ZWEI

»Wie meinst du das – sie haben nach mir gefragt? Mit Namen
Er war gerade hereingekommen, fix und fertig, das Hemd unter den Armen durchgeschwitzt, und hatte noch keinen Schluck getrunken, keinen Bissen gegessen, und das erste, was sie ihm sagte, war, daß zwei Leute dagewesen seien und nach ihm gefragt hätten. Das machte ihn hellwach. Es ließ ihn erstarren. Mitten in der Eingangshalle, an einer Hand die drei weißen Plastiktüten mit dem chinesischen Essen, mit der anderen die noch ungelesene Zeitung an die Brust drückend. Er hatte den größten Teil des Nachmittags und den frühen Abend damit verbracht, alles mögliche zu erledigen, die zahllosen Kleinigkeiten, die einen wie Stechmücken piesackten, bis man ganz wund und blutig war und kaum noch genug Willenskraft aufbrachte, um zu tun, was getan werden mußte: zum Beispiel drei Wagenladungen Kleider und Accessoires in das Magazin in Larkspur schaffen, das er für Natalia hatte anmieten müssen, und mit FedEx sechs große Kartons voller Kleider, Handtaschen, Schuhe und Spielzeug an Sandmans Adresse in Croton schicken. Und jetzt das. Er stand da wie betäubt.
Sie trug das Märtyrergesicht zur Schau, das sie vor zwei Tagen aufgesetzt und seither nicht mehr abgelegt hatte: Die heftigen dunklen Striche des Eyeliners ließen ihre Augen leblos wirken, die Lippen waren in einem Dauerschmollen erstarrt, die Nasenflügel voller Selbstmitleid gebläht. »Nein«, sagte sie, »sie haben nicht nach dir gefragt.« Sie warf es ihm über die Schulter zu, als sie sich von der Tür abwandte, barfuß durch den Raum ging und sich auf das mit Kleidungsstücken übersäte Sofa fallen ließ. »Nicht nach dir«, wiederholte sie verächtlich. »Nach Da-na. Sie haben nach Da-na gefragt.«
So ging es nun schon seit zwei Tagen und zwei Nächten. Nach seinem Geständnis war ein Ascheregen niedergegangen – das ganze Dorf und all seine Bewohner verschüttet, wüstes, leeres Land –, und er hatte genug davon. Es reichte ihm. Bevor er wußte, was er tat, hatte er die drei Tüten fallen lassen – und es war ihm scheißegal, ob die Wontonsuppe über die Sichuanmuscheln schwappte und in den Teppich sickerte und ob der Teppich und die Bodendielen und alles bis hinunter zum Fundament für alle Zeit ruiniert war – und stand vor ihr und packte sie am Arm, alle Wut konzentriert in diesem Griff der fünf Finger seiner rechten Hand. »Verarsch mich nicht«, sagte er mit leiser, harter Stimme und legte eine Portion Gewalt hinein, wie er es im Knast gelernt hatte, wo die Leute den Atem anhielten und lauschten und es plötzlich ganz still war. »Hör auf mit diesem Scheiß. Sag mir einfach, was los war, verstanden?«
Sie sah beunruhigt aus, verängstigt, ihre Augen blitzten auf und verloschen gleich darauf stumpf, und es tat ihm leid, aber nicht so sehr, daß er seinen Griff gelockert hätte. Er zerrte sie am Arm und schüttelte sie wie einen der großen 50-Pfund-Mehlsäcke, die in der Vorratskammer des Pizza Napoli aufgestapelt waren. Sie schrie nicht. Sie protestierte nicht. Sie sagte: »Ein Mann und eine Frau. Nach dir, sie haben nach dir gefragt.«
Immer noch hielt er sie fest, und er spürte den Druck hinter seinen Augäpfeln, als könnte er das alles nicht mehr bei sich behalten, als würde es gleich aus ihm herausbrechen wie etwas, das er herauskotzen mußte. »Wie alt?« Und als sie den Mund zusammenkniff und einen Augenblick zögerte, riß er abermals an ihrem Arm. »Wie alt, hab ich gefragt.«
»Du machst mir blaue Flecken.« Ihre Stimme war kalt und distanziert, als spräche sie von blauen Flecken an einem Arm, der in einem ganz anderen Haus an einer ganz anderen Frau befestigt war. In diesem Augenblick wurde er sich der gepreßten Zeichentrickfilmstimmen bewußt, die aus Madisons Zimmer drangen: plötzlich ein langgezogenes, gackerndes Lachen und knarrende Musik. Er ließ Natalias Arm los. Sie sah ihn haßerfüllt an, als wäre einzig und allein er schuld daran. Sie würde ihren Arm nicht reiben – diese Befriedigung gönnte sie ihm nicht. Sie würde leiden. Sie war eine Märtyrerin. »Der Mann war vielleicht fünfundzwanzig, ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Die Frau dreißig. Groß, hübsch. Sie hat getragen Blue Jeans und eine braune Jacke von Bebe, hundertneununddreißig Dollar im Sonderangebot. Okay?«
