VIER
Bridger hatte an jenem Abend, an dem sie
sich kennengelernt hatten, neben Deet-Deet an der Bar gestanden und
ein Bier bestellt, von dem er dann aber keinen Schluck trank. Er
versuchte, lässig auszusehen, lehnte den Rücken an das schimmernde
Mahagoni der Theke, stützte sich mit den Ellbogen ab und bemühte
sich um einen Ausdruck von Unbekümmertheit – das, was er als
»Gipfel der Coolness« bezeichnete. Der Rhythmus lastete auf allen,
als wäre Schall schwerer als Luft, als wäre er ein ganz eigenes
Medium: Leim, Blei, vulkanische Asche. Bridgers Bemühungen waren
erfolglos. Jeder, der ihn betrachtete, hätte sofort gemerkt, daß er
Dana anstarrte wie hypnotisiert. Natürlich sah er lässig aus in
seinen kaum je gewaschenen Jeans, den in Auflösung begriffenen
Nikes und dem Digital-Dynasty-T-Shirt, auf dem ein leuchtend
orangeroter Außerirdischer lüstern grinsend über die Schulter sah,
ganz zu schweigen von seinem Haar, das so weit nachgewachsen war,
daß einzelne Strähnen wie Zähne aufragten, doch von Lässigkeit war
er weit entfernt. Was er empfand, noch bevor Deet-Deet beinahe
blindlings die Hand eines puppengroßen Mädchens in einem gelben
Oberteil ergriff und auf die Tanzfläche gezogen wurde, war jene
eigenartige Anspannung – Unruhe, Angst vor Zurückweisung, die Qual
der Anziehungskraft –, die er schon lange nicht mehr gespürt
hatte.
Er wartete drei mittelmäßige Stücke lang,
bis er einigermaßen sicher war, daß sie ohne Begleitung hier war,
außer vielleicht einer Freundin, die ihren weißblonden
Pferdeschwanz aufgesteckt hatte, und dann begann er, die Schultern
zu bewegen und sich vom Rhythmus tragen zu lassen, während er sich
durch die Menge auf der Tanzfläche schob. Ein endloses Stück lang
tanzte er ihr gegenüber, er kam richtig ins Schwitzen und pumpte
die Reste des Sake von den Beinen in den Kopf, bis sie ihn endlich
bemerkte, und zwar mit einem überraschten Blick, gefolgt von einem
offenen Lächeln. Was er als gutes Omen auffaßte. Nach dem nächsten
Stück rief er ihr etwas zu, und sie rief etwas zurück (Mir gefällt die Art, wie du dich bewegst – Gutes Stück,
hm? – Wie war noch mal dein Name?), und die wunderbare, die
erstaunliche und unübertreffliche Sache war die: Er hatte keine
Ahnung, daß sie taub war. Denn er war ja auch taub – alle waren
taub, jedenfalls bis die Lichter angingen und der DJ das Donnern verstummen ließ.
Deet-Deet war verschwunden, und Bridger
stand Hand in Hand mit Dana in der sich verlaufenden Menge und
spürte den sanften Druck ihrer Finger, während sie ihn dem Mädchen
– der Frau – mit dem Pferdeschwanz und einer anderen Frau
vorstellte, die er gar nicht bemerkt hatte: Mindy und Sarah,
Freundinnen von ihr, die in derselben Wohnanlage wohnten, und er
hatte Glück, Riesenglück, denn normalerweise ging sie montags nie
aus, aber heute war ihr Geburtstag. Ja, sie war zweiunddreißig –
sie verzog das Gesicht. War das nicht uralt? Nein, nein,
widersprach er, überhaupt nicht. Gar nicht. »Nein?« sagte sie, und
ihr Gesicht öffnete sich ihm, das ausdrucksstärkste, sinnlichste,
hübscheste Gesicht, das er je gesehen hatte, und ja, er bemerkte
den Akzent, hielt ihn aber für skandinavisch oder vielleicht
osteuropäisch. »Und wie alt bist du?« Er war achtundzwanzig. Sie
grinste noch immer, und ihre Augen glitten über sein Gesicht.
