DREI
Madison war beim Klavierunterricht, Natalia
lag auf der Terrasse in der Sonne, und er beugte sich über die
schwarze Granitplatte der Küchentheke und mixte die zweite Runde
Seabreezes. Eingehüllt in einen Kokon der Stille (der CD-Player mußte neu programmiert werden, aber er
war jetzt nicht in Stimmung, irgendwas zu programmieren), genoß er
diesen Augenblick, da die ganze Welt sich einem öffnete, da alles,
was man im täglichen Kampf wie besinnungslos zusammenraffte und an
sich riß, um sich ein bißchen Macht zu sichern, plötzlich einfach
vor einem lag und der Planet, nur für einen Moment, im
Gleichgewicht verharrte. Und dabei war er nicht betrunken, noch
nicht – daran also lag es nicht. Er war nur empfänglich für die
kleinen Dinge: den Geschmack der Meeresluft, die durch das offene
Fenster hereintrieb, die zarte Eisschicht auf dem Hals der Flasche
Grey Goose aus dem Tiefkühlschrank, den Duft der zerschnittenen
Limone, die Süße des Preiselbeersafts und die Säure des frisch
gepreßten Grapefruitsafts im Tonkrug. Er sah über die Salzmarsch
auf die Bay. Das Licht war wie aus einem Gemälde: tausend
Abstufungen, von den blassen arktischen Streifen am
schmiedeeisernen Geländer der Terrasse über das satte tropische
Gold, in das Natalia und die Chaiselongue getaucht waren, bis hin
zu den fernen weißen Segeln der Boote, die gegen den Wind
kreuzten.
Zum Abendessen würde er mit Knoblauch und
Frühlingszwiebeln geschmorte Jakobsmuscheln machen, dazu eine
Sauce, die er vor Jahren beim Experimentieren im Restaurant gelernt
hatte: Schalotten in Weißwein und einem Schuß Sherry schmoren, ein
Stück Butter dazu, mit Sahne aufgießen und dann bei großer Hitze
und unter Rühren auf ein Fünftel der ursprünglichen Menge
reduzieren. Dazu würde es wohl Reis geben, gekocht in einer mit
Sherry und einem Spritzer Sesamöl abgeschmeckten Brühe, und
vielleicht einen Salat und ein paar sautierte Brokkolini. Nichts
Kompliziertes. Er hätte auch etwas Aufwendigeres kochen können,
denn alles war gut, und er hatte jede Menge Zeit, aber manchmal
wollte man eben zurück zum Ursprünglichen und die Aromen für sich
selbst sprechen lassen. Er hätte ohne weiteres noch ein paar
Brötchen machen können oder ein kleines Dessert, aber was gab es
Besseres als frische Himbeeren in halbfester Schlagsahne mit etwas
Puderzucker und einem Schuß Brandy, um den Geschmack abzutönen? Das
war das Leben, wie es sein sollte: kein Ärger, kein Streß, keine
Sorgen, viel Zeit, um sich auf dem Bauernmarkt und im Weingeschäft
umzusehen und an einem sonnigen Morgen mit der Dame seines Herzens
Cappuccino zu trinken und Croissants zu essen, viel Zeit, um zu
schneiden und zu würfeln und zu schmoren und ein gutes Essen für
Natalias Freundin zu machen, für Kaylee und ihren Mann, wie hieß er
noch mal? Jonas, ja, Jonas. Eigentlich kein schlechter Typ, für
einen Verlierer. Sie hatten eine Kette von Fitneßstudios –Pilates
und der ganze Mist –, und vermutlich ging es ihnen ganz gut, und
das war ja auch in Ordnung. Wenigstens wußte der Typ gutes Essen
und eine gute Flasche Wein zu würdigen – er würde seine Zeit in der
Küche also nicht für ein paar Nullen verschwenden.
Das Licht veränderte sich. Die Welt drehte
sich weiter. Sein Blick ging zu Natalia, zu dem Sonnenlicht auf
ihren Beinen, dem Schimmer ihrer Haut, der Geometrie der
Perfektion, und kehrte dann zu dem zurück, was erledigt werden
mußte: säuberlich zwei blaßgrüne Scheiben von der Limone schneiden,
als Garnierung für ihre Drinks.
