben. Und jetzt ist
sie, wie sie beim nächsten Erheben ihres Pappbechers verkünden
wird, bereit, unerschrocken ein neues Projekt anzugehen,
unterstützt von Freeman Lorber und all den anderen phantastischen
Leuten vom National Park Service. Die nächste, weit größere
Herausforderung heißt: Santa Cruz.
»Santa Cruz!« wird sie rufen, der hämmernde
Trochäus wird von tief in ihrer Kehle aufsteigen wie ein
Schlachtruf, und alle werden ihre Becher heben, als Ermunterung,
als Zeichen der Entschlossenheit und Unterstützung, Menschen mit
dem richtigen Bewusstsein, gebildete Menschen, überwältigt vom
Rausch des Augenblicks an diesem Ort, den sie inzwischen mehr liebt
als irgendeinen anderen, mehr als Hawaii, mehr als die Berkeley
Hills, sogar mehr als Guam. »Auf nach Santa Cruz!«
Und dann bricht der nächste Morgen an, ein
Sonntagmorgen: frisch gepresster Orangensaft, Bagel mit Frischkäse,
die Zeitung. Tim schläft aus, wann immer er kann, und heute ist es
nicht anders. Als sie zu ihrer gewohnten Zeit – halb sieben – aus
dem Bett geschlüpft ist, lag er leicht und ruhig atmend da und
wirkte, als würde er bis Mittag schlafen, und sie sah keinen Grund,
ihn zu wecken. Soll er doch schlafen. Ihr Leben ist nicht einer
dieser Weichzeichnerfilme, in denen Paare sich über Frühstückseier
und salatschüsselgroße Kaffeeschalen hinweg verliebt anlächeln und
anschließend Hand in Hand am Strand spazierengehen – nein, ihr
Leben ist echt, und sie hat eine echte Beziehung mit einem echten,
lebendigen Mann, der gern länger schläft als sie. Na und? Es tut
ihm gut. Tim hat sein Leben, und sie hat ihres. Und wenn ihre Wege
sich kreuzen, um so besser.
Draußen löst sich der Nebel bereits auf, die
Sonne steht als blasse Scheibe zwischen den Bäumen, bis sie
plötzlich einen leuchtenden Strahl durch das Fenster wirft, der die
Küche erleuchtet und die aus rostfreiem Stahl gefrästen
Bedienungsknöpfe des Herds und das Glas über dem Zifferblatt der
Uhr an der Wand aufblitzen lässt. Der Garten erwacht mit einemmal
zum Leben. Die Begonien stehen in Flammen. Morgen in Montecito. Sie
hat einen trägen Blick auf die Schlagzeile geworfen – Bush und sein
Krieg – und das Geschirr in die Maschine geräumt. Um diese Zeit
werden am Strand nur ein paar Hundebesitzer und Jogger sein, das
hofft sie jedenfalls, und so schlüpft sie in ihre Sneaker und tritt
hinaus in den Morgen.
Den Block hinunter, vorbei am Hotel und seiner
epikureischen Rasenfläche, die Luft ist kühl und noch frisch, auf
der Zufahrtsstraße ist kein Verkehr. Sie überquert die Straße
diagonal, auf dem kürzesten Weg zu der Treppe, die zum Strand
führt. Sie hat den Tidenkalender nicht im Kopf – keine Zeit für so
was, und außerdem lässt sie sich lieber überraschen –, und so freut
sie sich, als sie die weite Fläche aus nassem Sand sieht, die sich
bis zu den Untiefen mit den dunklen, vom zweimal täglich
vorbeiströmenden Wasser glattgeschliffenen Felsbuckeln erstreckt.
