WILLOWS CANYON
Die Drahtschneidezangen, fünf Stück, bezahlt er
in bar. Er steht mit diversen Hausfrauen, Gewohnheitstrinkern und
rüstigen Rentnern in der Kassenschlange des Baumarkts, des
anonymsten Ortes der Welt, und niemand sieht ihn zweimal an. Oder
vielleicht auch doch, wegen seiner Dreads, aber was soll’s? Er ist
ein Bürger wie alle anderen, ein Mann mit Bargeld, der für eine
bestimmte Arbeit ein bestimmtes Werkzeug braucht und ohne Murren
wartet, bis er an der Reihe ist, obwohl alle anderen Kunden vor ihm
– sieben, um genau zu sein – Wagen vor sich herschieben, die
aussehen wie Häuser auf Rädern, vollgepackt mit allem möglichen
Mist: Klopapierhalter aus rostfreiem Stahl, Schubladeneinsätze,
elektrische Insektenvernichter, Gartenzwerge. Die dicke, träge Frau
an der Kasse bewegt den Scanner, als wäre es eine Hantel. Die
Lautsprecher plärren unentwegt. Flugzeuge – der Flughafen ist um
die Ecke – donnern in immer kürzeren Abständen über den Himmel.
Alle wollen ein bisschen herumstehen und plaudern.
Achtzehn Minuten. Achtzehn Minuten für einen
simplen Einkauf, und zwar weil Kundendienst diesen Leuten als
Konzept so fremd ist wie ein anständiger Preis für ein anständiges
Produkt. Er hasst Einkaufszentren wie dieses – als kleiner
Einzelhändler muss er das auch, da Costco und Best Buy und der
ganze Rest ihn doch ständig unterbieten –, und er wäre zu dem
kleinen Haushaltswarengeschäft im Upper Village gegangen, anstatt
den ganzen Weg hier hinaus zu fahren und mitten in dieser
Asphaltwüste zu parken, wenn man ihn dort nicht kennen würde, gut
kennen würde, und bei diesem besonderen Einkauf kommt es ihm vor
allem auf Anonymität an. Und das heißt: Willkommen bei Home
Depot, verehrte Kunden.
Auf dem Rückweg zum Yachthafen legt er in
Gedanken Listen an und geht noch einmal alle Details durch, um
sicher zu sein, dass er nichts vergessen hat. Die schwarze Mütze
liegt neben ihm auf dem Beifahrersitz, die Sonnenbrille ist auf
seiner Nase, der Sunblocker im Tagesrucksack, zusammen mit einem
Sweatshirt, für den Fall, dass es kühl wird, und einem
Plastikponcho gegen den Regen, denn der ist vorhergesagt wie immer
im Februar, dem einen Monat im Jahr, in dem man sich auf Regen
verlassen kann. Als Verpflegung hat er drei Sandwiches – zwei mit
Erdnussbutter und eins mit Käse und Tomate – und außerdem eine Tüte
Studentenfutter und zwei Müsliriegel für extra Energie, dazu eine
Literflasche Wasser, denn dem Wasser auf der Insel kann man nicht
trauen, besonders jetzt, wo überall verwesende Schweinekadaver
herumliegen. Einen Kompass hat er auch, obwohl er nicht genau weiß,
wie man ihn benutzt, und ihn ohnehin nicht brauchen wird – den
Canyon hinauf und am Zaun entlang, das ist sein Plan, und das wird
er den anderen ebenfalls einschärfen. Denn was immer ihr tut,
verlauft euch nicht. Wer sich verläuft, kann nach Hause
schwimmen.
Er parkt an seinem üblichen Platz, weit weg von
den engen Parklücken, wo einem die Leute im Nu Türen und Kotflügel
verkratzen, ohne sich was dabei zu denken, und in gehörigem Abstand
zu den Eukalyptusbäumen am Rand, die zu dieser Jahreszeit manchmal
einen Ast verlieren, und das ist das letzte, was er braucht: eine
zerschmetterte Windschutzscheibe, wenn er müde und erschöpft vom
Boot kommt. Seine Codekarte hat Wilson – er will nicht, dass die
anderen vor dem Tor auf ihn warten und womöglich auffallen, und
darum hat er Wilson gesagt, er soll sie schon mal aufs Boot
bringen. Jetzt klappt er das Handy auf, während er den Rucksack
nimmt und die Mütze tief ins Gesicht zieht. Es ist kurz nach zehn,
und das Wetter hält. Vom Meer weht ein leichter Wind, Wolken
treiben vorbei, die Sonne ist mal da, mal wieder weg, wie eine
schlechte Funkverbindung, und er wählt Wilsons Nummer und denkt,
dass Regen eigentlich ganz gut wäre, denn dann bleiben die
Schweinemörder im Trockenen, und ein Boot kann unentdeckt zur Insel
hinausfahren. Also: Soll es ruhig regnen. Soll es wie aus Eimern
gießen.
Wilson antwortet nach dem ersten Läuten.
»Ja?«
»Ich bin in zwei Minuten am Tor. Sind alle
da?«
»So ziemlich.«
»So ziemlich? Scheiße, was soll das heißen: so
ziemlich? Sind sie da oder nicht?« Er schreitet aus, hat es jetzt
eilig, das Meer ist schwarz und ölig und schlägt mit pissgelbem
Schaum an die Helling am Ende des Parkplatzes, was bedeutet, dass
es jenseits des Wellenbrechers tückisch sein wird. »Die Reporterin,
stimmt’s? Sag nicht –«
»Sie hat angerufen und gesagt, sie kommt etwas
später.«
»Scheiße! Ich hab’s ihr gesagt. Ich hab sie
gewarnt.« Er will sich gerade hineinsteigern, als er um die Ecke
biegt, wo die Toiletten sind, und da ist sie: Toni Walsh, in einer
grellrosaroten Regenjacke und dazu passenden Sandalen, ihr dünnes,
quasirotes Haar weht ihr ins Gesicht, und sie steht vor dem
verschlossenen Tor und sieht verwirrt aus. »Hallo«, ruft er und
blickt sich rasch um, ob jemand sie beide sieht (aber es sieht sie
niemand: Der Hafen ist praktisch verlassen, denn wie alle wissen,
kommt ein Sturm auf). »Hallo, Toni.« Und während er auf sie zugeht
und ein Lächeln fabriziert, fällt ihm eine harmlose Phrase ein.
»Alles bereit?«
Der Blick, mit dem sie ihn ansieht, lässt ihn
zweifeln: als hätte sie ihn noch nie gesehen, als hätten sie das
alles nicht am Telefon geplant und sich zweimal auf der hinteren
Terrasse des Longboard getroffen, um Informationen über den
Fortgang des Schlachtens und den Antrag auf einstweilige Verfügung
auszutauschen, den Phil Schwartz in seinem Namen eingereicht hat
(und der offenbar nicht mehr bewirkt hat als ein leises
richterliches Stirnrunzeln). Der Wind verweht ihr Haar, und er
sieht, dass sie sich ein Pflaster gegen Seekrankheit auf den Hals
geklebt hat, knapp unterhalb des Ohrläppchens – es sieht aus wie
ein fleischfarbener Ohrschmuck. Wird sie das hier hinkriegen? Ihre
Iriden haben die Farbe von Schlick, das Weiße ist rotgeädert, in
den Wimpern klumpt die Wimperntusche von gestern. Mit der einen
Hand umklammert sie ihr Handy, mit der anderen eine rosafarbene
Designertasche, so groß wie ein Koffer.
Ein paar lange Sekunden starrt sie ihn einfach
an. Eine Strähne ihres lachsfarbenen Haars klebt an ihrem
Mundwinkel.
