ZWEI

Bridger arbeitete. Der Morgen war in Starbucks-Kaffee und der dämmrigen Unwirklichkeit des Studios ertrunken, und Bridger sah, hörte und atmete die virtuelle Welt auf dem Monitor. Der Frame war in einer Düsternis aus Mahagoni- und Kupfertönen erstarrt, und Bridger arbeitete an einem neuen Kopf. Sein Boß Radko Goric, ein achtunddreißigjähriger Unternehmer mit 200-Dollar-Designer-Sonnenbrillen, Pierro-Quarto-Jacketts in seltsamen Farben und klotzigen Vinylschuhen vom Wühltisch, hatte drei andere Special-Effects-Firmen unterboten, um den Auftrag für die Nachbearbeitung dieses Films zu bekommen, des letzten Teils einer Trilogie, die auf einem weit entfernten, lebensfeindlichen Planeten spielte, wo an Saurier erinnernde Kriegsherren um die Macht kämpften und menschliche Söldner einem uralten Kriegerethos gehorchten und wechselnde Bündnisse eingingen. Alles schön und gut. Bridger war ein Fan dieser Filme – die ersten beiden hatte er sechs- oder siebenmal gesehen und den Detailreichtum, das Tempo und den Flow der Special Effects bewundert –, und er war mit den besten Absichten, ja geradezu mit Euphorie in das Projekt eingestiegen. Aber der Boß (der darauf bestand, mit »Rad« angeredet zu werden und nicht mit »Radko«, »Mr. Goric« oder »Königliche Hoheit«) hatte ihnen im Hinblick auf die zeitlichen Vorgaben nicht einen Millimeter Spielraum gelassen. Die Premiere sollte in weniger als einem Monat sein, und Bridger und seine fünf Kollegen arbeiteten zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche.
Lange starrte er bloß auf den Bildschirm, das Kinn auf zwei bleiche Fäuste gestützt, deren Knochen sich für den Augenblick aufgelöst zu haben schienen. Die Welt war da, direkt vor ihm, viel unmittelbarer und wirklicher als sein Arbeitsplatz, diese Wände, diese Decke, dieser lackierte Betonboden, und er trat in sie ein, ließ sich treiben, träumte, schlief mit offenen Augen. Er war erledigt. Fix und fertig. Seine Finger waren steif, sein Hintern tat weh. Seit drei Tagen hatte er die Socken nicht gewechselt. Und jetzt zogen Streßkopfschmerzen auf wie die kackbraunen Wolken über Drex III, dem Planeten, den er mit Hilfe seiner Discreet-Software und der abgegriffenen Maus bearbeitet, schattiert und mit dem letzten Schliff versehen hatte. Kaffee half nicht mehr. Banjo war an der Reihe gewesen, in der Kaffeepause zu Starbucks zu gehen, und Bridger hatte sich einen Venti mit einem Schuß Espresso bestellt. Da stand der Becher, halb ausgetrunken, und trotzdem fühlte er sich bloß flau. Und schläfrig, müde, narkoleptisch. Wenn er doch nur den Kopf hinlegen könnte, bloß für eine Minute...
Aber er hatte eine Nachricht. Von Deet-Deet. Das Icon erschien in einer Ecke des Bildschirms, und als er es anklickte, war da das Bild eines Piraten mit Holzbein, der ein Entermesser schwenkte und mit dem überproportional großen Kopf von Radko versehen war. Der Text lautete: Har, har, har, ihr Drückeberger! Kein Nickerchen am Arbeitsplatz – wenn das Projekt am 30. nicht durch ist, geht ihr allesamt über die Planke!