»Und sie wollten nichts verkaufen? Bist du ganz sicher? Sie haben nach mir gefragt und nicht nach ›Mr. Halter‹ oder dem ›Hausherrn‹ oder so?«
Behende und mit einer einzigen Bewegung glitt sie über die Armlehne des Sofas und landete auf den Füßen. Ihr Blick war wie ein Peitschenhieb. Sie hielt die Fäuste an den Seiten geballt. »Was sagst du zu mir seit Monaten, was sagst du zu mir? Ich soll sein Mrs. Halter. Mrs. Halter! Und wer soll ich jetzt sein? Mrs. Niemand? Ja?«
Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich bis zu der Doppeltür zurück, die zur Terrasse führte. »Halt den Mund«, sagte er. »Halt einfach den Mund. Wir fahren morgen früh, sehr früh. Also pack diesen Mist« – er raffte einen Armvoll Kleider vom Sofa – »in deine Scheißkoffer und schaff deine Scheißkoffer in den Scheißwagen, verstanden?«
»O ja, ich habe verstanden« – sie rieb jetzt doch ihren Arm –, »Mister Martin, wenn das überhaupt dein richtiger Name ist. Ist das dein richtiger Name? Na, Bridger? Ist das dein Name?«
Er hatte keine Zeit für so was. Ein Mann und eine Frau – zwei Substantive, die mit der Kraft einer Offenbarung in seinem Kopf dröhnten. Sie wußten, wie er aussah, sie wußten, wo er wohnte. Sie waren vielleicht gerade jetzt da draußen und beobachteten ihn. Er sah an Natalia vorbei durch die Fenster und über die Terrasse, wo die Farben sich zur Nacht verdunkelten und das Meer am grauen, verschwimmenden Strand schwarz geworden war. Etwas in ihm klaffte auf – er hatte keine Zeit –, genau in dem Augenblick, als Madison aus ihrem Zimmer kam und mit dünner, quengelnder Stimme »Mommy« rief. Beide sahen sie an. »Ist schon gut«, hörte er sich sagen. »Ich hab was zu essen mitgebracht. Hier. Im Flur.«
Sie saßen am Küchentisch, ein friedliches Zwischenspiel. Kerzen brannten, in den Gläsern war Wein, sie führten die Stäbchen zum Mund, und Madison, deren Lebensgeister wieder erwacht waren, erzählte von einem Film, in dem ein Hund und eine Katze durch das Land wandern, als es läutete. Während des Essens hatte er den inneren Motor auf Leerlauf geschaltet – essen war etwas Heiliges, ganz gleich, wie verrückt die Situation war, denn wenn man sich zum Essen nicht in Ruhe hinsetzte, war man nicht mal zivilisiert –, aber jetzt drehte er unvermittelt auf, so unvermittelt, daß er gar nicht wußte, wie er durch die Doppeltür und auf die Terrasse gekommen war, wo er sich daranmachte, in das ein Stockwerk tiefer gelegene Blumenbeet zu springen. »Ich bin nicht da«, rief er Natalia zu und schwang ein Bein über das Geländer. »Du hast meinen Namen noch nie gehört.« Als er an beiden Armen am Geländer hing, ließ er sich fallen.
Rennend, mit pumpenden Armen und Beinen, brauchte er volle sechzig Sekunden, bis er an der Straßenfront der Häuser war, wo er sich hinter Ranken und Zweigen verbarg. Vor dem Eingang standen zwei Gestalten – ein Mann und eine Frau –, und gerade öffnete Natalia die Tür. Der Mann – Mitte Zwanzig, weich, mit Igelfrisur, zweifarbiger Jacke und den schwarzen, viel zu großen Jeans, die Straßenkids und Clubbesucher trugen – sprach Natalia an, während die Frau (und hier traf es ihn wie ein Keulenschlag: Dana Halter, sie war Dana Halter in Fleisch und Blut) da stand wie eine Wachsfigur. Und sie war tatsächlich eine Augenweide. Sie hatte Natalias Haar, dick und dunkel, doch bei ihr fiel es in Wellen lose über den Kragen ihrer braunen Jacke, und sie war größer als Natalia und ließ die Schultern hängen, weil die Situation ihr unangenehm war. Jemand hatte ihre Identität übernommen und ihr Leben durcheinandergebracht, und sie ließ die Schultern hängen, weil sie sich schämte. Allerdings nicht so sehr, daß sie es einfach aufgegeben und das Ganze den Kreditkarten- und Versicherungsleuten überlassen hätte. Das machte ihn stutzig. Wer war sie? Warum tat sie das? Wollte sie Rache, war es das? Und dieser Typ, Bridger – was hatte der damit zu tun?