»Haben Sie Ihre Kamera dabei?« fragt er ohne
weitere Formalitäten. »Sie wollen doch bestimmt Fotos machen, um
das alles zu dokumentieren.«
»Um sieben sind wir wieder zurück, oder? Haben
Sie nicht was von sieben gesagt?«
»Ja, so ungefähr. Sieben, halb acht. Ich
schätze, wir werden gegen halb zwölf da sein, dann gehen Sie mit
uns den Canyon hinauf, sehen sich alles an, machen ein paar Fotos,
und dann tun wir, was wir tun müssen, und sind bei Einbruch der
Dunkelheit wieder an Bord. Und dann noch mal zweieinhalb Stunden
für den Rückweg. In etwa.«
»Gut«, sagt sie, »gut.« Kein Lächeln, kein
Hallo, kein Danke für den heißen Tip, keine Wanderstiefel,
Herrgott noch mal. »Ich habe nämlich eine Verabredung« – und
hier kommt dann doch ein Lächeln, ein kurzes Zusammenpressen der
Lippen, ein leises Flackern der Augen, das darauf hindeutet, dass
hinter ihnen doch ein Gehirn arbeitet – »so um acht. Und vorher
muss ich noch nach Hause und mich umziehen.«
Er fragt sich, was er dazu sagen soll. Gutes
Zureden gehört nicht zu seinen Stärken, ebensowenig wie freundlich
sein und ein bisschen plaudern, wenn er unter Druck steht, aber da
kommt Wilson die Rampe hinauf, und im nächsten Augenblick öffnet
sich das Tor, und sie sind drinnen, klick: Ab hier nur für
Bootseigner. Wilson zeigt ihm den gereckten Daumen, als wären
Reporterinnen mit rosaroten Regenjacken, nikotingelben Fingern und
offenen Sandalen ihre üblichen Kampfgenossen, und dann gehen sie
über den Steg zum Boot, wo die anderen bereits in der Kajüte sitzen
und Kaffee trinken. Und warten.
Das Boot unter ihnen bockt und schlingert,
während er ihr in der engen Kajüte den Rest der Mannschaft
vorstellt. »Wilson kennen Sie ja schon«, sagt er, »und das sind
Josh, Kelly, Cameron – ich meine Cammy – und Suzanne.«
Toni Walsh steht unbeholfen und mit hängenden
Schultern da und nickt einem nach dem anderen zu – den
Freiwilligen, wie er sie nennt, alle um die Zwanzig; Josh ist
angehender Tätowierer und entschiedener Verfechter von
Vollwertkost, die Frauen stammen alle aus demselben
Umweltstudienseminar am City College –, bevor sie die Regenjacke
aufknöpft und einen tief ausgeschnittenen schwarzen
Kaschmirpullover enthüllt, unter dem sie einen schwarzen BH trägt.
»Keine Sorge«, sagt sie, »die Namen werden geändert.«
Josh – er trägt ein enges, ärmelloses T-Shirt,
damit man seine Tätowierungen sehen kann, irgendwelche Drachen, die
wie ineinander verschlungene Regenwürmer an seinen Armen
hinaufkriechen – rückt auf dem umgedrehten Eimer, der ihm als
Hocker dient, näher an den Tisch und bedenkt sie mit einem langen
verächtlichen Blick. Er ist keine eins siebzig groß und muskulös,
aber auf die drahtige Art jener Männer, die zu mager sind, um
richtige Muskeln zu entwickeln, und man sieht auf den ersten Blick,
dass er sich für einen harten Burschen hält – was es nur um so
leichter macht, ihn zu manipulieren. »Scheiße«, sagt er, »von mir
aus können Sie meinen Namen in der Schlagzeile drucken, in den
größten Buchstaben, die Sie haben – Joshua Holyrood Miller, mit
zwei O –, denn ich bin total entschlossen, diesem Schlachten ein
Ende zu machen. Wie wir alle. Stimmt’s, Cammy?«
Keine der Frauen ist besonders ansehnlich. Nicht
dass er Interesse hätte – es sind im Grunde noch Kinder, und er hat
Anise, die mehr als genug für ihn ist, eigentlich sogar zuviel –,
aber bei Cameron, Cammy, einer mageren Blondine mit braunen Augen
und gelocktem, schulterlangem Haar, die den Eindruck macht, als
wüsste sie sehr viel mehr, als man vermuten würde, blitzt manchmal
etwas auf. »Klar«, sagt sie und wirft einen raschen Blick in die
Runde, »klar. Aber trotzdem möchte ich nicht mit meinem Namen in
die Zeitung.«
Und das war’s. Alles schweigt. Als sie noch auf
dem Steg waren, konnte er ihre Stimmen hören, ein angeregtes
Gespräch, Gelächter, die Aufgekratztheit der Krieger vor der
Schlacht, aber Toni Walsh hat es geschafft, diese Stimmung zu
zerstören. Macht nichts. Sie können während der Überfahrt Frieden
schließen, und ob sie eine gemeinsame Basis finden oder nicht, ist
ihm vollkommen egal. Er ist kein Sozialarbeiter, und das hier ist
kein Kreuzfahrtschiff. Gleichmütig sieht er zu, wie Toni Walsh ihre
Tasche auf den Tisch stellt und sich vorsichtig neben Cammy auf die
Bank setzt.
»Okay«, sagt er, »alles in Ordnung? Können wir?«
Er ist schon auf der Treppe zum Cockpit, hält dann aber inne. »Ach
ja, bevor ich’s vergesse.« Er holt die Drahtzangen aus der
Plastiktüte des Baumarkts hervor und legt sie auf den Tisch, eine
für jeden außer Toni Walsh, die nur als Beobachterin dabei ist.
»Steckt die so ein, dass ihr sie griffbereit habt. Und jetzt
entspannt euch – die Überfahrt dauert zweieinhalb Stunden. Wenn es
rauh wird, kotzt bitte nicht in die Kajüte, sondern über die
Reling.«
Angesichts des Himmels und des wilden Schaukelns
der vertäuten Boote liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es rauh
werden wird, natürlich bei etwa hundert Prozent – wie rauh, zeigt
sich, als sie aus dem Schutz des Wellenbrechers herausfahren. Der
Wind fegt aus Westen durch den Kanal, die Wellenkämme sind weiß, so
weit das Auge reicht, und das Boot wälzt sich ziemlich aggressiv
durch das ganze Spektrum seiner möglichen Bewegungen, von links
nach rechts und wieder zurück, es durchschneidet die Wellenkämme
mit schwerelosem Aufbäumen und hartem Stampfen. Wilson kümmert es
nicht – er ist eingeschlafen, noch bevor sie den Hafen verlassen
haben –, aber die anderen sehen ziemlich grün um die Nase aus. Und
auch er muss dagegen ankämpfen, gegen das Gefühl, dass etwas
Fremdes in seine Kehle hinaufkriecht, während sein Magen tiefer und
tiefer sinkt, aber immerhin hat Regen eingesetzt, als die Insel
endlich in Sicht kommt, und zwar kein leises Nieseln, sondern ein
starker grauer heftiger Regen: Er fegt in bauschigen Schwaden über
das Wasser, die wie mythische Wesen erscheinen, wie Götter und
Engel und Teufel, und alles auslöschen. Gut. Schön. Will irgend
jemand heute auf Schweinejagd gehen? Wohl eher nicht.
In der Kajüte rührt sich was, als er den Motor
ausschaltet und den Anker fallen lässt. Sie sind in der Willows
Bay, auf der Südseite der Insel, an einem Platz, den er wegen
seiner Abgelegenheit ausgesucht hat und weil er ihn gut kennt. Hier
hat er vor drei Monaten im hellen Tageslicht die beiden Waschbären
freigelassen. Genau hier ist er mit der Paladin vor Anker
gegangen und hat dann mit dem Schlauchboot übergesetzt. Beim
Verladen erwachten die Tiere zum Leben und warfen sich in dem Käfig
unter der Plane hin und her, und Gott sei Dank war wenig Seegang,
sonst wären sie ertrunken. Sie wussten nicht, was mit ihnen
geschah, sie begriffen nicht, dass sie über das Meer fuhren, ja sie
hatten nicht einmal eine Vorstellung vom Meer, sie konnten nicht
wissen, dass er ihnen nichts tun wollte und ein völlig unberührter
Lebensraum sie erwartete, Mutter und Sohn, und vielleicht
vermehrten sie sich, so dass, Inzucht oder nicht, eine ganz neue
genetische Linie entstand, und vielleicht, dachte er, als er den
Käfig an Land gebracht und hinter den Weiden versteckt hatte, die
dieser Bucht ihren Namen gegeben hatten, vielleicht würde er ja
noch mehr fangen. Ein großes Männchen, ein zweites Weibchen? Das
würde Dr. Alma ziemlich verwirren, was? Eine ganz neue Tierart hier
draußen auf der Insel – und warum auch nicht? Ihre kostbaren Füchse
und Skunks und Eidechsen hatten es ja auch nur durch Zufall
hierhergeschafft, waren bei einem Regenguss wie diesem aus einem
der Canyons auf dem Festland herausgespült und mit irgendwelchem
Treibgut angeschwemmt worden, und es war nichts weiter als eine
Laune des Schicksals, dass keine Waschbären dabeigewesen
waren.