So bewahrten sie sich davor, durchzudrehen. Es war mühselige Kleinarbeit, Paint-and-roto für fünfundzwanzig Dollar zweiundsiebzig die Stunde, brutto, und obwohl es Augenblicke künstlerischer Befriedigung gab – zum Beispiel wenn man die Drähte an den kleinen Gestalten wegretuschierte, die von irgendeiner außerirdischen Explosion in den schorfigen Himmel geschleudert wurden –, war es im Grunde ein Knochenjob. Bei dem neuen Kopf, an dem Bridger gestern den ganzen Tag und die Nacht hindurch bis zu diesem müdigkeitsgetränkten Morgen gearbeitet hatte, mußte er das dreidimensional fotografierte Gesicht des Actionhelden Kade (oder vielmehr The Kade, wie es jetzt auf den Vorankündigungen stand) über den weißen Helm eines Stuntmans legen, der auf einem futuristischen, von Klingen starrenden Chopper über die am Rand einer Klippe aufgebaute Rampe raste und in hohem Bogen über einen der Feuerseen und mitten ins Lager der Feinde sprang, wo er einen unbeholfenen Echsenkrieger nach dem anderen zerhackte, aufschlitzte und ins Gesicht trat. Es war nicht ganz der Ort, wo Bridger sechs Jahre nach seinem Abschluß an der Filmhochschule hatte sein wollen – er hatte mehr an eine Karriere wie die von Fincher oder Spielberg gedacht –, aber es ernährte seinen Mann. Und zwar recht gut. Außerdem arbeitete er in der Filmindustrie.
Jetzt legte er Kades Kopf über den von Radko – er ließ ihn zwinkern, grinsen, eine Grimasse schneiden (das Gesicht, das Kade machte, als das Motorrad mit einem kreuzbeinstauchenden Rums mitten unter den der Echsenkriegern aufsetzte) und schließlich noch einmal zwinkern – und tippte seine Antwort: Versenk das Schiff und bring mir Kaffee. Mein Königreich für einen Becher Kaffee, noch einen, bitte. Er setzte ein PS hinzu, sein Lieblingszitat aus Miss Lonelyhearts, das er zum Einsatz brachte, wann immer es zu passen schien: Wie ein Toter konnte er nur durch Reibung erwärmt und nur durch Kraftanstrengung bewegt werden.
Dann meldete sich, aus der räumlichen Distanz bis zur übernächsten Nische und den weglosen Weiten des Cyberspace, Plum zu Wort, und dann gaben Lumpen, Pixel und Banjo ihren Senf dazu, und alle waren wieder wach, und der neue Tag, der nicht anders war als der gestrige oder vorgestrige, nahm seinen Lauf.
Er retuschierte die überstehenden weißen Flächen rings um Kades Kopf und begann gerade, sich Gedanken über das Frühstück (Bagel mit Frischkäse) oder vielleicht das Mittagessen (Bagel mit Frischkäse, Lachs, Sprossen und Senf) zu machen, als sein Handy vibrierte. Radko wollte während der Arbeitszeit keine Klingeltöne oder Melodien hören, denn seine Angestellten sollten nicht durch persönliche Telefonate abgelenkt werden, ebensowenig wie sie im Internet surfen, Chatrooms besuchen und auf Instant Messengern eingeloggt sein sollten, und darum hatte Bridger den Summer seines Handys aktiviert, das er immer in die rechte Hosentasche steckte, damit er das eigenartige Schnurren gleich spürte und den Anruf diskret annehmen konnte. »Hallo?« sagte er und hielt seine Stimme im Bereich eines Bühnenflüsterns.
»Ja, hallo. Hier ist die Polizei von San Roque, Charles Iverson. Ich bin Gehörlosendolmetscher und habe Dana Halter hier.«
»Polizei? Was ist passiert? Hatte sie einen Unfall?«
»Hier ist Dana«, sagte die Stimme, als gehörte sie einem Medium, durch das ein Geist sprach. »Du mußt herkommen und eine Kaution stellen.«
»Warum? Was hast du gemacht?«
»Ich weiß nicht«, sagte die Stimme, die Männerstimme. Sie war tief und rasselnd wie eine Handvoll Kies. »Ich hab ein Stoppschild überfahren, und jetzt denken sie, daß ich –«
Pause. Vom Bildschirm starrte Kade ihn an – die linke Seite seines Kopfes war noch von dem weißen Heiligenschein eingerahmt. Das kümmerliche Neonlicht wurde kurz heller und dann wieder schwächer, irgendwo flackerte immer eine Röhre. Plum, die einzige Frau unter ihnen, stand auf und ging in Richtung Toilette.