»Sie schon wieder?« Natalias Stimme war hart und gereizt. »Ich habe Ihnen doch gesagt. Ich habe Ihnen doch schon gesagt.«
»Frank Calabrese«, sagte der Mann. »Ist der da?«
»Wer?«
Er wiederholte es. In seiner Stimme war etwas Flehendes. »Hören Sie – wir sind Opfer eines Verbrechens, oder vielmehr: Sie ist Opfer eines Verbrechens.« Er zeigte auf die Frau. »Meine Verlobte. Sie ist... Jemand hat ihre Identität gestohlen. Wir suchen einen Dana Halter. Oder Frank Calabrese. Sind Sie sicher, daß er nicht da ist? Frank?«
Er hockte hinter den Büschen; er würde sich nicht hinknien und für nichts und wieder nichts einen Fleck in die Boss-Twillhose machen. Er prägte sich die Gesichter dieser beiden genau ein, denn hierfür würden sie bezahlen. Er würde sie bezahlen lassen, alle beide – das war ein Versprechen.
Die Lampe über dem Eingang warf ein schwaches gelbliches Licht über die kleine Versammlung. Natalias Gesicht wurde härter. Sie sah aus, als wäre sie bereit zu kämpfen, und das war ein gutes Zeichen: Sie war auf seiner Seite, und in diesem Augenblick hatte er das Gefühl, daß sie auch dort bleiben würde, ganz gleich, was er ihr letztlich erzählte. »Hören Sie«, sagte sie, und ihre Stimme war jetzt höher, nörgelnd und gepreßt, »hier ist niemand, der so heißt, kein Da-na und kein Frank, niemand. Das ist nicht das korrekte Haus, verstanden?« Ein Wagen fuhr auf den Parkplatz, der cremefarbene Lexus der Atkinsons in Nummer 111, und sein Puls beschleunigte sich, als das Scheinwerferlicht über die Büsche glitt und dann erlosch. »Wenn Sie noch einmal zu diesem Haus kommen und mir und meiner Tochter zur Last fallen«, sagte Natalia, und ihr Gesicht wirkte in dem gelben Schein wie eine fahle Maske, »rufe ich einen Polizisten.«
»Ja, tun Sie das«, knurrte der Typ, und es sollte abgebrüht klingen, aber es war dieselbe Stimme wie am Telefon, und es steckte nichts dahinter, gar nichts. Die Tür wurde zugeschlagen, und der Abend war still bis auf das Knirschen von Rick Atkinsons Schritten auf dem Kies.
Und dann geschah etwas sehr Seltsames: Die beiden blieben vor der Tür stehen und berieten sich, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Hände... sie bewegten die Hände wie gespenstisch verkleidete Puppen, und es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Sie waren taub. Oder jedenfalls sie war taub. Sie hatte kein Wort gesagt, und jetzt fuchtelte sie, als würde sie aus Luft etwas formen und es ihm geben, und dann fuchtelte er und gab es ihr wieder zurück. Es war so unerwartet, so privat und intim, daß Peck jedes Zeitempfinden verlor. Er fühlte sich wie ein Voyeur – er war ein Voyeur –, und während er ihnen nachsah, als sie die Stufen hinunter und zum Parkplatz gingen, verwandelte sich seine Wut über das, was sich hier abgespielt hatte, in eine Art Verwunderung. Er würde es dabei belassen – sie verschwanden, das war genug, und morgen früh wäre er ebenfalls verschwunden und hätte alles hinter sich gelassen –, doch er besann sich rechtzeitig, schlüpfte aus dem Schatten und folgte ihnen. Nur um zu sehen, was sie jetzt taten.