Als die Türglocke läutete, war alles
bereit – Madison war vom Klavierunterricht zurück, hatte gegessen
und ihren Pyjama angezogen, die Videos waren ausgesucht, die Töpfe
standen auf dem Herd, und die Muscheln waren gewaschen. Natalia
stand von der Chaiselongue auf und ging in Bikini und Chiffonrobe,
wie von einer leisen Brise getragen, durch die Terrassentür ins
Haus. So bewegte sie sich immer – mit aller Ruhe: Hetz mich nicht, sieh mich nur an –, und er hörte
die Begrüßung an der Haustür und trat, zwei frische Cocktails in
den Händen, aus der Küche. Lucinda, die Tochter, rannte sofort in
Madisons Zimmer, und Kaylee, eine knochige Blondine mit einer
kleinen, getönten Brille, das krause Haar zu einem Knoten
aufgesteckt, zog ihn in ihre Arme. »Stell dir vor«, sagte sie, »wir
haben auf dem Weg hierher was Unglaubliches gesehen: einen großen
weißen Vogel. Jonas sagt, es war ein Silberreiher, und er stand
einfach auf dem gelben Mittelstreifen, als wäre die Straße ein Fluß
oder so.«
Peck reichte ihr einen Seabreeze, begrüßte
ihren Mann und drückte ihm das andere Glas in die Hand. »Hallo«,
sagte er, und der Mann – Stoppelfrisur, Ziegenbärtchen, ein bißchen
pausbäckig – erwiderte den Gruß.
»War das nicht ein Silberreiher, Jonas?«
sagte Kaylee.
»Ein weißer Vogel«, sagte Natalia, beugte
sich vor und hielt die flache Hand etwa einen halben Meter über den
Boden, wobei ihre gut sichtbaren Brüste sich im Bikinioberteil
verschoben, »ungefähr so groß, ja? Die sehen wir die ganze Zeit«,
erklärte sie und richtete sich auf. »Mit den Fernrohren. Normal,
ja. Ganz normal hier.«
»Echt?« Kaylee zog die Augenbrauen hoch und
nippte an ihrem Cocktail. »Ist aber trotzdem irgendwie total
schön«, murmelte sie. »Irgendwie magisch, verstehst du?«
Ihr Mann wollte davon nichts wissen. Er
grinste und sagte: »Vielleicht sollten wir uns einen besorgen und
für das Studio in Corte Madera ausstopfen lassen.«
»Oh, Jonas«, sagte Kaylee und verzog das
Gesicht. Sie sah Peck um Zustimmung heischend an. Beide sahen ihn
an. Alle standen in der Eingangshalle, tranken Wodka und plauderten
über Vögel.
»Klar«, sagte er, »warum nicht? Und wenn
wir schon mal dabei sind, können wir gleich auch ein paar Touristen
ausstopfen lassen.«
Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich
hauptsächlich um nichtige Themen, um Kraftmaschinen und Stepper,
den Aktienmarkt, die Giants, gute Noten, Zuchtlachs, den neuen
Kade-Film und schließlich um den »total superteuren« Europaurlaub,
mit dem Jonas seine Frau verwöhnen würde: einen ganzen Monat, das
Kind bei der Großmutter geparkt, eine Woche Paris, eine Woche
Venedig, und den Rest der Zeit würden sie auf der kilometerlangen
Yacht von irgendeinem reichen Arsch in der Gegend der Islas
Baleares verbringen. Das sagten sie tatsächlich, sie sprachen den
Namen tatsächlich spanisch aus, mit rollendem R und allem Drum und
Dran, als wären sie ein Kellnerteam in einem mexikanischen
Restaurant: erst er – Islas Baleares – und
dann sie, wie ein Echo. Sie lobten das Essen und den Wein – sie
hatten zwei Flaschen Talley Chardonnay mitgebracht, der nicht mal
übel war –, aber als die Sonne unterging und die Musik lauter wurde
und man sich an den Armagnac machte, der ihn im Discountladen
sechzig Scheine gekostet hatte, begann Peck zu merken, daß er gut
ohne diese Leute leben konnte. Wirklich. Kaylee war in Ordnung,
weil sie Natalia beschäftigte und sie ihm vom Hals hielt, aber ihr
Mann war ein Idiot – das waren sie beide –, und Peck spürte, daß er
unruhig und gereizt wurde, und das war nicht gut, denn es zerstörte
die Stimmung dieses Tages und ließ ihn an Dinge denken, die eine
negative Energie hatten und ihn runterzogen. Wie zum Beispiel Dana
Halter. Wie zum Beispiel dieses Arschloch Bridger.
Er hatte morgens die Nummer gewählt und die
Ansage gehört – »Hallo, hier ist Bridgers Mailbox – bitte
hinterlassen Sie eine Nachricht« –, und er hatte sich gefühlt, als
hätte er am Hebel eines Spielautomaten gezogen und nicht drei,
sondern nur zwei Kirschen gekriegt. Bridger. Was war das überhaupt
für ein Name? Und warum spielte er dieses
Spiel und nicht Dr. Dana Halter? Ein Bulle wäre sicher nicht so
blöd gewesen, seine Nummer nicht zu unterdrücken, woraus folgte,
daß er kein Bulle war. Aber wer war er dann?