Iversons Stimme fuhr fort: »– sie denken, daß ich all diese Verbrechen begangen habe, aber« – wieder eine Pause – »das hab ich nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte er und stellte sich Dana in einer Polizeiwache vor, das Gesicht vom Telefonapparat abgewandt, während der Mann mit der Stimme Gebärden machte, im Hintergrund Fahndungsfotos und Steckbriefe. Alles an diesem Bild war falsch. »Ich dachte, du wolltest zum Zahnarzt«, sagte er. Und dann: »Verbrechen? Was für Verbrechen?«
»Ich war ja unterwegs zum Zahnarzt«, sagte Iverson. »Aber ich hab ein Stoppschild überfahren, und der Polizist hat mich verhaftet.« Da war noch mehr – Bridger konnte Danas Stimme im Hintergrund hören –, aber Iverson gab ihm die Kurzfassung. Ohne weitere Erklärung las er die Anklageliste vor, als wäre er ein Kellner, der die Tageskarte herunterbetete.
»Aber das ist doch verrückt«, sagte Bridger. »Du hast doch nie... Ich meine, sie hat doch nie im Leben –«
»Die Zeit ist um«, sagte Iverson.
»Okay, ich bin gleich da. In zehn Minuten, vielleicht früher.« Bridger sah auf, als Plum sich wieder auf ihren Stuhl setzte, und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wie hoch ist die Kaution? Ich meine, was kostet es?«
»Was? Sprechen Sie lauter. Ich kann Sie nicht verstehen.«
Radko erschien am Ende des Gangs, und Bridger beugte sich weiter vor, um das Handy abzuschirmen. »Die Kaution – wie hoch?«
»Die ist noch nicht festgesetzt worden.«
»Gut«, sagte Bridger. »Okay. Bin gleich da. Ich liebe dich.«
Wieder eine Pause. »Ich dich auch«, sagte Iverson.
Er war noch nie in der Polizeiwache von San Roque gewesen und mußte die Adresse erst im Telefonbuch nachschlagen, und als er in die Straße einbog, stellte er überrascht fest, daß auf beiden Seiten Streifenwagen geparkt waren, einer hinter dem anderen. Es dauerte eine Weile, bis er einen Parkplatz gefunden hatte. Er mußte einige Runden um den ganzen Block drehen, bis endlich einer wegfuhr, und dann setzte er gewissenhaft den Blinker und parkte mit großer Sorgfalt zwischen zwei schwarz-weißen Polizeiwagen. Er war aufgeregt. Er war in Eile. Aber dies war weder die Zeit noch der Ort für einen verbeulten Kotflügel oder auch nur einen Stups mit der Stoßstange.
Eine aufgeschwemmte, schnaufende Frau, um deren Augen Ringe aus getrocknetem Blut waren – oder war das ihr Make-up? – stapfte vor ihm die Treppe hinauf, und er war geistesgegenwärtig genug, ihr die Tür aufzuhalten, was ihm Gelegenheit gab, sich kurz zu sammeln. Seine Kontakte zur Polizei waren bisher durchweg formaler Natur gewesen (»Okay, aussteigen!«), und er war genau zweimal festgenommen worden, einmal mit vierzehn, wegen Ladendiebstahls, und einmal als Collegestudent, weil er betrunken gefahren war. Rein theoretisch war ihm klar, daß die Polizei die Gesellschaft (also auch ihn) zu schützen und ihr zu dienen hatte, aber dennoch war er jedesmal, wenn er einen Polizisten sah, plötzlich beunruhigt und verspürte ein gewisses Schuldgefühl. Selbst Wachmänner waren ihm nicht geheuer. Aber egal: Er trat hinter der aufgeschwemmten Frau durch die Tür.
