DIE BLACK GOLD

An diesem Abend macht sie Überstunden und sitzt noch an ihrem Schreibtisch, als die anderen schon längst gegangen sind. Nicht dass irgend jemand sie je nach ihrer Stundenzahl fragen oder sie selbst zwanghaft auf die Zeit achten würde wie ein Fabrikarbeiter, denn schließlich ist sie ihr eigener Boss, und ihr Zeitplan ist flexibel –, aber sie ist eben gewissenhaft, und wenn es halb fünf ist, sieht sie nicht mal auf. Das Frühstücksmeeting war Arbeit, keine Frage, aber es hat einen Teil ihres Arbeitstages in Anspruch genommen, und es gibt Dinge, die sie erledigen muss. Wichtige Dinge. Bestellungen. E-Mails. Die neuesten Zahlungen an Island Healers, die ihr Geld monatlich bekommen. Und nicht zuletzt muss sie sich Alicias Computer ansehen.
Sie hat nichts gesagt, als Alicia schließlich kam, fünfzehn Minuten nach ihr, die schüchterne, errötende Alicia, deren Blick dem ihren auswich – ein klares Schuldbekenntnis –, und nur murmelte, es tue ihr leid, dass sie so früh eine Kaffeepause gemacht habe, aber sie habe verschlafen und sei ohne Frühstück aus dem Haus gestürzt, und da im Büro ohnehin nichts los gewesen sei, habe sie gedacht, das sei nicht so schlimm. Alma, noch immer erschüttert, starrte sie nur so kalt wie möglich an. Dann kam die Mittagszeit, und Alicia blieb an ihrem Platz. Direkt auffällig. Stand nur auf, um sich am Automaten eine Diät-Pepsi zu holen, und noch einmal, eine halbe Stunde später, um zur Toilette zu gehen, nahm mit ihrer rauchigen, nuancierten Stimme Anrufe entgegen, gab mit rasch über die leise klickende Tastatur tanzenden Fingern Daten ein, während Menschen kamen und gingen, Telefone läuteten und Neonröhren summten.
Die Schatten wurden länger, der Nachmittag schritt voran und versank schließlich im Meer. Um halb sechs war Feierabend. Alicia stand auf, kramte kurz in Portemonnaie und Rucksack, murmelte: »Bis morgen dann« und schloss im Hinausgehen die Tür. Alma war ganz versunken in ihre Arbeit. Eine volle Stunde ging dahin, bis sie sich an Alicias Computer setzte, und eine weitere halbe Stunde, bis sie ihn wieder ausschaltete. Sie suchte nach Unregelmäßigkeiten, Kontakten, E-Mails, die ihren Verdacht bestätigen würden, fand aber nur die übliche Geschäftskorrespondenz. Und doch war Alicia mit Wilson Gutierrez zusammen – es sah ziemlich intim aus, wie er den Arm um sie legte und das Tablett mit Kaffee und Kuchen vor sie hinstellte, als wäre er es gewohnt, sie zu umwerben, zu bedienen –, und das war auf allen Ebenen, die ihr einfielen, eine Grenzüberschreitung. Aber konnte sie ihr deswegen kündigen? Stand in dem Arbeitsvertrag zwischen dem Park Service und seinen Angestellten irgendeine Klausel, die eine Kollaboration mit dem Feind verbot? Während der Arbeitszeit! Oder fiel das unter Meinungsfreiheit?
Als sie das Büro schließlich verlässt, ist es jedenfalls nach sechs, und aus dem Himmel ist alles Licht gewichen. Die Yachten warten geduldig an ihren Liegeplätzen, aus der einen oder anderen Kajüte fällt gedämpftes bernsteinfarbenes Licht, das Wasser ist so unbewegt wie die Promenade, die daran entlangführt. Ein kurz widerhallendes dumpfes Pochen, so leise, dass es verschlossen und zweimal zusammengefaltet ist, bis es an ihr Ohr dringt, und sie blickt auf und sieht ein Arbeitsboot – Seeigelfischer – mit langsam pulsierenden Lichtern auf dem Weg zu seinem Liegeplatz an den Reihen gespenstisch aufragender Masten vorübergleiten. Es ist ein dem Tag gestohlener Augenblick, ein Augenblick der Ruhe und des Innehaltens, doch sie hält nicht inne. Sie geht immer zügig, sie ist immer in Eile, und auch jetzt bewegt sie sich schnell und weicht Kindern, exilierten Rauchern und schlendernden Paaren aus. Als sie am Docksider vorbeikommt, hört sie von oben Musik, eine Coverband, die lieblos einen Song aus den Zeiten ihrer Mutter herunterschrammelt – und in diesem Augenblick bleibt sie so abrupt stehen, dass der Jogger hinter ihr ausweichen muss und dabei um ein Haar mit zwei Frauen zusammenstößt, die ihm entgegenkommen. Sie sieht das Erschrecken und die Verärgerung in den Gesichtern der Frauen unter den schlaffen Krempen ihrer Whalewatcherhüte, der Mann murmelt eine Entschuldigung, umtänzelt die beiden – seine Beine leuchten wie Neonröhren –, und dann läuft er weiter. Eine der Frauen ruft etwas, doch sie hört nicht hin. Sie steht wie angenagelt da.
Ihre Mutter. In dem Durcheinander dieses Tages hat sie ihre Mutter ganz vergessen. Ihre Mutter backt ihr einen Geburtstagskuchen. Sie erwartet, wie versprochen zum Essen ausgeführt zu werden. In diesem Augenblick sitzt sie zweifellos im Schaukelstuhl im Wohnzimmer, zusammen mit Ed, und trinkt Wodka, während die Bilder von Chaos und Zerstörung auf CNN vorbeiziehen wie Wolken an einem zweidimensionalen Himmel. Schuldbewusst holt Alma ihr Handy hervor und wählt ihre eigene Festnetznummer.
Ihre Mutter nimmt nach dem ersten Läuten ab.
»Ich bin’s, Mom. Ich wollte nur sagen, ich musste ein paar Überstunden machen und –«
»An deinem Geburtstag
»Na ja, es hat ein paar neue Entwicklungen gegeben.« Sie hört die Unaufrichtigkeit in ihrer Stimme, die amateurhafte Theatralik. Warum kommt es ihr immer so vor, als würde sie etwas verbergen, wenn sie mit ihrer Mutter spricht? Wo sie doch in Wirklichkeit gar nichts verbirgt? Denn es hat ja tatsächlich neue Entwicklungen gegeben, und eine davon – Alicias Verrat – ist das Verwirrendste und Verstörendste, was sie seit langem erlebt hat. Abgesehen von den Demonstranten natürlich. Doch die geben normalerweise Ruhe, wenn die Sonne untergegangen ist. »Aber ich komme jetzt – in spätestens einer halben Stunde bin ich da.«
»Ich koche.«
»Aber ich wollte euch doch einladen –«
»Ich hab zu Ed gesagt: ›Sie ist überarbeitet, Ed, und ich möchte es ihr schön machen, vor allem heute, also keinen Stress, du weißt schon, was ich meine‹ – genau wie damals, als du noch ein kleines Mädchen warst, und Ed hat mir recht gegeben.« Eine Pause. »Wenn du unbedingt willst, können wir ja morgen in ein Restaurant gehen, aber dann laden wir dich ein.« Sie legt die Hand auf die Sprechmuschel und lässt sich das von Ed bestätigen. »Stimmt’s, Ed?«
»Aber morgen ist doch das Konzert. Weißt du nicht mehr? Tim hat mir die Tickets geschenkt.«
Keine Antwort.
»Du hast gesagt, du würdest mit mir hingehen, weil Tim auf der Insel bleiben muss.«
»Wer war das noch mal?«
»Micah Stroud. Ich hab dir von ihm erzählt, er wird dir gefallen. Er ist« – sie will sagen: Er ist genau das, was du dir heute morgen angehört hast, nur nicht so weichgespült und poppig, denn er singt mit Feuer, mit echtem Feuer und Überzeugung, doch sie beherrscht sich – »ich weiß nicht. Aber glaub mir, er wird dir gefallen.«
»Na gut. Aber vergiss das mit dem Restaurant. Die Lasagne sind schon im Ofen – ohne Fleisch. Selbstgemacht. Und Ed und mir ist ein ruhiger Abend zu Hause ganz recht. Okay?«
Sie will gerade »Okay« seufzen, denn es war ein langer Tag, und die Vorstellung, sich etwas verwöhnen zu lassen, gewinnt an Attraktivität, denn wozu hat man seine Mutter im Gästezimmer, wenn man sich nicht mal ein bisschen entspannen kann? Doch dann steht sie vor ihrem Wagen und bringt plötzlich keinen zusammenhängenden Satz, ja kein Wort mehr heraus. Denn ihr Wagen, der im Schatten an der künstlichen Lagune mit ihren vertäuten Booten und schlendernden Touristen parkt, ist wieder einmal beschmiert worden. Diese Tatsache, die Entdeckung dieser Tatsache, nach Alicia und Wilson Gutierrez und den gedämpften Sprechchören der Demonstranten, die durch die Pianissimo-Passagen der Streichquartette auf dem Klassik-Kanal gedrungen und zu einer Art statischem Rauschen geworden sind, ist ebenso erschreckend wie eine Beule, die vorher nicht da war, oder das wilde, wütende Gebell des Hundes in dem Wagen neben ihrem. Sie hat die Hand sinken lassen, und aus dem Telefon dringt dünn und unbeachtet die quengelnde Stimme ihrer Mutter: »Alma? Bist du noch da?«
Diesmal ist die Farbe rot, jedenfalls sieht sie im gelblichen Licht der Bogenlampen entlang der Promenade rot aus, und die Message, wenn auch mehr oder weniger dieselbe wie zuvor, zielt jetzt in eine allgemeinere Richtung. Die bauchigen, in einem Zug gesprayten Buchstaben, die sich über Motorhaube und Windschutzscheibe winden, verkünden: Schweinemörderin. Sonst nichts. Attribut und Anklage in einem einzigen Kompositum, das, wie sie zugeben muss, in ihrem Fall zutrifft.
Lange Sekunden steht sie da und spürt den Stich. Sie ist ja wirklich eine Mörderin: Sie mordet Schweine, Ratten, Fenchel und Flockenblumen, sie mordet die auf die Inseln eingeführten Truthühner, die auch noch drankommen werden, sie mordet im Dienst einer höheren Sache, für Wiederherstellung, Wiedergutmachung, Erlösung, aber sie mordet. Traurigkeit mitsamt ihren fauligen Rändern erfüllt sie – und Müdigkeit, auch Müdigkeit, eine Erschöpfung kommt über sie, die sie schwächt wie die erste heftige Attacke einer Wintererkältung –, als sie sich vorbeugt und mit der Kante ihres Handys die dunkelrote Farbe vom Glas kratzt.