»Siehst du?« rief sie triumphierend und warf Mindy und Sarah einen
Blick zu, bevor sie wieder ihn ansah. »Du bist geradezu ein
Baby.«
Irgendwie kam es nicht zum Austausch von
Telefonnummern, aber trotz der Nachwirkungen des Sakes gelang es
ihm, sich ihren Namen zu merken, und zu Hause sah er im Telefonbuch
nach: D. Halter, Pacific View Court 31. Am
nächsten Morgen rief er sie an, um sie zum Abendessen einzuladen,
aber niemand nahm ab, und der Anrufbeantworter bat ihn mit Danas
hohler, monotoner Stimme, keine Nachricht zu hinterlassen, sondern
eine E-Mail zu schicken, und dann folgte eine Hotmail-Adresse.
Sobald er in der Arbeit war, schrieb er eine E-Mail, irgendwie
erleichtert, daß ihm die Unsicherheit, die potentielle Peinlichkeit
des direkten Kontakts erspart blieb – schließlich kannte er sie ja
kaum, und sie würde ihn vielleicht zurückweisen, sie war vielleicht
verheiratet, verlobt, uninteressiert oder so pathologisch
karrierefixiert, daß etwas anderes für sie gar nicht existierte –,
und nachdem er ein, zwei witzige Zeilen über den gestrigen Abend
getippt hatte, versuchte er sein Glück. Zu seiner Überraschung
antwortete sie innerhalb weniger Sekunden – Ja,
das ist genau das richtige: Italienisch. Aber versprich mir, daß
ich danach all die Pasta nicht wieder wegtanzen muß – und
beschrieb ihm den Weg zu ihrer Wohnung.
Die Anlage war hübsch, hübscher als die, in
der er wohnte, und lag an einer Hügelflanke mit altem Bewuchs –
Strelizien, Platanen, Palmen aller Art und Größe –, aber die
Nummern waren anscheinend völlig willkürlich verteilt, und er
konnte ums Verrecken nicht die 31 finden, die sich jedenfalls nicht
in direkter Nachbarschaft von Nummer 29 und 30 befand, vor denen er
nun schon zweimal gelandet war. Nach drei weiteren erfolglosen
Runden sprach er eine Frau in Danas Alter an, die mit einer
angeleinten Katze die Treppe herunterkam. »Entschuldigen Sie«,
sagte er, »aber wissen Sie vielleicht, wo Dana Halter wohnt?«
Sie sah ihn ausdruckslos an.
»Sie wissen schon«, sagte er. »Dana? Anfang
Dreißig, etwa so groß wie Sie, dunkles Haar, hübsch?«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ach, na klar
– Entschuldigung, tut mir leid. Sie meinen die gehörlose Frau,
nicht?«
Es traf ihn mit der Wucht einer
Offenbarung. Plötzlich ergab alles einen Sinn: ihre tonlose Stimme,
die Mißverständnisse, die Beweglichkeit ihres Gesichts, wenn sie
sprach – als wäre jeder Muskel unter der Haut ein eigenes
Kommunikationsmittel. Als er auf den Klingelknopf an ihrer Tür
drückte, ertönte das übliche mechanische Summen, doch zugleich
begann in der Wohnung ein Licht zu blinken. Und plötzlich stand sie
vor ihm und sah wunderschön aus. Ihre Hände flatterten, bei der
Begrüßung war ihre Stimme zu laut, und sie sah die ganze Zeit auf
sein Gesicht; es war ein nicht abreißender Blickkontakt, und
Bridger fühlte sich entweder unwiderstehlich oder befangen, es war
schwer zu sagen. Dann war da die CD,
die er im Wagen auflegte, die CD,
über die er so intensiv nachgedacht hatte (würde sie ihn nach der
Musik beurteilen? Kannte sie die Band? Mochte sie sie?) und die sie
mit keinem Wort erwähnte, und da waren die Tagesgerichte, von denen
sie keines bestellte. Die Unterhaltung drehte sich um
Autobiographisches, gemeinsame Interessen, Politik und Umweltfragen
und kam ins Stocken, wenn er zu lebhaft wurde und zu schnell oder
mit vollem Mund sprach, und dennoch brachte er es nicht über sich,
das Thema ihrer Taubheit anzusprechen. Den blinden Jungen in der
Schule fragte auch niemand, wie er das Augenlicht verloren hatte –
er würde es irgendwann von selbst erzählen (Keller, Rohrbombe) –,
und es war undenkbar, den Schwimmer im Fitneßclub zu fragen, warum
er eine Beinprothese trug. Das tat man einfach nicht. Es war
unhöflich, weil man dadurch die Aufmerksamkeit darauf lenkte, daß
diese Leute anders waren.
