SECHS

In der Wohnung gab es zwei richtige Schlafzimmer – eins für Madison, das andere für Natalia und ihn – und einen weiteren Raum, den die Maklerin »das Nähzimmer« genannt hatte. Beziehungsweise »das Kinderzimmer«. »Oder«, hatte sie mit einem koketten, berechnenden Blick zu ihm gesagt, »Sie richten hier Ihr häusliches Büro ein – wenn Sie mal genug von den Patienten haben.« Es war klein, nicht viel größer als die Zelle, die er sich im Gefängnis von Greenhaven mit Sandman geteilt hatte, aber man konnte die Bay und die hohe, gesprenkelte Pyramide des Mount Tam sehen, und Natalia hatte bei einem ihrer ausgedehnten Antiquitäten-Kauftrips einen Schreibtisch aus Eichenholz und zwei dazu passende Aktenschränke sowie eine Tiffany-Lampe gefunden. So hatte er nun ein Büro. Er schloß Computer und Drucker an und erledigte sein Zeug von hier aus. Die Computer in der Bücherei benutzte er nur für die heikelsten Transaktionen, die nicht zurückverfolgt werden durften. Madison sollte dieses Zimmer, aus Gründen, die auf der Hand lagen, nicht betreten, und auch wenn Natalia hereinkam, um sich einen Stift oder eine Schere auszuleihen, runzelte er die Stirn. Einmal allerdings, als er vergessen hatte, die Tür abzuschließen, war sie nackt hereingeschlichen und hatte ihm von hinten die Augen zugehalten. Sie hatte nicht flüstern müssen: Rat mal, wer ich bin...
Er saß jetzt im Büro, an seinem Computer. Natalia gönnte sich einen Vormittag im Wellness-Institut, Madison war den ganzen Tag im Kindercamp, und er betrieb ein bißchen Recherche. Das war etwas, was er gut konnte, besser als gut. Seit mittlerweile drei Jahren lebte er recht angenehm davon, und zwar ganz unauffällig, und selbst wenn er sich einen Schnitzer leistete wie damals in Stateline, wo er die Nacht am Spieltisch verbracht hatte und angespannter, erschöpfter und vielleicht ein bißchen betrunkener gewesen war, als er sich eingestehen wollte, hatte er alles im Griff. Er hinterlegte die Kaution und sah zu, daß er wegkam – sollten sie doch einen anderen suchen, Dana Halter oder Frank Calabrese oder wen auch immer. Das kümmerte ihn nicht, nicht mehr, und hätte er sich nicht in Natalia verliebt, dann hätte er bis an sein Lebensende in Marin bleiben können, ein Arzt im maßgeschneiderten Anzug und dem Kalbsledermantel, den er im letzten Winter gekauft hatte. Geld umsonst und die Bräute gratis – so hieß es doch in diesem Song, oder?
Beim erstenmal aber, als er noch Peck Wilson gewesen war und seine vierjährige Tochter geliebt hatte – Sukie hatte er sie genannt, Silky Sukie –, war das Gesetz eine Fußfessel gewesen, ein Würgeisen, eine Zwangsjacke, die ihm die Luft abschnürte und das Blut nicht zum Herzen gelangen ließ. Gina verließ ihn und nahm ihre Tochter mit. Sie kehrte zu ihrem großmäuligen, sturköpfigen Vater zurück, und warum? Weil er ein Hurensohn war, eine Ratte, ein Schleimscheißer, weil er sie betrog und ein schlechter Vater war und sie ihn nie wiedersehen wollte. Und wenn er es wagte, sie auch nur anzurühren, wenn er auch nur im Traum daran dachte...
Was weder sie noch der Anwalt erwähnten, war die Art, wie sie ihn behandelt hatte: als wäre er nur ein Beschäler gewesen, der den Genpool ein wenig auffrischen sollte, damit die Marchetti-Dynastie eine Enkelin und Erbin bekam, die schöner war als eine Königin und doppelt so intelligent wie alles, was sie aus eigener Kraft auf die Beine hätten stellen können. Allein dazu also hatte er gedient, und außerdem hatte er das Bankkonto mästen und Tag und Nacht ackern sollen, bis er nicht mehr wußte, wo oben und unten war. Ohne sie und mit der sturen Feindseligkeit ihres Alten ging das Lugano innerhalb von einem halben Jahr den Bach runter. Der Staat trat auf den Plan und schloß das Restaurant, weil Peck die Umsatzsteuer schuldig geblieben war – die hatte er zurückhalten müssen, um die Lieferanten zu bezahlen –, und die Pizzeria lief schlecht. Aber in dem Scheidungsurteil – er hatte nicht in die Scheidung eingewilligt, war aber zu erschöpft gewesen, um sie anzufechten – stand, wieviel Unterhalt er zu zahlen hatte und wie viele Stunden, Minuten, Sekunden er mit seiner Tochter verbringen durfte. Na gut. Er zog in eine kleinere Wohnung und ließ es krachen. Caroline, Melanie und dann diese Frau aus der Buchhandlung im Einkaufszentrum, wie hieß sie noch mal? An den Sonntagen fuhr er mit Sukie in den Depew Park, wo sie die Enten fütterten, oder zum Zoo in Bear Mountain, oder sie nahmen den Zug in die Stadt, um sich den neuesten Kinderfilm oder die Weihnachtsdekoration bei FAO Schwarz anzusehen.
Selbst jetzt, als er am Schreibtisch saß und die Informationen ihm zuflossen wie ein Geschenk der Götter, wußte er noch, wie er sich gefühlt hatte, als er dahintergekommen war, daß Gina einen anderen hatte. Er hatte sich gehenlassen und nur noch höchstens jeden zweiten oder dritten Tag trainiert. Er hatte zuviel getrunken, hatte für Frauen, die keinen Finger für ihn rührten, mehr Geld ausgegeben, als ihm guttat, und sich von der Arbeit auffressen lassen. Eines Abends ging er, nachdem er die Pizzeria abgeschlossen hatte, in einen Club, in dem an den Wochenenden Bands auftraten. Er stand an der Bar, wartete darauf, daß Caroline von der Toilette zurückkehrte, und dachte an nichts Besonderes, als ihm jemand den Arm um die Schultern legte. Es war Dudley, einer der Kellner im Lugano, der, der immer in den Kühlraum ging und Joints rauchte. »Hallo«, sagte Peck.
»Hallo. Was läuft so?«
Dudley war neunzehn oder zwanzig. Seine Haare waren zu blonden Dreadlocks verfilzt, er hatte eng beieinanderstehende Augen, ein breites, bekifftes Grinsen und Tätowierungen bis hinunter zur Taille. Weiter hatte er sich im Restaurant nie entblößt, aber den Rest konnte Peck sich vorstellen. Dudley war ein Mann – nein, ein Typ –, der vermutlich einen Drachenkopf zwischen den Beinen hatte.