Das Konzert ist im Lobero, dem restaurierten Theater in der Stadtmitte, das im verlangsamten Rhythmus des Lebens vor einem Dreivierteljahrhundert vor sich hin tickt und ächzt, als die Welt größer war und weniger Menschen auf ihr lebten. Alma steht mit ihrer Mutter auf den spanischen Fliesen vor den hohen Türen und denkt unwillkürlich darüber nach: über eine Welt, in der die Bevölkerungszahl ein Drittel der heutigen betrug. Sie stellt sich vor, all die anderen wären nicht da, fortgeweht wie Pollen, so dass die Flüsse, die Wälder, die Tierwelt sich erholen könnten. 1924 steht auf dem Messingschild am Portal. Sie versucht es sich auszumalen. Nicht die Flapper Girls, die Gangster und so weiter, sondern vielmehr die Verhältnisse: Nach dem Krieg und der Grippewelle, die dieser ausgebrütet und in die Welt gespien hatte, war man auf das Nötigste reduziert, geographische Gegebenheiten und die Nahrungsproduktion begrenzten den Bevölkerungszuwachs, Dschungel waren groß und undurchdringlich und Berggipfel unbezwungen, in den Meeren wimmelte es von Fischen, Säugetieren und Wirbellosen – so war es, als dies Theater errichtet wurde, an derselben Stelle wie das alte, das aus dem Jahr 1873 gestammt hatte, als die Welt sogar noch größer gewesen war.
»Willst du noch ein Glas Wein?« fragt ihre Mutter. Sie trägt zur Feier des Tages einen hellblauen Hosenanzug, ihre Augen sind geschminkt, und sie hat sich ein Paar große, hängende Ohrringe aus Almas Schmuckschatulle im Schlafzimmer ausgeliehen. Sie hat Schuhe mit Absätzen angezogen, sich das Haar toupiert und es mit Spray in Form gezwungen. Sie sieht gut aus. Und sie strahlt vor Freude darüber, dass sie gemeinsam ausgehen. Und das ist ebenfalls gut.
»Nein, ich glaube nicht«, sagt Alma und schüttelt nachdrücklich den Kopf. Sie haben zu Hause ein Glas getrunken, um in Stimmung zu kommen, und ein zweites – oder vielmehr einen Plastikbecher, denn darin wird an dem Stand vor dem Theater der Wein ausgeschenkt –, als sie hier angekommen sind. Alma ist gern pünktlich, ja eigentlich kommt sie gern ein bisschen zu früh, und zwar auf eine Art, die, wie sie selbst unumwunden zugeben würde, einen Hauch neurotisch ist – am Flughafen ist sie unruhig, wenn sie nicht mit ihrer Zeitung am Gate sitzt, bevor ihr Flug überhaupt auf der Anzeige erscheint –, und so sind sie und ihre Mutter die ersten in der Schlange. Das soll aber nicht heißen, dass sie sich nicht entspannen kann, dass sie nicht das leichte Gefühl der Schwerelosigkeit nach dem zweiten Glas Wein genießen kann, während die Kühle des Abends sie umfächelt. Sie unterhält sich sehr angeregt mit den Leuten hinter ihr, zwei Collegestudentinnen, die als glühende Micah-Stroud-Fans mit dem Zug aus L. A. gekommen sind, aber sie denkt auch an das Konzert und den Druck, den sie nach fünf, sechs Stücken auf der Blase haben wird. Also fürs erste keinen Wein mehr. »Vielleicht später«, sagt sie, während ihre Mutter mit einem verkniffenen kleinen Lächeln zu dem Stand geht, um sich noch ein Glas zu holen, nicht ohne zuvor (unnötigerweise, denn die Plätze sind numeriert) zu flüstern: »Halt mir einen Platz frei.«
Um Viertel vor acht gehen die Türen auf, und sie nimmt ihre Mutter am Arm und führt sie durch das mit Teppichboden ausgelegte Foyer. Es gibt noch ein kleines Problem mit dem Wein – ein Ordner teilt ihnen mit, dass man keine Getränke mit hineinnehmen darf, worauf ihre Mutter den Plastikbecher in einem Zug austrinkt und ihm in die Hand drückt –, und dann sind sie im Zuschauerraum. Ihre Mutter ist begeistert, wie elegant das Theater ist, als hätte sie eine kahle Ravehalle oder eine heruntergekommene Kaschemme erwartet. Sie bleiben für einen Augenblick dort hinten stehen und betrachten stumm die noch dunkle Bühne und die ansteigenden Reihen der mit weinrotem Plüsch bezogenen Sitze, und dann entschuldigt sich ihre Mutter und geht in Richtung Damentoilette. Alma findet ihre Plätze – gute Plätze, fünfzehnte Reihe Mitte – und vertieft sich in das Programmheft.
Sie spürt, wie sie sich entspannt, wie sie den Augenblick genießt. Die Wandlampen leuchten sanft, die Stimmen murmeln erwartungsvoll. Sie hat Micah Stroud mittlerweile sechsmal gesehen, zweimal in San Francisco, dreimal in L. A. und einmal in Phoenix. Für die Studentinnen, die hinter ihr in der Schlange gestanden haben, ist das heutige Konzert das erste, und sie beneidet die beiden darum, um dieses rauschhafte Erlebnis, wenn die Saalbeleuchtung langsam erstirbt und die Bandmitglieder sich in den Schatten bewegen und Gestalt annehmen und der Scheinwerfer das leere Mikrofon beleuchtet und der Drummer mit den Besen über das Hi-Hat wischt und mit einemmal Micah da ist und seine Stimme über dem Anker seiner Gitarrenakkorde aufsteigt und das Gebäude und die Menschen darin restlos durchdringt. So war es jedesmal. Jetzt beugt sie sich gespannt vor und beobachtet die Bühne. Wippt mit dem Fuß. Will sich nicht sorgen, wo ihre Mutter bleibt.
Bald haben sich die leeren Plätze ringsum gefüllt, das Licht wird schwächer, und sie will sich gerade nach ihrer Mutter umsehen, als die sich, in der einen Hand die Tasche, in der anderen ein zerknittertes Programmheft, durch die Reihe schiebt. »Vor dem Klo war eine ziemlich lange Schlange«, sagt sie als Erklärung und setzt sich. Das Publikum kommt zur Ruhe. Ein paar Nachzügler zwängen sich an Handtaschen und beiseite gedrehten Knien vorbei. Der Mann vor Alma und ihrer Mutter stößt ein nervöses, bellendes Husten aus. Und dann brandet Applaus auf – Affen, die ihre glatten Handflächen und schwieligen Finger zusammenschlagen, nicht anders als vor drei Millionen Jahren in der afrikanischen Savanne, und sie ist eine von ihnen und klatscht ebenfalls Beifall –, und dann geht der Ansager mit raschen Schritten zur Bühnenmitte, nimmt das Mikrofon und sieht nachdenklich ins Publikum, bis das Klatschen erstirbt.
Er ist ein kleiner dicklicher Mann in den Vierzigern mit glattem Haar, das ihm in die Augen hängt und die Ohren verdeckt, und er ergreift die Gelegenheit, um ein paar Worte über diese Konzertserie zu sagen, durch die alle zwei Monate national – und international – bekannte Künstler wie Micah Stroud (abermals Applaus) in das historische Theater unserer kleinen Stadt Santa Barbara kommen, und dass man sich eine Broschüre mitnehmen und die Konzerte abonnieren kann, womit man nicht nur die Bands unterstützt, die man mag, sondern auch noch ein richtiges Geschäft macht, denn auf diese Weise kann man bis zu hundertzwanzig Dollar pro Saison sparen. Er weiß, dass er sich kurz fassen muss, aber dennoch gibt es Buhrufe aus den vorderen Reihen, und irgendwo hinter Alma ruft einer Micah, Micah, Micah, bis die Menge den Ruf aufnimmt und der Mann am Mikrofon verstummt. Ein paar Sekunden steht er einfach da und sieht spitzbübisch in den Saal, dann breitet er die Arme aus, bis das Publikum sich beruhigt.
»Und jetzt«, ruft er mit ganz veränderter Stimme – sie ist volltönend und sonor, die Stimme eines Anreißers, eines Conférenciers –, »der Augenblick, auf den Sie gewartet haben Meine Damen und Herren, liebe Zwerge und kleine Fische, begrüßen Sie nun das Wunder aus den Sümpfen von Louisiana, den Löwen der Bayous, den Mann mit der größten Stimme und dem größten Herzen im ganzen Musikgeschäft: MICAH … STROUD!«
Obwohl sie nicht zu den Menschen gehört, die stets auf der Hut sind, die stets genau wissen, was um sie herum geschieht, und mit allen fünf Sinnen wahrnehmen, was die Welt ihnen bringt, rührt sie sich nicht, sieht sie sich nicht um, tut sie während der ersten drei Stücke nichts, als im Rhythmus zu nicken und mit dem Fuß zu wippen. Er steht allein auf der Bühne, mit der akustischen Gitarre, die Band wartet in den Kulissen, denn im Augenblick gibt es, in Umkehrung der üblichen Reihenfolge, nur Micahs Stimme und seine Gitarre. Ihre Mutter sitzt neben ihr, doch Alma ist sich dessen gar nicht bewusst; die Songs, die für sie etwas so Persönliches sind, als wären sie für sie allein geschrieben, packen sie und tragen sie an einen ganz anderen Ort. Und so sollte es ja auch sein. Deswegen ist sie gekommen. Deswegen konzentriert sie sich ganz und gar auf Micah, der sich über die Gitarre beugt, bis die steife, glänzende, sorgfältig frisierte Tolle sich löst und glitzernde Schweißtropfen in das Spitzbärtchen rinnen.