Drinnen trennte ein taillenhoher Tresen den für die Öffentlichkeit zugänglichen Raum (die Fahnen Kaliforniens und der USA, grelles Deckenlicht und Linoleum, das glänzte, als wollte es dem Straßenschmutz und den Ausscheidungen trotzen, mit denen es täglich in Berührung kam) vom Allerheiligsten, wo die Streifen- und Kriminalbeamten ihre Tische hatten, und dem unauffälligen Korridor, der vermutlich zu den Arrestzellen führte. Wo Dana war. Als er an den Tresen trat, spähte er dorthin, als könnte er einen Blick auf sie erhaschen, aber das konnte er natürlich nicht. Sie steckte bereits in irgendeiner Zelle, zusammen mit Prostituierten, Säuferinnen und Frauen, die gewalttätig geworden waren, und bei dem Gedanken daran überlief es Bridger kalt. Sie würden über sie herfallen. Sie war ja nicht hilflos – er kannte keine selbständigere Frau –, aber sie war naiv, zu mitfühlend, und sobald die herausgefunden hatten, daß sie taub war, hatten sie etwas, womit sie sie fertigmachen konnten. Er dachte daran, wie Penner sich an sie hängten, wann immer er mit ihr irgendwohin ging: als wäre Dana ihre Sonderbotschafterin, als stünde sie aufgrund ihrer Behinderung – halt, ihrer Andersartigkeit – auf dem Niveau einer Obdachlosen. Oder auf einem noch niedrigeren.
Aber das hier war ein Mißverständnis. Offensichtlich. Und ganz egal, was sie haben wollten – er würde sie hier rausholen, bevor die ihre Krallen in sie schlagen konnten. Er wartete hinter der dicken Frau und sah reflexhaft alle paar Sekunden auf die Uhr. Zehn nach elf. Elf nach elf. Zwölf nach elf. Die dicke Frau beklagte sich über den Hund ihres Nachbarn: Sie könne nicht schlafen, nicht essen, nicht denken, weil der Köter ununterbrochen belle, und sie habe bereits zweiundzwanzigmal die Polizei angerufen, dieses Revier, und zum Beweis die Telefonrechnungen der letzten fünfzehn Monate mitgebracht. Was gedenke man nun zu unternehmen? Oder müsse sie hier stehenbleiben, bis sie tot umfalle? Denn das werde sie tun. Einfach hier stehenbleiben.
Radko war nicht erbaut, als Bridger es ihm sagte. »Es ist wegen Dana«, erklärte Bridger, als er ihn auf dem Weg zum Kühlschrank abfing. Er klopfte bereits seine Taschen nach dem Wagenschlüssel ab. »Sie ist verhaftet worden. Es ist ein Notfall.«
Das Licht flackerte und wurde schwächer. Drex III leuchtete bedrohlich auf dem Bildschirm – noch siebenundzwanzig Tage, bis der Planet seinen Platz unter den anderen Himmelskörpern einnehmen mußte. Radko trat einen Schritt zurück und kniff die Augen mit den schweren Lidern zusammen. »Nottfall?« wiederholte er. »Wieso Nottfall? Werden jeden Tag Menschen in Gefängnis gesteckt.«
»Nein«, sagte Bridger, »du hast mich falsch verstanden. Sie hat nichts getan. Es ist ein Irrtum. Ich muß... also, ich weiß, das klingt blöd, aber ich muß hinfahren und sie rausholen. Sofort.«
Schweigen. Radko preßte die Lippen zusammen und bedachte ihn mit einem Blick, dem Pixel, einer unvermittelten Inspiration folgend, den Titel »Paranoia überfällt Frosch« gegeben hatte.
»Ich meine, ich kann sie doch nicht da drin lassen. In einem Gefängnis. Würdest du gern in einem Gefängnis sitzen?«
Falsche Frage. »In meinem Land«, erwiderte Radko, »die Menschen werden geboren im Gefängnis, kriegen Kinder im Gefängnis, sterben im Gefängnis.«
»Und ist das gut?« wollte Bridger wissen. »Bist du nicht darum hergekommen?«
Doch Radko drehte sich einfach um und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Pah!« war alles, was er dazu sagte.