»Nicht allzuviel«, antwortete Peck, und dann schilderte er ihm in allen Einzelheiten sämtliche Widrigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte und von denen seine Zicke von Frau nicht die kleinste war, und dann kam Caroline zurück, und sie tranken eine Runde Jägermeister, und die Band hämmerte irgendein Nirvana-Stück, und sie standen einfach nur da und nickten im Takt. Als die Band eine Pause machte, ging Caroline raus, um eine zu rauchen, und Dudley stemmte die Ellbogen auf die Theke, beugte sich vor und sagte: »Scheiße, das mit dem Restaurant.«
Das stimmte. Peck gab ihm recht. An der Tür war Bewegung, Leute kamen herein, andere gingen hinaus. Jemand steckte Geld in die Jukebox, und wieder setzte laute Musik ein.
»Ja«, sagte Dudley und mußte die Stimme heben, damit Peck ihn verstehen konnte, »und das mit Gina ist auch Scheiße.«
In Pecks rechter Schläfe begann eine kleine Faust zu hämmern. »Wie meinst du das?«
Dudleys Gesicht entfernte sich, flog ans andere Ende der Theke wie ein mit menschlichen Zügen bemalter Ballon und kam dann zurückgeschwebt. »Soll das heißen, du weißt es nicht?«
Am nächsten Tag ging er nicht zur Arbeit. Ganz leise hörte er die Stimme seines Gewissens: Die anderen würden überlastet sein, es waren zu wenige Vorräte da, der Spüler würde nur herumsitzen und sich rechtslastige Kommentare im Radio anhören, und Skip würde so betrunken sein, daß er die Kruste der Pasteten anbrennen lassen und die Calzone zusammendrücken würde, bis sie wie ein überfahrenes Tier aussah. Doch die Reste seiner Arbeitsmoral waren kein Gegner für die Wut, die er empfand. Wofür arbeitete er eigentlich? Für wen arbeitete er? Zuerst wollte er nicht glauben, was Dudley ihm erzählte. Daß sie mit jemandem ausging, reichte schon, um seine Sicherungen durchbrennen zu lassen, aber daß sie mit Stuart Yan ausging – nein, daß sie mit ihm vögelte, daß sie sich von ihm ficken ließ –, überstieg seinen Verstand. Es hatte nichts, gar nichts damit zu tun, daß er Asiate oder Halbasiate war (und doch fragte Peck sich unwillkürlich, wie das Großmaul darüber dachte). Das Problem, das unmittelbare Problem, das ihm schwer wie ein Stein auf dem Herzen lag, war vielmehr, wie er anderen Leuten, irgendwelchen Leuten – Dudley, seinen Freunden, ehemaligen Kunden, den anderen an der Theke – ins Gesicht sehen sollte, wenn seine Frau sich von einem Schlitzauge vögeln ließ und er auch noch dafür bezahlte. Wenn er dafür bezahlte, daß sie den ganzen Tag wie eine Schlampe herumhing und sich vögeln ließ.
Am nächsten Morgen stand er um zehn Uhr in einer Parkbucht an der Straße, die zum Haus ihrer Eltern führte. Es war Frühling, Spätfrühling, und das Grünzeug wuchs und wand sich zu Knoten, Gras schmiegte sich an die vordere Stoßstange, die Zweige der Bäume waren voller Laub, und trotzdem befürchtete er, sie könnte seinen Wagen entdecken – Silbermetallic mit Diamantsplittereffekt war nicht gerade eine Tarnfarbe. Andere Wagen fuhren vorbei, immer drei, vier auf einmal, als wären sie mit einem Seil verbunden, dann nichts, dann wieder drei, vier. In dem Baumwipfel, der sich über den Wagen neigte, hüpften Vögel herum, winzige schwarz-gelbe Dinger, die ihm vorher nie aufgefallen waren und wie Püppchen zwischen den Zweigen auftauchten und wieder verschwanden. Er machte sich kurz Gedanken darüber, ob sie das Wagendach mit ihren zähflüssigen weißen Exkrementen versauen würden, doch schließlich entfernten sie sich aus seinem Blickfeld, und er dachte nicht mehr an sie. Er wußte eigentlich nicht, was er hier wollte, unter einem Baum an irgendeiner Nebenstraße nach nirgendwo, er hatte keinen Plan, und doch pochte sein Herz jedesmal, wenn er das sich nähernde Zischen von Reifen hörte, heftig an seine Rippen. Er sah Pick-ups vorbeifahren, Wagen aller Marken und Größen, einen Jungen auf einer grünen Yamaha. Er roch die Sonne auf dem Asphalt. Nach einer Weile ließ er das Fenster ganz herunter. Das Radio flüsterte ihm zu, den leisen Rhythmus eines Songs, den er schon so oft gehört hatte, daß es war, als hätte er ihn selbst geschrieben. Eine Stunde kroch vorbei, zwei Stunden, drei.
Er hatte vielleicht ein bißchen gedöst, schon möglich, doch mit einemmal war er hellwach, als hätte ihn jemand ins Gesicht geschlagen oder mit eiskaltem Wasser übergossen: Da war sie. Ihr Wagen. Der blaumetallic lackierte Honda, den ihr Vater ihr gekauft hatte, und sie saß am Steuer und trug die häßliche Sonnenbrille mit dem schwarzen Gestell. Ihre beiden kleinen weißen Fäuste umklammerten das Lenkrad wie Klauen und ruckten nach links und rechts, obwohl die Straße schnurgerade vor ihr lag. Hinten war der Kindersitz – Sukie, angeschnallt, einen neonorangefarbenen Teddybären im Arm, ihr Gesicht verschwommen –, und auf dem Beifahrersitz saß auch jemand. Der Wagen kam auf ihn zu – er hatte sich dieses Stück der Straße ausgesucht, weil es so übersichtlich war –, und das Ganze dauerte kaum zehn Sekunden, der Wagen war da und schon vorbei, aber dennoch erkannte Peck das Gesicht, so rund wie ein Beachball, die schläfrigen Augen, den verkniffenen, mickrigen Nachgedanken von einem Mund, und bevor er noch recht wußte, was er tat, hatte er den Zündschlüssel gedreht und gab Gas.
Wenn sie ihn nicht am Straßenrand bemerkt hatte, dann bemerkte sie ihn jetzt. Sie blickte in den Rückspiegel und wandte den Kopf zu Yan, der über seine Schulter nach hinten sah, und das reichte, um Peck ausrasten zu lassen, diese unwillkürliche Geste der Komplizenschaft, der Intimität: Sie stecken die Köpfe zusammen. Er schoß so schnell auf die Stoßstange des Hondas zu, daß er bremsen mußte, um ihn nicht von der Straße zu fegen. Und vielleicht hätte er das sogar getan, vielleicht hätte er sie von der Straße gefegt – er war ausschließlich von seinem Impuls getrieben, und jedes lebende Wesen auf dem Planeten war sein Feind –, wäre da nicht Sukie gewesen. Seine Tochter. Seine Tochter saß da drin, angeschnallt mitsamt ihrem Teddy, und er war derjenige, der sich falsch verhielt, der sie in Gefahr brachte. Er ließ sich eine halbe Wagenlänge zurückfallen, sicherheitshalber, denn Gina war die schlechteste, unkoordinierteste Fahrerin, die er je erlebt hatte, aber er blieb dran und fühlte sich wund, verletzt, verhöhnt. Er folgte ihnen, bis rechts der Straße eine Tankstelle in Sicht kam und Gina den Blinker setzte und einbog.