Ebbe. Bei Flut schlägt die Brandung an die Mauer, und Alma muss den
gepflasterten Fußweg auf der Uferbefestigung nehmen. Vom Strand aus
sieht man Santa Cruz als langen, braunen Streifen am Horizont. Hier
gibt es keine großen Wellen – die laufen parallel zur Küste durch
den Santa-Barbara-Kanal –, und darum ist dieser Strand eigentlich
nicht besonders interessant. Es ist ein hübscher Strand, kein
Zweifel, aber es gibt viele Tidentümpel, und es wird kaum etwas
angespült. Abgesehen von Abfall. Und Hundescheiße, sorgsam in
Plastiktüten verpackt. Macht sie das wahnsinnig? Und wie. Dass die
Leute etwas Natürliches, biologischen Abfall, Fäkalien, das
Endprodukt eines tierischen Prozesses in Plastik verpacken, damit
zukünftige Archäologen es in tausend Jahren aus einer ehemaligen
Müllkippe ausgraben können, ist reiner Wahnsinn. Diese Welt. Diese
verrückte, zum Untergang verurteilte Welt.
Sie steht auf dem Strand und erwägt die Optionen
– links oder rechts –, bevor sie sich entscheidet, nach rechts zu
den Klippen zu gehen, die Santa Barbara an dieser Seite
umschließen, in Richtung der Pier und des verrückten Treibens der
Zivilisation, um zu sehen, ob sie zwischen den Felsen, die im Lauf
der Jahre abgebröckelt und in die Brandung gestürzt sind,
vielleicht etwas Interessantes findet. Wenn die Ebbe besonders
mickrig ist, wie es jetzt der Fall zu sein scheint, taucht dort ein
Riff mit ein paar Tümpeln auf, in denen die üblichen Verdächtigen
sitzen: Muscheln, Seeigel, Strandschnecken, Seeanemonen und
Einsiedlerkrebse, außerdem vielleicht hin und wieder als
Überraschung ein leuchtend blau-weißer Nacktkiemer oder ein
gestrandeter Oktopus. In einem Frühjahr ist dort der Kadaver eines
jungen Grauwals angeschwemmt worden, mit Bisswunden, die auf einen
Weißen Hai hindeuteten, und im vorletzten Sommer, während der
Planktonblüte, ist sie auf eine Gruppe von Menschen gestoßen, die
ein Seelöwenjunges ins Wasser zerren wollten, das offenbar an Land
gekommen war, um sich zu wärmen.
Das Tier war deutlich unterernährt – sie
vermutete eine Domoinsäurevergiftung, weil das mit dem Plankton
aufgenommene Toxin sich in der Nahrungskette anreichert und mit der
Muttermilch in hoher Konzentration abgegeben wird –, und als sie
bei der Gruppe ankam, versuchte ein kahlrasierter junger Latino in
einem engen T-Shirt, es über die Felsen und ins Meer zu ziehen.
Ohne nachzudenken sprang sie hinzu und fiel ihm wütend in den Arm,
obgleich er deutlich größer war als sie. In ihrem Kopf ertönte ein
Schrei – wieder ein wohlmeinender Tierfreund, der genau das
Falsche, genau das Tödliche tat –, und sie spürte, wie ihr das Blut
ins Gesicht stieg. »Lassen Sie los!« brüllte sie, starr vor Wut,
und stand da wie angenagelt – ihre Hand hielt seinen Arm
umklammert, als wäre sie etwas Mechanisches aus Schrauben, Muttern
und Titanröhrchen –, bis er gehorchte. Und dann, als das
Seelöwenjunge seinem Griff entglitt und der Mann sie so
verständnislos ansah, dass sie beinahe Mitleid mit ihm bekam, fügte
sie hinzu, mit einer Stimme, so hart wie Stahl: »Treten Sie zurück,
alle!«
Sie stellte sich zwischen ihn und das Tier, das
panisch über die Felsen kriechen wollte, aber zu schwach war und
sich lediglich auf den Flossen aufrichtete und wieder zusammensank,
und in diesem Augenblick kam Leben in den Mann. Er starrte sie an
und sagte: »Wer sind Sie überhaupt?« Auf der Innenseite des linken
Handgelenks hatte er eine kleine, verblasste Tätowierung – einen
springenden Delphin –, und sein Atem roch nach Mandarinen, als wäre
er soeben durch eine Mandarinenplantage spaziert.