Irgendwie hatten sie ihn hier aufgespürt, aber was bedeutete das schon? Er war nicht mehr Dana Halter und auch nicht Frank Calabrese. Frank Calabrese – das gefiel ihm ganz und gar nicht. Wie zum Teufel hatten sie das ausgegraben? Aber trotzdem, selbst wenn sie die Bullen riefen und selbst wenn die kamen – das lag ja immerhin im Bereich des Möglichen –, würde nichts geschehen, jedenfalls nicht sofort. Wo waren die Beweise? Er würde völlig entgeistert sein und alles abstreiten. Und wenn es sein mußte, würde er zornig werden. Ein Blick auf seine Kleidung und sein Auftreten an der Tür seiner Dreiviertel-Million-Dollar-Luxus-Doppelhaushälfte, und die Bullen würden merken, daß sie hier nichts verloren hatten. Das mußten die beiden doch ebenfalls einsehen. Was machten sie also hier? Spielten sie Detektiv? Wollten Sie ihn in die Enge treiben, ihn zur Rede stellen, die Angelegenheit selbst regeln? Gut möglich, daß sie bewaffnet waren. Jeder konnte bewaffnet sein, jedes magere, kinnlose Bürschchen auf der Straße, jede Oma, die ihren Einkaufswagen vor sich her schob, jede Hausfrau, jede Mutter – Waffen waren die Währung dieser Gesellschaft, und er persönlich wollte nichts mit ihnen zu tun haben, schon gar nicht, wenn sie auf ihn gerichtet waren.
Die Schatten halfen ihm. Er blieb außer Sicht, folgte dem Knirschen ihrer Schritte auf dem Kies, sah ihre Silhouetten, die sich hüpfend von dem harten, reglosen, am Ende des Parkplatzes aufgespannten Schirm aus Licht abhoben. Als sie ihren Wagen erreicht hatten – einen schwarzen Jetta mit kalifornischem Nummernschild –, fuchtelten sie wieder, und dann hörte er quietschende Stimmen, allerdings nur undeutlich. Die Frau stolperte über die Silben und klang verschwommen, als hätte sie eine Decke über den Kopf gezogen, und was der Mann sagte, vermischte sich mit ihren Worten, so daß nichts zu verstehen war. Nach einer Weile stiegen sie in den Wagen, und die Türen wurden mit leisem Knall zugezogen, eine nach der anderen.
Und was dachte er? Er dachte, daß er jetzt einfach aus dem Gebüsch kommen und dem Typ an Ort und Stelle die Gräten brechen und ihn zerlegen könnte, und ihr ebenfalls – ein bißchen angewandte Abschreckung, um die Sache hier und jetzt zu beenden. Aber nein, das war nicht die richtige Methode. Die richtige Methode bestand darin, die Verluste abzuschreiben und zu verschwinden. Er hatte noch immer Natalia, er hatte Geld und einen nagelneuen Mercedes S500 in Bordeauxrot. Peterskill war zwar nicht gerade Mill Valley, aber das bunte Herbstlaub und der Schnee zu Weihnachten und all das hatten ihm doch gefehlt, und wenn er sich dort erst mal etabliert hatte, würde es gar nicht so schlecht sein. Und außerdem war da noch Florida. Im Winter nach Florida. Und vor ihnen lag die ganze weite Reise, bei der sie nichts weiter zu tun hatten, als sich das Land anzusehen, sich zurückzulehnen und die Fahrt zu genießen.
Er blieb lange im Gebüsch, beobachtete das Heck des Wagens und ließ seinen Gedanken freien Lauf: Natalia würde eine Szene machen, klarer Fall, und keine Ruhe geben, bis er sie in den Mercedes gesetzt und die Haustür geschlossen hatte. Die Geschichte, die in seinem Kopf Gestalt annahm und die er während der Fahrt durch das Land gehörig ausschmücken würde, hatte mit seinem Bankrott zu tun, mit den Restaurants. Er hatte irgendeinen Namen angenommen, damit die Sache wieder ins Lot kam und er Zugriff auf seine Investitionen hatte, und selbstverständlich würden sie das Haus als Sommerhaus behalten, weswegen sie das Geschirr, die Handtücher, das Besteck nicht mitzunehmen brauchten, und glaubte sie vielleicht im Ernst, er würde seine Weine einfach einem anderen überlassen? Er stützte sich mit der Faust auf den feuchten Boden, um die Knie zu entlasten. Ein scharfer Geruch hing in der Luft, ein Geruch nach messerförmigen Blättern und Eukalyptusknospen, die in Fäulnis übergingen. Jenseits der Rasenfläche, dicht bei den Häusern, zischte entweichende Luft, und dann spritzte Wasser aus einer Reihe von Rasensprengern. Und endlich leuchteten die Bremslichter des Jettas auf, der Wagen setzte zurück, glitt über den Parkplatz und verschwand im schwarzen Griff der Nacht.