»Und wie läuft’s bei dir, Dana?« fragte der
Ehemann mit dem fetten roten Gesicht und beugte sich über den
Couchtisch, als wäre es ein Schwimmbecken, in das er sich im
nächsten Augenblick stürzen wollte. »Was gibt’s Neues?«
Er spürte das leichte Prickeln einer
Irritation und warf Jonas einen warnenden Blick zu, aber der Typ
war einfach zu dämlich, um es zu merken.
»Ich meine, mit deiner Praxis? Da waren
doch diese Räumlichkeiten in Larkspur – was ist daraus inzwischen
geworden?«
Es war kein leichtes Prickeln, sondern ein
Stachel, ein Dorn. Wer war dieser Clown eigentlich? Und was hatte
er ihm erzählt? Scheiße, er konnte sich nicht mehr erinnern. Er
nahm den Schwenker und betrachtete die Wirbel, die der Brandy im
Glas bildete – eine Farbe wie Diät-Cola, wenn das Eis geschmolzen
war; warum war ihm das noch nie aufgefallen? –, und dann merkte er,
daß niemand etwas sagte. Der Ehemann starrte ihn an, wartete
mausgesichtig auf eine Antwort und war sich nicht ganz im klaren,
ob er gerade ignoriert wurde und was er, wenn ja, dagegen tun
sollte. Die beiden Frauen hatten aufgehört, sich über Soundso und
ihren Silikonbusen zu unterhalten, und sahen ihn ebenfalls an. »Ich
weiß nicht«, sagte er schließlich und versuchte, das Aufwallen zu
unterdrücken, das sich anfühlte wie die Blasen in einer Sauce, wenn
man die Sahne untergerührt hatte. »Wenn ich mir ansehe, was man für
Versicherungen gegen Behandlungsfehler hinlegen muß, kann ich nur
sagen: Ich weiß nicht, wie sich das lohnen soll. Wirklich. Manchmal
denke ich, ich sollte es einfach lassen.«
Kaylees Kinn klappte wie von einer Feder
gezogen herunter. »Aber du bist doch noch so jung –«
Und der Ehemann: »Und deine Ausbildung. Was
ist mit deiner Ausbildung?«
Sie waren vom Eßzimmer ins Wohnzimmer
gegangen – »Nein, nein, laß nur«, hatte Natalia zu Kaylee gesagt,
als diese beim Abräumen hatte helfen wollen, »soll das Mädchen das
machen« –, und er hatte mit einer gewissen Befriedigung die Lampen
angeschaltet, um eine warme, intime Atmosphäre zu schaffen, und
jetzt waren die 25-Watt-Birnen wie kleine Feuer, mit denen er die
Nacht und den Nebel, der über die Hügel hinter ihnen kroch, auf
Abstand hielt. Für den Bruchteil einer Sekunde musterte er den
Ehemann: Machte dieses fette Arschloch sich etwa über ihn lustig?
Tatsächlich? Aber nein – in den trüben, dummen kleinen Augen des
Mannes sah er nichts als eine Art alkoholisierte Stumpfheit. Er gab
ihm keine Antwort.
»Aber all die Arbeit, dein Medizinstudium
und so«, sagte Kaylee. Sie bog den Rücken durch und machte eine
Bewegung, die unauffällig sein sollte und die dünnen schwarzen
Träger ihres BHs straffte. »Das wäre
dann doch alles umsonst gewesen.«
»Ach, nein«, unterbrach Natalia, und dabei
spitzte sie die Lippen und dehnte den Diphthong ein bißchen zu
lang, »Danas Job ist es, um mich und Madison zu kümmern.« Sie
streckte die Hand aus und strich über seinen Oberarm. »Ist das
nicht so, Baby?« Sie lächelte ihr schönstes Lächeln. »Ein
Fulltimejob, nicht?«
Das Glas des Ehemanns war leer, und er
reckte den Arm, damit es wieder gefüllt wurde. »Wo hast du noch mal
studiert? War es nicht die Hopkins?«
»Ja«, sagte Peck. »Aber ich denke, es wäre
cool, wirklich cool, bei so was wie Ärzte ohne Grenzen
einzusteigen. In den Sudan zu gehen oder so. Sich um Flüchtlinge
und so zu kümmern. Cholera. Pest.«
»Médicins sans Frontières«, sagte der
Ehemann, als hätte er ein Stückchen Karamel zwischen den
Zähnen.
