VIER
Während der ganzen Fahrt nach Sacramento,
an San Quentin vorbei und über die Brücke, durch Richmond, Vallejo,
Cordelia und Vacaville, schlief Madison. Die heiße Schokolade wurde
kalt, die Éclairs blieben unberührt. Die Musik – einen Reggae-Mix,
den er selbst heruntergeladen hatte, das meiste von Marley und
rings um Live- und Studioversionen von »I, Rebel Music« arrangiert,
einen Titel, den er nicht oft genug hören konnte – stellte er
leise, damit sie nicht aufwachte, und das war wirklich ein Zeichen
von Verantwortungsbewußtsein, denn er fühlte sich so locker und
befreit, so erfüllt von einem inneren Feuer, und er wollte die
Flammen aus den neuen Spitzenlautsprechern schlagen lassen. Aber
eine schlafende Madison war einer Madison im Wachzustand eindeutig
vorzuziehen, und so beherrschte er sich. Und obgleich er dem Wagen
gern die Sporen gegeben hätte, um zu sehen, was er hergab, blieb er
auf der rechten Spur und fuhr konstant hundert. Auf dem Weg nach
Vegas und durch die Wüste Richtung Osten würde es noch genug
Gelegenheiten geben. Er sah es vor seinem geistigen Auge, es war
ein Schnappschuß aus der Zukunft: rotgesäumte Wolken zogen über den
Felssäulen und Zacken des Wüstengebirges auf, Natalia schlief und
hatte den Kopf in seinen Schoß gelegt, Madison saß auf dem Rücksitz
und war ganz still, und der Rhythmus, der aus den Lautsprechern
drang, verschmolz mit dem Donnern der ungezügelten Pferde unter der
Motorhaube. Wer war der maskierte Mann? Und war das ein Düsenjäger
oder bloß Donner?
Er fühlte sich gut. Besser als gut. Er
legte die Hand auf Natalias Oberschenkel, wo der Rock über den
schwarzseidenen Strümpfen hinaufgerutscht war. »Weißt du, was ich
als erstes machen möchte, wenn wir dort sind?«
Sie hatte den Kopf gesenkt und las eine
Zeitschrift. Ihr Haar hing dicht und schimmernd herab, und ihre
Mimik war lebhaft. »Was du immer machen willst?« fragte sie mit
einem koketten Seitenblick.
»Das ist erst heute abend dran.« Er ließ
seine Hand ein wenig hinuntergleiten und drückte ihr Knie. »Nein,
ich will zum Pool und dann ins Jakuzzi und in die Sauna, und dann
will ich eine Massage, eine Doppelmassage für dich und mich. Na,
was hältst du davon?«
Ihr Lächeln galt ihm und ihm allein – die
perfekte, klare Form ihrer beweglichen Lippen, die deutliche
Aufforderung, die pure Lust. »Sollen wir nicht vorher essen?«
»Und dann Cocktails«, sagte er und war ihr
bereits voraus. »Ein paar leichte Cocktails, vielleicht sogar eine
Piña Colada oder so im Massageraum, und dann ziehen wir uns
natürlich zum Essen um, denn wir werden im besten Haus am Platz
wohnen, und danach fahren wir rüber nach Stateline und spielen ein
bißchen Blackjack.«
»Und Madison? Was ist mit Madison?«
Ein Blick in den Rückspiegel: Hinter ihnen
war ein Pick-up, und fünf oder sechs Wagen hinter dem wechselte ein
weißes Ungetüm von einem Lastwagen auf die linke Spur und setzte
zum Überholen an. »Ach, was weiß ich – ist mir egal, wir decken sie
mit Videos ein und engagieren einen von diesen Hotel-Babysittern.