Als man ihn aus dem Gefängnis entließ, verbrachte er nicht viel Zeit damit, seine Wunden zu lecken und darüber nachzudenken, was hätte sein können, was Gina ihm angetan hatte, wieviel Schweiß, Mühe und Herzblut er in das Pizza Napoli gesteckt hatte und daß er jetzt bankrott war, ein Vorbestrafter, der nicht mal mehr einen silberfarbenen Ford Mustang besaß, weil er den, wie alles andere, hatte verkaufen müssen, um den fischköpfigen Anwalt zu bezahlen. Nein, dazu war er zu klug. Diese Klugheit hatte er sich da drinnen angeeignet, in den Zwölf-Tonnen-Nächten in seiner Zelle und den Zombie-Tagen, wenn er Gemüse putzte und allem Ärger aus dem Weg ging – und er hatte hart daran arbeiten müssen. Es war schwer, sich zu zügeln. Sich tief in sich selbst zurückzuziehen. Die Wut zu beherrschen, die jede Minute eines jeden Tages in ihm pochte wie ein Hammer. Denn da drin gab es ein paar wirklich schräge Typen, deren einziger Lebensinhalt es war, einem das Leben schwerzumachen, und wenn man es ihnen mit gleicher Münze heimzahlte, verlängerte sich die Strafe. Er kannte diese Geschichten. Und darum zog er den Kopf ein und strich einen Tag nach dem anderen auf dem Kalender aus, und wenn es hart auf hart kam, ließ er seine Hände für sich sprechen, schnell und unbarmherzig, so schnell, daß niemand den Schlag kommen sah, und falls dann irgendein Arschgesicht mit zugeschwollenen Augen und gebrochener Nase ins Krankenquartier gebracht werden mußte, hatte er nicht das geringste damit zu tun. Er war nicht wie die anderen – unter all den unschuldigen Opfern widriger Umstände war er der einzige, der wirklich nicht dorthin gehörte, denn er hatte nichts getan, was ein anderer an seiner Stelle nicht auch getan hätte, und er hatte keineswegs vor, die Dinge weiter zu komplizieren, indem er andere Leute an sich heranließ. Das war der erste Schritt zur Klugheit.
Und dann war da noch Sandman. Die Sandman-Schule.
Sandman war herumgekommen. Seine letzte Gesetzesübertretung hatte leider ein gewisses Maß an einfacher körperlicher Gewalt erfordert, und deswegen saß er jetzt hier ein, bei den Gewaltverbrechern. Ebenso wie Peck. Die restlichen Häftlinge waren Versager, die Art von Idioten und Kotzbrocken, die nichts anderes verdient hatten – nach einem Jahr im Knast kam Peck sich vor wie ein Republikaner: Sperrt sie ein und werft den Schlüssel weg! –, aber Sandman war anders. Er war gebildet. Er glaubte an etwas: an die Umwelt, saubere Luft, sauberes Wasser. Der Mann konnte stundenlang über die Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts oder die Wiedereinbürgerung von Wölfen reden oder darüber, daß der Kapitalismus alle Rohstoffe der Welt aufsaugte und sie in Form von Fönen – Föne waren ein echter Fimmel von ihm – und Dollars wieder ausspuckte. Er war eins zweiundneunzig groß und beinahe am ganzen Körper tätowiert, und seiner Statur hatte er im Fitneßraum den letzten Schliff gegeben. Sandman war nicht viel älter als Peck, aber er zeigte ihm, wo es langging. »Du kennst doch den Spruch: ›Sei alles, was du sein kannst!‹ Du weißt schon, dieser Werbeslogan für die Army. Und ich sage dir: ›Sei jeder, der du sein kannst!‹«
Er sprach über das Internet. Er sprach über die Gier der Kreditkartengesellschaften, über Online-Leasingverträge, Kredite, Sozialversicherungsnummern, die man an Schnellimbißtheken und Tankstellen abgreifen oder auf einem halben Dutzend Internetseiten für fünfundzwanzig Dollar das Stück kaufen konnte. Er sprach von Photoshop und Farbkopierern, von amtlichen Siegeln, Icons und Hauptidentifikatoren. Das volle Programm. Sei jeder, der du sein kannst!
Zweihundert Dollar. Das war das Geld, das sie einem in die Hand drückten, wenn man rauskam, nach elfeinhalb Monaten, in denen man Kohl gehackt, Zwiebeln geschnitten und den Gestank des Grills aufgesaugt hatte: Burger, Hot dogs, Hackfleisch, Filetstreifen, die schmeckten, als wären sie gedörrt, eingeweicht und nochmals gedörrt worden. Die meisten dieser Gehirnamputierten gaben das Geld gleich am ersten Tag für Frauen oder Drogen aus, und dann saßen sie wieder auf der Straße und versuchten, kleine Dinger zu drehen, während ihr Bewährungshelfer nur auf die Gelegenheit wartete, sie wieder in den Knast zu schicken. Aber nicht Peck. Nicht William Peck Wilson.