Er zog die Plane beiseite und sah die beiden eng
aneinandergedrückt kauern, die Augen auf ihn gerichtet und in
Erwartung des Schlimmsten, und dann klappte er die Tür auf und zog
sich zurück, versteckte sich hinter einem Busch. Er sah, wie sie
die Nasen hoben, einen Moment reglos verharrten und mit einemmal
losrannten. Zwei Fellknäuel, die so schnell und gründlich
verschwanden, dass es war, als hätte es sie nie gegeben. Auch das
war ein Zufall. Aber er, Dave LaJoy – Bürger, Hausbesitzer,
Aktivist, vor Gericht besiegt und als Demonstrant ignoriert –, war
das ausführende Organ dieser Freisetzung, und das war kein Zufall.
Er war ein Lebenspender, ja, das war er, der Retter dieser Tiere,
die zu töten der Animal-Control-Mann ihm nahegelegt hatte.
»Also, zwei Fahrten?« will Wilson wissen.
Alle sind jetzt an Deck, das Beiboot ist im
Wasser und zerrt an der Leine, es regnet beständig. Aller Augen
sind auf ihn gerichtet, denn er hat das Kommando, er ist der
Kapitän, er hat die Karte, auf der (dank Alicia) die Zäune
eingezeichnet sind, und er ist derjenige, der den Weg durch den
Canyon kennt. Er verharrt kurz und sieht an ihnen vorbei zum
Strand, zu diesem dunkel klaffenden Riss über der Gischt der
Brandung, und alle wenden den Kopf und folgen seinem Blick. Es ist
eine wilde Szenerie: der flache Bogen des Strandes, an beiden
Seiten begrenzt von aufragenden Pfeilern aus glattem nassem Fels,
die sich zu den Bergkämmen dahinter erheben, der Regen, der Nieten
ins Meer schlägt, der niedrig hängende Himmel, unter dem sich
nichts regt, nicht einmal Möwen.
»Ja, klar«, hört er sich sagen, damit alle es
hören können, während er in Gedanken bereits an Land gesprungen ist
und den Canyon hinaufläuft. »Gute Idee. Wir wollen das Ding nicht
überladen, nicht bei diesem Wetter.«
Aber das ist alles nur Show, denn Wilson und er
haben die Details schon besprochen, als sie die Landzunge umrundet
haben und in Willows Cove eingefahren sind. Einer muss auf dem Boot
bleiben, und das wird Wilson sein, denn in dieser Truppe von
Amateuren ist er der einzige, auf den Verlass ist. Und das
bedeutet, dass Wilson sie übersetzen wird, drei Leute beim ersten-
und drei beim zweitenmal, und danach wird er das Beiboot wieder an
Bord holen, für den Fall, dass jemand hier herumstreicht.
»Ich werde sagen, ich sehe mir die schöne Gegend
an«, hat Wilson gewitzelt, während die anderen unten ihr Zeug
zusammenpackten. »Oder besser noch: Ich suche nach einem schönen,
abgelegenen Ort, wo ich mich in Ruhe umbringen kann. Was meinst du?
Glaubst du, das wird sie beeindrucken?«
Er war zu angespannt für solche Spielchen. »Mach
keinen Scheiß, okay? Und halte Ausschau nach uns – sobald wir
wieder auf dem Strand sind, lässt du das Beiboot zu Wasser und
kommst mit Vollgas, als wär’s der Ernstfall, wo jede Sekunde
zählt.«
»Und was soll ich jetzt sagen? ›Aye-aye,
Sir‹?«
»Verarsch mich nicht. Nicht hier. Nicht
jetzt.«
»Ich würde dich doch nie verarschen, Dave«,
sagte Wilson, womit er genau das tat. »Aber keine Sorge, ich hab
alles im Griff. Ich will es doch genauso wie du – oder hast du das
vielleicht vergessen?«
»Also gut«, sagt Dave jetzt und wirft noch einen
Blick auf den Strand, wo die Brandung nicht so stark ist, weil der
Sturm die Wellen längs an der Insel entlangtreibt. »Toni, Sie und
Cammy und ich fahren zuerst, Josh, Kelly und Suzanne kommen nach.
Wenn das Boot den Strand erreicht hat, springen Sie raus und rennen
zu den Weiden da drüben, sehen Sie? Haben Sie keine Angst, dass Sie
sich die Füße nass machen oder so – rennen Sie und verstecken Sie
sich, damit das hier so schnell wie möglich über die Bühne ist und
Wilson das Beiboot wieder an Bord holen kann. Wie ich schon sagte:
Wenn die uns beim Landen sehen, können wir einpacken.«
Dann sitzen sie im Schlauchboot und hüpfen über
die Wellen, das Ufer kommt wie an einer Schnur gezogen näher, der
Motor knurrt, die Gischt spritzt ihnen ins Gesicht. Wilson macht
das gut, er klappt den Motor hoch und nutzt für die letzten Meter
den Schwung des Bootes, aber Toni Walsh ist ein bisschen unsicher,
als es um die Umsetzung des Konzepts vom leichtfüßigen Sprung an
Land geht: Sie steht bis zu den Knien im Wasser und ist in Gefahr,
von der nächsten Welle umgeworfen zu werden, als Dave sie am Arm
packt und auf den Strand zieht. Cammy dagegen wirft sich auf den
Sand wie ein Marine und rennt zum Gebüsch. Ihr Haar unter der
schwarzen Mütze ist nass und strähnig, der durchsichtige
Regenponcho klebt an ihren Oberschenkeln. Im Nu ist sie
verschwunden.
Zwei Minuten – hundertzwanzig Sekunden – später
sind er und Toni Walsh bei ihr unter den Weiden, noch nicht mal
außer Atem. Das heißt, er ist nicht außer Atem – Toni
dagegen scheint zu hyperventilieren. Er hört, wie sie die Luft mit
abgehacktem Raucherkeuchen einzieht, Wasser plätschert über die
Steine, Baumfrösche schrillen, Regen zischt in den Blättern. Ein
intensiver Geruch nach Pflanzen, nach Schlamm und Fäulnis liegt in
der Luft. Alles scheint zu tropfen. Der Himmel über ihnen ist eher
schwarz als grau. Daves Socken sind durchnässt, und er spürt das
kalte Prasseln des Regens, der durch die Mütze sickert, die Haare
tränkt und Tropfen für Tropfen in den Nacken rinnt.
Durch den Regenvorhang sieht er dem Beiboot
nach. Wilson steuert das Heck der Paladin an, Josh beugt
sich vor und greift nach der Leine. Ohne nachzudenken klettert Dave
auf ein paar wasserumspülte Felsen, um besser sehen zu können,
während Toni Walsh schnaufend und völlig durchnässt in ihrer großen
nassen rosaroten Tasche nach einer Zigarette kramt und ihn
verärgert ansieht. Die Felsen sind rund und glatt wie die Eier von
Dinosauriern, und plötzlich ist die langbeinige, hagere Cammy neben
ihm und sieht sehr zufrieden mit sich aus. Toni Walsh nicht. Toni
Walsh steht dort unten, bis zu den Waden im Wasser – in braunem,
sich verzweigendem, rasch dahinfließendem Wasser –, und er besinnt
sich, streckt die Hand hinunter und zieht sie hinauf wie ein Stück
Gepäck, und genau das ist sie ja auch. Was auch der Grund ist,
warum Anise sich geweigert hat mitzukommen, obwohl er sie bedrängt
und ihr gedroht und auf jede erdenkliche Weise versucht hat, ihr
Schuldgefühle zu machen.
In diesem Augenblick dämmert ihm, dass es hier
vielleicht ein Problem geben könnte, eine Situation, die er nicht
bedacht hat: Willows Creek, normalerweise ein murmelndes Bächlein,
das man überspringen kann, ist kein Bach mehr, sondern ein Fluss.