Als würde ihr das etwas nützen.
Im Nu sprang er aus dem Wagen und schrie etwas, er wußte später nicht mehr, was – Flüche, bloß Flüche und vielleicht auch Anschuldigungen –, und als er die Hand nach der Fahrertür des Hondas ausstreckte, stieg Stuart Yan schnaufend auf der anderen Seite aus, und ein Anzugträger an Zapfsäule 3 rief: »He, was ist denn da los?« Das einzige, an das er sich von diesen zerstückelten, verworrenen, aus seinem Leben herausgelösten Augenblicken erinnern konnte, waren Ginas Gesicht hinter dem geschlossenen Fenster und der verriegelten Tür – bleich, abweisend, ängstlich, entsetzt über das, was jetzt geschehen würde – und das Gesicht seiner Tochter. Es war wie eine große, offene Wunde, verletzt und verwirrt und gefangen in einem Wirbelsturm von Gefühlen. Dieser Ausdruck auf Sukies Gesicht brachte ihn beinahe zur Besinnung. Beinahe. Zu diesem Zeitpunkt lief er aber schon auf hochentzündlichem Stoff mit dreistelliger Oktanzahl, und darum gab er Yan einen Kick gegen den Kehlkopf, packte den Anzugträger – es war irgendein Makler, der eine zu hohe Meinung von sich hatte – und warf ihn auf die Motorhaube. Und dann? Die Mülltonne, der erstbeste Gegenstand aus Metall. Er hob sie hoch über den Kopf, Abfall flog herum, Pappbecher, Papiertücher, Getränkedosen, und dann schlug er damit gegen das Fenster, immer und immer wieder.
Er hob den Blick vom Bildschirm und sah über die Bay, wo eine Kette Pelikane wie dürre Blätter über die Weite des Meeres wirbelte. Im Vordergrund war eine geschwungene Reihe von Palmen, wie in Florida oder Hawaii, sogar noch besser; die Motorhauben der Wagen auf den reservierten Parkplätzen – Jaguar, Mercedes, BMW – funkelten in der Sonne; Segelboote krochen vorbei wie fahrbare Statuen. Wenn Gina ihn jetzt sehen könnte. Er saß in einem Haus im Wert von einer dreiviertel Million Dollar, hatte einen neuen BMW, Geld auf dem Konto und eine Freundin, für die andere Männer gemordet hätten, und er beugte sich im Licht einer antiken Lampe über einen antiken Schreibtisch und recherchierte und manipulierte. Es war die Art von Tätigkeit, die immer eine beruhigende Wirkung auf ihn gehabt hatte, doch heute war er nicht ruhig. Und er war nicht glücklich. Heute nicht. Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde er. In seinen Adern strömte das bittere Konzentrat derselben Wut, die damals über ihn gekommen war, als er Stuart Yan krankenhausreif geprügelt hatte. Und warum? Weil er nachlässig gewesen war, weil er sich hatte drankriegen lassen, weil Natalia das eine war, wovon er sich nicht trennen konnte. Dana Halter war nicht das Problem, das sah er jetzt. Aber Bridger. Bridger Martin.
Sobald er die Handynummer herausgefunden hatte, war der Rest kein Problem gewesen. Er hatte im Internet ein rückläufiges Telefonbuch gesucht, um die Telefongesellschaft zu ermitteln, dann rief er den Kundenservice an und stellte sich als Sergeant Calabrese vom Betrugsdezernat der Polizei von San Francisco vor. Die Frau am anderen Ende der Leitung, ob sie nun in Indien oder in Indiana saß, verlangte keine Legitimation, dabei besaß er einen echten Polizeicode, den er in Fällen wie diesem einsetzen konnte. Sie suchte die zu dem Anschluß gehörenden Daten heraus und gab ihm Namen und Adresse des Teilnehmers. Für fünfundzwanzig Dollar bekam er von einem Internet-Informationshändler die Kopfeinträge des Kreditberichts: Name, Adresse, Sozialversicherungsnummer, Geburtsdatum. Auf dem Briefpapier einer seiner Scheinfirmen – Marin Immobilien – faxte er Anfragen an alle drei Kreditberichtagenturen, in denen er schrieb, Bridger Thomas Martin, wohnhaft in Manzanita Road 196, San Roque, wolle einen Mietvertrag abschließen, und er brauche eine Kopie des Kreditberichts. Ein bißchen Recherche, das war alles. Nur zur Sicherheit.
Seit er im Smart-Mart diesen Anruf bekommen hatte, war er tätig gewesen, sehr tätig, aber es war ja nicht so, daß er es nicht hatte kommen sehen. Die Maklerin, von der er das Haus gekauft hatte, würde sich um den Verkauf kümmern, und auch wenn sie Peck dabei um ein paar tausend Dollar betrügen würde, machte das gar nichts, denn in New York war bereits ein Konto eingerichtet, über das die Transaktion abgewickelt werden würde. Und das Haus würde schnell verkauft sein: Ein Luxusobjekt in erstklassiger Lage direkt am Wasser – da würden die Leute Schlange stehen. Die größte Schwierigkeit war Natalia. Die Maklerin würde den Interessenten das Haus erst zeigen, wenn sie ausgezogen wären, und Peck war bereit, einfach auszuziehen und alles zurückzulassen, den Tisch, die Lampe, die Schlafzimmereinrichtung und alles andere, aber Natalia würde ein Riesentheater veranstalten, das wußte er. Und das war es, was ihn wütend machte. Der Gedanke daran. Der Gedanke daran, sie zu verlieren. Und warum? Wegen Bridger Martin?
Eine Woche, mehr brauchte er nicht. Bis dahin hatte er die Berichte und die neuen Kreditkarten. Zwar war Bridger Thomas Martin, wer immer er sein mochte, nicht gerade Millionär und sein Kreditrahmen nicht ideal, aber das machte nichts – Peck hatte jede Menge Karten. Kreditkarten waren eine Kleinigkeit. Nein, mit diesem Clown hatte er etwas anderes vor, etwas ganz anderes. Eine Woche. Eine Woche, um alles klarzumachen, und dann nichts wie weg. Er sah es bereits vor sich: den neuen Wagen – heute nachmittag, auf dem Rückweg vom Fitneßstudio, würde er sich einen Mercedes ansehen – mit viel Platz auf dem Rücksitz für Madison und ihr Spielzeug, ihre Decken und Kissen, und er und Natalia auf den Vordersitzen, stilvoll. Sie würden anhalten, wo sie wollten, alles erster Klasse natürlich, ein hübscher kleiner Urlaub, und außerdem bildend für die Kleine. Sie würden sich das Land ansehen. Die Sehenswürdigkeiten. Pike’s Peak. Die Großen Seen. Gettysburg. Und Vegas, auf jeden Fall Vegas. Dagegen würde Natalia wohl kaum etwas einwenden.