Aus dem hinteren Zimmer hörte man die
Videokassette der Mädchen, irgendein Disney-Zeug mit Seepferdchen,
sprechenden Seesternen und allerlei anderem Meeresgetier,
anschwellender Musik und künstlichen Wellengeräuschen. Peck war
gereizt und wußte nicht, warum. Der Tag war perfekt gewesen, einer
von denen, die am besten nie endeten, einer jener Tage, die zu
erleben er sich im Gefängnis gelobt hatte, als alles grau gewesen
war, als die Sonne nie geschienen hatte und es immer irgendein
eingebildetes, aufgeblasenes Arschloch gegeben hatte, das einem
sagte, man solle in einer Reihe antreten, das Licht ausmachen,
aufstehen. Oder die gehirnamputierten Knastbrüder mit ihren
jämmerlichen Versuchen, sich als Angehörige der menschlichen Rasse
zu erkennen zu geben: Ich schwör dir, ’ne 67er
Corvette 427 Factory – Finger weg von der Fernbedienung,
Arschloch – Und wie wünschen der Herr
seinen Wackelpudding? Aber nein, er wußte, warum. Alles, was er
hatte, balancierte auf einer Nadelspitze, wie das zweistöckige Haus
in einem von Madisons Filmen, das mitsamt der Dreiergarage, dem
Vogel im Käfig und dem hechelnden Hund in einen Teppich gerollt und
von dem Windstoß, der über das eben noch bebaute Grundstück
brauste, davongetragen wurde. Leute wie die hier, Leute wie Jonas,
wie Kaylee, waren das Problem. Was hatte er denn gedacht? Daß er
sich einfach irgendwo niederlassen konnte und sie seine Freunde
oder so sein würden? Nein. So war es nicht. So würde es nie
sein.
Was also sollte er tun? Er lehnte sich
zurück, hob einen Fuß mit dem neuen, glänzenden, ultracoolen,
schachbrettgemusterten Van und legte ihn direkt neben Jonas’ Glas.
»Ja«, sagte er und reckte die Arme, daß die Gelenke knackten, »ja,
genau die.«
Als er Gina kennenlernte, war es anders.
Er war fünfundzwanzig und hatte zwei Jahre auf dem Gemeindecollege
und Jobs in Restaurants in Maui und Stowe hinter sich, keine
Einträge in irgendwelchen Registern, abgesehen von den unbezahlten
Strafzetteln für Verkehrsdelikte (die er immer gleich wegwarf, denn
– mal ehrlich – das war doch nichts weiter als eine Masche, eine
Methode, mit der die örtlichen Behörden Geld eintrieben, damit sie
noch mehr Streifenwagen und Radarpistolen kaufen konnten, um im
Namen des Gesetzes noch mehr Leute auszunehmen), und er war bei
Fiorentino gerade zum Geschäftsführer befördert worden, der jüngste
Geschäftsführer, den sie je gehabt hatten. Das jedenfalls
behauptete Jocko, der alte Barmann mit dem Bassetgesicht, der seit
dem Bürgerkrieg da war. Und dann tauchte Gina auf. Es war Mittag,
und er saß an seinem freien Tag mit Jocko und Frank Calabrese, dem
Eigentümer, an der Bar und nahm eine Miniparade von Mädchen ab, die
sich um den in der Zeitung inserierten Job als Kellnerin bewarben.
Manche hatten schon in der Gastronomie gearbeitet, andere nicht,
aber alle besaßen diesen leicht stumpfen Glanz, den Kellnerinnen
haben. Ihm ging es nicht um Berufspraxis, ihm ging es nur um eins:
wie heiß sie waren, auf einer Skala von eins bis zehn. Keine kam
auch nur annähernd an Gina heran – vielleicht, was das Gesicht
betraf, aber ihr Körper war wie aus dem Playboy oder besser noch: wie aus Penthouse. Jocko und Frank, der ganz schön brutal
sein konnte, widersprachen ihm nicht.
Gina-Louise Marchetti.
Sie war auf die Lakeland High School
gegangen, ein Stück außerhalb von Peterskill, sie war zwanzig Jahre
alt, hatte gerade keinen Freund und lebte – vorübergehend, wie sie
betonte – bei ihren Eltern, in einem Haus an einer sich windenden
schwarzen Straße in einem ländlichen, von Bäumen überschatteten
Teil von Putnam Valley, wo absolut niemals etwas passierte, gestern
nicht, heute nicht und morgen auch nicht. Es dauerte keine Woche,
und er ging mit ihr ins Bett, es dauerte keinen Monat, und sie
wohnte bei ihm. Nach der Arbeit zogen sie meistens durch die Bars
und schliefen dann bis mittags, und an ihren freien Tagen fuhren
sie mit der Bahn nach Manhattan und taten sich in den Clubs um. Sie
nahmen zusammen Drogen, allerdings nicht exzessiv, nur ein bißchen
Speed und ab und zu mal Ecstasy, und an den Abenden, an denen sie
zu Hause blieben, probierten sie anständige Weine aus und
experimentierten mit Rezepten aus Kochbüchern. Zu Weihnachten
schenkte sie ihm ein Weinregal aus Kirschholz – »Für den
Weinkeller, den du eines Tages haben wirst« –, und er schenkte ihr
eine Kiste Rotwein, die der Weinhändler ihm zum Großhandelspreis
überlassen hatte; sie kochten Paella, nur um es anders zu machen
als der Rest des Landes, und verbrachten den größten Teil des
Abends damit, den Anblick der zwölf symmetrisch angeordneten
Flaschen Valpolicella in dem neuen Weinregal zu bewundern.