»Ich gehe jedenfalls«, sagte Bridger und sah, daß Plum sich weit zurücklehnte, um das Spektakel besser verfolgen zu können. »Nur damit du Bescheid weißt – ich muß einfach.«
Radkos eine Hand ruhte auf dem Griff der Kühlschranktür, die andere beschrieb einen raschen Bogen und zeigte mit einem mahnenden Finger auf Bridger. »Eine Stunde«, knurrte er mit tiefer Stimme. »Maximal. Nur damit du Bescheid weißt.«
Der wachhabende Beamte – beginnende Glatze, ergraute Koteletten, milchige, verärgerte Augen, Lesebrille auf der Nasenspitze – versuchte, die Frau mit sanften Worten zu beschwichtigen, aber sie war nicht gekommen, um sich beschwichtigen zu lassen. Nein, sie wollte, daß etwas geschah. Je sanfter der Beamte sprach, desto lauter wurde die Stimme der Frau, bis er sich schließlich abwandte und jemanden herbeiwinkte. Wenige Sekunden später stand ein wesentlich jüngerer Beamter – ein gertenschlanker Latino in einer wie maßgeschneidert wirkenden Uniform – an dem Durchgang mit der Schwingtür, der zum Bürobereich führte. »Das ist Officer Torres«, sagte der wachhabende Beamte. »Er wird Ihnen helfen. Er ist unser Hundeexperte. Stimmt’s, Torres?«
Der andere verzog keine Miene. »Genau«, sagte er, »das stimmt. Ich bin der Hundeexperte.«
Der wachhabende Beamte wandte sich zu Bridger. »Ja?« sagte er.
Bridger trat in seinen Nikes von einem Fuß auf den anderen, richtete den Blick auf einen Punkt knapp links vom Kopf des Polizisten und sagte: »Ich komme wegen Dana, Dana Halter.«
Zwei Stunden später wartete er noch immer. Es war Freitag, inzwischen Freitag nachmittag, und die Dinge kamen nicht in Gang. Man schlingerte gemütlich auf das Wochenende und die durchgeknallte Parade von Betrunkenen und Streitlustigen zu, die nur kommen und schön auf den Putz hauen sollten – das war diesen Männern und Frauen mit den teigigen Gesichtern vollkommen gleichgültig, diesen Schreibtischhengsten und Bürokraten, diesen Schlafwandlern mit dem abwesenden Blick. Sie würden um fünf nach Hause fahren und die Beine hochlegen, und bis dahin würden sie zu Aktenschränken schlurfen und mit zwei Fingern auf Computertastaturen tippen, und das alles in einer Zone, wo niemand, schon gar nicht Bridger, sie erreichen konnte. Es war ihm gelungen, dem Beamten mit den grauen Koteletten ein paar wertvolle Informationen zu entlocken. Ja, man hatte sie eingeliefert. Nein, eine Kaution war noch nicht festgesetzt. Nein, er konnte sie nicht sehen. Nein, er konnte auch nicht mit ihr sprechen. Und danach hatte Bridger sich auf eine Bank am Eingang gesetzt. Er hatte nichts zu lesen, er konnte nur warten.
Außer ihm warteten noch vier andere: ein sehr alter Mann, der in einem dicken Anzug so kerzengerade dasaß, daß sein Jackett die Sitzfläche nicht berührte; eine arabisch wirkende Frau unbestimmten Alters, die einen Kaftan oder eine Art religiöses Festgewand trug, und neben ihr ein unablässig die Beine schlenkernder Junge, ihr Sohn, der ungefähr fünf war, auch wenn Bridger sich mit Kindern nicht gut auskannte und merkte, daß er in Hinblick auf das Alter des Jungen immer unsicherer wurde, je öfter er ihn ansah – eigentlich hätte er ebensogut drei oder zwölf Jahre alt sein können; schließlich, am weitesten entfernt von Bridger, eine junge Frau um die Zwanzig, deren Gesicht und Figur nicht sonderlich attraktiv waren, die jedoch nach zwei Stunden verstohlenen Beobachtens langsam einen gewissen Reiz bekam. Etwa hundert Leute waren in diesem Zeitraum gekommen und gegangen. Die meisten hatten leise und ehrerbietig mit dem wachhabenden Beamten gesprochen und waren unter Verbeugungen wieder verschwunden. Die dicke Frau war längst in ihre Bellzone zurückgekehrt.