Als er hatte, was er wollte, schaltete er den Computer aus, ging in die Küche und machte sich ein Sandwich. Er stand lange an der Theke, kaute mechanisch und musterte die mexikanischen Kacheln, die Tontöpfe und Körbe und den ganzen Kram, den Natalia gekauft hatte, um der Wohnung ein bißchen Charme zu verleihen, den neuen Mikrowellenherd, die Navajoteppiche. Das Licht rieselte durch die Fenster und stieg an den Wänden empor. Es war ein exklusives Licht, es war das Sonnenlicht, das flüssig, flirrend von der Shelter Bay reflektiert wurde, und es gab Tage, da saß er, ein Cocktailglas in der Hand, stundenlang da und sah dem Licht zu, das sich bewegte und veränderte wie ein Bildschirmschoner. Es würde ihm fehlen. Auch der Nebel würde ihm fehlen, die Art, wie er die ganze sichtbare Welt einhüllte, als wäre es schwebender Schnee, und fortwährend in Bewegung war. Die Wut, die er zuvor gespürt hatte, war jetzt verschwunden – wenn er überhaupt etwas empfand, dann Erschöpfung.
Aber er würde ihr nicht nachgeben. Schließlich hatte er einiges zu erledigen. Er spülte den Teller ab, stellte ihn in die Geschirrspülmaschine und holte die Sporttasche aus dem Schrank. Vom Training bekam er immer einen klaren Kopf: Endorphine wurden ausgeschüttet, die regelmäßigen Bewegungen an der Kraftmaschine waren wie eine Art Zen, beinahe unbewußt, zählen und nochmals zählen, und seine Atemzüge waren tief und regelmäßig. Wenn es gut lief, wenn er seinen Rhythmus fand, fühlte er sich fast, als wäre er mit der Bank verwachsen – nein, als wäre er die Bank, als hätte er nicht mehr Bewußtsein als ein Stück Stahl. Nach dem Training würde er sich den Wagen ansehen, und dann mußte er noch zum Markt. Heute abend sollte es Cordon bleu geben, und er brauchte die Kalbsschnitzel, den Prosciutto und den Emmentaler, den er gern verwendete (das Fleisch klopfen, mit zwei hauchdünnen Schinkenscheiben und zwei Käsescheiben belegen, je zwei Schnitzel aufeinanderlegen und mit Zahnstochern fixieren, panieren und bei großer Hitze backen), und er überlegte, ob er dazu vielleicht Gnocchi mit einer weißen Sauce und sautierte Baby-Zucchini machen sollte. Außerdem würde er noch zwei Flaschen von dem Orvieto kaufen, den Natalia so gern mochte, und wenn er in Stimmung war und genug Zeit hatte, würde es als Dessert ein paar Mandeltörtchen geben. Das würde ihr gefallen. Und für die Kleine ein bißchen Eis.
Er ging, die Sporttasche in der Hand, zur Tür und sah sich nicht um.
Für das Geld, das ihn der Anwalt kostete, hätte er einen Monat im besten Hotel von Manhattan verbringen können, mit allem Drum und Dran – Zimmerservice, Theaterkarten, Drinks an der Bar –, aber der Typ trieb einen Psychiater auf, der vor Gericht aussagte, Pecks Angriff auf Stuart Yan sowie den Wagen seiner Frau und den nicht ganz unschuldigen Zeugen sei eine Verirrung gewesen, die Folge eines kurzen Aussetzers, und die Behauptung, er stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, sei geradezu lächerlich, denn Gefahr gehe von ihm nun ganz und gar nicht aus. Der Anwalt sprach von mildernden Umständen: Der Angeklagte habe lediglich versucht, seine Familie vor diesem Eindringling, diesem Fremden zu beschützen, den er, zu Recht oder zu Unrecht, als eine Bedrohung für seine Frau und sein Kind betrachtet habe, und da habe er im Eifer des Gefechts überreagiert. Er erkenne seine Schuld an. Er sei reuig und bereit zur Wiedergutmachung. Außerdem habe er keinerlei Vorstrafen und sei Besitzer eines kleinen, erfolgreichen Unternehmens. Eine Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe werde die Gesellschaft seiner Dienste berauben und mindestens sieben Leute arbeitslos machen. Doch der Staatsanwalt konterte sofort und behauptete, es handele sich hier um versuchten Mord, mindestens aber um Angriff mit einer tödlichen Waffe, der zu gravierenden Verletzungen geführt habe, denn immerhin habe der Angeklagte einen schwarzen Gürtel in Karate, und ihm sei durchaus bewußt gewesen, was er tat, als er Mr. Yan angegriffen habe, der übrigens infolge der heftigen Gewalteinwirkung auf seinen Kehlkopf bis auf weiteres die Stimme verloren habe und möglicherweise nie mehr werde sprechen können.
Peck mußte dasitzen und sich das alles anhören. Er kochte innerlich. Unter anderen Umständen – auf der Straße, in einer Bar, irgendwo – hätte er diesen Kerl auseinandergenommen. Niemals hatte er jemanden so sehr gehaßt wie diesen Staatsanwalt, nicht mal Yan oder Gina. Wer war dieser Typ überhaupt? Was hatte er ihm denn getan? Wie sich herausstellte, war das Ganze bloß eine Schmierenkomödie: Keine Partei wollte den Fall zur Verhandlung bringen. Was am Ende dabei herauskam, war ein Handel – und angesichts des Honorars, das Peck bezahlen mußte, wäre es besser gewesen, sie hätten sich gleich zu Beginn darauf geeinigt.
Der Richter, ein zaundürrer, dunkelhäutiger Mann in den Vierzigern – sein Name begann mit einem V und bestand aus sechs unaussprechlichen Silben –, hielt ihm einen fünfminütigen, von Sarkasmus triefenden Vortrag. Peck stand da und bemühte sich, ihm in die Augen zu sehen. Yan trug eine Halsmanschette und saß hinten im Gerichtssaal, neben Gina und ihren Eltern, die aussahen wie Puritaner, die sich um den Tauchstuhl versammelt hatten. So ziemlich das einzige, wofür Peck dankbar sein konnte, war die Tatsache, daß Sukie bei einer Freundin war, denn selbst jemand, der so nachtragend und rachsüchtig war wie Gina, begriff, daß es keinen Sinn hatte, sie der öffentlichen Demütigung ihres Vaters beiwohnen zu lassen, nicht nach dem, was er mit der Windschutzscheibe gemacht hatte, nicht nach dem Regen aus bröckelndem Sicherheitsglas und dem Abgang ihres Vaters, bei dem er den Motor des Mustangs hatte aufheulen und die Reifen auf dem Asphalt durchdrehen lassen, daß sie rauchten und die Vögel aus den Bäumen stoben. Der Richter verpaßte ihm drei Jahre mit Bewährung und verfügte, daß er sich seiner Frau nur bis auf hundertfünfzig Meter nähern durfte. Ferner verfügte er, daß Peck – vorbehaltlich einer familiengerichtlichen Entscheidung über sein Besuchsrecht in Hinblick auf seine Tochter – keinerlei Kontakt mit ihr haben durfte, sei es per Telefon oder E-Mail, brieflich oder durch Dritte. Als er fertig war, beugte der Richter sich vor und fragte Peck mit hoher Stimme und abgehacktem indischem Akzent, ob er verstanden habe.