Dana wartete, bis sie mit dem Essen fertig
waren, der Kellner ihre Teller abgeräumt hatte und sie
stirnrunzelnd die Dessertkarte studierten. Sie hob den Kopf und
sagte: »Ich weiß ja nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber ich muß
dir was sagen.« Sie hielt inne, hielt ihn mit ihrem Blick fest und
fuhr dann fort, so laut, daß die Leute am übernächsten Tisch sich
nach ihr umdrehten. »Ich bin taub. Stocktaub. Ich höre erst ab
knapp unter hundert Dezibel. Weißt du, was das heißt?«
Er schüttelte den Kopf. Das ganze
Restaurant hörte zu.
»Ich höre gar nichts.«
Er dachte über eine Antwort nach. Was
konnte er sagen? Tut mir leid? Macht doch
nichts? Das Tiramisu sieht gut aus? Sie fand es zum Lachen.
Ihre Schultern zuckten, ihre Augen blitzten. Sie strahlte ihn über
den Tisch hinweg so triumphierend an wie die Gewinnerin in einer
Quiz-Show. »Ich hab dich ganz schön reingelegt, was?« sagte sie
keuchend und lachte, bis er einstimmte und sie beide auf den Tisch
schlagen mußten, um nicht davonzuschweben.
Die Sache kam nur langsam in Gang – sie
hatte zu tun, er hatte zu tun –, aber sie hangelten sich von
Verabredungen (Sushi, Thai, Kunstmuseum, Kino, Strand) zu weniger
formellen Treffen, und ehe sie’s sich versahen, konnten sie nicht
mehr ohne einander auskommen. San Roque war ein kleines
Küstenstädtchen mit 89000 Einwohnern, wenn man der Zahl auf dem
Schild an der Ortsgrenze glauben durfte – auf dem Höhepunkt der
Saison wohnten dort etwa doppelt so viele –, und von seiner Wohnung
zu ihrer brauchte man nur zehn Minuten durch ruhige, unverstopfte
Straßen. Es war keine große Sache, mal eben vorbeizuschauen, eine
Nachricht zu hinterlassen, kurz Kaffee zu trinken oder spontan in
ein Konzert zu gehen (ja, sie mochte Konzerte, ganz gleich, ob
Klassik, Jazz oder Rock, und konzentrierte sich auf die
Körpersprache der Musiker, als sähe sie Ballettänzern zu). Es
verging kaum ein Tag, an dem sie sich nicht sahen oder wenigstens
per E-Mail oder Instant Messenger miteinander kommunizierten. Sie
war plötzlich da und füllte eine Leere in seinem Leben. Er war
verliebt. Und sie ebenfalls. Er wußte die Zeichen zu deuten – ihre
Blicke, die Bewegungen ihrer Hände, den Ausdruck auf ihrem Gesicht,
wenn er ins Zimmer trat –, und die Zeichen waren günstig, sie gaben
ihm das Gefühl, göttergleich zu sein, als wäre er The Kade. Sie
starrte im Café wie gebannt auf seinen Mund und lachte unmäßig über
das, was er sagte. »Ja«, sagte sie mit ihrer eigenartig tonlosen
Stimme, die schwankte und taumelte, bis alle Unebenheiten geglättet
waren, »ja, du bist ein komischer Typ. Aber das weißt du, oder?«
Und dann zitierte sie eine Statistik aus irgendeiner Kolumne,
derzufolge die Mehrheit alleinstehender Frauen sich von
potentiellen Partnern vor allem Sinn für Humor wünschte.
Gleichzeitig wies sie natürlich
nachdrücklich darauf hin, daß neunzig Prozent der Gehörlosen einen
Partner unter ihresgleichen fanden, und bei denen, die dennoch
jemanden aus der Welt der Hörenden heirateten, war die
Scheidungsrate atemberaubend hoch. Dann gab es noch das Problem mit
den Kindern. Ein gehörloses Paar in ihrem Bekanntenkreis hatte, als
die Frau schwanger wurde, Schreckliches durchgemacht: »Sie sagten
immer nur: ›Wird es taub sein? Wird es taub
sein?‹« Und dann bekamen sie ein Mädchen, glatt und rot und
dick, mit allen Fingern und Zehen an den richtigen Stellen, und die
Eltern klatschten vor ihrem Gesicht in die Hände und schrien, bis
die Schwester kam und alles in Aufruhr war – nur das Kind reagierte
überhaupt nicht. »›Gott sei Dank‹, sagten die Eltern, ›sie ist eine
von uns.‹«
»Und was meinst du damit?« fragte
Bridger.