Bridger langweilte sich gründlich. Er konnte ohnehin nicht gut stillsitzen, es sei denn, er war in ein Computerspiel vertieft oder in die giftgashaltige Atmosphäre von Drex III oder irgendein anderes digitales Szenario eingetaucht, und er ertappte sich dabei, daß er beinahe soviel herumzappelte wie der Junge (der mit den Beinen schlenkerte, als wäre die Bank eine übergroße Schaukel, auf der er sie alle immer höher hinauf- und aus diesem Ort des Stumpfsinns hinausschaukeln wollte). Minutenlang starrte Bridger vor sich hin und dachte an nichts, aber dann tauchten seine Ängste um Dana wieder auf, und er sah ihr Gesicht vor sich, die süße Verwirrung um ihren Mund oder die Art, wie sie die Brauen zusammenzog, wenn sie eine Frage stellte – Wieviel Uhr ist es? Wo, hast du gesagt, ist die Omelettpfanne? Wie viele Schnapsgläser Triple Sec? –, und sein Magen zog sich vor Sorge zusammen. Und vor Hunger. Ihm fiel ein, daß er weder den Frühstücks- noch den Mittagsbagel gegessen hatte – er hatte nichts im Magen außer Starbucks, und er spürte die Säure in die Kehle steigen. Was war eigentlich los mit diesen Leuten? Konnten sie nicht mal eine einfache Frage beantworten? Ein Formular ausfüllen? Eine Information zügig weitergeben?
Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben, auch wenn es ihm schwerfiel angesichts der Tatsache, daß er Radko bereits sechsmal angerufen hatte und dieser zunehmend ungeduldig geworden war. »Ich arbeite bis Mitternacht«, hatte Bridger versprochen, »ich schwöre es.« Radkos Stimme, kiellastig und voller knüppelnder Konsonanten, hatte die Bedeutung seiner Worte mit kleinen Explosionen transportiert. »Ich hoffe«, hatte er gesagt. »Bestimmt. Aber ganze Nacht, nicht bloß Mitternacht.« Sei nicht egoistisch, rief Bridger sich zur Ordnung. Denk an Dana, denk daran, was sie durchmacht. Er schob das Bild beiseite: Dana in einer Zelle mit einem halben Dutzend fremder Frauen, die sie verspotteten, irgend etwas von ihr wollten, sie angriffen. In einer solchen Situation war Dana praktisch wehrlos – das seltsame, flache, tonlose Flattern ihrer Stimme, das er so liebenswert fand, würde auf die anderen, diese wütenden, harten Frauen, nur provozierend wirken. Das Ganze war ein Irrtum. Es konnte nur ein Irrtum sein.
Er starrte ins Leere. Der wachhabende Beamte hinter dem Tresen, die Leidgenossen in diesem Fegefeuer, die trostlosen Wände und der schimmernde Boden verschwammen, und er dachte daran, wie er Dana vor etwas über einem Jahr zum ersten Mal gesehen hatte. In einem Club. Er war nach der Arbeit mit Deet-Deet ausgegangen, sie waren beide ziemlich fertig gewesen und hatten, trotz der Augentropfen, zwinkernde, geschwollene Augen, weil sie von zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends ununterbrochen auf ihren Bildschirm gestarrt hatten. Zuerst aßen sie Sushis und kippten sich ein paar Schalen kalten Sake hinter die Binde, und weil sie unbedingt etwas Entspannendes tun mußten, beschlossen sie, eine Runde durch die Clubs zu drehen und zu sehen, was sich ergab – dabei war es erst Montag, und vor ihnen lag die ganze trostlose Woche wie eine Szenerie aus Dune – Der Wüstenplanet. Deet-Deet hatte sich gerade von seiner Freundin getrennt, und Bridger war ebenfalls ungebunden (seit drei fruchtlosen Monaten), und daher schien das, vor allem nach den Sakes, ein guter Plan zu sein.