Er beginnt mit »Loggerhead Blues«, einem langsamen, trottenden Blues, der in den synkopierten lebhafteren Rhythmus von »Dip and Rise« übergeht und schließlich in die tragische Klage »Minamata« mündet, mit ihren Bildern von missgestalteten Kindern, die in das Fruchtwassermeer zurückkehren, aus dem sie gekommen sind, bis das Methylquecksilber aus der Umwelt verschwunden ist, aus den Eiern ihrer Mütter und den Samen ihrer Väter, und sie wieder erscheinen können, heil und unversehrt, um in reiner Freude mit winzigen Fingern und Zehen zu winken. Sie wiegt sich hin und her. Sie denkt nicht, sie empfindet nur, denn hier ist ein Mann, der versteht, der für die Umwelt kämpft, der, wenn er nur Bescheid wüsste, aufstehen und all seine Kraft und seinen Einfluss einsetzen würde, um sie und Tim und alles, was sie erreichen wollen, zu unterstützen.
Und dann, als die anderen Mitglieder der Band aus den Kulissen treten und Micah sich die Elektrogitarre umhängt und der Drummer mit seinen zwei helleuchtenden Stöcken den Takt schlägt, denkt sie doch und fragt sich, ob er je auf den Inseln war, ob er sich des Ernstes der Lage bewusst ist und weiß, was auf dem Spiel steht. Sie sieht zu ihrer Mutter, der das Konzert zu gefallen scheint, und dann wieder auf die Bühne, wo die ersten Akkorde von »Swamp Saviour« mit der Wucht eines atmosphärischen Phänomens erklingen, doch sie ist jetzt gar nicht mehr in diesem Saal – nein, sie ist auf der Insel, Micah Stroud ist bei ihr, und gemeinsam nehmen sie die Schäden in Augenschein, die die Schweine angerichtet haben, beugen sich tief hinunter und betrachten die gefangenen Füchse in der Ruhe und Sicherheit ihrer Käfige. Sie fragt ihn, ob er nicht einen Song für dieses Projekt schreiben könnte, eine Hymne über die Rettung und Erlösung der Natur, und er neigt sich zu ihr, und das Sonnenlicht blitzt in seinen Augen, als er sagt: Na klar, mach ich, und dazu spende ich alle Einnahmen aus diesem Song für die gute Sache. Na, was sagst du dazu? Ist das gut genug? Nein? Okay, dann leg ich noch einen Scheck drauf … aber nur, wenn’s da eine kleine Gegenleistung gibt, denn weißt du eigentlich, wie unwiderstehlich du bist? Machst du auch mal Urlaub? Ich meine, hättest du Lust, mit auf Europatournee zu gehen? Stockholm? Warst du schon mal in Stockholm …?
Vier Stücke zusammen mit der Band, dann wird die Bühne dunkel, beleuchtet nur noch von einem einzigen Scheinwerfer. Er dreht sich einen Moment um, verschwindet im Schatten, um die Gitarre zu wechseln – jetzt ist wieder die akustische dran –, und tritt dann an das altmodische Standmikrofon, das zu seinem Markenzeichen geworden ist, um sich zu erkundigen, ob es allen gutgeht. O ja. Allen geht’s gut. Sogar Almas Mutter, die, als das Publikum bestätigend brüllt, einen Kriegsschrei aus den sechziger Jahren ausstößt. »Heiße Stadt«, murmelt Micah und wischt sich mit einem schlaffen Handtuch den Schweiß vom Gesicht. »Kann ich hier ganz gut gebrauchen, an diesem kühlen Abend an der kalifornischen Küste, wo ein armer Kerl aus den Bayous sich an dem wärmen kann, was ihr guten Leute ausstrahlt« – Pfiffe, Beifall –, »und dafür danke ich euch aus tiefstem Herzen.«
Er verbeugt sich und nimmt den Applaus entgegen, sein verschwitztes Haar fällt ihm in die Stirn, und als er sich aufrichtet und das Scheinwerferlicht sein Gesicht trifft, sieht sie, dass er grinst. »Aber heute abend haben wir was Besonderes für euch, und zwar hier aus Kalifornien« – er hebt die Hand, beschattet die Augen und späht ins Publikum –, »eine unglaublich talentierte Singer-Songwriterin, die mich bei meinem nächsten Stück begleiten wird. Anise? Wo bist du, Schätzchen?«
Das ist der Augenblick, in dem alles zu rauschen und zu wirbeln scheint, als wäre sie in einem Strudel gefangen, als würden sie und der ganze Block, in dem sie sitzt, in einem Abfluss versinken, ihre Mutter ist nur ein Trugbild, der hustende Mann ist fort, die Hipster mit ihren langen Jacken und Halstüchern und phototropen Brillengläsern verschwinden gurgelnd, und dann erhebt sich Anise von ihrem Platz in der ersten Reihe – wie hat sie sie nur übersehen können? –, gekrönt von einer pilzförmigen Wolke aus lockigem Haar. Und das ist noch nicht alles. Denn Dave LaJoy ist ebenfalls anwesend, er sitzt auf dem Platz neben Anise und klatscht Beifall, in den das Publikum sogleich einfällt. Wilson Gutierrez, sein Sitznachbar auf der anderen Seite, pfeift und stampft mit den Füßen, während Alicia ihr blasses, ausdrucksloses Gesicht zum Licht hebt, das von der Bühne strömt, und die Frau neben ihr mit dem ergrauenden Lockenschopf voller Mutterstolz strahlt. Anises Mutter. Anise Reeds Mutter. Und bevor Alma das alles auch nur ansatzweise verarbeiten kann, steigt die unglaublich talentierte Singer-Songwriterin auf die Bühne, ihre nackten Füße beben, die Zehennägel schimmern, und aus den Kulissen eilt ein Helfer herbei und reicht ihr auf ausgestreckten Händen ihre Gitarre, als wäre diese eine Opfergabe.
Beinahe sechzig Jahre zuvor, als die Plätze des Lobero sich nach den mageren Kriegsjahren langsam wieder zu füllen begannen, brachte Almas Großmutter im St. John’s Hospital in Santa Monica ihr Kind zur Welt, ein gesundes Mädchen von sechseinhalb Pfund, das durch die Strapazen, denen seine Mutter auf Anacapa ausgesetzt gewesen war, keinen Schaden genommen zu haben schien. Beverly lebte bei ihrer Mutter, denn am Ende dieses ersten katastrophalen Monats, in dem sie Till in jeder Minute eines jeden Tages so sehr vermisst hatte, als wäre er wieder in den Krieg gezogen, konnte sie die Miete für die gemeinsame Wohnung nicht mehr bezahlen. So gab es nun zwei Witwen in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Ihr Vater war seit zehn Jahren tot, ihre Mutter war den ganzen Tag auf den Beinen und stand in einem Lebensmittelgeschäft am Lincoln Boulevard an der Kasse, obwohl sie Krampfadern hatte und ihre Knöchel anschwollen, bis sie aussahen wie eine aus der Form geratene Schichttorte.
Als Beverly im Krankenhaus erwachte und die Schwester ihr das Baby brachte, glaubte sie zunächst an eine Verwechslung, so überzeugt war sie, ihr Kind müsse ein Junge sein: Tills Sohn, das Abbild seines Vaters, vom Himmel herabgekommen, um ihn zu vertreten, Till junior, der zu einem Mann mit zwei gesunden Armen heranwachsen würde. Sie hatte sich keinen Namen für ein Mädchen ausgedacht, doch als ihre Mutter, noch in Uniform, direkt von der Arbeit ins Krankenhaus kam und das Kind überglücklich in den Armen hielt, schoss ihr ein Name durch den Kopf: Matilda, sie würde ihre Tochter Matilda nennen, kurz Tillie. Sie sagte ihn laut in diesem hallenden Raum, sprach ihn für ihre Mutter aus, während ihre Zimmergenossin mit den beiden Zwillingssöhnen ruhig lächelnd zusah. »Tillie – was hältst du von Tillie?«
Ihre Mutter starrte dem Baby ins Gesicht, als stünde dort eine Botschaft aus einem unerforschlichen Reich, und schnalzte mit der Zunge. »Willst du wirklich für den Rest deines Lebens damit leben?« sagte sie, ohne aufzusehen.
»Womit leben?«
»Wenn du es nicht weißt, kann ich’s dir nicht erklären. Aber denk darüber nach. Denk einfach nach.«
Während der erste Tag gedämpft dahinging, während sie das Baby fütterte und ihm die Windeln wechselte und sie sich am nächsten Tag von einem Taxi nach Hause fahren ließ, wehrte sie sich störrisch gegen diesen Gedanken: Sie sah Till vor sich, wie er vor dem Krieg gewesen war, Till in Uniform, Till ohne Uniform, im Bett, wo er seinen Körper leidenschaftlich an ihren gepresst hatte. In den ersten beiden Wochen, ja bis zum Vorabend der Taufe, war das Baby nur das Baby, doch schließlich, als sie im Schaukelstuhl am Fenster des einzigen Hauses saß, das sie gekannt hatte, bis ihr Mann sie hinaus ins Leben geführt hatte, als ihre Tochter zufrieden den Sauger der soeben gewärmten Flasche im Mund hatte und ihre Mutter auf müden Füßen hereingeschlurft kam, um ihr eine Tasse Tee zu bringen, kam sie zur Besinnung: Sie hatte keinen Sohn, sondern eine Tochter, und Till war jetzt ein Geist. In diesem Augenblick bekam das Baby seinen Namen: Sie würde es Katherine nennen, nach der sanftmütigen Frau mit dem leidenden Gesicht und dem freundlichen schmalen Lächeln, die Tasse und Untertasse balancierte, als wäre sie im Begriff, beides mit einem Taschenspielertrick verschwinden zu lassen, und dabei keinen Augenblick den Blick von ihr wendete.
Männer kamen zu Besuch, Männer, die aus demselben Holz geschnitzt waren wie Warren, doch Beverly ermunterte sie kein bisschen, und nach einer Weile hörten sie auf zu kommen. Beverly hatte nicht vor, ein zweites Mal zu heiraten, nicht einmal ihrer Tochter wegen, denn sie war eine Frau, die nur einem einzigen Mann gehörte, für immer und ewig, und sie würde ihr Leben allein beschließen, um dann im Himmel mit Till und niemandem sonst wiedervereinigt zu sein. Wenn Katherine (oder Kat, wie sie bald genannt wurde, weil sie sich nie von ihrer Plüschkatze trennte – höchstens in der Badewanne und auch dann nur widerwillig) ohne Vater aufwuchs, so war sie, angesichts der Scheidungsrate und der Verluste durch den Krieg, nicht die einzige, und es schien ihr nie etwas auszumachen, jedenfalls nicht, solange sie zur Schule ging. Beverly blieb natürlich nichts anderes übrig, als innerhalb eines Monats nach der Geburt ihrer Tochter wieder arbeiten zu gehen. Sie tauschte die Rollen mit ihrer Mutter, die im Lebensmittelgeschäft kündigte und zu Hause blieb.