Wir haben was zu feiern, stimmt’s? Wir lassen es krachen. Wir
machen Urlaub, Baby, und zwar so lange, wie du willst...«
»Ja«, sagte sie, und das Lächeln begann zu
verblassen, obwohl sie sich bemühte, es weiter strahlen zu lassen,
»und das wird erst sein, wenn wir in dem neuen Heim sind, ja, in
dem Haus im Wald, in einem Haus für uns ganz allein. Und wenn
Madison in ihrer neuen Schule gemeldet ist. Dann ist der Urlaub
vorbei.« Sie hielt inne, sah auf die Straße und richtete die
nächsten Worte an die Windschutzscheibe. »Ist es ein nettes
Haus?«
»Soll das ein Witz sein? Du hast doch die
Fotos gesehen. Es hat Klasse, pure Klasse. Zwei Morgen Land. Ein
Pool. Eine eingebaute Bar.«
»Netter als das Haus in Mill Valley?«
»Ich bitte dich! Es ist ein
Herrenhaus.«
»Und diese Option zu kaufen...« Er
beobachtete ihren Mund, als sie das sagte. Sie kam unfehlbar immer
auf den Punkt. »Du willst sie nehmen, wenn mir das Haus gefällt –
wir werden sie nehmen, ja? In meinem
Namen?«
Sie stellte ihre Forderung. Er konnte es
ihr nicht verdenken. Und warum auch nicht? Es machte nichts – er
würde den Erlös des Hauses ohnehin anlegen müssen, er hatte schon
ein paar Ideen, unter anderem diese Sache, die Sandman ihm
vorgeschlagen hatte, und vielleicht hatte er Glück am Spieltisch.
Nein, bestimmt hatte er Glück am Spieltisch. Er spürte die Kraft,
die ihn hinauftrug, höher und höher. Er konnte gar nicht verlieren. Und dann war da noch der
Wagen. Den würde er abstoßen und dafür einen neuen kaufen. Zwei
neue: einen Z-4 für Natalia und irgendwas anderes für sich selbst.
Allerdings keinen Mustang und auch keine Harley. »Ja«, sagte er.
»Klar, natürlich. Und das Einkaufen wird dir gefallen. So was wie
Manhattan gibt’s nur einmal auf der Welt.«
»Besser als Jaroslawl?«
»Na ja, ich weiß nicht. Ist das die Stadt
mit zwanzig Millionen Einwohnern und Bergdorf’s und Macy’s und
Tiffany’s und dem Diamond District?«
Sie grinste und schüttelte den Kopf. »Ich
glaube nicht.«
»Der Grand Central Station? Dem Empire
State Building? Mit dem Le Circe und Babbo und der Oyster
Bar?«
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf,
daß ihr Haar hin und her schwang. »Nein, ich glaube nicht.«
Er liebte dieses Geflachse, er liebte es,
sie so zu sehen: geschmeidig, schön, ihre ganze schlaue, kompakte
Energie in einem Augenblick konzentriert. Und zufrieden. Endlich
einmal zufrieden. Er spürte, daß sein Schwanz sich regte. Er wollte
mit ihr ins Bett.
»Erzähl mir von Bergdorf’s«, sagte
sie.
Der Mercedes schnurrte, die Sonne beschien
die Schnellstraße vor ihm, die in der Ferne verschwand. Er war sich
der Stimme von Bob Marley bewußt, die leise, im Hintergrund, seine
Wut beschrieb, während Natalias melodiöse, hüpfende Stimme sich von
einem Thema zum anderen bewegte, von Manhattan zu den
Abwasserproblemen in den Kellern alter Häuser und der Katze, die
sie haben wollte: einer Bengalkatze. Ob er schon mal davon gehört
habe? Erst seit vier Generationen gezähmt. Wunderschöne Tiere.
Äußerst wunderschön. Und vielleicht würde sie gleich zwei kaufen,
ein Männchen und ein Weibchen, und sie züchten, und dann könnte sie
Kaylee eins der kleinen Kätzchen schicken und eins vielleicht ihrem
Bruder in Toronto. Mit FedEx. Transportierte FedEx auch
Tiere?
Er fühlte den Puls der Musik, nickte,
streichelte Natalia und sah auf die Straße. Und im Handumdrehen
waren sie an der Ausfahrt nach Tahoe.
Er merkte erst, daß Madison wach war,
als er in den Rückspiegel sah und dort ihr schmales kleines Gesicht
erblickte. Sie hatte sich aufgerichtet, saß auf der Kante des
Rücksitzes und beugte sich so weit vor, wie es der Sicherheitsgurt
zuließ – er hatte darauf bestanden, sie im Schlaf anzuschnallen.