Sie senkte den Blick, und ihr Gesicht wurde
starr. »Nichts.«
Sie waren in ihrer Wohnung und hatten die
zweite Flasche Wein geöffnet, nachdem Dana ihren
Spezial-Krabbensalat gemacht und Bridger die ideale Ergänzung dazu
– Lay’s Barbeque Potato Chips – präsentiert hatte. Er verstand
nicht gleich, er mühte sich zu dechiffrieren, was sie ihm mitteilen
wollte, und dann streckte er die Arme aus und nahm ihre Hände, bis
sie den Blick wieder hob. »Aber das bist nicht du«, sagte er und
versuchte, sich an das Thema heranzutasten. »Ich meine, du bist
nicht so.«
»Ich verstehe nicht.«
»Du bist nicht... Ich meine, du bist nicht
so geboren. Stimmt doch, oder?«
Sie sah ihn an, als wollte sie in Tränen
ausbrechen, zwang sich aber zu einem Lächeln. »Wie geboren?«
»Taub.«
Sie stand auf und ging hinaus. Als sie
gleich darauf zurückkehrte, trug sie ein T-Shirt aus ihrer
Studentenzeit in Gallaudet. Er kannte es bereits, denn sie zog es
an, wenn ihr danach war, wenn sie sich bedrängt fühlte oder trotzig
war. Auf dem T-Shirt war eine gereckte Faust, die an das
Black-Panther-Logo erinnerte, und darüber stand DEAF POWER.
Mit Viereinhalb hatte sie Meningitis
bekommen und nur knapp überlebt. Drei Tage lang hatte sie über
vierzig Grad Fieber gehabt. Die Ärzte erklärten ihren Eltern, die
Gehörnerven seien irreparabel geschädigt, und Dana werde jetzt und
für immer vollkommen taub sein. Doch sie selbst bestand darauf, daß
sie Glück gehabt habe, denn sie sei postlingual ertaubt, wodurch es
für sie tausendmal leichter sei, zu sprechen, zu lesen und in der
Welt der Hörenden zu funktionieren. Woran erinnerte sie sich aus
der kurzen Zeit, bevor das Fieber eingesetzt hatte? An Wörter. An
Geschichten. An Stimmen. Und daran, daß ihr Vater sich mit ihr
Yellow Submarine angesehen hatte.
»Ja«, sagte sie zu Bridger und schob die
Finger in den Beutel mit Kartoffelchips, als fürchtete sie, ihre
Hand könnte ihr widersprechen, »ja, ich bin nicht so.« Und dann
begann sie mit vollkommen losgelöster, tonloser, melodieloser
Stimme zu singen: »We all live in a yellow summarine, yellow
summarine...«
Er verließ die Polizeiwache erst, als
man ihm mitteilte, sie sei ins Bezirksgefängnis in Thomsonville
verlegt worden, und da war es bereits neun. Zuvor hatte er über
sein Handy den einzigen ihm bekannten Anwalt angerufen, einen
Freund aus Collegezeiten, der als Medienanwalt in einer Kanzlei in
Las Vegas arbeitete. »Hallo, Steve«, sagte er bemüht herzlich, »ich
bin’s, Bridger«, und Steve fing gleich an zu plaudern und in
Erinnerungen zu schwelgen und schmierte seine Stimme mit dem
1A-Sirup aus der obersten Schublade, bis sie die Eröffnung hinter
sich hatten und er sich in einem Ton räusperte, dem zu entnehmen
war, daß die Honoraruhr lief oder jedenfalls laufen sollte. »Tja«,
sagte Bridger, »ich rufe dich an, weil ich ein Problem habe.« Er
erklärte die Situation.