Interessante Frage: Wer war sie überhaupt? Das
zielte auf ihre Autorität ab: Was gab ihr das Recht, sich
einzumischen, wenn er doch zuerst hiergewesen war und nur das
Naheliegende tun wollte, wenn er seine Muskel- und Willenskraft
einsetzte, um seiner Freundin und seinen Kumpeln und vielleicht
auch den anderen Schaulustigen zu imponieren, indem er sich als
barmherziger Samariter erwies, getrieben nicht von Selbstliebe,
sondern vielmehr von Liebe für alles Lebendige? Noch heute spürt
sie den Stich der Peinlichkeit, wenn sie an ihre Antwort denkt:
»Ich bin Wissenschaftlerin.«
Na gut. Wenigstens war das Tier gerettet. Sie
rief mit ihrem Handy das Zentrum für Meeressäugetiere an, während
die Schaulustigen zurücktraten und der junge Seelöwe, der nur aus
Haut und eckigen Knochen zu bestehen schien, sich langsam
beruhigte. Jetzt, da sie auf die Felsen zugeht, verblasst die
Erinnerung an diesen Zwischenfall, denn sie entdeckt etwa
zweihundert Meter vom Strand entfernt eine Schule Rundkopfdelphine,
fünf oder sechs Exemplare. Sie sind drei bis vier Meter lang, bis
zu fünfhundert Kilo schwer und gehören zu den größten Delphinen
überhaupt; normalerweise jagen sie in tieferem Wasser, und ihr
Anblick so nah am Strand ist für Alma ein seltenes Vergnügen. Sie
geht zügig dahin und versucht, mit den in Richtung der Felsen
schwimmenden Tieren Schritt zu halten, als sie vor sich eine
Gestalt sieht, einen Mann mit zwei Hunden, der ihr entgegenkommt.
Die Hunde – Köpfe, wie mit dem Airbrush gezeichnet, abfallende
Kruppen, auf die Knochen gemalte Haut – sind Greyhounds, wie sie
jetzt sieht, und sie denkt: Ein guter Mensch, er hat sie von
einer Hunderennbahn in Florida gerettet, bis sie ihn genauer
ins Auge fasst und ihren Irrtum erkennt. Da sind die breiten
Schultern, der Unterkiefer, der zu lange Hals und irgend etwas in
seinem Gang – aber nichts davon macht ihn unverwechselbar. Es gibt
viele Männer mit einer solchen Statur, Männer, die ausschreiten,
als würden sie mit jedem Schritt irgend etwas oder irgend jemand in
den Staub treten. Nein, es sind die Dreads. Sandfarbene Dreads, die
von seinem Kopf abstehen, als würde er durch einen Windkanal
gehen.
Sie spürt einen Anflug von Panik. Er hat sie
gesehen, dessen ist sie sicher. Muss das jetzt sein, eine hässliche
Auseinandersetzung, an diesem Morgen, wo sie doch bloß einen
Strandspaziergang machen und den Augenblick genießen will? Sie
überlegt, ob sie ausweichen, die Richtung ändern, umkehren soll –
das Riff kann sie sich jederzeit ansehen, morgen oder übermorgen –,
als er ihren Namen ruft und sie erstarrt. »He, Alma!« ruft er. Die
Hunde traben vor seinen nackten, ausschreitenden Beinen wie
Abfangjäger. »Alma Boyd! Alma Boyd Takesue!«
Sie hat es Tim nie erzählt – er hat nicht
gefragt und würde es ohnehin nicht glauben; sie kann es ja selbst
kaum glauben –, aber sie hat einmal einen Abend mit Dave LaJoy
verbracht, einen katastrophalen, vorzeitig beendeten Abend. Sie hat
mit ihm zu Abend gegessen. Oder vielmehr: Sie wollte mit ihm zu
Abend essen. Sie hat ihn in einem Musikclub in der Stadt
kennengelernt, einem Café, in dem junge, unbekannte Songwriter
auftreten. Eines Abends ging sie allein dorthin – sie war neu in
der Stadt, hatte erst seit ein paar Wochen diesen Job und war
glücklich, ihn bekommen zu haben, und bis sie Tim begegnete,
sollten noch sechs Monaten vergehen –, und am Nachbartisch saß, mit
einem Freund, ein gutaussehender Mann in den Dreißigern. Er trug
ein Tournee-T-Shirt, auf dessen Rücken ein Bild von Micah Stroud
mitsamt Gitarre war, und das war in ihren Augen ein Pluspunkt, denn
damals war Micah Stroud nur Eingeweihten ein Begriff. Und ihr
gefielen sein Lächeln, seine Haltung, seine Frisur, die eine
Einstellung zum Ausdruck brachte: Es gab nicht viele Männer seines
Alters mit Dreads. Sie hielt ihn für einen Musiker oder Künstler,
einen Schriftsteller oder Fotografen vielleicht, für einen freien,
unabhängigen Geist jedenfalls. »Sie sehen so allein aus«, sagte er.