Er brodelt und zischt, er ist beladen mit allerlei Treibgut und
mitgerissenen, polternden Steinen, er ergießt sich am Ende des
Canyons in eine schlammige Fläche, aus der braune, gewundene
Tentakel zum Meer führen. Der Plan ist, auf dem leicht ansteigenden
Wanderweg über die sich zwischen Weiden und Schilf
hindurchwindenden Sandbänke am Bach entlang in die Hügel zu gehen,
wo sie irgendwann auf einen Zaun stoßen und so viele Drähte wie
möglich durchschneiden werden, während Toni Walsh mit seiner Hilfe
fotografische Beweismittel von dem Schlachten anfertigen wird:
Kadaver, aufgeschichtet wie Laub, wie Knochen in einem Beinhaus –
man braucht nur den Raben zu folgen. Das ist der Plan. Aber der
Wanderweg ist verschwunden, und die Sandbänke sind ebenfalls nicht
mehr da. Und das Schilf und die Weiden stehen bis zum Hals in
brodelndem dunklem Wasser.
Macht nichts. Während Wilson das Schlauchboot an
den Strand lenkt und die anderen an Land springen, improvisiert er
– es ist zu spät, um umzukehren, denn nach Toni Walshs Anblick zu
urteilen, wird sie sich nie wieder hier hinausschleppen lassen, und
wenn sie nicht bald etwas unternehmen, werden die Schweine
denselben Weg gegangen sein wie die Ratten auf Anacapa. Er dreht
sich um und mustert die Hänge zu beiden Seiten des Canyons. Sie
werden eben querfeldein gehen müssen, oberhalb des Flusses –
unwegsames Gelände, aber machbar, kein Problem, überhaupt kein
Problem, denn er will das jetzt durchziehen, und die anderen würden
von der Klippe springen, wenn er es ihnen befehlen würde, und was
Toni Walsh betrifft, so wird sie eben einfach in den sauren Apfel
beißen müssen. Wenn sie ihre Story will. Und das will sie, das muss
sie wollen, sonst wäre sie nicht hier. Als er sich wieder umdreht,
liegt das Boot am Strand, und zwei Gestalten in Regenponchos – die
Mädchen – rennen über den Strand, während Josh das Gleichgewicht
verliert und von zwei Wellen überrollt wird, bevor er sich
aufrappelt und ihnen folgt.
»Da kommen sie«, sagt Cammy und kann die
Aufregung in ihrer Stimme kaum unterdrücken. »Und Josh« – sie stößt
ein kleines gepresstes Lachen aus –, »sieh dir Josh an! Ach je!«
Sie grinst, ist aufgekratzt wie ein kleines Mädchen. Was glauben
sie eigentlich, was das hier ist? Eine Reality-Show? Ein
Sommerlager? Behende wie ein Floh springt sie auf den Felsen vor
ihm, in ihren Augen leuchtet die reine Freude. »Er wollte wohl
lieber schwimmen, was? He, Josh«, ruft sie, »wie ist das
Wasser?«
Er hat nicht vor, Erklärungen anzubieten oder
zuzugeben, dass er die Wassermenge, die sich um diese Jahreszeit
aus dem Canyon ergießt, unterschätzt hat, denn Erklärungen sind was
für Versager, und jetzt kommt es nur darauf an, nach Plan
vorzugehen. Als Kelly und Suzanne – beide klein, weich,
birnenförmig und in ihren identischen olivgrünen Ponchos kaum
voneinander zu unterscheiden – grinsend zu den Felsen waten, reicht
er die Hand hinunter und zieht erst die eine und dann die andere
hinauf. Und da kommt auch Josh, der bereits zittert, und die
einzige Lösung für dieses Problem – abgesehen von einem Feuer, an
dem er seine Sachen trocknen könnte, und das ist keine praktikable
Lösung –, besteht in Bewegung, in anstrengender Bewegung den Canyon
hinauf, zum Zaun, wo er mit der Drahtzange hantieren kann, bis ihm
der Schweiß ausbricht.
»Na gut«, sagt er und dämpft verschwörerisch die
Stimme, obwohl meilenweit niemand ist, der sie belauschen könnte,
»der Regen bringt mehr Wasser als sonst in den Canyon, und darum
wird der Aufstieg ein bisschen anstrengender, aber das macht
nichts. Es wird nur etwas länger dauern, bis wir oben sind.« Er
mustert seine nassen Stiefel, die Felsen, auf denen sie stehen, das
Wasser, das sie umspült. Es scheint in den fünf Minuten, seit sie
hier sind, gestiegen zu sein, aber das ist doch nicht möglich,
oder?
Josh steht bis zu den Oberschenkeln darin, der
große Poncho bauscht sich hinter ihm im Wasser. Er bemüht sich um
Gelassenheit, als wäre ein Sprung in zehn Grad kalte Wellen für ihn
eine tägliche Übung, er bemüht sich, ein harter Bursche zu sein,
aber sein Gesicht verrät ihn, und er beißt sich auf die Lippe,
damit sie nicht zittert.
Er kommt sich ein wenig lächerlich vor, wie ein
wettergegerbter General in einem alten Kriegsfilm, als er sich
sagen hört: »Also gut, mir nach.« Und dann steht er im Wasser und
steuert auf das Ufer zur Linken zu. Es ist wie Forellenfischen,
denkt er, als würde man in einer Wathose gegen die Strömung
ankämpfen, nur ohne Behinderung durch Angelrute und Köder, und das
Wasser wird noch tiefer, bevor sie auf das erste Hindernis stoßen:
das Ufer, das sich bei näherem Hinsehen als zehn Meter hohe
Felswand erweist, die intakt geblieben ist, während der Strom die
weichere Erde zu ihren Füßen fortgeschwemmt hat. Er versucht, die
Ecke zu umrunden, und zieht sich mit beiden Händen voran, aber dann
wird das Wasser brusttief, und er gibt auf und beginnt zu
klettern.
Der Fels besteht aus einer Art vulkanischem
Gestein, aus Basalt vermutlich, und ist bis oben von kleinen Rissen
durchzogen. Das Problem ist, dass das Zeug spröde ist und unter
seinen Händen zerbröckelt. Steine fallen hinunter, als er den Bauch
an die Wand drückt und sich von einem Vorsprung zum nächsten
vorarbeitet. »Tut mir leid«, ruft er und sieht hinunter auf die
bleichen, nassen Melonen ihrer Gesichter, »wir müssen nur erst mal
hier rauf, dann wird’s bestimmt leichter …«
Für Cammy kein Problem: Sie stürzt sich auf die
Felswand und klettert hinauf wie eine Bergziege, doch die anderen
beiden Frauen sind etwas langsamer. Und Toni Walsh kämpft mit ihrer
Tasche und schafft es bis zum ersten größeren Vorsprung, verliert
dann aber den Schwung. »Josh«, ruft er hinunter, »kannst du ihr ein
bisschen helfen?« Er weiß, dass er selbst zurückgehen und ihr
helfen sollte, aber er ist jetzt beinahe oben und will sehen, wie
es weitergeht und womit sie es hier zu tun haben.
Josh ist kein Naturbursche, er ist unbeholfen,
er zittert in seinen Kleidern, die wie nasse Säcke an ihm hängen,
und er ist beinahe zehn Zentimeter kleiner als Toni Walsh, doch er
setzt ihn in Erstaunen. Er hat bereits den anderen Frauen geholfen
(Kelly und Suzanne, und es ist verdammt schwer, die beiden
auseinanderzuhalten, nur dass Suzanne – oder Kelly? – auf dem
rechten Ärmel ein blutrotes PETA-Abzeichen hat), und jetzt klettert
er ein Stück zurück, sucht einen festen Halt für seine Stiefel,
beugt sich weit hinunter und streckt Toni Walsh die Hand hin – und
Toni, die zumindest im Augenblick noch zu vielem bereit ist,
ergreift sie und zieht sich hoch zum nächsten Vorsprung und dann
zum nächsten. Nicht lange, und sie sind oben und blicken hinab auf
die braunen Fluten im Canyon.
Von hier kann er sehen, dass der Boden der
Schlucht sich in einen riesigen schlammigen See verwandelt hat, der
von einem Zulauf in der Ferne gespeist wird, von mehreren Zuläufen,
die höher und höher reichen und in den tiefhängenden Bäuchen der
Wolken verschwinden: Wasserfälle, einer über dem anderen. Als er
hier war, um die Waschbären freizulassen, waren da keine
Wasserfälle. So weit sein Blick reichte, beschien die Sonne nur
schmale Rinnsale, Libellen tanzten schwebend, an der Mündung
strömte der Bach träge durch flache Tümpel und umspülte die gelben,
ausgreifenden Wurzeln der Weiden, die wie Finger, wie Klauen
aussahen. Plötzlich ist er wütend. Wütend auf sich selbst. Wie hat
er nur so dumm sein können, nicht zu bedenken, was Canyons sind,
wie sie entstanden sind, was Regen in der freien Natur bedeutet?