»Nicht gut«, sagte Steve. »Gar nicht
gut.«
»Aber sie war’s nicht. Sie hat nichts
getan. Sie hat ein Stoppschild überfahren, das ist alles. Verstehst
du?«
»Schon mal an Identitätsdiebstahl
gedacht?«
»Ich weiß nicht. Falsche Identität,
Identitätsdiebstahl – was ist der Unterschied?«
Im Hintergrund hörte Bridger eine andere
Stimme. »Ja, ja«, sagte Steve, »ich bin gleich fertig.« Und dann:
»Bridger? Also, der Unterschied ist Geld, jede Menge Geld, denn
wenn es ein Fall von Identitätsdiebstahl ist, mußt du erreichen,
daß die Anklagen aus allen Gerichtsbezirken, in denen diese andere
Frau Betrügereien begangen hat, abgewiesen werden, und dann steht
dir ein Papierkrieg mit den Kreditberichtagenturen bevor, und das
kann in echte Arbeit ausarten.«
»Schon klar«, sagte Bridger, »aber was kann
ich jetzt tun? Ich meine, ich kann sie doch
nicht einfach im Gefängnis lassen.«
»Du mußt mit einem Anwalt sprechen.«
»Ich denke, das tue ich gerade.«
»Du brauchst einen, der auf Strafrecht
spezialisiert ist. Der vor Ort ist. Kennst du nicht jemanden, der
jemanden kennt?«
»Nein.«
»Na gut, dann schnapp dir das Branchenbuch
und arbeite dich durch. Aber ich warne dich: Sobald die hören, um
was es geht, werden sie so um die fünfzigtausend Vorschuß
verlangen, wahrscheinlich zehntausend bloß für eine Unterredung mit
ihr, und damit ist noch gar nichts gewonnen, denn da sind ja noch
das Auslieferungsbegehren aus Nevada und die Haftbefehle mit
Kautionsausschluß. Aber gib ihnen Geld, und sie versprechen dir das
Blaue vom Himmel.«
»Aber ich habe... Ich meine, ich verdiene
ganz gut, aber...«
»Was ist eigentlich Paint-and-roto?«
»Also, es würde ein bißchen zu lange
dauern, das zu erklären – es ist eine Spezialeffektetechnik. Wenn
du das nächstemal hier bist, zeig ich’s dir, versprochen. Ich mag
meinen Job, ich verdiene ganz gut, aber was ich sagen will, ist:
Ich hab eigentlich nichts auf dem Konto und keine Ahnung, wie ich
auch nur annähernd so viel Geld...«
Wieder ertönte im Hintergrund die Stimme,
vermischt mit anderen. Steve ersetzte den Sirup durch Essig. »Sie
wird übers Wochenende im Knast bleiben, da ist nichts zu machen.
Montag wird sie vorgeführt und kriegt einen Pflichtverteidiger,
irgendeinen Höhlentroll mit einem billigen Anzug und einer billigen
Aktentasche, der aussieht wie eine tödliche Nervensäge, und dann
kannst du ihr nur noch die Daumen drücken. War schön, mit dir zu
reden. Viel Glück, hm?«
Am Montag morgen rief er an und meldete
sich krank (Radko: Bitte hinterlassen
Nachricht). Dann fuhr er zum Bezirksgericht, einem
Repräsentationsbau aus den zwanziger Jahren, der aussah wie ein
Nebengebäude der Alhambra, ganz aus Stein, Stuck und Wandfliesen,
mit einem monumentalen Uhrenturm und einer Aussichtsplattform, von
der Touristen das Zentrum San Roques von der blauen Auslegware des
Meers bis zum Bildteppich der im Dunst verschwimmenden Hügel
überblicken konnten. Am Informationsschalter riet ihm eine
strahlend lächelnde ältere Frau mit einer langen roten Nase und
einem ganz leichten britischen Akzent, sich die Liste der
angesetzten Verhandlungen durchzulesen, die am Schwarzen Brett am
Ende des Korridors ausgehängt war, und dort fand er Danas Namen
unter achtzig bis hundert anderen. Die Anklageerhebung sollte um
halb neun in Saal 2 stattfinden.