Auf einer Seite ihres Gesichts war eine gerötete Falte, und ihr
Haar sah aus wie etwas, was gerade am Strand angespült worden war.
Im Augenblick war sie dabei, sich zu orientieren, und hatte den
benommenen, umflorten Gesichtsausdruck, den alle Kinder haben, wenn
sie aus den Höhlen des Schlafs klettern, doch er wußte, es war nur
eine Frage der Zeit, bis das Gequengel anfangen würde. Er war kein
Kinderpsychologe und konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen,
wie es für sie bei dem Blödmann gewesen sein mochte, mit dem
Natalia zuletzt zusammengewesen war, aber die Kleine erschien ihm
übermäßig bedürftig: Immer klagte und jammerte sie. Ganz anders als
Sukie. Sukie war robust. Schon als Baby war sie selbstgenügsam
gewesen, hatte die Nächte durchgeschlafen, hatte gegessen, wenn sie
gefüttert wurde, und stundenlang das Handy angelallt, das über
ihrer Wiege hing. Sie hatte früh laufen und sprechen gelernt, sich
gern mit sich selbst beschäftigt und anscheinend von Anfang an
gewußt, daß Erwachsene manchmal ein paar Minuten in Ruhe gelassen
werden wollten. Madison dagegen nicht. Sie wollte und wollte und
wollte. Genau wie ihre Mutter.
Es dauerte ungefähr zehn Sekunden. »Mommy,
ich muß mal«, verkündete sie mit wie immer klagender Stimme.
Natürlich mußte sie mal. Das verstand er, schließlich war er ja
kein Ungeheuer, aber er hatte gehofft, noch bis zum Hotel in Rancho
Cordova zu kommen und dort zu Mittag zu essen, und wenn er einmal
unterwegs war, hielt er nicht gern an. Und sobald sie anhielten,
würde sie Hunger bekommen und perverserweise dieses eine Mal keine
Éclairs essen wollen, weil die inzwischen warm und durchweicht
waren, und so würden sie in irgendeiner Imbißbude am Straßenrand
landen, und er konnte das Filet, das er sich seit einer halben
Stunde vorstellte, vergessen. Er drehte die Musik ein wenig leiser
und sah auf die Straße, während Natalia sich zu ihrer Tochter
umdrehte.
»Kannst du es noch ein bißchen aushalten,
Schatz?«
»Nein.«
»Dana – ich meine Bridger – hat dir ein paar leckere Éclairs gekauft.
Möchtest du eins?«
»Nein, ich muß mal.«
Er starrte geradeaus und konzentrierte sich
auf Marley, doch er spürte, daß Natalia ihn ansah. »Wir müssen
anhalten. Bei der nächsten Zweigung.«
Er fluchte – leise, um die Stimmung nicht
zu zerstören.
»Ich weiß«, sagte sie, »aber was können wir
tun? Soll sie in die Hose machen?«
»Mom-my!«
Er sagte nichts, hatte aber schon den
Blinker gesetzt und hielt nach einer Abzweigung Ausschau, als
Natalia hinzufügte: »Und sie muß etwas essen.« Und zu Madison:
»Möchtest du Eier, Schatz? Dein Lieblingsessen – Rührei mit Wurst?
Mit Ketchup? Mit so viel Ketchup, wie du willst?«
Es kam keine Antwort, jedenfalls nicht
gleich, aber das Gequengel bekam einen Unterton der Dringlichkeit,
und er gab auf und reihte sich in die Kolonne von Wagen ein, die
abbogen und vor Johnny Lee’s Family Restaurant (»Rund um die Uhr
geöffnet«) parkten. Hey, Mr. Cop / Ain’t got no
birth certificate on me now.
Natalia lehnte sich in der Kurve an ihn und
sagte mit dieser Zufriedenheit, die immer zu spüren war, wenn er
tat, was sie wollte: »Nun mußt du für dein Filet mignon in Rancho
Cordova verzichten.«
»Auf. Ich muß auf
mein Filet mignon verzichten.«
»Stimmt, auf. Und dafür speisen wir in
einem einfachen Restaurant. Wie sagst du? Keine große Sache,
ja?«
Er nahm die Kurve vielleicht ein bißchen zu
schnell, und irgend etwas – ein Spielzeug – rutschte über das
Armaturenbrett, prallte gegen das Fenster und fiel zwischen seine
Füße. Er sah Natalia an. Gegen seinen Willen war er verärgert, aber
er würde es sich nicht anmerken lassen. »Keine große Sache«, sagte
er und brachte sogar ein Lächeln zustande.