Sie warteten in der Schlange vor dem Doge, es war halb elf, der Nebel schob sich vom Meer heran, wälzte sich durch die Straßen und ließ den Asphalt im Scheinwerferlicht der dahinkriechenden Wagen schimmern, als Deet-Deet seinen Monolog über die Fehler und Unmäßigkeiten seiner Exfreundin unterbrach, um sich eine Zigarette anzuzünden, und Bridger die Gelegenheit nutzte und sich umblickte, um ihre Chancen abzuschätzen. Dieser Club hatte Fenster zur Straße, und das Pulsieren der Musik und das zuckende Blitzen des Stroboskoplichts drangen hinaus, so daß man einen Eindruck bekam und entscheiden konnte, ob es die fünf Dollar Eintritt lohnte. Es war das übliche Gewurle von Menschen, die unter der Wucht der Musik (oder jedenfalls der Baßläufe, denn die waren so ziemlich das einzige, was man hören konnte) auf und ab wogten. Glieder wurden ausgestreckt und angezogen, Köpfe wurden vom Zucken des Stroboskops abgeschlagen und im nächsten Augenblick wieder aufgesetzt, Knie wurden gehoben, Hintern aneinandergestoßen – es war das gleiche Szenario wie gestern, wie morgen und übermorgen. Bridgers Augen brannten. Der Sake setzte ihm zu. Er wollte Deet-Deet gerade sagen, er habe sich die Sache mit dem Club anders überlegt, er bekomme jetzt schon Kopfschmerzen, und außerdem sei es erst Montag, und sie müßten morgen früh um zehn wieder die Drähte in dem endlosen Kung-Fu-Film retuschieren, den sie seit drei Wochen bearbeiteten, als er Dana sah.
Sie stand am Rand der Tanzfläche, gleich neben einer mannshohen Box, stampfte im Baßrhythmus mit den Füßen – den nackten Füßen – und bewegte die Ellbogen, als machte sie Aerobic-Übungen, als stünde sie auf einem Stepper. Vielleicht war sie im Geist auch bei irgendeinem Volkstanz – jupidu, schwing deinen Partner im Kreis. Sie hatte die Augen fest geschlossen, die Knie zuckten, die Füße hoben und senkten sich. Rotes Scheinwerferlicht fiel auf ihr Haar und setzte es in Brand.
»Tja, was meinst du – irgendwas Interessantes?« fragte Deet-Deet. Er war fünfundzwanzig, eins sechsundsechzig groß und favorisierte den Gothic Style, auf den die meisten in der Special-Effects-Branche setzten. In Wirklichkeit hieß er Ian Fleischer, doch bei Digital Dynasty wurden alle nur mit ihren Webnamen angeredet, ob sie wollten oder nicht. Bridger war unter dem Namen »Sharper« bekannt, weil er damals, als er noch ein Staubwischer gewesen war, als er noch mit Hingabe und Sorgfalt zu Werk gegangen war und seine Arbeit aufregend gefunden hatte, immer zu den Computerfuzzis gerannt war und sie um schärfere 3-D-Bilder gebeten hatte. »Weil ich nämlich noch nicht weiß, ob ich lange aufbleiben will«, schob Deet-Deet als Erklärung nach, »und ich glaube, dieser Sake haut ganz schön rein. Was trinkt man denn überhaupt auf Sake? Bier, oder? Ab jetzt nur noch Bier?«
Bridger hörte nicht zu. Er gestattete den Lichtern, etwas in ihm auszulösen, er ließ die Musik in sich einsickern und seine Stimmung verändern. Die Schlange rückte vor – zwischen ihm und dem Türsteher waren noch etwa zehn Leute. Jetzt konnte er diese Frau aus einer neuen Perspektive betrachten – da stand sie am Rand der Tanzfläche und kämpfte heldenhaft gegen die Musik. Hoch mit den Knien, runter mit den Fäusten, raus mit den Ellbogen. Ihre Bewegungen waren weder ruckartig oder spastisch noch aus dem Takt – jedenfalls nicht ganz. Es war, als hörte sie einen tieferen Rhythmus, einen Gegenrhythmus, ein unter der Oberfläche der Musik verborgenes Muster, dessen sich niemand sonst bewußt war – weder die anderen Tänzer noch der DJ oder die Musiker, die diese Stücke im Studio eingespielt hatten. Es faszinierte ihn. Sie faszinierte ihn.
»Sharper? Bist du noch da?« Deet-Deet sah zu ihm auf wie ein Kind, das sich auf dem Jahrmarkt verlaufen hat. »Ich hab gerade gesagt, daß ich nicht weiß, ob ich... Siehst du da drin irgendwas Lohnendes?« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, die Musik erstarb plötzlich und formierte sich dann um den Baßlauf des nächsten Stücks. »Die da? Die hast du im Auge?«
Sie waren jetzt beinahe an der Tür. Hinter ihnen standen fünfundzwanzig oder dreißig andere, die reinwollten, und der Nebel schlug sich überall nieder: auf den Straßenlaternen, den Palmen, den Haaren der Leute.