»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«
Und das tat sie. Es war ein schöner Abend. Und
als das Wochenende kam, rief er an und lud sie zum Essen ein, in
ein Restaurant ihrer Wahl. Nach Rayfield und drei Jahren auf Guam,
wo sie gelernt hatte, allein zurechtzukommen, war sie nicht
sonderlich erpicht auf eine neue Beziehung, und da sie über ihn
nicht mehr wusste als das, was er ihr selbst erzählt hatte – ihm
gehörten ein paar Elektronikläden, er war geschäftlich erfolgreich,
liebte die Natur und war Single –, entschied sie sich für ein Lokal
im Lower Village. Teuer, aber welches Restaurant war das nicht? Die
Küche war italienisch und gehoben, und sie war so oft dort gewesen,
entweder allein oder in Gesellschaft einer Kollegin, dass man sie
als Stammgast betrachtete. Oft genug jedenfalls, um von Giancarlo,
dem Besitzer und Oberkellner, besonders zuvorkommend und
fürsorglich behandelt zu werden, wenn sie mit einem Fremden dort zu
Abend aß. Der sich möglicherweise als die große Liebe ihres Lebens
erweisen würde. Oder als Katastrophe.
Es begann verheißungsvoll. Er erschien zu Fuß,
brachte Lilien vom Blumenmädchen – oder vielmehr der Blumenfrau –
um die Ecke mit und plauderte mit ihr über dies und das, während
sie die Blumen in eine Vase stellte, ihren schwarzen Spitzenschal
um die Schultern legte und ihn zur Tür führte. Sie gingen die
Straße hinunter, überquerten auf der Brücke die Schnellstraße und
schlenderten zum Lower Village. Die Unterhaltung lief leicht und
locker dahin: Er hatte ein Haus dort oben auf dem Hügel, kaum einen
Kilometer entfernt, und kam andauernd an ihrem Haus vorbei, und wie
lange wohnte sie dort eigentlich schon? Drei Monate? Wieso hatte er
sie dann noch nie gesehen? Er konnte es nicht glauben.
Wahrscheinlich hatte sie keinen Hund, denn wenn sie einen hätte,
wären sie sich bestimmt auf dem Hügel oder auf der Straße oder am
Strand begegnet. Nein, sie hatte keinen Hund – das hatte er ja
sicher bemerkt –, obwohl sie Hunde liebte, aber sie war noch dabei,
sich einzuleben, und musste beruflich oft hinaus auf die Inseln, wo
Hunde verboten waren, weil sie Krankheiten unter den Füchsen und
Skunks verbreiten konnten. Die Inseln? sagte er. Ich
liebe die Inseln.
Giancarlo begrüßte sie an der Tür und führte sie
zu einem Tisch am Fenster, und dann kam der Ober – Fredo, ein
hochgewachsener, düster blickender Chilene, der sich aus Gründen
der Authentizität einen neapolitanischen Habitus und Akzent
zugelegt hatte – mit der Weinkarte. »Was möchten Sie trinken?«
fragte LaJoy sie. »Rotwein oder Weißwein?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich mag Rotwein
lieber«, sagte sie.