»Ja«, sagte Peck, und dabei war es falsch, alles falsch, und ihm war geradezu übel von dem Nachgeschmack. »Ich habe verstanden.«
»Gut«, sagte der Richter, »das hoffe ich sehr. Wenn Sie die Auflagen dieses Gerichts erfüllen und keine weiteren Schwierigkeiten – ganz gleich, welcher Art – machen, wird Ihre Tat nach Ablauf der Bewährungsfrist und vollständigen Schadenersatzleistungen an die Opfer im Strafregister von einem Verbrechen auf ein Vergehen zurückgestuft.« Er hielt inne. Bis auf das entfernte leise Seufzen der Klimaanlage war es vollkommen still im Gerichtssaal. »Aber wenn ich Sie noch einmal hier sehe, ganz gleich, unter welcher Anklage, dann sollten Sie Ihre Zahnbürste dabeihaben, denn dann schicke ich Sie auf der Stelle ins Gefängnis. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Peck wußte noch, daß er sich gefühlt hatte wie etwas, was sich jemand von der Schuhsohle gekratzt hatte, auch wenn der Anwalt sehr mit sich zufrieden zu sein schien und die Angelegenheit offenbar für alle erledigt war. Seine Mutter war mit einer ihrer abgetakelten Freundinnen gekommen, beide betrunken, obwohl es nicht mal Mittag war, und auch Walter Franz und Chip Selzer, zwei seiner Saufkumpel aus der Exbar in dem Exrestaurant, waren erschienen, um ihm den Rücken zu stärken. Sie schlugen vor, zu Mittag zu essen und zur Feier ein paar Drinks zu kippen. Seine Mutter grinste, seine Kumpel nahmen ihn in die Mitte, aber er wollte nichts davon hören. »Mensch, gratuliere«, blökte Walter und legte ihm den Arm um die Schultern. »Jetzt ist es vorbei, endlich vorbei.«
Sie waren auf dem Korridor, und es herrschte ein Gedränge von Leuten, die kamen und gingen. Fette Leute. Dumme Leute. Abschaum. Und dann sah er Gina und ihre Eltern, die durch die Schwingtür am Ende des Korridors gingen. Yan folgte ihnen wie ein Diener. Peck konnte nicht anders: Er stieß Walter mit einer Schulterbewegung, die ihn gegen die Wand taumeln ließ, von sich, und als Chip die flache Hand zum Abklatschen hob, drehte er sich einfach um und marschierte hinaus.
In den nächsten Wochen zog er den Kopf ein und versuchte, die Sache zu vergessen. Konzentrier dich aufs Geschäft, sagte er sich immer wieder, laß das hinter dir, bring alles in Ordnung. Obwohl er es sich nicht anmerken ließ, hatte die ganze Prozedur – die endlosen Termine beim Anwalt und beim Psychiater, die Vertagungen, das allgemeine Generve, all die pure, ungefilterte Scheiße – ihn ziemlich geschafft, und Pizza Napoli war nicht mehr das, was es gewesen war oder hätte sein sollen. Die Umsätze gingen zurück, weil die Leute lieber grillten oder an den Strand fuhren oder weil sie in den Sommerferien eben weniger Lust auf Pizza hatten als während der Schulzeit, wenn die Kinder jeden Abend am Tisch saßen und nach Futter schrien. Schließlich gab er Skip nach und ließ mit der örtlichen Tageszeitung einen Gutschein verteilen, zum allererstenmal und wider besseres Wissen, denn in seinen Augen begab er sich damit auf das Niveau von Pizza Hut oder Domino’s.
Es brachte auch nicht viel. Wenn es in der Umsatzkurve eine Beule gab, dann war sie so klein, daß er sie nicht bemerkte. Doch abgesehen davon, daß die Anzeige ihn Geld kostete (dabei war es eigentlich nicht mal eine Anzeige, sondern bloß ein Gutschein in der Donnerstagsbeilage), schien sie der Pizzeria auch noch den letzten Rest von Klasse zu nehmen. Er haßte diesen Gutschein. Er haßte die Gestaltung, die uninspirierte Zeichnung eines stereotypen, grinsenden, schmerbäuchigen, schnurrbärtigen italienischen Kochs mit geölten Haaren, der, allen Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz, eine Pizza senkrecht hielt. Darüber stand: Pizza Napoli – Bei Bestellung einer Pizza in Normalgröße mit einer Extrazutat bekommen Sie die nächste umsonst. Herrgott, er hätte ebensogut Hula-Hoop-Reifen verkaufen können.
Und dann auch noch Gina. Jeder Kontakt mit ihr war ihm untersagt, aber er hatte das Recht, seine Tochter jeden Sonntag zu sehen, den ganzen Sonntag, ob es Gina nun gefiel oder nicht, und sein Anwalt arbeitete mit ihrem Anwalt eine Regelung aus, nach der Ginas Mutter Sukie zu einem neutralen Ort brachte, wo er sie dann abholte. Sie einigten sich auf McDonald’s – Sukie liebte McDonald’s, und zwar mehr wegen des Spielplatzes, denn das Essen, der dickflüssige Vanilleshake und der eingeschrumpelte kleine Taler aus Hackfleisch oder Gott weiß was, der zwischen den fettgetränkten Brötchenhälften lag, ohne Ketchup, ohne Senf, ohne Zwiebeln, interessierte sie nach dem ersten Bissen und dem ersten Schluck offenbar nicht mehr. Ginas Mutter kam regelmäßig zu spät. Peck saß in seinem Mustang und sah alle zehn Sekunden auf die Uhr. Der Laden war voller Kinder, doch sein Kind war nicht darunter, und wenn Ginas Mutter dann endlich erschien, entschuldigte sie sich nie, ja, sie begrüßte ihn nicht mal, sondern übergab ihm seine Tochter, als wäre er ein Kinderschänder. Haßte er diese Frau, die sich das Gesicht liften und das Fett hatte absaugen lassen, die Frau mit der Betonfrisur und der Art, ihr Gesicht zu verschließen und den Schlüssel wegzuwerfen, als wäre es eine Folter, ihn auch nur anzusehen? O ja, er haßte sie. Und er haßte Gina für das, was sie ihm angetan hatte. Ebenso wie das Großmaul – es reichte schon, seine Stimme am Telefon zu hören, diese nervende, Kommandostimme, mit der er endlos über die Speisekarte im Pizza Napoli und über die Bücher sprach, und immer lief es darauf hinaus: Du bietest den Leuten nicht, was sie wollen. Und weißt du auch, warum? Weil du nicht flexibel bist. Du bist dabei, das Ding an die Wand zu fahren. Totalschaden. Also mach was. Ganz zu schweigen von Stuart Yan, der eine Zivilklage gegen ihn eingereicht hatte. Irgendwann mußte der Knoten einfach platzen. Sogar ein Heiliger wäre unter diesem Druck zerbrochen, und er hatte nie behauptet, einer zu sein.