Verwöhnte ihre Mutter das Kind? O ja. Die beiden verbrachten, ausgerüstet mit einer Schaufel und einem roten Plastikeimer, endlose Nachmittage am Strand und sammelten Muscheln und Seesterne, sie unternahmen Ausflüge zu den Kanälen, wo sie die Enten fütterten, und aßen Eis und Kuchen im Eissalon. Kat besaß zahllose Spielzeuge, Kleider und Schuhe. Kinder mussten verwöhnt werden – das fand jedenfalls Beverlys Mutter. Und wenn Kat beim Essen eine Geschichte hören wollte, dann bekam sie eben ihre Geschichte. Und beim Zubettgehen und zum Frühstück ebenfalls. Anfangs gab es die Kinderreime, die Beverly selbst als Kind von ihrer Mutter gehört hatte: »Goosey, Goosey Gander«, »Little Jack Horner« und »Mary Had a Little Lamb«, vorgelesen aus ebenjenen abgegriffenen Büchern, die Beverly auf einem besonderen Regalbrett aufbewahrt hatte, bis sie ihr peinlich geworden waren und sie sie in die Garage verbannt hatte. Dann wurden die Geschichten länger, und die drei kleinen Schweinchen und die drei Bärchen waren am Esstisch dabei, und nach dem Abendessen, bevor Beverly das Radio – und in späteren Jahren den Fernseher – einschaltete, lasen sie und ihre Mutter ein Buch nach dem anderen vor, und immer noch wollte Kat mehr und mehr hören. Nach den Kinderreimen kamen Dick und Jane und Pu der Bär und andere, und als Kat in die Vorschule kam, begann sie bereits, selbst zu lesen.
Die Schule begeisterte sie. Sie war eine eifrige Schülerin, die sich in jede Arbeit versenkte, ganz gleich, wie langweilig oder frustrierend diese ihren Klassenkameraden erschien. Ihre Noten waren hervorragend. Als in der sechsten und dann in der siebten Klasse die Leistungsprüfungen abgehalten wurden, war sie stets unter den Besten. Sie war ein glückliches Kind. Sie blühte und gedieh. Und dann kam die Pubertät und traf sie mit der unvermittelten Gewalt eines Meteors. Eben noch war Kat ein kleines Mädchen mit einem Minnie-Maus-Barett gewesen, und mit einemmal hatte sie eine Figur, und nach Schulschluss hingen Jungen vor dem Haus herum, jüngere Versionen der Männer, die für Beverly geschwärmt hatten, doch Kat schien sich nie für einen von ihnen zu erwärmen und vernachlässigte nie, nicht einmal am Tag des Abschlussballs, ihre Hausaufgaben. Beverly hoffte, dass Kat ein College würde besuchen können, vielleicht sogar mit einem Stipendium, denn sie war überzeugt, dass es nichts gab, wozu ihre Tochter nicht imstande war.
Darum legte sie jede Woche etwas von ihrem Lohn beiseite. Sie selbst hatte nicht aufs College gehen können. Ihren High-School-Abschluss hatte sie mitten in der Weltwirtschaftskrise gemacht, und danach, im Krieg, hatte sie in einer Rüstungsfabrik gearbeitet, aber sie hatte einen Kurs für Sekretärinnen besucht, und das hatte sich ausgezahlt. Als Kat in die erste Klasse kam, arbeitete Beverly als Sekretärin in der Schulverwaltung des Distrikts Santa Monica-Malibu. Es war eine feste, krisensichere Anstellung, und da sie bei ihrer Mutter wohnte und dieser das Haus gehörte, ging das Geld, mit dem sie sonst die Miete bezahlt hätte, auf ein Sparkonto. Und das war kein Sparschwein, in das man jede Woche einen Dollar steckte, sondern ein echtes College-Konto. Für Kat. Kat war ihre Hoffnung. Kat, deren Mutter Sekretärin und deren Vater tot war, ertrunken im tosenden Wasser der Anacapa-Passage, würde die erste in ihrer Familie sein, die ein College besuchen und somit Zugang zu allen Berufssparten haben würde, für die man einen Collegeabschluss brauchte: Jura, Medizin, Pädagogik, Naturwissenschaften.
Als sie ein staatliches Stipendium für die UCLA bekam, das nicht nur die Studiengebühren, sondern auch die Lebenshaltungskosten deckte, feierten sie – alle drei, obwohl Beverlys Mutter inzwischen kaum noch laufen konnte und das Haus seit Monaten nicht mehr verlassen hatte – mit einem Hummeressen in einem Hotel am Ocean Boulevard mit Blick aufs Meer. Im ersten Studienjahr wohnte Kat noch zu Hause, doch dann zog sie in ein Studentinnenheim, so dass ihre Mutter und Großmutter sie nur noch an den Wochenenden sahen. Nach einer Weile ließ sie den einen oder anderen Wochenendbesuch aus, dann auch mal zwei hintereinander, immer mit der Begründung, sie müsse so viel lernen. Manchmal verging ein ganzer Monat, bis sie heimkam, und dann brachte sie eine große Tasche voller schmutziger Wäsche mit, die Beverly nur zu gern wusch, zusammenlegte und stapelte, die ganze Zeit bemüht, sich keine Sorgen zu machen und nicht zu nörgeln. Denn Kat war zu dünn, ihr Haar war lang und in der Mitte gescheitelt wie das der Hippies, die Beverly in der Zeitung und in den Fernsehnachrichten gesehen hatte, und wie die Hippies trug sie tief auf der Hüfte sitzende Jeans mit ausgestellten Beinen, bestickt mit Sternen und Blumen, und Blusen, die ihren Bauch freiließen, was wohl jeder – nicht nur ihre Mutter – provozierend finden musste. Und was war mit Drogen? Marihuana? Rauchte sie Marihuana?
Kat verlor nie ein Wort darüber. Sie sprach auch nie über ihre Noten, und als am Semesterende die Zeugnisse eintrafen, wusste Beverly, die nicht im Traum die Post ihrer Tochter geöffnet hätte, sich nicht anders zu helfen, als sie danach zu fragen. War alles in Ordnung? Ja, versicherte Kat ihr, alles in Ordnung. Und fügte in einem Ton, der Beverly nicht gefiel, hinzu: Hör auf, mich zu nerven. Im dritten Studienjahr verliebte sich Kat. Das erzählte sie ihrer Mutter am Telefon und bei ihren selten gewordenen Wochenendbesuchen, aber wer war der Junge? Wie hieß er? Aus was für einer Familie stammte er? Welches Fach studierte er? Er war doch Student, oder? Und er rauchte doch nicht etwa Marihuana? Was machte sein Vater? Und woher kam seine Familie? So ging es das ganze Wochenende, vom Abendessen am Freitag bis zum Frühstück am Sonntag. Auf der mit Fliegengitter versehenen Veranda rumpelte die Waschmaschine, und das Licht der blassen, müden Sonne lag wie ein Fettfilm über allem in der Küche. »Willst du mir nicht mal seinen Namen verraten?« sagte Beverly, als sie ihr einen Teller mit Waffeln und zwei pochierten Eiern vorsetzte. »Deiner eigenen Mutter? Ich meine, wozu die Geheimniskrämerei? Ist er ein Zwerg oder so« – sie lachte kurz auf – »oder ein Kommunist? Oder hat es was mit uns zu tun? Mit deiner Oma und mir? Schämst du dich für uns?«
»Greg«, sagte Kat schließlich mit unvermittelt wutverzerrtem Gesicht. »Er heißt Greg? Zufrieden?«
Ihre Mutter, die ihr zugesetzt hatte, seit sie am Freitag abend durch die Tür getreten war, sah aus, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen, und trotz ihrer Verärgerung bedauerte Kat sogleich, was sie gesagt hatte. »Es tut mir leid, Mom«, sagte sie. »Ich hab einfach ziemlich viel um die Ohren. In der Uni. Ich brauche ein bisschen Platz für mich, okay?«
Mit knotigen Fingern und gesenktem Kopf saß ihre Oma am Tisch und pulte Krabben, als hätte sie nie etwas anderes getan. Die grauen, nackten Krabben landeten in einer Glasschüssel, während die durchsichtigen Panzer sich auf einer Seite der Times häuften. Obgleich eine Revolution in der Luft lag, sah sie nicht auf.
Beverly sah ihre Tochter gekränkt an. Sie hielt einen Streifen grüne Paprika zwischen den Lippen, den sie hin und her schob wie einen Zahnstocher. »Ich will ja nicht neugierig sein, aber –«
»Dann lass mich einfach in Ruhe.«
Als sie das nächstemal kam, in den Weihnachtsferien, trat ihre Mutter in dem Augenblick aus der Küche, in dem der Schlüssel sich im Schloss drehte. Sie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, und ihr Begrüßungslächeln erstrahlte und verblasste, als sie auf Kat zuging und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Dann nahm sie einen Umschlag von dem Tischchen im Flur und reichte ihn ihr. »Das ist gestern für dich gekommen«, sagte sie und beobachtete die Reaktion ihrer Tochter.
Der Brief war von Greg, das sah Kat auf den ersten Blick. Sie hatte noch eine Prüfung in Entwicklungspsychologie ablegen müssen, doch er war schon ein paar Tage früher nach Santa Barbara gefahren, um die Feiertage bei seinen Eltern zu verbringen. Am Tag nach Weihnachten wollte er kommen und sie zu einem Campingtrip nach Ensenada abholen, den sie schon seit einem Monat planten: sechs Tage allein, tagsüber am Strand und nachts im Zelt, im selben Schlafsack, wie (das war Gregs Witz) Robert Jordan und sein »Häschen«. Möglicherweise errötete sie, als sie den Brief nahm, ihn einmal faltete und in eine der hinteren Taschen ihrer Jeans steckte. Sie sagte nichts, doch ihre Mutter fixierte sie, als wollte sie sie, wie in dieser Szene in Goldfinger, mit einem Laser zerschneiden.