Er fuhr sofort zurück nach Peterskill, zu dem Ärztehaus an der Route 6, wo die Orthopäden, Urologen und Kinderärzte ihre Praxen hatten. Hinter dem Haus standen die Müllcontainer. Er brauchte etwa eine Stunde, in der er wie ein arbeitsloser Einwanderer auf der Suche nach Pfanddosen im Müll stocherte, und dann hatte er gefunden, was er suchte: einen Stapel aussortierter Krankenblätter mit Namen, Adressen, Geburtsdaten und Sozialversicherungsnummern. Peck setzte sich in eine Bar, bestellte einen Scotch und rief Dudley, den Kellner, an, denn er brauchte jetzt vor allem zweierlei: einen fahrbaren Untersatz und die nötigen Papiere. Dudley war, nahm er an, genau der richtige Mann, um ihm einen gefälschten Führerschein zu besorgen, denn er war schon mit Sechzehn durch die Clubs gezogen, und das in einem Bundesstaat, in dem man erst mit Einundzwanzig Alkohol trinken durfte. Peck wurde nicht enttäuscht. Für nicht mal die Hälfte des Entlassungsgeldes bekam er eine Sozialversicherungskarte und einen Führerschein mit Farbfoto, und zwar auf den Namen irgendeines Patienten. Der Rest war ganz einfach. Mit den hundert Dollar, die er noch hatte, eröffnete er ein Konto. Dann kaufte er per Scheck alle möglichen Sachen, die er gegen Barzahlung weiterverkaufte, nahm sich ein Hotelzimmer und beantragte Kreditkarten bei Visa und American Express. Sobald die Karten da waren, fuhr er mit einem Taxi zum örtlichen Harley-Händler. Eine Harley hatte er schon immer haben wollen, seit dem Tag, an dem er als Kind Easy Rider im Fernsehen gesehen hatte, und Sandman hatte ihn bei ihren nächtlichen Phantasieausflügen kräftig darin bestärkt: In den Schatten hatte sich eine ganze Landschaft aufgetan, sie war erblüht wie eine vollkommene, leuchtende Blume, und die Vision war so intensiv gewesen, daß er den Wind in den Haaren spüren und das Sonnenlicht wie flüssiges Gold auf der Straße vor sich hatte sehen können.
Der Händler war ein leicht hinkender Langhaariger mit fettem Gesicht. Er trug eine Harley-Lederjacke über einem bestickten weißen Hemd, und irgendeine Rennmedaille hing an einer Schnur um seinen Hals. Er schöpfte nicht den Hauch eines Verdachts. Und Peck Wilson setzte sich mit ihm hin und unterschrieb säuberlich alles, was zu unterschreiben war, mit seinem neuen Namen. Die Kreditberichte waren erstklassig, und während sie einander noch Geschichten über abartige Geschwindigkeiten, böse Unfälle und die wilden Kerle erzählten, die sie kennengelernt hatten, wurde die Maschine – eine schwarze Electra Glide mit einem wunderschön roten Harley-Emblem auf dem bauchigen Tank – fahrbereit gemacht, und dann schwang er sich darauf, ließ sie einmal aufbrüllen und ritt die Straße hinunter und aus der Stadt. Für immer.
Der Morgen graute noch nicht, die Sterne im Osten wurden gerade etwas blasser, und der Mt. Tam im Westen war noch immer eine tiefschwarze Leerstelle im Sumpf aus Dunkelheit und Nebel. Seit er vor fünfzehn Minuten die Garage verlassen hatte, um zum Coffee Shop zu fahren, hatte sich nichts gerührt, und als das schwere Holztor hinter ihm zuschlug, stieg er mit dem Papptablett – das aus demselben Zeug bestand wie diese Eierkartons; wieso war ihm das eigentlich noch nie aufgefallen? – aus dem Wagen. In den vorgeformten Vertiefungen standen zwei große doppelte Café Latte, eine heiße Schokolade mit einer Extraportion Schlagsahne, eine weiße Papiertüte mit verschiedenen Croissants sowie ein halbes Dutzend Éclairs, die Madison in einen zuckerinduzierten Reisestupor versetzen sollten. Sie verreiste nicht gern, und das war ein Problem, aber Natalia hatte ein paar hundert Dollar für Malbücher, einen Miniaturbauernhof und Videos ausgegeben, die sie sich auf dem in der Rückseite des Beifahrersitzes eingebauten Monitor ansehen konnte.