Es war an einem Sonntag. Er wartete in seinem Wagen vor McDonald’s, las die Sportseite, sah zu, wie sich die Blätter verfärbten und der Zeiger der Uhr vorrückte: neun, halb zehn, zehn. Ginas Mutter kam nicht. Sein erster Gedanke war, hinauszufahren und irgend etwas kaputtzumachen, diese Zicke zur Rede zu stellen, das Haus abzureißen, wenn es sein mußte, aber er unterdrückte diesen Impuls: Das würde ihn nur ins Gefängnis bringen. Wieder sah er auf die Uhr. Ein Typ kam aus dem Lokal, eine Null, ein Niemand in Shorts und Flip-Flops, aber er hatte seine beiden Kinder an der Hand, und sie waren eine glückliche Familie. Sie trugen ihre Egg McMuffins in einer Tüte, und vor ihnen lagen der Park oder ein Footballspiel oder vielleicht ein kleiner Ausflug flußaufwärts, um zu sehen, wie sich das bunte Herbstlaub vor dem Hintergrund des Flusses ausnahm. Am liebsten hätte Peck angerufen, aber auch das war gegen die Regeln. Um elf war ihm übel vor Wut, und er gab das Warten auf und fuhr zurück zur Pizzeria, wo er auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht vorfand. Nur damit du Bescheid weißt – die verkniffene Stimme von Ginas Mutter drang wie aus einem Tunnel an sein Ohr –, Sukie kommt heute nicht, und zwar wegen der Ballettaufführung in der Carnegie Hall. Die ganze Familie geht hin.
Er hörte sich die Nachricht zweimal an. In seinem Büro an der Rückseite des Gebäudes stand er vor dem Telefon und versuchte sich zu beherrschen. Die Wände waren fleckig. Es roch nach Marinarasauce, ein dunkler, alter Geruch, vermischt mit dem des Öls, in dem die Peperoni eingelegt waren, und dem Gestank des Käses, der sich in die Wände des Ofens eingebrannt hatte. Sie dachten, sie hätten ihn geschafft, ihn aus dem Bild gedrängt, aus der Gleichung entfernt, sie dachten, bald wäre er ganz verschwunden. Das dachten sie, aber sie täuschten sich. Er hätte seinen Anwalt anrufen, den Tanz von vorn beginnen und vor Gericht ziehen können, hatte aber das Gefühl, daß das nichts bringen würde – die anderen hatten ja auch einen Anwalt. Bisher hatte er sich an die Regeln gehalten, aber jetzt galten sie nicht mehr.
Gleich am nächsten Morgen rief er die Telefongesellschaft und die Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke an, gab sich als John Marchetti aus und ließ sämtliche Dienste einstellen. Im Postamt stellte er einen Nachsendeantrag. Danach rief er bei American Express und Visa an – mit diesen beiden Karten hatte er das Großmaul bezahlen sehen – und behauptete, er habe seine Brieftasche verloren und wolle umgehend und per FedEx neue Kreditkarten haben. Als diese in dem Postfach waren, das er angemietet hatte, begann er, alles mögliche zu bestellen und an die Adresse 1236 Laurel Road liefern zu lassen: eine neue Waschmaschine mit Trockner, einen antiken Billardtisch mit Schieferplatte, der über tausend Pfund wog, ein Paar reinrassige Dalmatiner, ein Deluxe-Jacuzzi mit vierzehn Luftdüsen, in dem bequem sechs Personen Platz hatten. Und das war erst der Anfang. Er meldete Ginas Handy ab, ließ ihre Kreditkarten für ungültig erklären und löste ihr gemeinsames Sparkonto auf. Und Yan. Auch Yan nahm er sich vor, allerdings auf eine persönlichere Art. Eine Woche später entdeckte er, nachdem er in der Pizzeria Feierabend gemacht hatte und durch einige Bars gezogen war, Yans Nissan, der vor dessen Wohnung geparkt war. Er übergoß den Wagen mit sechs Plastikkanistern Salzsäure, zerstach die Reifen und schlug obendrein noch die Windschutzscheibe ein. Die Nacht war kalt, sein Atem bildete Wölkchen, das Montiereisen blitzte im Licht der Straßenlaternen wie ein Racheschwert, und vielleicht hatte ihn jemand gesehen oder vielleicht hatten sie den Mieter des Postfachs ausfindig gemacht, vielleicht war es das. Er fand es nie heraus. Jedenfalls schlief er noch, als sie kamen, um ihn zu holen, und er vergaß, seine Zahnbürste einzustecken.
Als er schließlich mit dem Kochen begann, war es schon nach sieben, und Madison war quengelig und fahrig. Sie saß am Küchentisch, schlenkerte mit den Beinen, als wäre der Stuhl die Schaukel auf dem Spielplatz, und sah ihm zu, wie er die Gnocchi kochte, während die Cordons bleus Duftsignale aus dem Ofen sandten, die weiße Sauce eindickte und die Zucchini in Olivenöl, Rotwein und Knoblauch auf großer Flamme kochten, bevor er die Hitze reduzierte. Vor ihr standen ein unberührtes Glas Milch und die Croque Madame, die er aus Weißbrot und den Emmentaler- und Prosciuttoresten gemacht hatte. Er sah die halbkreisförmigen Abdrücke, die ihre Zähne im Sandwich hinterlassen hatten, als sie es in den Mund geschoben, dann aber doch nichts abgebissen hatte, weil sie schlechtgelaunt und müde und überzuckert war (im Tagescamp hatte es jede Menge Dunkin’ Donuts gegeben) und weil er wollte, daß sie etwas aß, und weil ihre Mutter wollte, daß sie etwas aß, und weil sie in ihrer gegenwärtigen Stimmung nicht gesinnt war, irgend etwas zu tun, was irgend jemand von ihr wollte.