Es war schlimmer, als er erwartet hatte,
eines dieser kitschigen Themen-Restaurants (Wagenräder an den
Wänden, sepiabraune Fotografien von Goldgräbern und den Hintern
ihrer Maultiere, Kellnerinnen mit Cowboyhüten und Kostümen, die aus
einem Wildwestmuseum hätten stammen können). Natalia ging mit der
Kleinen zur Toilette, während er der Frau am Empfangspult seinen
Namen sagte, und dann mußten sie fünfzehn Minuten in einer Schlange
aus alten Frauen mit kupferfarbenen Haaren und alten Clowns mit
Bolo Ties und karierten Hemden warten, während Madison zappelte und
am Arm ihrer Mutter zerrte, sich schließlich auf den Boden fallen
ließ und, weil sie so hungrig war, nicht mehr aufstehen wollte, und
das unaufhörliche Gequengel Wann, Mommy? Wann
kriegen wir endlich einen Tisch? stieg aus dem Wald aus alten
Beinen auf wie der schrille Schrei eines wilden Tiers, das sich
hierhin verirrt und den sicheren Tod vor Augen hatte. Der Schwung,
den er eben noch gespürt hatte, das Hochgefühl, das zu gleichen
Teilen aus der Erleichterung bestanden hatte, Shelter Bay Village
hinter sich zu lassen, bevor sich die Dinge katastrophal und
irreparabel entwickelten, und der Vorfreude darauf, unterwegs zu
sein und Gas zu geben, war spurlos verschwunden. Auf Reisen war das
Frühstück immer das schwächste Glied in der kulinarischen Kette,
eine Art Sinnesentzug, bei dem alle Möglichkeiten auf Variationen
aus Eiern, Wurst, Pfannkuchen und ahornbraunem Zuckersirup
reduziert waren. Es langweilte ihn. Es machte ihn wütend. Selbst in
einem anständigen Hotel, wo man Quiche, Omelett mit Krabben und
Feta, Eier Benedikt und frisch gepreßten Orangensaft bekam, war das
Frühstück langweilig. Doch das hier – er sah sich mit
unvermitteltem zimbelhellem Haß um –, das hier war richtig
übel.
»Martin?« rief die Empfangsdame. Die
Schlange geriet in Bewegung, Köpfe wurden gereckt, Füße scharrten
ungeduldig, und für einen Augenblick war ihm gar nicht bewußt, daß
er gemeint war, bis Natalia ihn anstieß und er wie ein Drittkläßler
ganz hinten im Klassenzimmer den Finger hob. Als sie sich in die
Nische mit den von Hintern gewärmten Bänken und der roten, mit
Essensresten gesprenkelten Resopaltischplatte setzten, wäre er
imstande gewesen zu morden.
»Ich will Eis«, verkündete Madison. Ihr
Gesicht war ganz ruhig, die Augen waren groß und ernst, sie zuckte
nicht mit der Wimper. »Wie das Mädchen da.« Sie zeigte auf die
Nachbarnische, wo sechs oder sieben Kinder, eine ganze Bande, über
diverse Eisbecher herfielen, während ihre Eltern, zwei
austauschbare Ehepaare mit Schweinsgesichtern und einem Mangel an
Stil, der nur brutal zu nennen war, vor ihren Kaffeebechern und
fettverschmierten Tellern saßen und brüllend lachten, als wären sie
seit Tagen betrunken.
»Kein Eis«, sagte Natalia automatisch.
»Eier.«
Madison wiederholte ihre Forderung in
höherer Stimmlage.