Das war schön. Sehr häuslich, sehr ruhig.
Er war verliebt, zum erstenmal in seinem Leben wirklich verliebt,
er verdiente gutes Geld – sie übrigens ebenfalls –, und die Straße,
die vor ihnen lag, war schnurgerade und eben. Sie zogen in eine
größere Wohnung mit Aussicht auf den Hudson, vom Atomkraftwerk bis
weit stromaufwärts, wo der Fluß sich aus dem Schoß der Berge wand.
Er kaufte sich einen neuen Wagen, einen silberfarbenen Mustang mit
Fünfganggetriebe und richtig Power. Die Nächte im Bett mit ihr
waren was Besonderes. Du bist ein super
Liebhaber, sagte sie. Super. Das
glaubte er ihr – er glaubte es übrigens noch immer. Aber alles in
diesem Leben wird früher oder später zu Scheiße, wie sein Vater
immer gesagt hatte (bis er, ein Cocktailglas umklammernd, in seinem
Fernsehsessel an einem Aneurysma gestorben war), und Frank, der
Eigentümer, bewies den Wahrheitsgehalt dieses Satzes, indem er sich
scheiden ließ.
Ein geschiedener Mann hat Zeit, viel Zeit,
um zu nörgeln, zu kritteln, zu kritisieren, und Kritik hatte Peck
noch nie gut vertragen – ja, die sicherste Methode, ihn auf die
Palme zu bringen, war die, ihm wegen irgend etwas an die Karre zu
fahren, ganz gleich, ob es sein Vater war, der ihn
zusammenstauchte, weil er angeblich irgendwelche häuslichen
Pflichten vernachlässigt hatte, oder das Arschgesicht von
Mathematiklehrer, der ihn in der neunten Klasse an die Tafel
gerufen und versucht hatte, ihn fertigzumachen, oder seine
unterbelichteten Bosse, die sich für Gottes Geschenk an die
Menschheit gehalten hatten. Er wußte es besser. Ganz gleich, was
anlag – er hatte immer recht, sogar wenn er unrecht hatte, und das
konnte er mit einer rechten Geraden beweisen. Andere – Verlierer,
Versager – mochten auch die andere Wange hinhalten, den Kopf
senken, jeden Widerspruch hinunterschlucken. Er nicht. Dazu besaß
er zuviel Stolz. Zuviel – wie sollte man das nennen? –
Selbstachtung, Selbstwertgefühl. Oder Selbstvertrauen.
Selbstvertrauen war ein viel besseres Wort. Jedenfalls war Frank
jetzt andauernd in der Bar, inhalierte Glenfiddich bis in die
Morgenstunden und wurde mit jedem Tag seltsamer, reizbarer und
verrückter. Und dann kam unvermeidlich der Abend, an dem Peck der
Kragen platzte (es ging um irgendeinen Scheiß... daß er nicht den
richtigen Parmesan bestellt hatte und sowieso keine Ahnung von
echtem Parmesan – parmigiano-reggiano –
hatte und nichts als Mist machte und seinen Boß Geld kostete), und
der jüngste Geschäftsführer, den das Fiorentino je gehabt hatte,
sah rot. Man tauschte Beschimpfungen aus, dies und das ging zu
Bruch, und auf Empfehlungen von Frank Calabrese brauchte Peck
vorerst nicht zu rechnen.
Aber Gina war ein Fels in der Brandung. Sie
schmiß ihre Schürze hin, leerte die Trinkgeldkasse und stolzierte
hinaus, und innerhalb einer Woche hatte sie einen Laden in der
Water Street gefunden. Sie pumpte ihren Vater an, und Pizza Napoli
war geboren. Das Ding war von Anfang an ein Erfolg – man hätte
meinen können, daß sie die Pizzas verschenkten –, und das Geheimnis
dieses Erfolgs war Skip Siciliano, der Pizzabäcker mit dem
Schnauzbart und der hohen weißen Mütze, den er vom Fiorentino hatte
abwerben können, weil Skip ebenfalls fand, daß Frank ein Arschloch
war. Das und die Lage. Die Leute wollten auf den breit
dahinfließenden Hudson blicken, sie wollten an hübschen Tischen
sitzen, wo der Boden mit Sägespänen bestreut war und Salami und
Knoblauchzöpfe von der Decke hingen, sie wollten Pizza frisch aus
dem Ofen essen und Antipasti und Calzone und hausgemachte Nudeln,
und sie wollten ein nicht zu teures Angebot an italienischen Weinen
und daß es alles auch zum Mitnehmen gab. Am Ende des ersten Jahres
wurden Gina und er ehrgeizig und eröffneten ein zweites Restaurant.