»Ja«, sagte er, »ich auch. Es kommt natürlich
auf das Essen an. Und den Anlass.«
»Ich bin eigentlich nicht so schwer
zufriedenzustellen«, gestand sie. »Das kommt davon, wenn man drei
Jahre auf Guam verbracht hat.« Sie lachte sarkastisch. »Auf Guam
trinkt man, was man kriegen kann. Hauptsächlich Sake. Und Whiskey.
Oder wie er dort heißt: Whieski. Whieski Soda. Und Gin natürlich.
Gin Tonic, das alte Allheilmittel.«
Darauf hatte er nicht viel zu sagen. Er
vertiefte sich in die Weinkarte, und seine Dreads fielen ihm in die
Stirn, so dass sie das rosige Mosaik seiner Kopfhaut sehen konnte.
Er fuhr mit dem Finger bis zum Fuß der Liste und sah auf zu Fredo.
»Schicken Sie mir den Sommelier.«
Fredo stand da, die Hände auf den Rücken gelegt,
korrekt wie ein Bestattungsunternehmer. »Leider«, sagte er und
kämpfte mit seinem Akzent, »haben wir eigentlich keinen
Sommelier.«
»Eigentlich?« LaJoy – Dave – sah ihn
ungläubig und unwillig an. »Was soll das denn heißen? Haben Sie
einen Sommelier oder nicht? Oder werden die Weine auf dieser Karte
von der Zahnfee ausgeschenkt?«
»Nein, Sir, dafür sind ich«, begann Fredo, »oder
Giancarlo –«
»Dann holen Sie ihn her.«
Fredo verbeugte sich knapp und verschwand. Als
er fort war, biss LaJoy in ein Grissino, als wäre es aus Holz, und
sah sie an. »Amateure«, sagte er. »Ich hasse Amateure.«
Sie sagte seinen Namen, langsam und mit sanftem
Tadel. »Sie tun ihr Bestes. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal hier
waren, aber das Essen ist ausgezeichnet, wirklich erstklassig.« Sie
hielt inne. »Was haben Sie denn gesucht? Auf der Weinkarte, meine
ich.«
Er ignorierte sie und starrte an ihr vorbei auf
Giancarlo, der durch das gutbesetzte Restaurant ging – die Gäste
grüßten ihn, schüttelten ihm die Hand, badeten in seinem Lächeln
und schätzten sich glücklich, mit dem Besitzer des Lokals auf so
vertrautem Fuß zu stehen. Und Giancarlo füllte seine Rolle
hervorragend aus: Er war zweiundfünfzig, groß, in Turin geboren und
aufgewachsen, er hatte ein offenes Gesicht, kleidete sich in
schiefergraue italienische Seidenanzüge und trug das Haar
zurückgekämmt wie ein Mafia-Don. Lächelnd trat er an ihren Tisch.
»Alma«, sagte er und wiederholte ihren Namen, als er sich verbeugte
und ihre Hand küsste. »Was kann ich für Sie und Ihren charmanten
Begleiter tun?«
»Sie sind der Sommelier?« LaJoy funkelte ihn an.