Der Gerichtssaal war ein Ort, der Vertrauen
in das Justizsystem einflößte: gewölbte Decke, dunkle, von den
Spuren der Geschichte gezeichnete Zuschauerbänke, zur Linken die
erhöhte Geschworenenbank, in der Mitte, unter dem großen Siegel des
Staates Kalifornien, die matt schimmernde, polierte Richterempore
und entlang der rechten Wand eine Reihe kleinerer Tische für die
Gerichtsbeamten und Protokollanten. Um fünf nach acht Uhr morgens
machte das alles einen sehr effizienten Eindruck. Bridger setzte
sich in die hinterste Reihe. Außer einem Justizwachtmeister – einem
großen, muskulösen, diensteifrig wirkenden Beamten in einem braunen
Uniformhemd, an dessen Kragen eine Art Sprechfunkgerät befestigt
war – waren nur zwei andere Personen anwesend: ein junges Paar,
möglicherweise Collegestudenten, die sich in der ersten Reihe über
die Comicseite einer Zeitung beugten. Bridger war erschöpft. Er
hatte das ganze Wochenende gearbeitet, um den Rückstand aufzuholen,
und sich dabei ausschließlich von Red Bull, Kaffee und Pizza
ernährt. Kades Gesicht war ihm mittlerweile so trostlos vertraut,
daß er die zu kleinen Augen und die affenartige Schädelstruktur wie
eine Halluzination auch dann vor Augen hatte, wenn er gar nicht auf
den Bildschirm sah. Es war gut, daß seine Arbeit nicht die kleinste
gedankliche Anstrengung erforderte, denn seine Gedanken waren von
Drex III so weit entfernt wie nur
möglich. Das ganze Wochenende über hatte er einzig an Dana gedacht:
Dana in einer Zelle, verängstigt und verletzlich, irgendeinen Fraß
aus einem Eimer essend, schikaniert, verspottet, unfähig, irgend
etwas zu erklären.
Er hatte jeden Anwalt im Branchenbuch
angerufen und nichts als Anrufbeantworter gehört: Sie haben die Nummer der Rechtsanwaltskanzlei Merker
& Stillman gewählt. Unsere Bürozeiten sind: Montag bis Freitag,
10 bis 17 Uhr. Wenn es sich um einen Notfall handelt, wählen Sie
bitte 5651608. Es handelte sich um einen Notfall, und er wählte
bei allen vierundfünfzig im Branchenbuch verzeichneten Anwälten die
angegebene Notfallnummer, doch bei allen außer einer hörte er
wieder nur ein Band. Bei der einen Ausnahme meldete sich – das war
am Samstag morgen – eine gereizte Frau, die wissen wollte, woher
Bridger ihre Privatnummer habe und was so verdammt dringend sei,
daß er sie an ihrem freien Tag störe. Im Hintergrund waren Rufe zu
hören und das trockene »Plock« eines Tennisballs, der auf das
Geflecht des Schlägers prallte. Bridger erklärte ihr die Situation,
und sogleich verwandelte die Anwältin sich in die vernünftigste und
wohlmeinendste Frau der Welt: Sie war empört über das, was das
Justizsystem seiner Partnerin – Dana hieß sie? Ja, Dana also –
angetan hatte, und war bereit, bis zum Umfallen für sie zu
kämpfen... Sobald sie einen Vorschuß in Höhe von
fünfundsiebzigtausend Dollar bekommen hatte.
Um zwanzig nach acht begann der Saal sich
zu füllen. Menschen aller Altersstufen schoben sich durch die Tür
und warfen nervöse Blicke auf die Richterempore, bevor sie
geräuschlos irgendwo Platz nahmen. Ihr Verhalten zeigte, wie
bescheiden, demütig und schuldlos sie waren, Männer wie Frauen.
Jeder war ein gesetzestreuer Bürger, dem es nicht im Traum
einfallen würde, auch nur den geringsten Verstoß zu begehen oder
die Befugnis des Gerichts anzuzweifeln. Sie waren frisch gewaschen
und dem Anlaß entsprechend sorgfältig gekleidet: Die Männer trugen
saubere, gebügelte Hemden (manche hatten sich sogar fügsam eine
Krawatte umgebunden), die Frauen gedeckte Farben und ihre besten
Handtaschen. Es waren die Leute, die wegen Ruhestörung, Trunkenheit
in der Öffentlichkeit, häuslicher Auseinandersetzungen oder
Trunkenheit am Steuer verhaftet, aber gegen Kaution freigelassen
worden waren, so daß sie in ihrem eigenen Bett schlafen und sich um
ihr Erscheinungsbild hatten kümmern können. Die anderen, zu denen
auch Dana gehörte, waren irgendwo hinter den Kulissen, und Bridgers
Puls beschleunigte sich jedesmal, wenn die Tür hinter der
Richterempore geöffnet wurde.