»Take-sue«, sagte sie und sprach den Namen falsch aus. »Ist das Ungarisch oder Polackisch oder was? Deine Oma und ich konnten uns keinen Reim darauf machen.«
Sie wollte erwidern: Müsst ihr ja auch nicht, doch statt dessen sagte sie, nur um zu sehen, wie ihrer Mutter die Erkenntnis dämmerte: »Takesue. Drei Silben. Und die letzte wird ›sui‹ ausgesprochen, wie in ›Chop Suey‹.«
»Chop Suey?« wiederholte ihre Mutter und sah verwirrt aus. Von der Straße und durch das Glas des Wohnzimmerfensters drangen Stimmen – Betrunkene, die aus den Bars an der Promenade kamen. Sie stieß ein nervöses Lachen aus. »Soll das heißen …? Er ist doch nicht etwa Chinese?«
Das war der Augenblick, den sie hatte vermeiden wollen, seit Greg mit seinem langen, vollen, schimmernden Haar – länger als das von George Harrison, länger als das von irgendeinem in irgendeiner Band, die sie je gesehen hatte – in der Mensa an den Tisch getreten war, an dem sie und ihre Freundin Patty gesessen hatten, und gesagt hatte: »Warst du nicht letztes Semester in Bielers Seminar?«
»Nein, Mom«, sagte sie. Sie stand, die Tasche am Riemen über ihrer Schulter, noch immer im Flur, der Brief war sicher verstaut, der Mantel hing bis zu ihren Knien. »Nein, er ist kein Chinese.« Sie hielt kurz inne, stellte die Tasche ab und sah ihrer Mutter ins Gesicht. »Takesue ist kein chinesischer Name, sondern ein japanischer.«
Und dann, bevor ihre Mutter die Luft anhalten oder schnauben oder schreien oder den Kopf schütteln und sich empören konnte: Japanisch? Dein Freund ist ein Japs? Nach all dem, was die deinem Vater angetan haben?, ging sie durch den Flur in ihr Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
Als Greg am Tag nach Weihnachten beladen mit in Geschenkpapier verpackten Päckchen die Stufen zum Eingang heraufkam – der rotbraune Dodge Charger seines Vaters stand an der Bordsteinkante wie eine geparkte Rakete –, bot sich Beverly ein Bild reiner Schönheit, nur dass sie es nicht so sah. »Greg!« rief Kat und lief zu ihm, während ihre Mutter entsetzt zurücktaumelte, denn dieser Greg war nicht nur ein Hippie mit einem gebatikten Poncho, silbern gestreifter Hose, abgewetzten Stiefeln und einem breitkrempigen Hut, in dessen Band stolz eine Adlerfeder steckte, sondern obendrein auch noch ein Asiate. Nein, schlimmer: ein Japaner. Mit einem Fu-Manchu-Schnurrbart, der seinen Mund mit zwei herabhängenden durchscheinenden Strähnen einrahmte. Kat nahm seine Hand, führte ihn herein und sagte: »Mom, das ist –« Doch ihre Mutter war bereits verschwunden und hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen.
Sie hatte versucht, ihn zu warnen – Meine Mutter ist ein bisschen seltsam, nach dem Krieg und so, dem Zweiten Weltkrieg, meine ich –, doch sie kannte ihn gut genug, um zu sehen, dass er ebenso schockiert war wie ihre Mutter, schockiert und gekränkt. Ältere Leute, dumme und engstirnige Menschen mit fetten weißen Gesichtern und Fünf-Dollar-Haarschnitten mochten ihn verspotten, weil er sich eigenartig kleidete und ein Hippie war, aber damit kam er zurecht. Rassismus dagegen war etwas anderes. Seine Familie lebte seit fünf Generationen in Amerika, er war genauso amerikanisch wie jeder andere auch, seine Eltern waren wohlhabend und betrieben in Santa Barbara einen Fischgroßhandel, und er würde seinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft einnehmen, ob es gewissen Leuten nun gefiel oder nicht. Und wenn er auf die Straße ging und gegen den Vietnamkrieg demonstrierte, so war das sein verbrieftes Recht. Ebenso wie die Entscheidung, was er anzog, welche Platten er hörte und welche Drogen er seinem Körper mit dem freiesten Willen der Welt zuführte. Das war Greg. Das war seine Sicht der Dinge. Und wenn das Leben ein einziger Kampf war, nun, dann war es eben so. Kat hatte das Gefühl, als bekäme sie keine Luft mehr. Ihre Gedanken sprangen von einer Misslichkeit zur anderen wie ein Grashüpfer auf einem heißen Bürgersteig. »Komm«, flüsterte sie, nahm seine Hand und zog ihn herein.
Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf folgte er ihr steif ins Wohnzimmer, wo ihre Großmutter im Sessel saß und sich eine Seifenoper ansah.
Kat nahm ihm die Geschenke ab und legte sie auf das Sofa. Dann erhob sie die Stimme, damit ihre Großmutter sie hören konnte, und sagte: »Ich möchte dich meiner Großmutter vorstellen. Oma, das ist Greg.«
Im Lauf des vergangenen Jahres hatte sich der Geist ihrer Großmutter verwirrt, das Gesicht war unbeweglich geworden, die Augen blickten stumpf, die Hände lagen zitternd in ihrem Schoß. Mit Mühe hob sie den Blick und das bebende Kinn. Greg beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, murmelte er, doch sie starrte nur auf seine Hand und erwiderte nichts.
»Greg ist mein Freund, Oma – ich hab dir von ihm erzählt«, sagte Kat, und plötzlich fröstelte sie, von einem kalten Hauch getroffen, als wäre das Haus ein Gletscher, der sich gerade unwiderruflich spaltete. Sie wandte sich zu Greg und sagte: »Oma ist ein bisschen schwerhörig« – ein Lächeln –, »stimmt’s, Oma? Aber meine Mutter … ich glaube, sie zieht sich gerade was Hübscheres an. Warte hier, ich hole sie.«
Seine Stimme klang gepresst – auch er steckte in der Gletscherspalte. »Bemüh dich nicht«, sagte er.
Ihr gefiel der Gedanke, dass sie während dieses Urlaubs in Mexiko mit Alma schwanger geworden war, aber das konnte nicht sein, denn Alma kam erst im Oktober, also musste es passiert sein, als sie wieder auf dem College waren. Jedenfalls wurde sie schwanger, obwohl sie die Pille nahm und ihr nicht einmal ansatzweise bewusst war, dass sie auch nur den leisesten Wunsch verspürte, ein Kind zu bekommen – jedenfalls jetzt noch nicht. Diese Schwangerschaft schloss sie in den Gletscher ein, bis dieser sie wieder freigab. Sie konnte nicht zurück nach Hause. Und sie ging auch nicht zurück nach Hause. Sie machte die Abschlussprüfung (ihre Mutter weinte bei der Zeremonie, ohne den Grund oder das Ausmaß ihres Kummers zu kennen), und dann zog Kat mit Greg nach Santa Barbara. Er arbeitete auf einem der Boote seines Vaters und tauchte vor der Südküste von Santa Cruz nach Hummern und Abalone.
Anfangs wohnten sie bei Gregs Eltern auf der Mesa, gleich oberhalb des Yachthafens, doch trotz der Größe des Hauses – weitläufig und altmodisch, mit Veranden und Balkons und Ausblicken auf das Meer durch die nach Süden und Osten gelegenen Fenster – ging es dort recht beengt zu. Da waren Gregs fünf Geschwister, allesamt jünger als er und fortwährend in geschwisterliche Rivalitäten verstrickt, da waren seine Großmutter väterlicherseits, zwei unverheiratete Onkel und eine bunte Mischung aus Hunden, Katzen und in Käfigen gehaltenen, grässlich schreienden Vögeln. Obwohl Greg und sie ein eigenes Zimmer hatten, fühlte Kat sich dort nicht heimisch. Ihre Schwiegermutter wehrte jedes Angebot zur Mithilfe im Haushalt ab – Kat durfte weder Gemüse schneiden noch abwaschen oder auch nur den Abfall hinausbringen, und jedesmal, wenn sie sich auf das Sofa setzte oder die Küche betrat, fühlte sie sich wie ein Eindringling, was sie ja auch tatsächlich war. Und obgleich sie, wie sie fand, keinerlei Vorurteile hatte, war es doch eigenartig, in einem japanischen Haushalt zu leben – oder vielmehr in einem japanisch-amerikanischen Haushalt, wie sie sich ständig korrigierte.
Nicht dass Gregs Familie so viel anders gewesen wäre als irgendeine andere Familie – man aß Steaks, Burger, Hot-dogs und so weiter, wenn auch vielleicht mehr Fisch, denn damit verdiente man ja schließlich das Geld. Aber jeder andere Haushalt, und sei es der im Nachbarhaus ihrer Mutter in Venice, wäre ihr ebenso merkwürdig erschienen, besonders in ihrem Zustand. Sie war an Stille und Ordnung gewöhnt, an ein Haus, in dem Frauen aus drei Generationen in Frieden lebten und arbeiteten, ohne die störende Anwesenheit von Männern, Kindern und Haustieren. Hier dagegen herrschte Chaos, hier war alles fremd: Dies war eine neue Gemeinschaft mit neuen Regeln. Die Gerüche waren anders, die kleinen Rituale rund um das Essen, die Regeln, wer wo zu sitzen hatte, der Lärm und das Toben der Kinder und ihrer Freunde, ja selbst die Hunde – zwei Akitas – waren anders als alle, die sie je gesehen hatte: Ihre Köpfe waren breit und flach wie die von Bären, ihre Gewohnheiten undurchschaubar, und wo verrichteten sie eigentlich ihr Geschäft? Immer wieder überraschte Kat sie auf ihrem Bett, und zweimal war die Bettdecke danach verdächtig feucht.
Es war noch kein Monat vergangen, da begann sie Greg in den Ohren zu liegen, er solle sich nach einer eigenen Wohnung für sie beide umsehen – nichts gegen seine Familie, aber sie brauche ein wenig Privatsphäre –, und als Alma dann geboren war und Kat den ganzen Tag in ihrem Zimmer blieb, um sich nicht schon wieder anhören zu müssen, was ihre Schwiegermutter zum Thema Kinderaufzucht zu sagen hatte, wurde die Sache dringlich. Im Frühjahr des folgenden Jahres 1969 erfüllte sich ihr Wunsch. An einem feuchten, nebligen Abend kam Greg von der Arbeit nach Hause, strich sich das Haar aus dem Gesicht und verkündete mit einer Stimme, der man die Erregung anmerkte, dass sie zum Hafen ziehen würden, auf ein Boot, das er für 3600 Dollar gekauft hatte – ein Drittel war angezahlt, der Rest nach einem Jahr fällig. Wäre das Baby nicht gewesen, dann wäre sie ihm um den Hals gefallen. So legte sie einen Arm um Greg, im anderen hielt sie Alma, und dann tanzten sie im Zimmer herum, bis Gregs Onkel Billy, der in der Nachtschicht arbeitete und das Zimmer unter ihnen hatte, die Treppe hinaufkam und sich beschwerte.