»Schluß damit«, zischte er und beugte sich
weit über den Tisch, denn man konnte im Leben nur eine gewisse
Menge Scheiße ertragen, einen getrockneten und zu einem Würfel
geformten Block Scheiße über dem anderen, bis das Ganze umfiel und
einen unter sich begrub, und er stand in letzter Zeit unter Druck,
das war ihm bewußt. Und weil es ihm bewußt war, gelang es ihm, sich
zu beherrschen und nicht nach ihrem dünnen weichen Handgelenk zu
greifen und auf eine Art zuzudrücken, die ihr ganz neue
Perspektiven eröffnet hätte. Aber er brauchte gar nicht gewalttätig
zu werden. Ein Blick – genau dieser Blick, mit dem er Stuart Yan
auf den Stufen des Gerichtsgebäudes angesehen hatte – reichte, um
sie zum Schweigen zu bringen. Er hatte diesen Blick geübt. Es war
der Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Blick, den er in Greenhaven
elfeinhalb Monate lang nicht abgesetzt hatte. »Du ißt, was auf den
Tisch kommt.«
Der Kompromiß war etwas, was sich
»Pfannkuchentraum« nannte: drei dünne, gummiartige Waffeln, die
unter einem Berg Erdbeeren und ungefähr einem Meter Schlagsahne
begraben waren. Natalia, deren Appetit ihn immer wieder in
Erstaunen versetzte, hatte das »Cowboyfrühstück«: vier Spiegeleier
mit einem 500-Gramm-Steak, Bohnen, Pico de Gallo und einem Korb
voller Tortillas. Peck trank nur einen schwarzen Kaffee.
»Willst du nicht einen Biß von meinem
Steak?« fragte Natalia mehrmals. »Du hast doch gesagt, du willst
ein Steak. Hier, probier es mal. Es ist gut.«
Er war zu wütend. Und er wußte, daß er sich
wie ein kleines Kind benahm. »Nein«, sagte er, »ich will dein Steak
nicht. Tahoe. Ich werde in Tahoe was essen. Okay?«
Madison, die ihm gegenübersaß, trug einen
Sahnebart, der bis zu ihren Nasenlöchern und darüber hinaus
reichte. Der Zuckerrausch machte ihre Augen glasig, und die Gabel
klebte an ihrer Hand. Das Frühstück war vorüber.
Draußen, wo Leute auf der imitierten
Ranchveranda standen und zwischen den Zähnen stocherten oder
Pfefferminzbonbons zermalmten, fiel die Hitze über ihn her. Es
mußten jetzt schon vierzig Grad im Schatten sein, obwohl es erst
kurz nach halb zehn war, wie ein Blick auf seine Uhr zeigte. Die
Sonne war wie ein Hammer. Sie wollte alles zerstören, alles dem
Erdboden gleichmachen. Es lag ein Geruch nach Feuer in der Luft,
nach Fettdünsten, die vom Küchenventilator ins Freie geblasen
wurden, nach einer Todesart, die einen mumifizierte, bevor man auf
dem Boden aufschlug. Während er das Sportjackett auszog und über
den Arm legte, betrachtete er eine Krähe mit Federn, so schwarz wie
Kohlenstaub: Sie tanzte um etwas herum, was auf dem Asphalt klebte.
Herrgott. Wie hielten die Leute das aus? Wie konnte man hier leben?
Wieder war er ganz angespannt, und auch der Kaffee hatte ihm nicht
gutgetan, kein bißchen. Er nahm Natalias Arm. Sie gingen die drei
ausgebleichten Stufen hinunter zum kochendheißen See des
Parkplatzes. Wie nicht anders zu erwarten, sagte Madison: »Mommy,
mir ist heiß.«
In diesem Augenblick, in genau diesem
Augenblick sah er den schwarzen Jetta, der auf den Parkplatz
einbog, und die zwei Gesichter hinter der sonnenbeschienenen
Windschutzscheibe. Ein Mann und eine Frau.