»Ich möchte eine Flasche Brunello di Montalcino Riserva, 1988 – den
Castello Ruggiero.« Er zeigte auf das Fußende der letzten Seite der
ledergebundenen Weinkarte und hob dann warnend den Finger. »Haben
Sie mehr als eine Flasche davon? Denn es gibt nichts
Enttäuschenderes, als einen erstklassigen Wein zu bestellen und
nach der ersten Flasche zu merken, dass danach nur noch
Zweitklassiges im Keller ist.«
»Allerdings«, sagte Giancarlo als Antwort auf
beide Fragen. »Das ist einer unserer seltensten und besten Weine,
und ich bin ganz sicher, dass wir mehrere Flaschen davon haben.«
Und dann versuchte er ein Witzchen, das an LaJoy allerdings
verloren war: »Sollten Sie sie alle trinken, würden Sie mich
glücklich, vielleicht sogar überglücklich machen, und ich würde
persönlich nach Hause fahren und Ihnen einige weitere Flaschen aus
meinem privaten Keller bringen.«
Alma hatte währenddessen nicht aufgehört zu
lächeln, doch sie sah LaJoy – Dave – mit einemmal in einem neuen
Licht. Er war erregt, das war deutlich, aber warum? War es eine Art
Machtspiel, bei dem er erst Fredo und nun auch noch Giancarlo zur
Schnecke machen wollte, als könnte er ihr damit imponieren? Aber
Giancarlo ging, um den Wein zu holen, einen Wein, der, wie ihr ein
verstohlener Blick auf die Karte verriet, dreihundertfünfundzwanzig
Dollar die Flasche kostete, und sie versuchte, die Sache zu
überspielen. »Ich bin sicher, es ist ein guter Wein«, sagte sie und
zwang sich zu einem Lächeln ganz anderer Art, einem Lächeln aus
zwei Teilen Zuversicht und einem Teil Unbehagen.
Er sagte nur: »Das will ich auch hoffen. Bei
diesen Preisen.«
Und dann war Giancarlo wieder da und ließ es
sich nicht nehmen, die Flasche persönlich und auf eine weiße
Serviette gebettet zu präsentieren. Er hielt sie LaJoy zur
Begutachtung hin, öffnete sie und legte den Korken diskret auf ein
Tellerchen. LaJoy nahm ihn, schnupperte daran, machte ein
säuerliches Gesicht und legte ihn wieder hin. Es folgte das Ritual
der Verkostung: LaJoy hob das Glas an die Nase, hielt es ins Licht
und ließ den Wein kreisen, um ihm Luft zuzuführen – er war dunkel
und schwer wie das Blut auf dem Boden der Styroporschalen mit
Steaks im Kühlregal des Supermarkts, Steaks, die sie seit ihrer
Teenagerzeit nicht mehr gesehen oder gar gegessen hatte, denn das
war gegen ihre Prinzipien –, und dann schließlich nahm er einen
Schluck.
Sie sah ihn erwartungsvoll an, ebenso wie
Giancarlo, der beflissen und überkorrekt darauf wartete,
einschenken zu dürfen. Doch LaJoy verzog das Gesicht. Er nahm einen
zweiten Schluck, bewegte den Wein im Mund hin und her und spuckte
ihn dann zurück ins Glas. »Fusel«, erklärte er.
Giancarlo sagte nichts. Er stand hoch
aufgerichtet da, hinter ihm das Restaurant mit den hübsch gedeckten
Tischen und der gedämpften Konversation der Gäste, mit den von
diskreten Scheinwerfern beleuchteten Gemälden an den ockerfarbenen
Wänden, mit den Topfpalmen und den zarten Farnen – seine Existenz,
sein Stolz, sein Herzblut.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Auf jeden
Fall konnte sie nicht verlangen – oder auch nur darum bitten –, den
Wein ebenfalls probieren zu dürfen. LaJoy war der Experte. Er war
derjenige, der zahlte – er hatte sie eingeladen –, und so musste
sie sich fügen. Aber er war zweifellos unhöflich, nein, ungehobelt,
und zwar ohne jeden Grund. Absolut ungehobelt. Er sagte nichts
Abmilderndes, weder Entschuldigung, es tut mir sehr leid, und
ich weiß, dass das nur selten vorkommt, aber … noch Er muss
gekippt sein, sondern machte nur eine Bewegung aus dem
Handgelenk, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen, und
vertiefte sich abermals in die Weinkarte.