Die Black Gold war ein Fischerboot, ein umgebautes Zehn-Meter-Kajütboot mit einem offenen Achterdeck aus Fiberglas anstelle der ursprünglichen Holzbeplankung, unter dem sich ein Laderaum für den Fang befand. Die Kajüte und die Kojen befanden sich im Vorschiff. Das Boot verfügte über eine Kombüse, so groß wie ein Kühlschrank, einen Kühlschrank, so groß wie eine Apfelsinenkiste, einen Tisch, der heruntergeklappt werden konnte, wenn er nicht benutzt wurde (also nie), eine winzige, sarggroße Toilette und eine Sperrholzplatte, dekoriert mit einer uralten Schaumstoffmatratze und einem Schlafsack, der eine Mischung modriger Gerüche verströmte. Duschen, Klos und Waschmaschinen gab es im Yachthafen. Kat sagte im Scherz, das Boot gebe eine völlig neue Definition des Begriffs Feuchtigkeit. Jedes Kleidungsstück, jede Windel, jedes Handtuch hätte ebensogut ein Schwamm sein können – das Zeug trocknete nur, wenn die Sonne schien und der Wind auffrischte und die Sachen aufgehängt werden konnten. An den Tagen, an denen das Boot im Hafen lag, wohlgemerkt. Und solche Tage waren, anfangs jedenfalls, selten.
Sie wurde im Dunkeln von Almas Weinen geweckt, nahm die Kleine mit ins Bett, um sie zu stillen, stand danach auf und machte das Frühstück für Greg: gebratenen Reis, vier Eier, Makrelen oder Abalone oder kanadischen Speck, in der Pfanne gebraten, Käsetoast, Unmengen Kaffee. Und dann, wenn sein Partner Mickey Mans erschien und gleichermaßen verkatert, ausgehungert und stoned aussah, nahm sie das Baby und verbrachte den Tag bei ihrer Schwiegermutter oder ging den ganzen Weg die Anacapa Street hinauf zur Bibliothek, wo sie in Büchern blätterte und mit Alma spielte, bis sie glaubte, vor Langeweile zu ersticken. Aber das Leben war billig, sie hatten ihre Privatsphäre, und jeden Abend wartete sie mit einer Einkaufstüte voller Lebensmittel am Hafen, wenn die Black Gold tuckernd einlief. Sie entwickelte sich zu einer Spezialistin für schnelle, aber nahrhafte Mahlzeiten, die sie meist im Wok zubereitete: Blumenkohl, Pok Choy, Pilze, Zuckerschoten, Bohnensprossen oder was sich sonst gerade auf dem Markt fand, dazu Fisch, den sie den heimkehrenden Fischern für praktisch nichts abkaufte: Heilbutt, Hummer, Krabben oder Rotbarsch.
Und uni, obwohl sie sich nie dafür erwärmen konnte. Uni – Seeigel – waren das, was Greg und Mickey aus dem Meer holten, ausschließlich uni, denn mit Abalone war wegen der Überfischung kein Geld mehr zu verdienen, auch Grundfische waren selten geworden, und Hummer durften nur zu bestimmten Zeiten gefangen werden. Gregs Vater hatte den Nischenmarkt für Seeigel entdeckt. Er verkaufte sie an einen Zwischenhändler in L. A., der sie nach Japan fliegen ließ. Sie waren unter den ersten, die sich auf Seeigel spezialisierten, aber in den späten siebziger Jahren, als Alma in die vierte, fünfte, sechste Klasse ging und es für das Normalste auf der Welt hielt, auf einem Boot zu leben, setzte ein echter Boom ein. Bis dahin hatte man Seeigel für eine Plage gehalten, doch mit einemmal waren sie ungeheuer begehrt. Die Japaner konnten gar nicht genug davon kriegen. Sie hatten es hauptsächlich auf den Rogen abgesehen oder vielmehr auf die Keimdrüsen, orangerote Organe, die sternförmig in der stachligen Schale angeordnet waren. Diese wurden vom Großhändler ausgelöst, in Eis gepackt und über Nacht nach Tokio geflogen. »Schwarzes Gold« nannte man die Seeigel, auch wenn sie sich im Sonnenlicht rot oder violett färbten, und sie brachten gutes Geld, erstklassiges Geld, phantastisch viel Geld.
Als Alma in die sechste Klasse ging, kauften sie ein Haus in einer Nebenstraße, nur wenige Gehminuten vom Hafen entfernt, und damit war es vorbei mit der Feuchtigkeit und dem Schimmel, mit der Beengtheit und dem Fischgeruch, so übermächtig, als würden sie im Schlamm auf dem Meeresgrund leben. Es war nicht perfekt – in den ersten Monaten schlief Alma schlecht und wachte immer wieder weinend auf, weil das Bett sich nicht bewegte und der Boden nicht schwankte und schaukelte, und am besten schlief sie schließlich auf dem Teppich unter dem Bett, wo sie das Gefühl haben konnte, sie sei noch immer in ihrer engen Koje unter dem Vordeck –, aber für Kat war es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Ein Haus in einiger Entfernung vom Wasser, in dem sie Platz hatte und sich nicht ständig sorgen musste, ihre Tochter könnte über Bord fallen und ertrinken, in dem sie in der Küche auf und ab gehen konnte, ohne dass bei jedem Schritt Wasser unter ihren Füßen schmatzte, war reinigend, revolutionär und befreiend, ganz zu schweigen davon, was es für ihr Sexleben bedeutete: In unzähligen Nächten hatten Greg und sie sich aus der Kajüte stehlen müssen, um sich fröstelnd auf dem Vordeck oder dem mit Leder bezogenen Sitz im Cockpit zu lieben, damit Alma sie nicht hörte. Und dann war da auch noch das kleine Wunder Mrs. Meehan, die Frau, die sie gefunden hatten und die nach der Schule auf Alma aufpasste, so dass Kat mit Greg und Mickey hinausfahren und auf dem Boot helfen konnte.
Sie wurde also ihre Handlangerin. Dadurch hatten die beiden mehr Zeit, um Seeigel zu sammeln, und mussten sich nicht mehr um die Ausrüstung kümmern, und nach den Jahren in der Bibliothek, dem Takesue-Haushalt und diversen Teilzeitjobs, die Kat nach Almas Einschulung angenommen hatte, um gegen die Langeweile anzukämpfen, brachte diese Veränderung sie ins Leben zurück. Die ersten Tage waren hart, aber sie begriff schnell, worum es ging. Greg war geduldig, während sein Partner besonders morgens, vor dem ersten Tauchgang, eher schlechtgelaunt war, und es dauerte keinen Monat, bis nicht nur ihr Selbstvertrauen, sondern auch ihre Muskeln in den Armen und Schultern zunahmen, und wenn es auch nicht gerade besonders weiblich war, einen gestählten Oberkörper zu haben, so fühlte es sich doch gut an. Und ebensogut fühlte es sich an, draußen zu sein, auf dem Meer, unter freiem Himmel.
Als Handlangerin auf einem Boot von Seeigelsammlern war sie für all die Aufgaben zuständig, die die Taucher nicht gern selbst erledigten: Sie ließ den Anker an vielversprechenden Stellen fallen, legte die Anzüge und Schläuche bereit, bediente die Winsch, mit der der Fang an Bord gehievt wurde, behielt den Kompressor im Auge, wenn die beiden Männer in zehn Meter Tiefe im eisigen, strömungsreichen Wasser arbeiteten, und sorgte dafür, dass sie vor den Tauchgängen am Nachmittag ein gutes warmes Mittagessen bekamen. Ganz zu schweigen von den gekühlten Bieren auf dem Weg zurück zum Hafen. Wenn sie, gewöhnlich für eine halbe Stunde – so lange dauerte es meist, um den mit einem Stahlring versehenen Beutel mit Seeigeln zu füllen – auf dem Meeresgrund waren, vertrieb sie sich die Zeit so gut es ging mit Taschenbüchern und den Stapeln alter Illustrierten, die sie von einer Freundin von Greg, einer Zahnarzthelferin, bekam, fertigte Bleistiftzeichnungen der Felsformationen vor der Küste der Insel an oder träumte vor sich hin, wobei sie stets die gelben Schläuche im Auge behielt, die sich ins Wasser und außer Sicht schlängelten. Endlich war ihr Leben so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie war noch nie so glücklich gewesen.
Dann kam ein Morgen im August. Das Meer war ruhig, der Himmel klar, das bisschen Nebel, das über dem Wasser lag, löste sich vor dem dahingleitenden Boot in nichts auf, während sie so entspannt am Ruder saß wie ein Lastwagenfahrer auf einer Schnellstraße und die beiden Männer unten schliefen. Sie war jetzt auf den Tag genau sechs Monate dabei – das wollten sie und Greg am Abend mit einem Essen in einem Restaurant und einem anschließenden Kinobesuch feiern – und mit den Abläufen inzwischen so vertraut, dass sie für die Fahrt hinaus und zurück in den Hafen beinahe immer das Ruder übernahm, denn warum sollten die beiden Taucher ihre Energie verschwenden, wenn sie morgens ebensogut noch eine Runde schlafen und abends müde in der Kajüte sitzen und Bier trinken konnten? Spar dir deine Kraft, hatte sie nach dem ersten Monat zu Greg gesagt. Sie hatte seinen Bizeps gedrückt, als sie im schwankenden Cockpit gestanden hatten, und ihn mit ihrem besten gespielt sexhungrigen Blick angesehen, und er hatte ihren Blick erwidert, sie leidenschaftlich geküsst und erst die eine und dann auch die andere Hand auf ihren Busen gelegt. Klar, hatte er gesagt, warum nicht? Du weißt ja inzwischen, wie es geht. Behalt die Instrumente im Auge und hör auf den Motor – mehr ist ja nicht dabei. Und so war es auch. Kein Problem. Und wenn irgendwas schiefgehen sollte, hatte sie ja zwei Mechaniker an Bord, die sich darum kümmern konnten. Einen Kaffee am Morgen, um sich wach zu halten, ein Bier – nur ein einziges – am Abend, bis sie die Schiffahrtsstraße hinter sich hatten. Auf den Tiefenmesser achten. Einen Punkt ansteuern und nicht abweichen, denn jede Abweichung kostete Sprit. Ein Kinderspiel.