Alles verstummte, die unter den Dachbalken versteckten
Lautsprecher, die irgendeine dünne, blecherne Country-Music
spielten, das Rauschen des Verkehrs auf der Schnellstraße, das
Brausen des Flugzeugs da oben am Himmel. Er hatte sich antrainiert,
immer cool zu bleiben und noch das leiseste Anzeichen irgendeiner
Emotion hinter einem unbewegten Gesicht und dem drohenden,
stechenden, wütenden Funkeln, der reinen Aggression seiner Augen zu
verbergen, und er starrte die beiden an, starrte sie unverwandt an,
obwohl er Angst hatte, sie könnten bis vor den Eingang des
Restaurants fahren und versuchen, ihn einzufangen, und obwohl ihm
diese Sache auch auf einer tieferen Ebene unheimlich war: Woher
wußten sie, daß er hier war, verdammt? Ausgerechnet hier? Nicht mal
er selbst hatte gewußt, daß er hier anhalten würde.
Ihm blieben nur Sekunden, denn die Frau –
Dana Halter, Dr. Dana Halter – sprach in ihr Handy, und wenn die
Bullen kamen und seine Personalien mit ihren – oder seinen, Bridgers – verglichen, würde er den
Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen können. Als er den Druck
seiner Hand an Natalias Arm verstärkte, während sie fragte: »Wozu
die Eile?« und er sie mit einem Blick zum Schweigen brachte,
Madison wie eine Reisetasche packte und mit großen, raschen
Schritten zum Wagen ging, wurde ihm klar, daß sie sich vermutlich
irgendwo versteckt hatten und ihm seit heute morgen gefolgt waren.
Er verfluchte sich. Er war nachlässig, er war dumm. Diese ganze
Scheiße – mit einemmal stand er so unter Strom, als hätte er mit
bloßen Händen ein blankes Kabel angefaßt –, das alles war seine
eigene Schuld.
Aber dort war der Wagen, etwa dreißig Meter
entfernt. Madison wand sich in seinem Griff, Natalia war blaß vor
Angst angesichts seiner überstürzten Eile. Noch zwanzig Meter, noch
fünfzehn, und die zwei waren jetzt aus dem Wagen gesprungen und
schwenkten ihre Handys – alle beide fuchtelten mit ihren Handys,
als wäre Cingular Wireless die höchste Macht im ganzen Universum.
»Nein«, stieß er hervor, als er Madison auf den Rücksitz warf,
Natalia auf den Beifahrersitz stieß und die Tür zuschlug, »nein,
keine Zeit.« Damit meinte er die Gurte, die Sicherheitsgurte, und
was machte es schon, daß der Summer ihn warnte und diese beiden
Trottel im Rückspiegel auftauchten – die Türen waren verriegelt,
der Motor heulte auf, und mit einer knappen Bewegung aus dem
Handgelenk stellte er den Wählhebel auf D und fuhr geradeaus über
die Betonschwelle und in einer Wolke aus dürren Stengeln,
aufgewirbelten Getränkedosen und Staub über das unbebaute
Grundstück dahinter in Richtung Schnellstraße.
Es war seltsam, es war pervers, aber er
ertappte sich dabei, daß er um den Lack besorgt war, als sie
dahinholperten, durch einen Graben und die Böschung hinauf zur
Auffahrt, wo er zwei Idioten in einem alten Leichenwagen, auf
dessen Heck der Schriftzug einer Band stand, zu einem
Ausweichmanöver zwang. Die Reifen griffen und begannen zu singen.
Der Wagen war unwichtig. Vollkommen unwichtig. Er würde ihn ohnehin
loswerden müssen, und zwar bald. Er hörte die Hupe der Idioten, und
dann tauchte das Heck eines Wohnmobils vor ihm auf, das mit
ungefähr drei Stundenkilometern durch die Engstelle der Auffahrt
kurz vor der Einmündung in die Schnellstraße kroch. Ein Blick auf
Natalias grimmiges bleiches Gesicht, dann sah er in den
Rückspiegel, wo der Leichenwagen mit brüllender Hupe näher kam und
die beiden Idioten ihre Mittelfinger reckten. Sie interessierten
ihn nicht. Ihn interessierte nur der schwarze Jetta, der
schlingernd vom Parkplatz in Richtung Auffahrt fuhr.
Natalia sagte kein Wort. Selbst Madison
schien, obwohl er sie so hart angefaßt hatte, den Atem anzuhalten.
Direkt vor ihnen ragte beige, weiß und zitronengelb das
dahinkriechende Wohnmobil auf, auf das, wie ein wahnsinniger
Regieeinfall, Fahrräder, Liegestühle und Grillgerätschaften
geschnallt waren, und direkt hinter ihnen war der Leichenwagen.