Es hieß Lugano – den Namen hatten sie gefunden, indem sie mit
geschlossenen Augen eine Münze auf eine Landkarte von Italien
hatten fallen lassen. Das Lugano sollte was für den gehobenen
Geschmack sein: große Speisekarte mit Osso buco, Fisch und
Muscheln, jeden Abend Spezialitäten des Küchenchefs, auf jedem
Tisch Kristallschalen mit Gemüsestreifen und Dip, außerdem
Crostini, die mit der Speisekarte gebracht wurden.
Dann wurde Gina schwanger und erzählte es
ihrem Vater, und ihr Vater – ein Großmaul und Sturkopf
sondergleichen, der Peck nie besonders gemocht hatte, weil der kein
Italiener war, und selbst wenn er einer gewesen wäre, hätte das
auch nichts geändert, denn für sein Mädchen war niemand gut genug,
nicht der Rechtsaußen der New York Yankees und auch nicht Giulianis
Lieblingsneffe –, ihr Vater also bestand darauf, daß sie innerhalb
eines Monats heirateten. Für Peck stank die Sache von Anfang an.
Sie wollten kein Kind, sie wollten nicht so jung schon angebunden
sein, und er nahm es Gina übel, daß sie es überhaupt hatte
passieren lassen. Aber er machte mit, unter anderem, weil ihr Vater
der Haupteigentümer von Pizza Napoli und Lugano war, aber auch,
weil er sie liebte, wirklich liebte. Damals jedenfalls. Sie
heirateten in der katholischen Kirche, danach gab’s einen großen
Empfang im Country Club in Croton, bei dem an nichts gespart wurde.
Seine Mutter saß, betrunken wie immer, in der ersten Reihe, ein
Freund aus der High School – Josh Friedman, den er sechs Jahre
nicht gesehen hatte –, war sein Trauzeuge, und das war’s
dann.
Die Sache war die: Es hätte klappen können
– ein langsames Hineinwachsen in die Reife und das volle Potential
der Beziehung, ein Kind, ein Hund, ein Haus auf dem Land –, wenn
Gina nicht gewesen wäre. Kaum war sie schwanger, da hörte sie auf,
mit ihm zu schlafen. Einfach so. Immer war ihr übel, immer beklagte
sie sich über irgendwelche eingebildeten Schmerzen, sie wurde
schlampig und ließ sich gehen. Sie wusch sich nie das Haar. Sie hob
nie irgendwas auf. Und der Sex... Hatte er das schon erwähnt? Der
Sex war ungefähr so häufig – und befriedigend – wie dieser Komet,
der alle vierhundert Jahre kommt, und dann geht man raus in den
Garten und starrt auf einen armseligen, blassen, jämmerlichen, kaum
erkennbaren Rotzstreifen am Himmel. Toll. Echt supertoll.
Konnte ihm irgend jemand, und seien es der
Papst und sein Kardinalskollegium, vorwerfen, daß er immer länger
im Restaurant blieb? Sogar jetzt, nach dem Knast und dem Haß, nach
dem Untertauchen und dem ganzen Rest, bereute er nichts. Manchmal
brauchte er nur die Augen zu schließen und sah vor sich das
Schummerlicht der Bar um zwei Uhr morgens, die Tür war
abgeschlossen, und in den gelblichen Glaskugeln brannten zwei oder
drei Kerzen, so daß es war, als wäre alles mit einer dünnen Patina
aus Altgold überzogen, und Caroline oder Melanie oder eine der
anderen Kellnerinnen saß, langsam rauchend und einen Remy in der
Hand, neben ihm, und seine Hand lag auf ihrem Oberschenkel oder
einer ihrer Brüste, als nähme er Maß für ein Kostüm. So beiläufig.
So langsam, so sicher: Er hatte sie in der Nacht zuvor flachgelegt,
und er würde sie auch heute nacht flachlegen. Sobald er sich dazu
aufraffen konnte.