An diesem Morgen hielt sie Kurs auf das westliche Ende der Insel und die Kelpgründe bei Forney’s Cove, wo sie am Tag zuvor eine riesige Menge Seeigel entdeckt hatten. Alma war für zwei Wochen bei ihrer Großmutter Boyd in Venice. Die Gemeinheit, mit der sie Greg behandelt hatte, war längst vergessen, oder jedenfalls war Gras darüber gewachsen, denn als Kat und ihre Tochter sie vier Monate nach der Geburt besucht hatten – nur sie beide und nur für einen Tag –, war ihre Mutter dahingeschmolzen, und es war nie mehr ein Wort über Japse oder Schlitzaugen gefallen, wenigstens nicht, wenn Alma dabei war. Die Ausbeute war in letzter Zeit außergewöhnlich gut gewesen – sie hatten im Durchschnitt tausend Stück pro Tag gesammelt. Die Seeigel waren von bester Qualität und beinahe so zahlreich wie das scharfkantige Vulkangestein, das auf dem Meeresboden lag. Mehr und mehr Boote tauchten in den Fanggründen auf, aber Kat und Greg konnten sich nicht mal ansatzweise vorstellen, dass die Seeigel weniger werden würden, jedenfalls nicht so bald. Rausholen, was rauszuholen ist – das war ihr Standpunkt. Die Hypothek abtragen. Für die Zukunft sparen.
Greg kam herauf und rieb sich die Augen, als er hörte, dass Kat die Fahrt verlangsamte und dann in den Leerlauf schaltete. »Sind wir schon da?« fragte er gähnend, reckte sich und spähte durch das Fenster auf die Kelpwedel, die sich wie zahllose grapschende Hände im Wasser hin und her bewegten.
»Ja«, sagte sie, »das Leben ist schön, wenn man die ganze Zeit schläft.«
»Wie sehen die Peperoncini aus?« Das war sein scherzhafter Name für Kelp, denn er glich in Farbe und Textur den kleinen eingelegten Pfefferschoten, die man im Lebensmittelgeschäft kaufen konnte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Jedenfalls gibt’s hier eine ganze Menge davon.«
Er ging an Deck, um besser sehen zu können, und hielt Ausschau nach den angefressenen Wedeln, die anzeigten, dass es große Seeigelvorkommen gab. Nach etwa einer Minute bedeutete er ihr, den Anker fallen zu lassen. Das war der Augenblick, in dem Mickey aus der Kombüse an Deck kam, die einst weiße Baseballmütze tief in die Stirn gezogen und mit der Hand einen Becher Kaffee umklammernd, als wäre es eine Rettungsleine. Wie Greg trug er Shorts und ein Sweatshirt mit Flecken von Lackfarbe, Motoröl und diversen Körperflüssigkeiten diverser Meereslebewesen. Er war klein und von kräftiger Statur, sein Haar wurde, obwohl er erst dreißig war, bereits schütter, und er hatte ein gewinnendes, seine Zahnlücken entblößendes Lächeln, mit dem er wirkte wie ein Klassenclown, und genau das war er auch gewesen. Wenn man seinen Erzählungen Glauben schenkte. Leider musste es mindestens zwölf Uhr sein, bevor sich dieses Lächeln oder auch nur ein Anflug davon zeigte, und als er nun erschien, war sein Gesicht wie üblich finster. »Mann, ich hab heute einfach keine Lust, in dieses Wasser zu steigen«, sagte er, beugte sich über die Reling und starrte stumpf auf den hin und her wogenden Kelp. »Wie wär’s, wenn du mich vertrittst, Kat? Dann könnte ich hier oben bleiben und in der Sonne liegen. Und lesen. Cosmopolitan vielleicht? Oder lieber Haus und Garten? Denn das ist es doch, was wir wollen, oder? Ein Haus, einen Garten?«
»Nein«, sagte sie. »Wir wollen einen schönen Fang.« Sie grinste ihn an und sah ostentativ auf die Uhr. »Und das heißt, dass ich den Kompressor anwerfen und meine Jungs da hinunterjagen muss, wo die stachligen Tiere sind.«
Der Kompressor, den Greg selbst montiert hatte, stand auf der Steuerbordseite gleich hinter der Kajüte, am Schanzkleid, damit er vor Wind und Gischt geschützt war. Sie hasste es, am Seil zu ziehen und das Ding zu starten, weil der Lärm, den es machte – ein immerfort an- und abschwellendes Dröhnen, das klang, als würde das Meer von einer Schwadron Laubbläser bearbeitet –, den Frieden des Morgens und Nachmittags zerstörte. Wenn die beiden unten waren, steckte sie sich Schaumstoffstöpsel in die Ohren, aber die dämpften das Geräusch nur soweit, dass jedes Wort in den eselsohrigen Taschenbüchern und sonnengebleichten Illustrierten zweimal zu erklingen schien: einmal auf ihren Lippen und ein zweites Mal als schwebender Nachhall in den Windungen ihres Gehirns. Der Schalldämpfer des Auspuffs musste erneuert werden, soviel war sicher. Sie hatte Greg damit in den Ohren gelegen, und er hatte die üblichen Versprechungen gemacht, aber sie machten Geld, solange Geld zu machen war, und am Ende eines jeden Tages fühlten sie sich wie nach einem Marathonlauf. Keiner von ihnen wollte über Wartungsarbeiten nachdenken – das war etwas, was in den stürmischen Januar- und Februartagen stattfinden würde, wenn die Seeigel laichten und ganze Wochen angefüllt waren mit rotierenden Spiralen aus nichts.
Der Motor sprang beim ersten Versuch an – Wrrr-rap-rap-rap –, und sie mussten schreien, um sich zu verständigen, während sie die Schläuche ausrollte und Greg und Mickey ihre Anzüge, Flossen, Masken und Bleigewichte anlegten. Und dann sprangen die beiden über Bord in das schwarze Wasser und hingen für einen Augenblick über der dunklen Tiefe, bevor sie verschwanden. Aus Gewohnheit – oder aus Langeweile, denn was gab es sonst schon zu tun? – sah Kat für eine Weile zu, wie die Luftblasen aufstiegen und sich schließlich voneinander entfernten, als jeder seiner eigenen Wege ging, um nach den schwarzen Stachelhäutern zu suchen, die man nur aufklauben und in den Netzbeutel stecken musste und die achtundzwanzig Cent pro Pfund brachten.
Während sie an der Reling lehnte, kam eine leichte Brise auf. Gedankenverloren ließ sie den Blick über die Wasseroberfläche zu der weißen Sichel des fünfhundert Meter entfernten Strandes und den sonnenverbrannten Hügeln dahinter schweifen. Das Boot drehte sich um den Anker. Die kleinen weißen Schaumkappen der Wellen löschten die Luftblasen aus. Der Benzinmotor des Kompressors setzte für einen Augenblick aus, stotterte, fing sich und lief mit einem hohen, jaulenden Ton weiter. Abgase strömten durch die nadelfeinen Löcher, die die salzige Seeluft in den Auspuff gefressen hatte. Der Wind war kühl, er saugte wie eine riesige Klimaanlage die Kälte aus den Wellen, und Kat ging hinunter in die Kajüte, um ihr Sweatshirt zu holen. Auf dem Rückweg schenkte sie sich in der Kombüse ihren dritten Becher Kaffee ein und machte ein Sandwich mit Schinken und Käse, einer Scheibe Zwiebel und viel Senf, das sie in der Pfanne briet, bis der Käse schön zerlaufen war, denn so mochte sie es am liebsten. Dann ging sie wieder an Deck. Die beiden waren jetzt seit zwanzig Minuten unten, so dass sie Zeit hatte, das Sandwich zu essen und in Ruhe den Kaffee zu trinken, bevor sie auftauchten und sie die Beutel mit Hilfe der Winsch an Bord heben musste. Das war immer aufregend, eine Unterbrechung des üblichen Ablaufs: Die im verborgenen lebenden Tiere purzelten auf die Planken, wo ihre Stacheln sich hin und her bewegten und zusammenballten, als wollten sie die Bedrohung durch eine fremde Umgebung einschätzen, eine Umgebung, die aus giftiger Luft anstatt aus lebenspendendem Wasser bestand. Und dann verstaute Kat sie im Laderaum. Wobei sie sich vorsehen musste: Jeder noch so kleine Stich entzündete sich, und wenn sich ein Stachel tiefer in die Haut bohrte und abbrach, waren fünfundzwanzig Dollar fällig, denn man musste zum Arzt gehen, die Spitze entfernen und die Wunde desinfizieren lassen. Erizos del mar, Igel des Meeres, wurden sie von den Mexikanern genannt. Oder manchmal auch einfach heriditas, kleine Wunden.
Das Boot hatte begonnen, leicht zu schlingern – nichts Ernsthaftes, nichts Ungewöhnliches, denn das Wetter hier draußen war so launisch wie nur was. Sie hatte ihr Sweatshirt angezogen, und in der Sonne war es angenehm; das Sandwich schmeckte gut, und der Kaffee war noch warm. Nach dreißig Minuten waren weder Greg noch Mickey aufgetaucht, was wohl bedeutete, dass die Ausbeute kleiner war, als sie gedacht hatten, oder dass die Strömung dort unten ihnen zu schaffen machte, so dass sie langsamer als sonst vorankamen. Sie biss nach und nach die Ränder des Sandwichs ab und hob die Mitte bis zuletzt auf, dann leckte sie das Fett von den Fingern und wünschte, sie hätte eine Papierserviette mitgenommen, bevor sie sich die Hände einfach an der Shorts abwischte, die ohnehin gewaschen werden musste. Als fünfunddreißig Minuten vergangen waren, stand sie auf und hielt Ausschau nach den Luftblasen. Sie konnte die Schläuche fünf, sechs Meter weit verfolgen, doch sonst war nichts zu sehen als die Schaumflecken auf dem vom Wind bewegten Wasser. Noch fünf Minuten, dann würde sie zweimal kurz an den Schläuchen ziehen – das Signal zum Auftauchen.
Sie wusste nicht, dass der nicht gerade fachmännisch montierte Kompressor sich ein wenig von der Stahlplatte gelöst hatte, auf der Greg ihn festgeschraubt hatte. Dadurch gab es mehr Vibrationen, und so hatte sich zwischen Auslass und Auspuffkrümmer ein kleiner Spalt gebildet, und ein Teil der Abgase strömte in Richtung Einsaugstutzen. Weil das Boot in den Wind gedreht hatte und der Kompressor im Winkel zwischen Kajütenwand und Schanzkleid stand, wurde das Kohlenmonoxid nicht fortgeweht, sondern vom Kompressor angesaugt. Greg bekam zuwenig Sauerstoff. Mickey ebenfalls.