Zu dem Justizwachtmeister hatte sich ein
Kollege gesellt – das gleiche Hemd, das gleiche Funkgerät, aber
kleiner und dunkler, mit einem harten, stechenden Blick –, und die
beiden standen da wie Leibwächter, während die Gerichtsbeamten von
links auftraten, als wäre dies die erste Szene eines Theaterstücks,
was es, wie Bridger fand, ja irgendwie auch war. Als alle Platz
genommen hatten, wurde die Tür zum Richterzimmer aufgerissen und
wieder geschlossen, und der größere der beiden Beamten rief: »Bitte
erheben Sie sich! Ruhe bitte! Den Vorsitz führt die Ehrenwerte
Richterin Kathleen McIntyre.«
Bridger schöpfte Hoffnung: eine Richterin.
Während er sich erhob und wieder setzte, musterte er ihr Gesicht.
Es war ein interessantes Gesicht, voll Mitgefühl, ja Güte, mit
melancholisch blickenden Augen, geschmackvollem Make-up und
geschmackvoller Frisur. Er war sich sicher, daß dieser ganze
Schlamassel sich in Wohlgefallen auflösen würde, sobald sie auch
nur einen eingehenden Blick auf Dana geworfen hatte: Sie würde
sofort sehen, daß die Frau, die vor ihr stand, keine
Scheckfälscherin war, keine Diebin, keine Gewalttäterin, die eine
tödliche Waffe eingesetzt hatte und untergetaucht war. Dana nicht.
Dana war schön und geschmeidig. Sie war Lehrerin. Sie hatte
keinerlei Vorstrafen. Sie war gehörlos. Und unschuldig, vollkommen
unschuldig. Richterin McIntyre würde das sehen. Jeder würde es
sehen.
Aber Dana kam nicht. Zunächst erschien ein
ganzer Trupp geschniegelter Anwälte in teuren Anzügen, die sich mit
der Richterin über diesen oder jenen Antrag in Sachen Soundso
berieten, und dann hatte der Spanisch-Dolmetscher die Bühne für
sich, und alle wurden ermahnt, sich das fünfzehn Minuten dauernde
Video anzusehen, in dem – zunächst auf spanisch, dann auf englisch
– die Rechte der Angeklagten erklärt wurden. Als der Film zu Ende
war, begann die Richterin die Prozeßliste abzuarbeiten. Die
Aufgerufenen traten vor, die Ehrenwerte Kathleen McIntyre verlas
die Anklagepunkte, setzte die Betroffenen davon in Kenntnis, was
der Staatsanwalt (breitschultrig, jung, mit einer Frisur wie aus
einem Modemagazin) in ihrem Fall empfahl, und fragte sie, ob sie
sich schuldig oder nichtschuldig bekannten. Die meisten, darunter
auch die männliche Hälfte des jungen Paars mit der Comicseite,
waren wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und/oder Trunkenheit
am Steuer angeklagt, und die Mehrzahl von ihnen bekannte sich
schuldig und kam mit der in Polizeigewahrsam abgesessenen Haft,
einer Geldstrafe und einer Spende an den Verein für Opferhilfe
davon. Es gab interessantere Fälle – den einer älteren Frau mit
wirrem Haar und starrem Blick, die wegen Fahrens mit einem
abgelaufenen Führerschein, Fahrerflucht und Nichterscheinens vor
Gericht angeklagt war, oder den eines mit rituellen Tätowierungen
versehenen jugendlichen Vergewaltigers, der angeklagt war, im
Gefängnis Drogen verkauft zu haben, und der Vorladung Folge
geleistet hatte, nur um sogleich verhaftet und in Handschellen
abgeführt zu werden –, doch die schwereren Fälle mußten bis nach
der Mittagspause warten. Bridger konnte es nicht glauben: Er hatte
den ganzen Vormittag hier herumgesessen, Radko würde ihm den Arsch
aufreißen – und wofür? Er hatte Dana seit der Nacht vor ihrer
Verhaftung nicht gesehen. Am liebsten hätte er mit einer Keule um
sich geschlagen, mit dem Hammer der Richterin, mit einem Brett aus
einer der Zuschauerbänke, bis nur noch Splitter übrig wären.
Dann kam der Nachmittag. Noch mehr
Rechtsanwälte, noch mehr Kriminelle, noch mehr Anklagen, noch mehr
unterwürfige Blicke, und je länger der Tag dauerte, desto
unwirscher und gereizter wurde Richterin McIntyre. Um Viertel nach
zwei schließlich wurde die Tür hinter der Geschworenenbank
geöffnet, und zwei lange Reihen von Gefangenen mit Fußfesseln und
orangeroten Overalls schlurften rasselnd herein und setzten sich,
nach Männern und Frauen getrennt. Bridger erhob sich halb und
blickte angestrengt in die Gesichter der Frauen, die in der Tür
erschienen. Als er endlich Dana zwischen einer hochgewachsenen
schwarzäugigen Frau mit wackelndem Kopf und zornigen Schultern und
einem Fettkloß von einem Mädchen mit geschorenem Kopf und einer
silbernen Niete in der rechten Augenbraue sah, erkannte er sie kaum
wieder. Sie ließ Schultern und Kopf hängen, ihr Haar war
ungewaschen und ungekämmt. Ihr Kinn schien mit irgend etwas
verschmiert zu sein.