Andererseits: Wenn sie auf einen sonnigen Tag gewartet hätten, wo
alles, was schwimmt, auf dem Kanal herumsegelt, hätten sie den
Park-Service-Bütteln ebensogut per Funk Bescheid sagen können, sie
sollten doch bitte kommen und sie festnehmen. Nein, sie mussten bei
Regen hierherfahren, es ist ihnen gar nichts anderes
übriggeblieben. Und jetzt bleibt ihnen nichts anderes übrig, als
weiterzugehen und diese Sache durchzuziehen.
»Also«, sagt er, »wir werden uns jetzt diesen
Hang hier hinaufarbeiten, knapp oberhalb des Wassers, denn es ist
gestiegen und hat den Weg, den wir eigentlich nehmen wollten,
überspült.«
Alle blicken über das Tal, auf den Einschnitt,
wo das braune Wasser durch Stromschnellen braust. Keiner sagt
etwas. Der Regen fällt stetig und vertikal, schlägt auf ihre Mützen
und Schultern und bringt die Erde unter ihren Füßen in
Bewegung.
»Es wird steil sein und vielleicht eine
ziemliche Belastung für eure Knöchel, aber es ist machbar.« Er
wendet sich zu Toni Walsh. »Okay? Wenn es zu anstrengend wird,
sagen Sie mir einfach Bescheid.«
Zusammengesunken und blass steht sie da, auf
ihrer Wange prangt wie eine Stammesbemalung ein gelblicher
Schlammstreifen. Sie zuckt die Schultern. »Ich weiß nicht«, sagt
sie, und dann lächelt sie kurz – ein gutes Zeichen, ein sehr gutes
Zeichen. »Ich bin wohl eher ein Stadtmensch. Aber was tut man nicht
alles für eine gute Story?«
Und jetzt sagt Kelly etwas – ja, es ist Kelly,
eindeutig Kelly mit dem PETA-Abzeichen und dem Mondgesicht und dem
missbilligend gespitzten Mündchen. Ihm wird bewusst, dass sie
Suzanne überhaupt nicht ähnlich sieht, jedenfalls nicht im Gesicht.
»Und was ist mit Erdrutschen?« fragt sie. »Ich meine, mit der
Möglichkeit von Erdrutschen? Siehst du den Abbruch da?« Sie zeigt
auf ein langgezogenes, nach innen gewölbtes Stück Hang, den sie
werden queren müssen, um zum oberen Ende des Canyons zu gelangen.
»Da hat’s jedenfalls mal einen Erdrutsch gegeben, das sieht
man.«
»Tja, das Risiko werden wir wohl einfach
eingehen müssen. Ich bin schon tausendmal bei solchem Wetter
herumgewandert – ihr etwa nicht? Das wird die Schweinemörder
vielleicht ein, zwei Tage abhalten, aber im Augenblick sitzen die
da und ölen ihre Gewehre und warten.«
Diesen Augenblick wählt der Regen, um stärker zu
werden und den Einsatz zu erhöhen. Unter der durchnässten Mütze
hängen die Dreads schlaff herab – tropf, tropf, tropf. Er will
vernünftig sein, will diese Leute beherrschen, indem er sich selbst
beherrscht, aber das ist keine Option, jetzt nicht mehr. »Scheiß
drauf. Ich habe keine Lust, hier herumzustehen und zu diskutieren.
Wenn ihr hierbleiben wollt – bitte, von mir aus. Aber ich gehe
weiter, und zwar jetzt.« Unvermittelt setzt er sich in Bewegung,
geht den kleinen Hügel mit übertrieben weit ausgreifenden Schritten
auf der anderen Seite hinunter und tritt dabei eine kleine Lawine
aus Schlamm und Steinen los, so in Fahrt, dass er sich nicht mal
umdreht, um zu sehen, ob sie ihm folgen. Sie werden ihm folgen, das
weiß er. Sie müssen ihm folgen.
Eine halbe Stunde später – es regnet noch
immer, und das dunkle tosende Wasser in der Schlucht steigt mit
jeder Minute – kommen ihm gewisse Bedenken. Er spürt die
Oberschenkelmuskeln, die Ärmel seines Sweatshirts sind bis zum
Ellbogen voller Schlamm, denn dieser Anstieg ist nur mit Hilfe der
Hände zu bewerkstelligen, und seine Knöchel schmerzen von der
Anstrengung, auf einem fünfundvierzig Grad steilen Hang das
Gleichgewicht zu bewahren. Und dabei ist er ziemlich fit. Was man
von Toni Walsh oder den beiden birnenförmigen Studentinnen oder
auch Josh nicht behaupten kann. Sie gehen im Gänsemarsch hinter
ihm, etwa fünfzehn Meter über dem Wasser, und halten sich, um nicht
zu stürzen, an allem fest, was sie zu fassen kriegen, ob es nun
Dornen hat oder nicht. Niemand sagt etwas. Cammy ist direkt hinter
ihm und treibt ihn geradezu an, gefolgt von den beiden anderen
Frauen, dann kommt Toni Walsh, klatschnass, mit grauem Gesicht, wie
eine wandelnde Tote, und den Schluss bildet Josh, damit er ein Auge
auf sie haben kann. Sie sind noch nicht ganz einen Kilometer weit
gekommen und haben fast den ersten Wasserfall erreicht, wo sie
wenigstens aus dem Matsch herauskommen werden. Es gibt keine
Anzeichen von Schweinen, Jägern, Füchsen, Raben oder sonstwas. Sie
könnten ebensogut auf der Rückseite des Mondes sein. Nur dass es
auf dem Mond keinen Regen gibt. Und keinen Matsch.
Die Überraschung war Toni Walsh. Seit sie den
ersten Hügel hinuntergegangen sind, hat er erwartet, dass sie
schlappmacht, aber jedesmal, wenn er sich umsieht, ist sie da und
stapft mit gesenktem Kopf dahin. Trotzdem, denkt er, wie lange wird
sie noch durchhalten? Sie müssen raus aus diesem Canyon, und zwar
schnell. Oder eine Stelle finden, wo sie sich ausruhen kann, damit
er und Josh oder Cammy vorausgehen und nach etwas suchen können,
das ein Weitergehen lohnend erscheinen lässt. Er mustert das
Terrain drei-, vierhundert Meter vor ihnen, wo der Canyon sich
verengt – Felsen türmen sich auf, von tiefen Rissen und Rinnen
durchzogen, durch die das Wasser schießt –, als er einen Überhang
entdeckt, der wie ein großes Vordach wirkt. Endlich, denkt
er und fasst neuen Mut, dreht sich zu Cammy um und deutet darauf,
bevor er den anderen zuruft: »Dort oben!« Er sieht, wie sie mit
ausdruckslosen Gesichtern den Blick heben. »Da werden wir
rasten.«
Der Überhang bietet nicht viel Schutz. Sie sind
unter einem tropfenden Vorsprung auf einem etwa drei Meter langen
Sims, das nach drei Seiten offen ist, aber immerhin bekommen sie
hier weniger Regen ab. Es ist etwas eng, man steht Schulter an
Schulter, Stiefel an Stiefel, und als erstes holen sie, ob Mann
oder Frau, etwas zu essen aus den Rucksäcken. Es gibt nicht viel zu
sagen außer: »Könntest du noch ein Stückchen rücken?«, und: »Willst
du Erdnussbutter oder Frischkäse und Sprossen?« Für einen langen
Augenblick hört man nur das Rauschen des Regens, das Knistern von
Zellophan und ein gelegentliches leises Schmatzen. Dann zieht Josh
eine Bota hervor (aus Kunststoff und Vinyl – er würde sich nie
einen Schafsmagen aufs Gewissen laden) und fragt, ob jemand einen
Schluck will.