Schließlich, nach vierzig Minuten, zog sie zweimal kräftig an Gregs Schlauch und spürte, als sie den Schlauch einholte, dass er auftauchte, und das war völlig in Ordnung, kein Grund zur Besorgnis: Der Beutel war vermutlich randvoll und unhandlich, und sie half ihm, indem sie den Schlauch an Bord zog. Sie sah jetzt gespannt auf das Wasser, spähte nach Luftblasen, nach Gregs Armen und Beinen, die aus der Tiefe auftauchten, nach dem Beutel, den sie an den Haken nehmen und ins Boot hieven würde, als er plötzlich wie ein Stück Treibholz an der Oberfläche erschien, Greg, ihr Mann, ihr Geliebter. Sein langes, seidiges Haar hatte sich aus der Kapuze des Taucheranzugs gelöst und schwang wie Seegras hin und her, und es war, seltsam, kein Beutel zu sehen. Noch seltsamer war, dass er die Flossen nicht bewegte oder den Kopf aus dem Wasser hob, um sie durch die beschlagene Taucherbrille anzugrinsen und ihr den erhobenen Daumen zu zeigen. Er bewegte sich überhaupt nicht.
Der Rest war verschwommen, ein Alptraum, in dem sie sich nicht rühren, nicht reagieren konnte: Ihre Füße steckten in Treibsand, die Hände waren wie festgeklebt. Doch sie zog an dem anderen Schlauch, bis der sich straffte und wieder schlaff wurde, und in dem Augenblick, in dem sie in die Kajüte rannte, um Mayday zu funken, sah sie Mickey neben dem Boot auftauchen, bäuchlings, Arme und Beine ausgestreckt, den Kopf im Wasser. Dann sprang sie über Bord, und die kalten grauen Wellen des Meeres schreckten sie nicht, denn sie hob Gregs Kopf aus dem Wasser, riss ihm die Brille herunter, drückte ihre Lippen auf die seinen, wollte ihn von Mund zu Mund beatmen – aber nein, sie musste ihn an Deck bringen, ja, das musste sie tun, sie musste ihn an Deck bringen und das Wasser aus seiner Lunge pressen, denn er war dabei zu ertrinken, er ertrank, und Mickey ebenfalls. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die Wellen an, gegen das hüpfende Boot, das ihr auszuweichen schien, als wäre dies ein Spiel, doch schließlich gelang es ihr, mit gereckter Hand eine Sprosse der Leiter am Heck zu packen, während sie mit der anderen Hand Greg festhielt – am Gesicht, am Kopf, am Kragen seines Taucheranzugs, wo immer sie ihn am besten halten konnte. Verzweifelt und selbst nach Luft ringend, versuchte sie immer wieder, ihn an Bord zu bringen, raus aus dem Wasser, doch sie hatte keinen festen Halt, es gab nichts als die nachgiebigen Wellen und den glatten Rumpf des Bootes, und schließlich klemmte sie, als Greg von einer Welle angehoben wurde, seinen Arm hinter eine Leitersprosse, kletterte an Deck und zerrte am Ärmel seines Taucheranzugs, doch Greg glitt wieder zurück, tauchte unter und wurde von der nächsten Welle gewiegt.
Sie zitterte, sie bekam kaum mehr Luft, doch sie sprang immer wieder ins Wasser. Es gelang ihr nicht, den schweren, leblosen Körper an Bord zu heben. Sie hatte nicht die Kraft. Das Boot machte nicht mit. Die Wellen zogen an ihr, klatschten ihr ins Gesicht, das Wasser brannte auf den Lippen, stach wie Nadeln in ihre Augen. Sie keuchte, sie mühte sich, sie schrie vor Verzweiflung. Nicht dass es geholfen hätte. Nichts konnte mehr helfen. Greg ertrank nicht, ebensowenig wie Mickey, und keine noch so gründliche Mund-zu-Mund-Beatmung hätte einen von ihnen zurückgeholt, denn sie waren beide tot. Gestorben an einer Kohlenmonoxidvergiftung, lange bevor sie begonnen hatte, sich zu sorgen, bevor sie an Gregs Schlauch gezogen hatte, ja noch bevor sie in die Kajüte gegangen war, um sich ein Sandwich zu machen. Der Wind hatte gedreht, das Boot hatte um den Anker gedreht, der Auspuffkrümmer hatte sich gelöst. Sie waren kaum zehn Minuten unten gewesen, als sie das Bewusstsein verloren hatten.
Innerhalb weniger Minuten waren zwei andere Boote da, ein Seeigelfischer und ein Ausflügler. Männer riefen und sprangen ins Wasser, packten Greg und Mickey und Kat und zogen sie an Bord, der Wind heulte, und die Sonne stand wie festgeschraubt am Himmel, um den Zeitpunkt zu markieren – 3. August 1984, 10.30 Uhr –, den Augenblick, in dem sie zur Witwe wurde wie ihre Mutter vor ihr, den Augenblick, in dem Alma, die fünfzehn Jahre alt war und sich am Strand von Venice bräunen ließ, wo die Muskelmänner aus den Fitness-Studios trabten und die Freaks und die Punks und die Straßenmusiker an der Promenade ihr Ding abzogen, für immer ihren Vater verlor.
Nach drei Zugaben, einer wohl zehn Minuten anhaltenden Ovation und dem rituellen Streuen langstieliger Rosen vor Micah Strouds Füßen durch eine Schwesternschaft kreischender Fans, bei deren Anblick Alma sich nur noch alt fühlt, schiebt sie sich neben ihrer aufgekratzten Mutter durch den Mittelgang und die großen Türen.
»Du hattest recht«, sagt Kat, als sie in die Milde der Nacht und den ersten feinen Nieselregen des Herbstes hinaustreten, wo nach der trockenen Luft im Theater, nach der Trockenheit des Sommers, der versengten Hügel und der ausgedörrten Vegetation, nach der Hitze, die das Ökosystem so stark belastet hat, alles feucht ist und süß duftet, »er ist tatsächlich was Besonderes. Ich meine, ich fand ihn toll. Und diese Frau, die er dabeihatte – wie hieß die noch mal? Die er aus dem Publikum auf die Bühne geholt hat. Die war auch gut. Nicht der Joni-Mitchell-Typ, eher wie Buffy Sainte-Marie vielleicht.«
»Wie wer?«
»Du weißt schon – sie war eine Folksängerin, in den Sechzigern. Du hast sie bestimmt bei uns zu Hause gehört, als du klein warst. Dein Vater mochte sie, das weiß ich noch. Jedenfalls bevor er Janis gehört hat.« Ein Lachen, gesättigt mit der Freude der Erinnerung. »Aber wer wollte schon noch was anderes hören, nachdem er Janis gehört hatte?«
Die Straßenlaternen machen den Dunst sichtbar, verwandeln winzige Tröpfchen in silbrige Striche, die auf den feuchten Asphalt hinabsinken, und sie sollte begeistert sein, sich erneuert fühlen – Micah Stroud und der erste Regen, ihr Geburtstag, ihre Mutter, die Inseln da draußen im Nebel, und alles, wofür sie gearbeitet, worauf sie gehofft hat, beinahe geschafft –, doch sie fühlt nichts dergleichen. Sie fühlt sich schwach und ausgelaugt, und ihr ist ein bisschen übel. Es hat nichts mit Anise Reed zu tun – das jedenfalls sagt sie sich. Natürlich, in dem Augenblick, in dem sie sie aufstehen und auf die Bühne gehen sah, wurde sie von Wut und Hass gepackt – und Neid, ja, auch Neid –, und das hat sie jäh aus dem Konzert herausgerissen und wieder einmal in eine finstere Betrachtung ihres Lebens gestoßen, des Lebens jedenfalls, das sie in letzter Zeit führt. Und Alicia. Alicia war ebenfalls da, eine Komplizin, ein Gründungsmitglied dieser Bande. Aber schlimmer noch: Sie muss zugeben, dass Anise Reed nicht schlecht war. Ihre Stimme ist reiner, als sie sein dürfte, und wie sie sie mit der von Micah hat verschmelzen lassen, das hatte schon etwas Magisches. Er hat sie bei zwei ihrer eigenen Stücke begleitet, und dann durfte sie – unglaublich – in all ihrer barfüßigen, lockenmähnigen Pracht auf der Bühne bleiben, wo sie mit einer Hand ein Tamburin geschlagen und sich bei den Refrains zu seinem Mikrofon gebeugt und die zweite Stimme gesungen hat.
Micah Stroud, Anise Reed, Dave LaJoy, Alicia Penner, Wilson Gutierrez.
Sie sind jetzt beim Wagen. Die Linien auf der Motorhaube, die Ed mit Politur und viel Muskelschmalz entfernt hat, sind noch immer schemenhaft zu sehen und zeigen, gegen welche Widerstände sie anzukämpfen hat, und mit einemmal ist sie so traurig, so überwältigt von Traurigkeit, dass sie einfach die Arme hängen lässt und verwirrt dasteht, während ringsumher andere Wagen rückwärts ausparken. Ihre Mutter hält mitten in einer Geschichte über ein Rockkonzert im Hollywood Bowl, auf dem sie mit Almas Vater, mit Greg, war, inne und fragt sie, was denn los ist.
Doch das Seltsame ist: Sie kann es nicht sagen, denn sie weiß es selbst nicht.
»Alma?« Die Stimme ihrer Mutter ist wie ein sanfter Flügelschlag im Dunkeln. »Alles in Ordnung?«
Und da ist es wieder, das Gefühl der Schwäche, der Hilflosigkeit und Erschöpfung. Die Übelkeit steigt in ihr auf, als wäre etwas entkorkt worden, und sie merkt kaum, dass sie die Arme ausbreitet und ihre Mutter umarmt, während es nieselt und die Bremslichter Hunderter Wagen aufleuchten, während die Nacht vorrückt und Micah Stroud allein und schweißgebadet in seiner Garderobe sitzt.
Am nächsten Morgen ist ihr erneut übel, ohne jeden Grund, und sie beugt sich über die Kloschüssel, bis etwas – was immer es war, was immer es ist – mit einem raschen, flüssigen Brennen hochkommt und kurz auf dem Wasser schwimmt, bevor es in einer wirbelnden Spirale verschwindet.