Diesmal bestellte er einen französischen Wein,
den zweitteuersten auf der Karte, und diesmal war es Fredo, der die
Flasche präsentierte und, tadellos wie immer, das Ritual des
Öffnens, der Begutachtung des Korkens und der Verkostung
zelebrierte. Und diesmal sagte LaJoy mit angeekelt verzogenenm
Mund, ohne Fredo zu beachten, den Blick fest auf Alma gerichtet:
»Essig.« Und als er dann zu Fredo aufsah, brannte in seinen Augen
jener fanatische Hass, den man in denen von Revolutionären sieht,
und er sagte sehr langsam und deutlich, als müsste er sich
beherrschen: »Bringen Sie mir noch mal die Weinkarte.«
Das war der Augenblick, in dem sie nach ihren
Sachen griff, nach ihrer Handtasche, dem Schal, der Brille, die sie
kurz aufgesetzt hatte, um die Preise auf der Weinkarte entziffern
zu können, der Weinkarte, die LaJoy ihr nicht angeboten hatte, als
würde ihre Meinung – die Meinung einer Saketrinkerin – nicht
zählen, und es war ihr egal, ob es ihre erste Verabredung war oder
nicht. Sie schob den Stuhl zurück, als Giancarlo mit ernstem
Gesicht an ihren Tisch trat, um ihnen oder vielmehr ihr und
diesem gereizten, selbstgefälligen, unsensiblen, verkniffen
lächelnden Angeber, in dessen Gesellschaft sie sich leider befand,
zu sagen, es tue ihm sehr, sehr leid, aber er könne nicht Flasche
um Flasche seiner besten Weine öffnen, wenn diese dann sogleich
wieder zurückgeschickt würden.
Mit hängenden Schultern und brennendem Gesicht
ging sie bereits zur Tür, als LaJoy – nicht Dave, sondern nur LaJoy
und nie mehr anders – sagte: »Tja, scheiß drauf, dann gehen wir
eben woandershin. In ein richtiges Restaurant. In einen Laden« –
sie stellte sich vor, wie er über dem Tisch gestikulierte und ihm
beim Aufstehen die Serviette vom Schoß glitt – »mit Klasse. Wo man
was von Wein versteht.« Sie stürzte hinaus in den Abend und wandte
sich nach rechts, fort von ihrer Wohnung, entgegengesetzt zu der
Richtung, aus der sie gekommen waren, und sie bewegte sich rasch,
hielt sich in den Schatten und hoffte leise fluchend, dass er sie
nicht einholen würde.
Und jetzt ist er hier, an ihrem Strand,
und kommt mit demselben hasserfüllten, selbstgerechten Blick auf
sie zu, aber sie wird sich von ihm nicht den Morgen verderben
lassen – sie wird ihn ignorieren, ja, das wird sie, sie wird an ihm
vorbeigehen, als wäre er gar nicht vorhanden. Er ist noch zwanzig
Meter entfernt, zehn, fünf, und die Hunde, straff gespannte Haut
über Knochen und Sehnen, schnüffeln an ihr und stecken ihre
überzüchteten Schnauzen in die Falten ihrer Jeans. »Hübscher
Artikel in der Zeitung heute«, sagt er und bleibt genau vor ihr
stehen, hämisch und schadenfroh. »Sagen Sie bloß, Sie haben ihn
nicht gelesen. Über die kleine Feier gestern. Nein? He, bleiben Sie
stehen, ich rede mit Ihnen!«
Sie ist an ihm vorbei, ihr Herz klopft heftig –
Artikel? Welcher Artikel? –, und sie richtet den Blick auf die
Felsen dort drüben und konzentriert sich darauf, ruhig
weiterzugehen, denn sie wird nicht nachgeben, sie wird ihm nicht
die Befriedigung zuteil werden lassen, sie rennen oder auch nur
ihre Schritte beschleunigen zu sehen.