»Was ist dadrin?« Toni Walsh blickt interessiert
auf. Sie ist zu einem rosaroten Bündel zwischen lauter Beinen und
schmutzigen Stiefeln zusammengesunken, ihr Gesicht ist weiß wie ein
Fischbauch, ihr Haar sieht aus wie das Zeug, mit dem man
Versandkisten auspolstert, und sie nimmt kaum Notiz von den anderen
und verzehrt etwas, was wie ein fix und fertig gekauftes, dick mit
Schinken und Käse belegtes Sandwich aussieht. »Brandy, hoffe
ich.«
»Rotwein. Ein ordentlicher, robuster Zinfandel.
Er ist gut, trinken Sie ruhig.«
Alle nehmen einen Schluck. Als Suzanne dann auch
noch selbstgebackene Haferkekse herumreicht, scheint es allen ein
wenig besserzugehen. Die Bota kommt zu ihm, und auch er trinkt
etwas – warum nicht? Er kann einen kleinen Schub gebrauchen.
»Was meinst du?« sagt Cammy, zu ihm gewandt.
»Ich meine, realistisch betrachtet. Haben wir eine Chance, da
raufzugehen und vor Einbruch der Dunkelheit wieder an Bord zu
sein?« Sie lehnt an der Felswand und sieht mit ihren langen Armen
und Beinen wie eine Zwölfjährige aus. »Damit hab ich nämlich nicht
gerechnet«, fügt sie schnell hinzu. »Mit diesen Bedingungen, meine
ich.«
Er zuckt die Schultern, als wäre das ohne große
Bedeutung, und reicht die Bota an Kelly weiter, die praktisch auf
seinem Schoß hockt. Wenn sich in ihrem Gesicht je Abenteuerlust
gespiegelt hat, so ist diese längst verschwunden, doch sie hebt
pflichtschuldig den Beutel, legt den Kopf in den Nacken und spritzt
sich etwas Wein in den Mund. Sie riecht nach Schweiß und der
Orange, die sie geschält hat, und unter dem Mützenschirm quillt ihr
krauses Haar hervor. Geistesabwesend sieht er, wie sie sich einen
Weintropfen von der Lippe leckt – eine dickliche junge Frau,
uninteressant und reizlos, die dringend eine Generalüberholung
braucht, wenn sie je einen Mann finden und ein halbwegs gutes Leben
oder überhaupt irgendein Leben außerhalb eines Nonnenklosters
führen will –, bevor er sich wieder Cammy zuwendet. »Ja, ich hab
schon darüber nachgedacht, ob ich mit vielleicht zwei anderen
weitergehen soll, während der Rest umkehrt. Ich könnte Ihre Kamera
nehmen, Toni. Vielleicht hab ich ja Glück.« Alle sehen ihn an, aber
er kann aus ihren Mienen nicht schließen, ob sie erleichtert sind
oder nicht. »Cammy hat recht: Wir haben einen schlechten Tag
erwischt, und wir werden auf keinen Fall alles tun können, was wir
uns vorgenommen haben. Jedenfalls nicht in dem Umfang wie
geplant.«
»Mist«, sagt Josh. Seine Stimme klingt ganz
hohl. Er stiert vor sich hin und hat die Knie an die Brust gezogen,
die leere Bota baumelt von den Fingern der einen Hand, die Stiefel
sind bis zu den Schnürsenkeln mit Schlamm überzogen. Er zittert.
Alle zittern. Unterhalb von ihnen, lauter jetzt, so laut wie
statisches Rauschen, ertönt das unablässige spöttische Tosen des
Wassers im Canyon. Niemand scheint noch etwas zu sagen zu haben.
Sie wollen zurück, allesamt, sie wollen aufgeben, er sieht es in
ihren Gesichtern.
Es ist ein Augenblick der Schwäche, der
Hoffnungslosigkeit, der Niedergeschlagenheit. Aber er wird nicht
aufgeben, er wird aus diesem Canyon klettern und Fotos machen, die
diese Schändlichkeit anprangern, damit der Press Citizen sie
auf der ersten Seite drucken und jeder sehen kann, was diese Mörder
anrichten, und dann wird er Draht zerschneiden, und wenn es die
ganze Nacht dauert und er zum Boot schwimmen muss …
Und dann dreht der Wind, und alles verändert
sich.
»Riecht ihr das auch?« Das ist Kelly. Sie setzt
sich auf, drückt den Rücken durch und kneift die Augen zusammen.
Sie schnüffelt prüfend, vernehmlich und verzieht das Gesicht. »Es
riecht« – und da ist er, der Geruch, jetzt nehmen sie ihn auch
wahr: modrig, süßlich und ekelhaft zugleich –, »als wäre da was
Totes.«
Im nächsten Augenblick sind sie alle, auch Toni
Walsh, wieder im Regen und klettern höher, auf das nächste Sims
oberhalb des Überhangs. Es ist ein kleiner Absatz, ein Felsauswuchs
in der steilen Wand des Canyons; in den Rissen wachsen Beifuß,
Coyotesträucher und Mädchenauge, doch da ist noch etwas anderes,
etwas Dunkles, das wie eine Fußmatte zwischen zwei Felsen im
blassen Matsch liegt. Die Füße finden nur mühsam Halt, der Geruch
wird stärker, bis er wie ein Überfall ist. »Ist das …?« sagt
jemand.
Sie stehen vor den Überresten – den Kadavern –
von zwei Schweinen, das eine ausgewachsen und so groß wie ein
fetter Hund, das andere ein Jungtier. Beide haben keine Augen mehr,
rote Krater klaffen in ihren Köpfen, die Mäuler stehen offen, die
Bäuche sind aufgerissen, so dass die bäulichgrauen Eingeweide
heraushängen. Das Fell besteht aus schwarzen Borsten, die sich
bewegen, weil das Fleisch von Maden wimmelt.
»Krass«, sagt Kelly.
Josh stößt einen Fluch aus. »Verdammt«, knurrt
er, »womit haben sie das eigentlich verdient?«
Vorgebeugt, zitternd tritt Toni Walsh vor, ihre
große rosarote Tasche wirkt wie ein verkümmerter Körperteil, und
sie blickt angespannt auf das Display, während sie ein Foto nach
dem anderen macht. Sie sagt nichts, kein Wort, denn sie arbeitet,
sie macht ihren Job, sie dokumentiert, sie schreibt Geschichte. Die
anderen sehen ehrfürchtig zu. Oder ängstlich. Dies ist der Tod,
dies – genau dies – ist es, wogegen sie kämpfen, und hier liegt es
vor ihnen, vor ihren Augen, und stinkt.
Er versucht, seine eigenen Gefühle
auseinanderzuklauben – Entsetzen, Mitleid, Trauer, Wut –, aber da
ist noch etwas anderes, ein Aufwallen von Erregung, ja Freude.
»Gut«, sagt er, »ausgezeichnet – das ist genau das, was wir
brauchen«, und er hat jetzt einen Stock in der Hand und stochert
nach dem Kadaver des größeren Tiers, auf der Suche nach dem
Einschuss, dem unwiderleglichen Beweis, denn diese Schweine haben
nicht einfach das Gleichgewicht verloren, sie sind nicht in den
Canyon gefallen und hier aufgeschlagen. Nein, sie sind ermordet
worden, eliminiert, das ist das Wort. »Hier, Toni, hier. Ich
glaube, das ist die Einschusswunde. Können Sie eine Großaufnahme
davon machen?«
Es ist ein schmales Sims, auf dem sie stehen,
nicht viel breiter als eine Badewanne, die Felsen sind nass, unten
rauscht das Wasser, Regen rinnt über ihre Gesichter und tropft von
den Schirmen der Mützen, alle drängen sich aneinander, um besser
sehen zu können, und er und Toni sind im Mittelpunkt des
Geschehens, sie haben recht gehabt, sie sind bestätigt – diese
verdammten Hurensöhne! –, und als Kelly einen Schritt, nur
einen einzigen Schritt, zurücktritt, um ihnen Platz zu machen,
fällt es ihm schwer zu begreifen, was er sieht. Sie schreit nicht
auf. Versucht nicht, sich an seiner Schulter oder dem verkümmerten
blassen Nichts von einem Busch neben ihr festzuhalten. Sie sagt nur
leise: O Scheiße, als wäre sie in einer privaten
Unterhaltung über irgendein beliebiges Thema, und dann ist sie
verschwunden.