Der Kaffee war heiß, die Croissants waren noch warm, doch anstatt damit sofort hinaufzugehen, stellte er das Papptablett auf der Motorhaube ab und öffnete vorsichtig die kleine Seitentür der Garage. Einen langen Augenblick stand er da, lauschte, beobachtete, roch zum letztenmal den schweren, kalten Geruch des Meeres. Und dann machte er, nur um sicherzugehen, einen kleinen Bummel über den Parkplatz und spähte in die Wagen, die reglos unter dem dünnen Überzug aus Tau dastanden. Er war ruhig, er atmete leicht und fühlte sich optimistisch, wenn er an das dachte, was vor ihm lag, auch wenn er es haßte, gehen zu müssen – er haßte es, vertrieben zu werden, er haßte diese elenden, schnüffelnden Schweine, die ihn aufgespürt und alles kaputtgemacht hatten, und dann ging er auf dem Kiesweg einmal um die ganze Anlage, und der Nebel (wie nannte Madison ihn noch mal? Der Atem der Bay) kroch heran, um ihn einzuhüllen und wieder freizugeben.
Natalia hockte auf der Sofakante; sie trug ein grünes Samtkostüm, Strümpfe, hochhackige Schuhe, sie wartete auf ihn. Als er eintrat, war sie dabei, Make-up aufzulegen. Ohne Make-up ging sie nie irgendwohin, nicht mal zum Laden an der Ecke, um eine Schachtel Cracker zu kaufen. Sie lächelte nicht. Sie sah nicht mal von ihrem kleinen Spiegel auf. »Madison schläft noch«, sagte sie.
Er stellte das Tablett vor ihr ab wie das Opfer, das es darstellte. »Gut. Vielleicht kann ich sie zum Wagen tragen, und sie wacht erst in Tahoe auf, was meinst du?«
Sie antwortete nicht. Gestern abend – eigentlich heute morgen – hatte er alles gepackt, und er war erschöpft und freute sich auf das Hotel, die frischen Laken, den Zimmerservice, die herrliche Anonymität. Mit einer gewissen Befriedigung stellte er fest, daß Natalias und Madisons neue, zueinander passende Reisetaschen an der Haustür standen. Das Generve war vorbei, das Schmollen, das Streiten, vorbei die Tränen, die Forderungen und flehentlichen Bitten. Jetzt würde ein neuer Abschnitt beginnen. In wenigen Minuten würden sie dort draußen sein, den Schlüssel umdrehen und nie mehr zurücksehen.
»Ich hab ihr eine heiße Schokolade mitgebracht«, sagte er, »die von der Bäckerei, die sie am liebsten mag. Und Éclairs. Zur Feier des Tages.«
Natalia gehörte nicht zu den Müttern, die sich über den Zuckerkonsum ihrer Kinder Gedanken machten. In ihren Augen war alles, was man einer überfütterten, aufgeblähten kapitalistischen Gesellschaft abpressen konnte, etwas Gutes an sich, und Éclairs waren nur eine kleine Manifestation davon. Jetzt warf sie ihm über den Spiegel hinweg einen Blick zu. »Ja«, sagte sie, leicht amüsiert und versöhnlich, »das ist sehr nett. Du bist ein sehr netter Mann« – und er sah, daß sie seinen Namen sagen wollte, daß sie »Da-na« sagen wollte und es sich verbot. Sie beugte sich vor und nahm den Plastikdeckel von einem der Becher. »Ist das ein doppelter Café Latte?«
»Es sind beides doppelte Café Latte.«
Sie führte den Becher an den Mund, der weiße Schaum lag wie Gischt auf dem wächsernen Schimmer des Lippenstifts, bevor die Zunge ihn zergehen ließ. Die schlichten, animalischen Befriedigungen: Zucker, Sahne, Koffein. Er griff nach dem zweiten Becher. Erinnerungen weckend und dennoch in die Zukunft weisend, erfüllte der Duft nach Kaffee den Raum. »Sehr nett«, schloß sie. Ihre Finger zupften an der Tüte mit den Croissants, während sie am Café Latte nippte und ihm ein schimmerndes, unkompliziertes Lächeln schenkte.
Sie waren Komplizen. Er war dankbar, dankbar dafür, daß sie viel für ihn aufgab, dankbar für ihren Glauben und ihr Vertrauen, und in diesem Augenblick gelobte er sich, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sich dessen würdig zu erweisen. Er setzte sich auf die Rückenlehne des Sofas, strich mit der Hand über die Seite ihres Gesichtes, liebkoste ihr Ohr und ließ ihre Haare durch die Finger gleiten. »Ja«, sagte er, »ich bin ein netter Mensch.« Und er meinte es ganz ernst.