Was ihn betraf, so hatte er nicht vor, ihr weiter gut zuzureden. Sie konnte schlenkern und treten, soviel sie wollte, sie konnte schmollen und Grimassen schneiden und quengeln, die Milch sei zu heiß und das Sandwich zu kalt, sie konnte ihn anbetteln, er solle ihr doch bitte, bitte eine Geschichte vorlesen oder sie wenigstens aufstehen lassen, damit sie sich vor den Fernseher setzen konnte, aber er war wie unter einem Glassturz: Er genoß, was er tat, das Essen näherte sich seiner Vollendung, und in den Gläsern mit Wodka Martini und eisgekühltem Orvieto auf der Theke war noch je ein Schluck. Natalia hatte den Tisch auf der Terrasse gedeckt – es war ein ungewöhnlich warmer Abend, der Nebel ließ, vorerst jedenfalls, auf sich warten –, und sie saß dort draußen, eine Zeitschrift in der einen und ein Martiniglas in der anderen Hand. Nach dem Wellness-Studio war sie den ganzen Nachmittag mit Kaylee einkaufen gewesen. Schwerbeladen mit Einkaufstüten, deren satte Farben im Sonnenlicht leuchteten, war sie nach Hause gekommen, das Haar zurückgestrichen, mit bereitwilligem, strahlendem Lächeln und in glänzender Stimmung. In eindeutig glänzender Stimmung. Sie hatte darauf bestanden, ihm die Sachen vorzuführen. Gefiel ihm das hier? Wirklich? Bestimmt? Es war doch nicht zu... zu... oder? Und auch Madison hatte die drei Garnituren, die Natalia für sie gekauft hatte, anprobieren müssen (daher ihre schlechte Laune und das späte Essen).
Er hatte ihr noch nichts gesagt, nur daß er eine Überraschung für sie habe. Während sie eingekauft hatte, war er beim Autohändler gewesen und hatte den Z-4 gegen einen Mercedes S500 mit dunkelgrauen Ledersitzen, Walnußholzausstattung, eingebautem GPS-Navigationssystem und Sirius Satellitenradio eingetauscht, das Ganze in einer wunderschönen Farbe namens Bordeauxrot. Natürlich gab es da eine gewisse Preisdifferenz – eine ganz erhebliche sogar, und er wußte, daß er übers Ohr gehauen wurde, denn der Verkäufer sprach mit einem Phantasieakzent und wuselte servil um ihn herum, von der Eingangstür bis zum Schreibtisch und wieder zurück –, doch das spielte keine Rolle. Der BMW diente als Anzahlung (die Überschreibung trug die Unterschrift von niemand anderem als Dana Halter), in den ersten sechs Monaten waren keine Zahlungen fällig, und danach spielte es ohnehin keine Rolle mehr. Jetzt, da er einen Topf nach dem anderen kontrollierte, nach den Cordons bleus sah, die Gnocchi abgoß, auf ein gebuttertes Blech legte und zum Bräunen für drei Minuten in den Ofen schob, brannte er darauf, Natalia den Wagen zu zeigen, ihn ihr vorzuführen und den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen. So hatte er es geplant – erst der Wagen, der Rausch des Neuen, vielleicht eine kleine Runde um den Block oder über die Brücke, und dann die Neuigkeiten: An der Ostküste gab es geschäftliche Perspektiven für ihn. Aber es würde auch ein Urlaub sein, sie würden sich die Sehenswürdigkeiten ansehen. Hatte sie nicht immer schon in New York leben wollen? Das hatte sie doch gesagt, oder? Ein Leben in New York?
Er war von den zischenden Töpfen und den aufsteigenden Aromen so in Anspruch genommen, daß er Natalia nicht hereinkommen hörte. Da war Madison, die schmollend am Tisch saß, da waren die Terrasse und der leere Liegestuhl, und hier war Natalia, die ihm die Arme um die Taille legte. »Was ist diese Überraschung?« murmelte sie verführerisch, die Lippen ganz nah an seinem Ohr. »Sag mir. Ich kann kaum aushalten.«
Er stellte das Gas ab, rüttelte vorsichtshalber den Topf mit den Zucchini und drehte sich zu ihr um. Seine Hände hoben sich zu ihren Schultern, und er drückte sie für einen langen Kuß an sich, während Madison sie mit gespieltem Abscheu beobachtete. »Wirst du schon sehen«, sagte er leise, und in diesem Augenblick fühlte er sich ihrer sicher, ihrer Berührung, ihres Geschmacks, ihres Dufts – sie war seine Partnerin, seine Geliebte, die dunkle, erotische Gegenwart in seinem Bett. »Sobald wir gegessen haben.«
»Ooohh«, sagte sie gedehnt, »so lange noch?« Und dann, zu ihrer Tochter: »Es gibt eine Überraschung, Madison. Für Mama. Magst du Überraschungen?«
Nach dem Essen – Madison aß zwei Bissen Gnocchi und eine halbe Scheibe Kalbfleisch, übersah das Gemüse jedoch konsequent – ging er mit den beiden die Vordertreppe hinunter und über den gekiesten Weg, der an der Bay entlangführte. Er hielt sie an den Händen, Natalia rechts, Madison links. Madisons Finger fühlten sich an wie damals Sukies. Sie war allerdings nicht bereit, richtig zuzugreifen, denn ihre Laune hatte sich noch nicht gebessert, und angesichts der Umstände – die Überraschung war nicht für sie bestimmt, jedenfalls nicht in erster Linie – hätte es wie ein Zugeständnis gewirkt. »Was ist es denn, Dana?« fragte sie immer wieder mit hoher, quengeliger Kleinmädchenstimme. »Sag doch, was ist es denn?«
»Ja, Da-na«, fiel Natalia ein. »Ich bin in Spannung. Ist es hier, draußen? Irgend etwas draußen?«
Er antwortete nicht gleich. Er dachte an Sukie, an das letzte Mal, daß er sie gesehen hatte, ein paar Tage nach seiner Entlassung. Sie saßen bei McDonald’s, am selben Ort, zur selben Uhrzeit, aber sie war nicht mehr das Mädchen, das er gekannt hatte. Das lag nicht nur an der körperlichen Veränderung – sie war ein Jahr älter und größer, zwei Schneidezähne fehlten, das Haar wurde von einer schildpattfarbenen Spange gehalten, so daß sie wie eine Erwachsene im Miniaturformat aussah –, sondern auch an der Art, wie sie ihn ansah. Ihre Augen, rehbraun und so rund wie Vierteldollarmünzen, Augen, die ihn immer offen und unverstellt angesehen hatten, waren jetzt argwöhnisch und zu Schlitzen verengt gegen das Gleißen der Sonne, gegen ihn. Er sah das Gift, das Gina eingeträufelt hatte und für das es kein Gegenmittel gab: Er konnte nichts tun, um sie zurückzugewinnen, ganz gleich, wieviel Schokoladensauce er auf ihr Eis geben ließ, ganz gleich, wie verzweifelt er sie umarmte oder die alten Geschichten und Spielchen wiederzubeleben suchte. Sie war für ihn verloren. Er konnte sich nicht mal mehr erinnern, wann sie Geburtstag hatte. »Nein«, sagte er schließlich und beugte sich gegen den Zug von Natalias Hand hinunter, bis sein Kopf auf der Höhe des Gesichts ihrer Tochter war, »es ist drinnen.«
Alle drei blieben stehen. Madison zog die Nase kraus. »Und warum sind wir dann draußen?«
»Weil das ein anderer Weg zu unserer Garage ist. Ein hübscher Spaziergang, nicht? Ist es nicht schön hier draußen – ein bißchen frische Luft nach dem Abendessen?« Er richtete sich auf, während sie seine Hand losließ und über den Rasen rannte; kurz bevor sie das Garagentor erreicht hatte – unbehandeltes Holz, das durch Sonne und Seeluft grau geworden war und dadurch viel natürlicher wirkte –, drückte er auf den Knopf der Fernbedienung, und das Tor schwang wie von Zauberhand bewegt auf.