Auf dem Rücken, den Kopf voran, rutscht sie den
Steilhang hinunter, sie hat die Arme ausgestreckt, die Hände
greifen ins Leere, polternd folgt ihr eine kleine Lawine aus
Schlamm und Geröll durch eine Rinne, die zum dreißig Meter tiefer
schäumenden Fluss führt. Mit einem lauten Platschen taucht sie ein,
ihr khakifarbener Poncho bauscht sich und flattert in der Strömung,
während der Kopf, jetzt ohne Mütze, das Haar im Wasser
ausgebreitet, noch für ein, zwei, drei Wellenschläge zu sehen ist,
bevor sie fortgerissen wird.
Es bleibt keine Zeit, den Schock zu verarbeiten,
keine Zeit für Flüche und Rufe und den erstickten Schrei, der aus
Suzannes Kehle dringt und kraftlos im Canyon verhallt, denn er ist
bereits in Bewegung, springt den Hang hinunter, unter dem Überhang
hindurch und weiter, die Augen auf die Stelle gerichtet, wo sie
untergegangen ist, und die ganze Zeit erwartet, nein, verlangt er,
sie zu sehen, wie sie sich an einem Felsen oder einem Baumstamm
festklammert. Er hört die anderen rufen und kann nur beten, dass
nicht noch einer das Gleichgewicht verliert und in den Fluss fällt.
Es gibt nichts, woran er sich festhalten könnte. Er ist von Kopf
bis Fuß voller Schlamm. In seiner Kehle ist ein fauliger
Geschmack.
Als er auf einer Lawine aus Steinen und Erde
schließlich den Fluss erreicht – wie lange hat er gebraucht? Fünf
Minuten? Zehn? –, wird er um ein Haar selbst mitgerissen. Er steht
bis zum Bauch im Wasser und kann sich gerade noch mit einer Hand am
Ufer und mit der anderen an einer kleinen Weide festhalten. Die
Strömung zerrt an ihm, als wäre sie lebendig. Von oben kommen Rufe.
Steine, Stöcke, Zweige kullern herab. Er sieht, dass sich zwei der
anderen – Cammy und Josh – den Hang hinunter zu ihm vorabeiten.
Begreifen sie denn nicht? Verstehen sie nicht, wie gefährlich das
ist? »Zurück!« brüllt er, so wütend wie noch nie.
Erst jetzt, als er die Beine aus dem Wasser
zieht und um sein Gleichgewicht kämpft, während er in den
saugenden, weichen Uferschlamm tritt, der immer wieder nachgibt, so
dass es ist, als wäre er in einer Tretmühle, als würde er, wie in
einem Alptraum, rennen, ohne von der Stelle zu kommen, wird ihm die
Tragweite dieser Sache bewusst. Wenn sie verletzt ist – Kelly, und
er kann immer nur daran denken, wie sie hinuntergerutscht ist,
hilflos, vollkommen hilflos, als hätte irgend etwas sie am Kragen
gepackt –, wird er eine Menge zu erklären haben. Der Küstenwache.
Der Polizei. Den Zeitungen, den Mitgliedern der FPA und allen
anderen, die eine nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse vornehmen und das
Schicksal der Tiere gegen menschliches Leiden und Leben aufrechnen
werden, und was werden die dann wohl tun? Sie im Krankenhaus
interviewen? Sich mit Filzschreiber auf ihrem Gips verewigen?
Es ist ein Schlamassel. Eine verdammte
Katastrophe. Und er ist jetzt in Bewegung, arbeitet sich am Ufer
entlang vor, wobei er sich an alles klammert, was ihm einen Halt
bieten kann, und müht sich verzweifelt, sie zu finden, zu retten,
sie fort von hier und auf das Boot zu bringen, sie in Decken zu
wickeln, ihr heiße Suppe einzuflößen, Brandy, irgendwas, die
Heizung anzuschalten, und das einzige, was er ausschließt, woran er
nicht mal denken will, ist die trostlose Erkenntnis, dass für Kelly
mit ihrem eifrigen Gesicht, der birnenförmigen Figur und dem roten
Abzeichen auf dem Ärmel – Tiere sind nicht zum Essen, Tragen
oder Experimentieren da – jede Hilfe, ob von ihm oder irgend
jemand sonst, zu spät kommt.
Als sie sie finden, ist aus dem Regen ein
Nieseln geworden, das Licht schwindet, und das harte, nagende
Dahinrasen des Flusses ist das einzige, was in sein Bewusstsein
dringt – er ist durchgefroren, ihm tut alles weh, er ist fix und
fertig. Bleich wie ein Pilz leuchtet sie vor dem dunklen
Hintergrund eines Gewirrs von ausgerissenen Büschen und
entwurzelten Bäumen, denn die Gewalt des dahinrasenden Wassers hat
ihr die Kleider vom Leib gerissen, und von dem Sweathirt, den
Shorts oder dem khakifarbenen Regenponcho ist nichts zu sehen. Er
ist es, der sich durch die Strömung zu ihr kämpft, während die
anderen eine Kette bilden und das Seil halten, das einer auf dem
Boden seines Rucksacks gefunden hat, und er ist es, der sie
berührt, ihr kaltes, nacktes Fleisch, und der sieht, wie die Felsen
sie zugerichtet haben und dass ihr Gesicht unter Wasser ist. Ihre
Ellbogenbeuge hängt über einem Weidenzweig, der Unterarm schwingt
in einer Imitation selbständiger Bewegung hin und her.
Der Fluss hat sie den ganzen Weg bis zu ihrem
Ausgangspunkt getragen, wo die angeschwollenen Fluten auf der einen
Seite an der Felswand entlangströmen und dann einen weiten Bogen
beschreiben, um das, was sie mitgerissen haben, auf der anderen
Seite abzuladen. Wenn sie das gewusst hätten, wären sie schon
früher bei ihr gewesen. Aber sie haben es nicht gewusst, sondern
sich Schritt für Schritt durch den Canyon vorgearbeitet, die Ufer
abgesucht und ihren Namen gerufen, bis die Stimmen versagten. Liegt
darin eine Ironie? Er weiß es nicht. Für ihn gibt es nur diesen
Augenblick, und der ist so traurig und trostlos wie kein anderer in
seinem Leben. Als er sie packt und dabei an Cammy denkt, die immer
wieder gesagt hat, dass sie Wiederbelebungsmaßnahmen kann – sie war
auf der High School Rettungsschwimmerin, und sie haben das an
Puppen geübt, hat sie gesagt, keuchend und mit brennenden Augen –,
muss er sich anstrengen, das Gleichgewicht zu bewahren, denn das
schwere Gewicht des Wassers liegt auf seinem Rücken, es drückt und
zerrt an seinen Beinen, obwohl es kaum tiefer als eins fünfzig ist,
und das ist eine weitere Ironie. Er schlingt einen Arm um ihre
Schultern, bekommt sie aber nicht frei – sie hat sich in den Ästen
verfangen –, und eigentlich will er sie sanft anfassen, aber mit
Sanftheit kommt er hier nicht weit, und so zieht er an ihr, als
wäre das Ganze ein Spiel, eine Frage des Willens und der
Entschlossenheit, als wäre sie es, die ihm Widerstand leistet. Vom
Ufer hört er Suzannes verheulte Stimme: »Ist sie okay?«
Er ist völlig durchgefroren, unterkühlt, er
verliert den Kampf, aber er gibt nicht auf, er ruckt und zerrt an
dem weichen, widerspenstigen Körper, bis er mit einemmal freikommt,
begleitet von einem abgebrochenen Weidenzweig und einem Gefolge
sanft nickender Blätter, doch er kann sie nicht festhalten, und als
die Strömung sie ihm entreißt, wendet sie ihm das Gesicht zu und
starrt ihn vorwurfsvoll an. Am Ufer ein Schrei und hektisches
Gefuchtel, aber auch das Seil ist ihm entglitten, und was von dem
Baum noch übrig ist, treibt unter seinen verzweifelt tastenden
Händen davon. Er verliert den Halt. Seine Beine treten Wasser, er
rudert mit den Armen, er kämpft, doch der Fluss hat ihn gepackt und
tut, was er will. Etwas zieht an seiner Hose, und dann trifft ihn
eine harte Faust aus Holz seitlich am Kopf, dann noch eine und noch
eine, und jetzt hat der Fluss ihn am Kragen und drückt sein Gesicht
hinunter ins trübe Wasser, und für einen alles auslöschenden
Augenblick kann er nicht sehen, nicht atmen und weiß nicht, wo oben
und unten ist.