Meter um Meter legten sie im Schneckentempo zurück, und zu beiden
Seiten war kein Platz zum Überholen, denn die Auffahrt führte durch
einen engen Einschnitt zwischen Felsen, die die Farbe getrockneten
Bluts hatten. Und jetzt konkurrierten zwei Hupen miteinander: Der
Jetta hatte den Leichenwagen eingeholt, Arme wurden geschwenkt,
aufgerissene Münder erstarrten lautlos. Als die Auffahrt breiter
wurde und in die Schnellstraße mündete, hörte er seine eigene
Stimme: »Schnallt euch an.«
Was ihn später am meisten verwunderte, war
die Tatsache, daß der Jetta so lange mithielt. Der Leichenwagen
fiel zurück, als wäre er an eine Kette gelegt worden, und das
Wohnmobil war bloß ein Stück Landschaft, aber der Jetta blieb dran,
als er das Gaspedal durchtrat und alles andere stehenließ. Bei
hundertsiebzig bemerkte er eine Bewegung neben sich: Natalia
kletterte mit zusammengekniffenen Lippen nach hinten und
umklammerte ihre Tochter, aber diese Geste bedeutete nichts, nicht
jetzt. Bei hundertneunzig entdeckte der Wagen, wofür er geschaffen
war: all diese deutschen Pferde, die Autobahn, Reisegeschwindigkeit. Ein Teil von ihm wußte, daß er
in Schwierigkeiten war, daß sie die Polizei anrufen und dem Typ in
der Zentrale alles mögliche erzählen konnten: Vor ihnen fahre ein
Betrunkener, ein rücksichtsloser Verkehrsrowdy, ein verrückter,
lebensgefährlicher Krimineller in einem bordeauxroten Mercedes mit
Händlerkennzeichen, die ebensogut im Wind flatternde Fahnen hätten
sein können. Doch es gab auch einen anderen, größeren Teil, dem das
alles scheißegal war, der von Adrenalin angetrieben wurde und aufs
Gas trat.
Später, als der Jetta nur noch eine
Erinnerung war, als Natalia endlich die Luft ausgegangen war und
sie aufgehört hatte zu zicken, als er ihr einen Riesenhaufen
Ausflüchte, Spitzfindigkeiten und krasse Lügen erzählt hatte (ach,
Mann, das waren üble Leute, Leute, mit denen er mal
Immobiliengeschäfte gemacht hatte und die ihren Teil der
vertraglichen Pflichten nicht hatten erfüllen wollen, und wußte sie
denn nicht, daß diese Immobilientypen die schlimmsten waren?), als
sie, die Arme um ihre Tochter geschlungen, auf dem Rücksitz
eingeschlafen und er in Placerville von der Hauptstraße abgebogen
war, um über den Gold Country Highway zurück zur I-80 zu fahren,
begann er, über die unmittelbare Zukunft nachzudenken. Tahoe kam
nicht mehr in Frage, ganz klar, und den Wagen mußte er schleunigst
verkaufen, aber die I-80 führte nach Reno, und dort würde er schon
eine Straße nach Vegas finden – es würde eine lange Fahrt werden,
viel länger, als er gedacht hatte, und er würde Natalia eine Menge
erklären und sie tagelang an ihrem Altar anbeten müssen, aber im
Augenblick gab es keine Alternative. Es war knapp gewesen. Eine
lehrreiche Erfahrung.
Doch die lag jetzt hinter ihm. Die
Landschaft wurde schöner. Er stellte die Musik lauter und ließ die
Räder rollen. Und nach einer Weile begann er mitzusingen und mit
der Hand den Rhythmus zu schlagen. Das Adrenalin in seinen Adern
wurde langsam abgebaut. Die Straße führte bergauf, die Bäume rechts
und links wurden höher und dicker, und der nackte Fels der Berge
fing das Licht ein und gab ihm Gestalt. Peck trat aufs Gas,
überholte ein Wohnmobil, das verträumt einen zweiten Wagen
schleppte, und gelobte sich etwas: daß niemand mehr ihn je finden
würde.