Mit weiterhin gefesselten Füßen setzte sie
sich zu den anderen und hob nicht einmal den Blick, um die
Zuschauerreihen nach ihm abzusuchen. Er war starr vor Wut und
Entsetzen. Er mußte sich beherrschen, um nicht zu schreien, und
erkannte, wie heimtückisch das System – der gediegenen, von den
Spuren der Geschichte gezeichneten Täfelung zum Trotz –
funktionierte: Wenn man ein Wochenende im Gefängnis verbracht
hatte, sah man – so unschuldig man auch sein mochte – wie ein
Verbrecher aus, wie ein Schuldiger, ein Täter. Man war schmutzig
und gebrochen, und auch wenn man nicht schuldig im Sinne der
Anklage war, so war man doch schuldig, angeklagt zu sein,
teilnahmslos, hoffnungslos, schmutzig und isoliert. In diesem
Augenblick gelobte er, diese Sache nie, niemals auf sich beruhen zu
lassen, ganz gleich, wieviel Zeit vergehen mochte.
Als die Richterin ihren Namen aufrief,
erhob sich Dana und sagte mit zu lauter Stimme, die vom einen Ende
des Saals bis zum anderen ertönte, sie sei anwesend, und neben ihr
stand ihre Pflichtverteidigerin, eine etwa fünfzigjährige Frau in
Rock und Blazer und mit einem Gesicht, das Gerechtigkeit forderte,
und antwortete mit einem hohen Singsang im Ton einer Litanei. »Euer
Ehren«, begann sie, und es war eine Darbietung, die sie bei hundert
Gerichtsverhandlungen an Nachmittagen wie diesem eingeübt hatte,
»ich bin Marie Eustace vom Pflichtverteidigungsbüro und vertrete
Dana Halter, die hier neben mir in Gewahrsam ist, und ich beantrage
eine sofortige Überprüfung der Identität, da es sich offensichtlich
um eine Verwechslung handelt. Meine Mandantin ist Lehrerin hier in
San Roque, sie ist behindert und hat keinerlei Vorstrafen. Sie ist
irrtümlich verhaftet worden, Euer Ehren, und mußte das Wochenende
im Bezirksgefängnis verbringen, und ich bin sicher, wenn wir von
den Strafverfolgungsbehörden, die die Haftbefehle ausgestellt
haben, Faxe mit Fingerabdrücken und Fotos anfordern, wird sie noch
heute nachmittag wieder auf freiem Fuß sein.«
Jetzt sah Bridger die zweite Gestalt, die
in der Reihe vor Dana stand: einen wie aufgezogen wirkenden Mann,
der beinahe so klein wie Deet-Deet war und das Gesagte in
Gebärdensprache übersetzte. Seine Hände drehten und bewegten sich
in kleinen Gebärden, er drückte die Ellbogen an den Oberkörper und
wartete auf die Antwort der Richterin.
Bridger beobachtete die Ehrenwerte Kathleen
McIntyre. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah von der
Pflichtverteidigerin zum Dolmetscher und schließlich zu Dana, die
Stirn unter dem professionell getönten und gefönten, locker
fallenden Haar gerunzelt. »Nun gut, Frau Anwältin«, sagte sie und
stieß einen verärgerten Seufzer aus, »dann sehen Sie, was Sie
zutage fördern können, und wenn Sie irgend etwas Verwertbares
haben, machen wir weiter.«
Endlich fiel Danas Blick auf ihn – sie
entdeckte ihn, sie faßte ihn ins Auge, es war unverkennbar. Sie sah
ihn im Gerichtssaal sitzen, wo er tat, was er tun konnte – doch aus
ihrem Gesicht sprachen weder Liebe noch Dankbarkeit oder
Erleichterung. Sie sah ihm in die Augen, es war ein brennender,
bohrender Blick, und dann wandte sie sich ab.