Plötzlich hört das Schieben auf, und er wird auf
ein gewaltiges stachliges Sieb aus Treibgut geworfen. Zugleich wird
die Strömung schwächer. Er öffnet die Augen und schüttelt den Kopf.
Kelly ist neben ihm, so nah, dass er sie berühren könnte. Sie liegt
auf dem Rücken, Arme und Beine abgespreizt, das Gesicht dem Himmel
zugewandt. Ihre Brüste hängen leicht zur Seite, das Schamhaar ist
wie ein Schmutzfleck in ihrem Schoß. Und die Haut, die Haut ist
zerschunden, und vom Knie bis zur Hüfte klafft ein langer,
gebogener Riss. An einem Fuß – dem, der ihm am nächsten liegt – ist
noch der Wanderschuh, und am Oberschenkel klebt ein Stück Stoff,
blau mit weißen Pünktchen. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt. Er
will sich hochstemmen, aufstehen und wegrennen, weg von ihr, weg
von hier, fliehen, aber er kann nicht – es ist, als würden seine
Muskeln ihm nicht gehorchen, als hätte er einen Schlaganfall
erlitten, als wäre der Himmel über ihm eingestürzt und würde ihn zu
Boden drücken. Und so liegt er da, für den längsten Augenblick
seines Lebens, und betrachtet die fest gebundenen Schnürsenkel, die
am Knöchel zerrissene Socke, das Waffelmuster der Stiefelsohle, die
so sauber ist, als wäre sie fabrikneu.
Schließlich steht er auf, natürlich steht er
auf, und dann sind Josh und Cammy da und staksen durch das schwarze
Gewirr der angeschwemmten Zweige und Äste, während die anderen
beiden, Suzanne und Toni, hilflos vom anderen Ufer aus zusehen. Die
Luft ist erfüllt vom Geräusch und Geruch des Wassers. Joshs Gesicht
ist ausdruckslos und so bleich wie Schmalz. Cammy hat den Poncho
ausgezogen, ihre Kleider kleben an ihr wie Frischhaltefolie, ihre
Füße sind nackt wie die einer Büßerin, und sie weint, sie weint
noch immer. Sie hat die Schuhe ausgezogen, um besser schwimmen zu
können, um mit Josh ohne Rücksicht auf die Gefahr über den Fluss zu
schwimmen und zu helfen mit ihren Wiederbelebungsmaßnahmen und
ihren geröteten Augen.
»Sie ist tot«, sagt Josh, und seine Stimme ist
so kalt wie möglich, denn er ist ebenfalls kurz davor
zusammenzubrechen. »Oder nicht?«
»Was denkst du denn? Sieh sie doch an,
Herrgott!«
Und da ist Cammy und wälzt sie auf den Bauch und
drückt pumpend auf ihre Schulterblätter, als würde das irgendwas
bewirken, und vielleicht ist seine Stimme härter als nötig,
vielleicht sollte er sie mit ihrer Scharade einfach gewähren lassen
und sich auf das konzentrieren, was jetzt getan werden muss, aber
er kann nicht. »Geh weg da!« schreit er und zerrt an ihrem Arm, als
wollte er ihn ausreißen, und als sie hochkommt, schleudert er sie
von sich. Sein Herz rast, und er stößt sinnlos alle Flüche aus, die
ihm in den Sinn kommen.
Cammy. Die Bohnenstange. Die Hübsche. Das
Mädchen. Sie ist so schlank und sehnig wie seine Greyhounds, aber
sie greift so schnell an, dass er nicht mal Zeit hat, sein Gesicht
mit den Händen zu schützen. Ihre Faust ist die Verkörperung ihres
Willens und trifft ihn dreimal rasch hintereinander, bevor er ihre
Handgelenke zu fassen bekommt. Mit verzerrtem Gesicht spuckt sie
ihn an. »Du!« schluchzt sie. »Du bist schuld – du hast sie
umgebracht! Du!«
Joshs Stimme scheint in seiner Kehle gefangen zu
sein. »He«, sagt er. Nur das: »He«, so leise wie ein fallendes
Blatt.
Worüber streiten sie eigentlich? Was soll das
bringen? Was soll überhaupt irgendwas bringen?
Cammy beruhigt sich. Er lässt ihre Handgelenke
los. Der Abend senkt sich herab. Der Leichnam zu seinen Füßen
scheint anzuschwellen und zu wachsen, bis er alles verbleibende
Licht aufsaugt. Die Gesichter der beiden vor ihm verschwimmen, so
dass Josh Cammy und Cammy Josh sein könnte. Aus dem Nichts
erscheint eine Schwadron Fledermäuse, die im Zickzack durch die
Leere über ihnen fliegen.
»Wir müssen sie hier wegbringen«, sagt er
schließlich, denn er ist jetzt vernünftig, sie alle sind
vernünftig, sie müssen es sein. »Ich meine, wir müssen sie in
irgendwas einwickeln« – und obwohl er bis auf die Haut durchnässt
ist und weder Finger noch Zehen spürt, zieht er bereits den
Regenponcho aus – »und zurück zum Boot tragen. Und dann werden wir
sehen, was wir … na ja, was wir dann …« Er spricht nicht
weiter.
Aber so einfach ist das nicht. Während Toni und
Suzanne am gegenüberliegenden Ufer den Hügel ersteigen und dann an
der Felswand herunterklettern – es ist ein kleines Wunder, dass
sich dabei keine etwas bricht –, wickeln er und Josh den Leichnam
in ihre Ponchos und binden die Enden so gut es geht mit einem von
seinem Tagesrucksack geschnittenen Riemen und zwei
Ersatzschnürsenkeln zu. Das Gelände ist unwegsam und die Last
extrem unhandlich. Josh trägt das eine Ende, er das andere, Cammy
ist in der Mitte. Was in der Hülle ist – der malträtierte Körper,
das sich sammelnde Blut –, verrutscht immer wieder, verschiebt
sich, will entgleiten, und er muss seine ganze Kraft aufwenden, um
es – sie – auf die Felsen zu heben. Für einen Augenblick ist alles
in der Schwebe, jeder Atemzug ein Lechzen nach dem Ende dieser
Mühsal, und dann lässt er sie vorsichtig auf der anderen Seite
hinunter, wo Josh steht, in der Dunkelheit kaum zu erkennen.
»Vorsichtig, ganz vorsichtig. Hast du sie?«
Stimmen im Dunkeln. Das Rauschen des Wassers,
das Donnern der Brandung. Jetzt stehen auch er und Cammy auf dem
Strand, und zu dritt bilden sie ein sechsbeiniges Monster, das über
den Sand kriecht, jeder Schritt eine Unmöglichkeit, doch sie
schaffen es, sie bis zum Spülsaum zu tragen und so sanft
abzusetzen, als wäre sie noch lebendig und schliefe den Schlaf der
Genesung. Unvermittelt sind Suzanne und Toni Walsh ebenfalls da,
ihre Gesichter schweben in der Dunkelheit. Mein Gott, sagt
Suzanne immer wieder. Er lässt sie stehen, ihre Stimmen sind rauh
wie das Rascheln trockener Blätter. Es herrscht vollkommene
Finsternis. Er watet in die Brandung und riskiert es zu rufen:
»Wilson! Wilson, bist du da?«
Nichts. Es müsste wenigstens ein Licht zu sehen
sein. Er strengt sich an, er müht sich, den schwachen grünlichen
Schimmer des Steuerbordlichts auszumachen, und denkt, dass er eine
Taschenlampe brauchen wird, um ein Signal zu geben, und ob wohl
jemand daran gedacht hat, eine Taschenlampe mitzunehmen? Suzanne
vielleicht. Sie hat Cookies gebacken. Sie war es, in deren Rucksack
das säuberlich aufgeschossene Stück Seil, die Schnürsenkel, das
Kaugummi waren. Er will sich gerade umdrehen – die Wellen klatschen
gegen seine Beine, und er zittert, als stünde er unter Strom –, als
er in der Halbdistanz etwas zu sehen glaubt, ein tieferes,
schwärzeres Loch in der Schwärze der Nacht. Er hat noch nicht
gemerkt, dass er sich täuscht, denn dort ist nichts zu sehen,
absolut gar nichts.