»Ist es ein Auto?« sagte Natalia, die, während sie Hand in Hand über den Rasen gingen, das Blitzen von Chrom bemerkte.
Als sie am Wagen angekommen waren, als Madison hineinkletterte und Natalia mit offenem Mund die Fahrertür geöffnet hatte, um das Armaturenbrett zu mustern, sagte er: »Das Spitzenmodell. Oder jedenfalls fast.« Er hielt inne und sah zu, wie sie mit der Hand über das Leder des Sitzes strich. »Ich hätte natürlich auch den S600 nehmen können, aber der säuft so viel Sprit – 493 PS. Ich meine, man muß ja auch an die Umwelt denken.«
Natalia sah ihn verwirrt an. »Aber wo ist mein Wagen?«
»Mommy, Mommy!« rief Madison und hüpfte auf dem Rücksitz herum, so daß ihr Haar den Dachhimmel berührte.
»Den hab ich in Zahlung gegeben«, sagte er und bemühte sich um einen gleichmütigen Tonfall. »Für dich. Für Madison. Du kannst sie schließlich nicht ewig auf dem Schoß haben. Ich meine, sie wächst doch – sieh dir nur an, wie groß sie schon ist.«
»Aber ich liebe meinen Z.« Natalias Mund war verkniffen, und ihre Augen waren hart.
»Ich weiß, Baby«, sagte er, »ich weiß. Wenn wir in New York sind, schenke ich dir einen neuen. Versprochen.«
Ihr Kopf kam hoch, tauchte aus dem Dunkel des Innenraums mit seinem satten Geruch nach neuem Wagen und dem schimmernden Bildschirm des Navigationssystems auf. »New York? Was soll das heißen?«
Später, als Madison im Bett war, hatten sie ein Gespräch. Es war die Art von Gespräch, die er haßte, die Art von Gespräch, bei dem er an der Wand stand und kein Schlupfloch hatte und früher oder später alles herauskam. Er fühlte sich wehrlos. Er war gereizt. Es war, als stünde er wieder vor dem Richter, dem Anwalt, dem Bewährungshelfer.
Natalia hatte Kaffee gemacht, und nun saßen sie einander im Wohnzimmer gegenüber und umklammerten die Becher, als würden sie sonst von einem Hurrikan davongewirbelt. Sie starrte ihn unverwandt und mit hochgezogenen Augenbrauen an und hielt den Becher in ihrem Schoß mit beiden Händen fest. »Und? Sagst du mir jetzt, was das alles zu bedeuten hat? Soll ich mein Heim verlassen und meine Tochter herausreißen – sagt man das so? Herausreißen? –, wenn sie gerade in der Schule beginnen soll?«
»Du liebst mich doch, oder?« konterte er, beugte sich vor und stellte den Becher auf den Couchtisch. »Das hast du jedenfalls tausendmal gesagt. Hast du es ernst gemeint?«
Sie gab keine Antwort. Draußen zogen zwei blaue Lichter über die Bay.
»Hast du es ernst gemeint?«
Mit leiser Stimme sagte sie, ja, sie habe es ernst gemeint. Ihre eine Hand ging zum Ausschnitt der Seidenbluse und strich über die Perlenkette, die er ihr geschenkt hatte. Oder jedenfalls bezahlt hatte.
»Na gut. Du mußt mir einfach vertrauen.« Er hob die Hand, damit sie ihn nicht unterbrach. »Habe ich dir nicht alles gegeben, was du dir nur wünschen könntest? Und das«, fuhr er fort, ohne die auf der Hand liegende Antwort abzuwarten, »werde ich auch weiterhin tun. Nein, ich werde noch mehr tun. Viel mehr. Eine Privatschule für Madison, die beste, die es gibt – und du weißt, daß die besten Schulen an der Ostküste sind. Das weißt du doch, oder?«
Ihr Gesicht war ganz neutral, wie gebügelt, keine Spur von Theatralik oder Antipathie. Sie bemühte sich zu verstehen. »Aber warum?«
»Das ist eine komplizierte Geschichte«, sagte er und bemerkte eine Bewegung vor dem Fenster: ein Aufblitzen von Weiß, das Schlagen von Flügeln. Etwas ließ sich auf dem Geländer nieder: ein Silberreiher. War das ein Silberreiher?
»Ja?« sagte sie und beugte sich ebenfalls vor, die Augen fest auf die seinen gerichtet.
»Na gut«, sagte er. »Du mußt mir einfach... Hör zu: Ich heiße in Wirklichkeit nicht Dana.«
»Nicht Dana? Wie meinst du das? Das ist ein Witz, nicht wahr?«
»Nein«, sagte er und schüttelte langsam den Kopf, »kein Witz. Ich... ich habe diesen Namen angenommen. Weil ich in Schwierigkeiten war. Es war –«
Sie fiel ihm ins Wort. »Dann bist du kein Doktor?«
Wieder schüttelte er den Kopf. Der Vogel dort draußen war ein blasser Schemen, und Peck überlegte unwillkürlich, ob das wohl ein Zeichen war, und wenn ja, ob es etwas Gutes oder eher etwas Schlechtes zu bedeuten hatte.
»Und das alles« – ihre Geste war ein plötzliches, außer Rand und Band geratenes Wedeln der Hand – »ist eine Lüge? Diese Wohnung? Dieser Sofatisch? Diese Platzmatten? Eine Lüge? Das alles eine Lüge?«
»Ich weiß nicht. Nein, keine Lüge. Alles ist wirklich: der Wagen, die Ohrringe, das, was ich für dich und Madison empfinde.« Er sah zur Seite: Der Vogel war verschwunden, verscheucht durch ihre Geste und die Heftigkeit ihrer Stimme. »Es ist doch bloß ein Name.«
Eine lange Stille trat ein. Das Murmeln des Fernsehers im Nachbarhaus drang in Pecks Bewußtsein, ein Geräusch, so unbestimmt wie das Rauschen der Brandung oder der Gesang von Walen. Doch es war weder das eine noch das andere. Es war nur das Geräusch eines Fernsehers. Dann sagte sie: »Wenn du nicht Da-na bist, wer bist du dann?«
Er zögerte keinen Augenblick. Er sah ihr in die Augen. »Bridger«, sagte er. »Bridger Martin.«