»He!« ruft er und wirbelt herum, um ihr die
Worte nachzuschleudern, »he, Alma Boyd Takesue, Dr. Alma –
wollen Sie nicht hören, was ich zu sagen habe? Oder wollen Sie es
bestreiten? Sehen Sie mal im zweiten Teil nach, da steht ein
hübscher Artikel von Toni Walsh. Mit einer tollen Überschrift:
Die wahren Schädlinge auf Anacapa. Klingt doch gut,
oder?«
Zwischen ihnen liegen jetzt dreißig Meter. Der
Sand unter ihren Füßen ist feucht, die Wellen haben sich ganz
zurückgezogen und sind so sanft wie in einer Badewanne. Vor ihr
laufen Strandvögel herum. In der Ferne kommt ein weiterer
Hundebesitzer in Sicht. Sie weiß: Der Morgen ist ihr verdorben. Sie
kann jetzt nur noch daran denken, dass sie nach Hause gehen und
diesen Artikel lesen muss, diesen Nagel im Sarg ihrer Bemühungen,
die Gunst des Santa Barbara Press Citizen zu gewinnen. Wie
sie bald feststellen wird, sind Toni Walshs erlauchter Meinung
zufolge die Mitarbeiter des Park Service im allgemeinen und Dr.
Takesue im besonderen die wahren Schädlinge auf Anacapa, denn sie
glauben, sie könnten die Natur manipulieren und die Inseln in einen
Themenpark verwandeln. Und Sickafoose, Tim Sickafoose, der
beratende Ornithologe, der es doch eigentlich besser wissen müsste
und mit einem Alkenküken in der behandschuhten Hand für kitschige
Fotos posiert.
»Ich werde mit euch Schlitten fahren!« brüllt er
ihr nach, und normalerweise würde sie über dieses Klischee lachen,
doch es ist nichts Komisches an diesem kranken, hasserfüllten Mann,
an seinen Zielen und der Schlacht, die bevorsteht. »Auf Santa Cruz
kommt ihr damit nicht durch! Wir sehen uns vor Gericht, wartet’s
nur ab!«
Sie fährt herum. Er steht da, in seinem T-Shirt,
aufgeblasen, wütend, mit rotem Gesicht, und fordert sie heraus wie
ein Schulhofschläger. Die Hunde haben sich von ihm entfernt,
schnüffeln an einem Felsen am Wasser und werden gleich die Beine
heben. Ein paar Joggerinnen – einheitliche weiße Shorts und
Sonnenmützen, Arme und Beine in verschwommener Bewegung, die
Gesichter ausradiert von der Sonne – nähern sich ihm von hinten,
während ihr eigener Hund, ein zottiger Golden Retriever mit grauer
Schnauze, voraus und zu den Greyhounds rennt. Sie sollte sich nicht
darauf einlassen, das weiß sie, aber sie kann nicht anders. Das
Wort »Gericht« ist schuld. Gericht. Er will sie vor Gericht zerren,
wie er es im Fall der Rattenbekämpfung auf Anacapa getan hat, aber
das ist eine leere Drohung, denn die Richter wissen, wer im Recht
ist, wer den Interessen der Allgemeinheit dient und wer
nicht.
Aber sie wird ihn vor Gericht sehen, in
zwei Wochen. Und nicht sie wird diejenige sein, die sich windet –
nein, sie wird im Zuschauerraum sitzen, wenn Tim gegen ihn aussagt,
sie wird erleben, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Denn
nun, da alle Verzögerungstaktiken, die seine Anwälte aus den Tiefen
der juristischen Fachliteratur hervorzaubern konnten, ausgeschöpft
und alle Fluchtwege verstellt sind, nun, da er den Konsequenzen
seines Tuns nicht mehr entkommen kann, wird er wegen zweier
Vergehen vor einem Bundesgericht erscheinen und erklären müssen,
was er an jenem grauen, stürmischen Tag, an dem Tim ihn zur Rede
gestellt und mit Unterstützung der Küstenwache festgenommen hat,
auf Anacapa zu suchen hatte.
»Genau!« schreit sie und ignoriert die
erschrockenen Blicke der Joggerinnen und die Hunde, die sich ob der
Heftigkeit in ihrer Stimme verblüfft nach ihr umsehen. »Wir sehen
uns vor Gericht!«