»Wie ist es mit Jazz? Stehst du auf
Jazz?« sagte Jonas, und Peck war für einen Augenblick mit den
Gedanken woanders gewesen und konnte sich für den Bruchteil einer
Sekunde nicht erinnern, wer der Typ war. »Die neue Diana Krall –
hast du gewußt, daß sie Elvis Costello geheiratet hat? – ist
ziemlich super.« Er wühlte in seiner Jacke, seine Hand bewegte sich
wie ein Tier, das in einem Sack steckt, und dann zog er die
CD hervor und reichte sie über den
Tisch. »Vielleicht legst du sie mal auf. Sie ist ziemlich super,
wirklich.«
Irgendwie hatte Pecks Stimmung sich
verdüstert. Die Töpfe waren schmutzig, das Essen sackte durch ihre
Gedärme, der Armagnac verdunstete – trank dieser Typ durch einen
Strohhalm oder was? Und dann war da noch dieses Arschloch Bridger,
der alles gefährdete, der erste kleine Riß in der Mauer: Die
Kreditkarte, mit der er im Weingeschäft hatte bezahlen wollen, war
ungültig, wie das Männlein hinter dem Tresen ihm versichert hatte.
Natalia hatte ihm – halb scherzhaft, halb im Ernst – vorgeworfen,
er brüte vor sich hin, und er hatte sich lahm verteidigt: »Ich
brüte nicht vor mich hin, ich denke nach, das ist alles.« Er nahm
Jonas’ CD und sah sie
geistesabwesend an.
»Ich glaube, die wird dir gefallen«, sagte
Jonas und beugte sich über den Tisch. Er war ein betrunkenes,
mopsgesichtiges Weichei. Peck unterdrückte den Wunsch, ihm eine
reinzuhauen. »Stimmt’s, Schatz?« sagte Jonas und wandte sich zu
seiner Frau.
»Aber ja«, flötete Kaylee, »ja, ich glaube
auch, die wird dir irgendwie gefallen.« Sie zuckte die Schultern.
Es war ein langes Erschauern, das an den Seiten ihres Oberkörpers
hinauf bis zu den Schultern und wieder hinunter lief. Auch sie war
betrunken. Warum konnte sich eigentlich niemand hinsetzen und was
Gutes essen, ohne sich zu beschickern? Sie lächelte ihn breit und
feucht an. »Wie ich dich kenne, deine verletzliche Seite, meine
ich...«
Natalia hatte die Schuhe abgestreift und
saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa, zusammengekuschelt wie
eine Katze. Das Armagnacglas stand in dem V ihres Schoßes. Ihr
Blick ruhte auf Jonas. »Was ist das? Standards? Sagt man so?
Standards? So ein lustiges Wort.«
Keiner antwortete ihr. Nach kurzem
Schweigen sagte Peck, die CD noch in
der Hand, er sei vor zehn, zwölf Jahren mal mit einem Mädchen im
Five Spot gewesen, und die Band, die damals da gespielt habe –
Sängerin, Flöte, Klavier, Schlagzeug, Baß –, sei wie jemand
gewesen, der sich im Dunkeln auszieht, weil er sich für sein
Aussehen schämt, und nachdem er das gesagt hatte, legte er die
CD auf den Tisch und stand auf. »Mir
ist gerade was eingefallen«, sagte er. »Entschuldigt mich kurz. Ich
muß mal... Ich muß mal raus. Dauert nicht lange.«
Natalia sagte: »Aber Da-na, es ist nahezu
ein Uhr. Wo? Wohin gehst du?«
Sie widersprach ihm vor ihren Gästen, und
das ging ihm gegen den Strich. Am liebsten hätte er etwas Gemeines,
Verletzendes erwidert, doch er hielt sich zurück. Er stand gewaltig
unter Druck. Es war ein Fehler gewesen, das wußte er, und um es
wieder hinzubiegen, sagte er etwas, was er besser nicht gesagt
hätte: »Ich muß mal telefonieren.«
Prompt erhob sich ein Sympathie- und
Proteststurm. Natalia beklagte sich mit weinerlicher Stimme, er
habe ihr Handy kaputtgemacht, und fragte ihn, warum er nicht den
Festnetzapparat nehme, und Jonas und Kaylee zückten ihre Handys,
als wären es Revolver und dies der OK Corral. Was konnte er schon sagen? Nichts. Er
winkte einfach ab und lief zur Tür, als fürchtete er, sie könnten
ihn einholen, ihn am Ärmel festhalten, ihm ihre Handys aufdrängen,
und als er draußen war, stand vor seinem geistigen Auge das Bild
ihrer Gesichter, ihrer betrunkenen, verwirrten, ja sogar ein wenig
indignierten Gesichter.