Der Kaffee wärmte ihm noch den Bauch, als er Madison aus dem Bett hob und hinunter zum Wagen trug. Sie hatte sich, den Daumen im Mund, ganz zusammengekrümmt, und das Haar fiel in seidigen Wellen über ihr Gesicht. Er hob sie hoch, mit Bettzeug und Decken und allem, Wärme stieg von ihr auf wie von einem Heizöfchen, im Traum bewegten sich die Pupillen unter ihren Lidern, und wie konnte er nicht an Sukie denken, seine eigene Tochter in Peterskill, die ihm so fremd, so entrückt war wie ein Alien von einem fernen Planeten? Als er Madison auf den Rücksitz bettete und die Decke über ihre nackten Füße faltete, hatte er für einen Moment das Bild der beiden vor Augen: zwei Mädchen im Park – im Depew Park in Peterskill –, die Hand in Hand durch Löwenzahn und goldgelbes langes Gras liefen. Ihre weißen Beine leuchteten im Gleichtakt auf.
Es war ein Fehler, nach Peterskill zurückzukehren, das wußte er, das hatte er schon immer gewußt. Doch sein Blut sang ihm dieses Lied vor – es war das, was er kannte, und seine Tochter war dort. Es gab ein Haus in Garrison, tief im Wald, mit Blick über den Hudson, spätes neunzehntes Jahrhundert, Stein, mit handbehauenen Dachbalken, umgebaut im – wie Sandman es ausdrückte – vorherrschenden bourgeoisen Stil und ausgestattet mit allem, was die Konsumgüterindustrie hergab. Er brauchte nur zuzugreifen: 5500 pro Monat, inklusive Kaufoption. Sandman steuerte die Anzahlung bei und bearbeitete die Besitzer, die sich in Florida zur Ruhe setzen wollten, jedoch nicht ganz sicher waren, ob sie das Haus auch wirklich verkaufen wollten; die Kreditanfrage war bereits erledigt, und alle Papiere warteten nur noch darauf, daß Bridger Martin in die Stadt kam und seine Unterschrift daruntersetzte. Und das war auch gut so, denn nach ihrem ausgedehnten Urlaub und dem Vagabundendasein würde es sehr schön sein, dort anzukommen und neu anzufangen. Die Schulen waren tatsächlich gut, und in Manhattan konnte Natalia einkaufen bis zum Umfallen. Da, wo er früher herumgehangen hatte, würde er sich allerdings nicht blicken lassen. Er wollte niemanden treffen, nicht mal seine Mutter – besonders die nicht. Oder Gina. Es wäre nicht gut, wenn ihn jemand Peck nannte, jetzt nicht mehr. Aber der nächste Ort war ohnehin Garrison, und er würde die meiste Zeit in New York verbringen. Und was Sukie betraf, so würde er sich mit dem Anwalt in Verbindung setzen und ihn diskret dafür sorgen lassen, daß die sonntäglichen Besuche wiederaufgenommen werden konnten. Für sie würde er einfach Dad sein, nicht Peck oder Dana oder Frank oder Bridger – bloß Dad, und niemand würde sich was dabei denken. Aber vielleicht war alles ein Traum. Vielleicht würden ihn bei McDonald’s die Bullen erwarten, denn warum sollten Gina oder ihre Mutter sich darauf einlassen?
»Du bist fertig?« Natalia ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten. Sie trug einen rosaroten Mützenschirm mit einem Designerlogo, der fünfzig Scheine gekostet hatte, mindestens. Als sie seinen Blick bemerkte, sagte sie: »Für Reisen. Für die Sonne. Ist in Las Vegas nicht viel Sonne?«
»Ja«, sagte er zerstreut, »ja, na klar. Gute Idee.« Er drückte auf den Knopf der Fernbedienung, das Garagentor öffnete sich, und bleiches Morgenlicht strömte herein. Er dachte an all das, was sie zurückließen, er dachte daran, daß alles, von seinen Messern über seine Töpfe bis hin zum Viking-Konvektionsherd und der neuen Mikrowelle, hierbleiben würde, bis die Wohnung verkauft war, und daß dann alles, was die neuen Besitzer nicht haben wollten, im Müll landen würde. Nichts bereuen, ermahnte er sich, drehte den Zündschlüssel – dieser Wagen war einer der besten der Welt, eines der besten Fahrzeuge der Weltgeschichte – und setzte zurück in den Morgen.
Was er nicht bemerkte – weil er in Gedanken noch immer durch die jetzt unbewohnten Zimmer der Wohnung ging und sich mit all den entbehrlichen Dingen beschäftigte, die sie angehäuft hatten und nun zurückließen –, was er vollkommen übersah, war der schwarze Jetta, der ihnen folgte.