Der Nebel war dichter geworden und
hüllte alles ein. Es war plötzlich kühl, die feuchten Finger des
Nebels krochen unter sein Hemd, und er wünschte, er hätte ein
Jackett angezogen, aber im Grunde war es egal. Er setzte sich in
Natalias Wagen (Natalias Wagen, ha – er war
auf seinen Namen zugelassen, und er war derjenige, der ihn
bezahlte), ließ ihn an und stellte die Temperaturvorwahl auf
achtundzwanzig Grad ein. Es gab nicht mehr viele Münztelefone, sie
waren Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit, aus Franks Zeit, aus
Jockos Zeit, aus der Zeit seines toten Vaters, und in zehn Jahren
würde es überhaupt keine mehr geben, darauf würde er wetten, aber
in der Eingangshalle des Holiday Inn standen noch ein paar, und
dorthin fuhr er nun.
An der Bar ließ er sich einen Cognac und
fünf Dollar in Münzen geben. Er hatte keine Ahnung, wieviel ein
Gespräch nach San Roque kostete, und dieser Anruf war sowieso keine
gute Idee – es gab einfachere Methoden, um zu bekommen, was man
wollte –, aber er konnte einfach nicht widerstehen, nicht heute
abend, nicht in dieser Gemütsverfassung, wenn er so sauer war, so
losgelöst von allem, so unter Dampf. Die Hotelhalle war strahlend
hell erleuchtet, als würden sich hier viele Menschen versammeln,
dabei war sie um diese Uhrzeit praktisch leer. Er hörte das Fallen
der Münzen im Apparat, die Stimme der Vermittlerin und schließlich
das Tuten am anderen Ende.
»Hallo?«
»Bridger?«
»Ja?«
»Ich wollte nur überprüfen, ob Ihr Eintrag
in unserem Verzeichnis korrekt ist – würden Sie bitte Ihren Namen
buchstabieren?«
»Hören Sie, wenn Sie mir irgendwas
verkaufen wollen – ich will’s nicht haben. Das hier ist mein
privates Handy, und ich will, daß Sie die Nummer aus Ihrem
Verzeichnis löschen.«
»Nein, nein, ich verkaufe nichts,
jedenfalls nichts, was Sie haben wollen.« Peck hielt kurz inne,
damit das Gespräch ins richtige Gleis fand. »Ich bin’s, Dana. Du
weißt schon: der Rick-James-Fan.«
Eine schwärende Stille trat ein. Der Schorf
war abgezupft, der Verband von der Wunde gerissen. Sein Herz schlug
höher, als er diese Stille hörte, als er hörte, wie das Arschloch
am anderen Ende in der Luft hing, geschlagen in seinem eigenen
Spiel. »Ja, äh, hallo.«
»Selber hallo, Arschloch. Meinst du, du
kannst dich mit mir anlegen?«
»Du bist das
Arschloch. Du bist der Verbrecher. Meinst
du, du kannst meiner Freundin die Identität klauen, und nichts
passiert? Ha? Wir kriegen dich, mein Freund, das verspreche ich
dir.«
Freundin? Eine
kurze Berechnung. Dann war der Er also eine Sie, und der Fisch
hatte angebissen. Halt das Gespräch in Gang, dachte er, laß ihn
reden. »Das werden wir ja sehen.«
»Du hast also meine Handynummer – na und?
Dafür weiß ich, wo du wohnst. Ich weiß, von wo du jetzt
anrufst.«
»Ach ja?«
»Ach ja. Du bist irgendwo im Vorwahlbereich
415, und du lebst in Marin.«
Das ließ Peck kurz erstarren – bis ihm
einfiel, daß das die Nummer des alten Handys, des toten Handys war.
Und was machte das schon? Eine Menge Leute lebten in Marin County.
Ja. Sicher. Aber wie viele Dana Halters? Er sah in Gedanken
Natalias Gesicht, ihre Lippen, ihre dunklen, ewig enttäuschten
Augen, er hörte sie fragen: Warum, warum, warum müssen wir
umziehen? Und was soll das heißen: Dein Name ist gar nicht Dana.
Was soll das heißen?
Dann erklang die Stimme wieder, die Stimme
eines Versagers, aber hart jetzt, mit der Selbstgerechtigkeit des
frisch zugezogenen Jungen, der auf dem Spielplatz herausgefordert
wird. »Stimmt’s?«
»Ja«, hörte er sich sagen. Er sah auf, und
sein Blick folgte einer Frau in einem engen blauen Kleid und
hochhackigen Schuhen, die mit bedachtsamer Langsamkeit von der Bar
zu den Aufzügen ging. »Und du lebst in San Roque.« Und obwohl er
das ganze Ding am liebsten aus der Wand gerissen hätte, diesen
schwarzen Kasten mit dem silbrigen Tastenfeld und den Drähten und
Leitungen, die seine Stimme an diesen Ort und diesen Augenblick
fesselten, legte er den Hörer ganz sanft auf, ging zur Tür und trat
hinaus in den Nebel.