Deet-Deet machte einen letzten Versuch. »Willst du rein? Meinst du, die fünf Dollar lohnen sich?«
Bridger reagierte nicht gleich, denn er war abgelenkt – oder nein, er war gebannt. Er hatte bisher zwei bedeutsamere Beziehungen gehabt: eine auf dem College und dann die mit Melissa, die vor drei Monaten ihr Ende gefunden hatte, mit dem Krachen eines Baums, der im Wald umfällt, wo keiner da ist, der es hören könnte. Etwas zog ihn, eine Kraft, eine Intuition, die über der abgeschürften Ebene seines Bewußtseins leuchtete wie das Blitzen des Stroboskoplichts. »Klar«, sagte er, »ich geh da rein.«
Als er jetzt aus dem Nebel der Erinnerung auftauchte und feststellte, daß die Frau mit dem Kind verschwunden und der Polizist mit den weißen Koteletten durch eine Frau mit möglicherweise mitfühlenden Augen ersetzt worden war, erhob er sich. Wie spät war es? Nach vier. Radko würde einen Anfall kriegen. Er hatte bereits einen Anfall gekriegt. Er hatte in diesem Augenblick den nächsten. Bridger hatte einen ganzen Nachmittag nicht gearbeitet, gerade jetzt, wo man ihn am dringendsten brauchte – und was hatte er erreicht, abgesehen von einem hübschen Nickerchen auf einer von vielen Hintern polierten Bank in der Polizeiwache von San Roque? Nichts. Überhaupt nichts. Dana war noch immer eingesperrt, irgendwo dort hinten, und er selbst hatte noch immer keine Ahnung, um was es ging. Er spürte den Ärger in sich aufsteigen, einen Stachel der Wut, die er kaum bezähmen konnte, und um sich zu beruhigen, schlenderte er zu einem Ständer voller Merkblätter – Wie Sie sich auf der Straße schützen können; Wie Sie Ihr Heim einbruchsicher machen können; Was ist Identitätsdiebstahl? – und tat, als nähme er diese wertvollen Informationen in sich auf.
Er blieb einen Moment dort stehen und drehte sich dann wie zufällig zum Tresen um. »Hallo«, sagte er, und die Frau sah von dem Formular auf, das sie gerade ausfüllte. »Mein Name ist Bridger Martin, und ich warte hier schon seit kurz nach elf – heute morgen, meine ich. Vielleicht könnten Sie mir helfen...«
Sie sagte nichts. Wozu auch? Er hatte ein Anliegen, er war ein Bittsteller, ein Wesen voller Wünsche und Bedürfnisse und Forderungen, nicht anders als Tausende vor ihm, und er würde es irgendwann von allein einsehen, das wußte sie. Diese Tatsache schien sie zu langweilen. Der Tresen und die Computer und die Wände und der Boden und das Licht langweilten sie ebenfalls. Bridger langweilte sie. Ihre Kollegen. Ihre Schuhe, ihre Uniform – alles langweilte sie, alles war eine eintönige, ritualisierte Mühsal ohne Anfang oder Ende. Das verrieten ihm ihre Augen, die aus der Nähe nicht annähernd so mitfühlend aussahen, wie er gedacht hatte. Und ihre Lippen... ihre Lippen waren fest zusammengepreßt, als kämpfte sie gegen ein nervöses Zucken an.
»Es geht um meine... meine Freundin. Sie ist festgenommen worden, und wir wissen nicht, warum eigentlich. Ich hab mir den ganzen Nachmittag freigenommen, um herzukommen und« – es war der reinste Filmdialog, und die Worte klebten ihm am Gaumen – »sie auf Kaution rauszuholen, aber keiner kann mir sagen, wie hoch die Kaution ist und was ihr überhaupt vorgeworfen wird.« Er ließ es wie eine Frage klingen, wie ein Bittgesuch.
Sie überraschte ihn. Ihr Mund entspannte sich. Die Menschlichkeit – das Mitgefühl – kehrte in ihre Augen zurück. Sie würde ihm helfen. Sie würde ihm also doch helfen. »Name?« sagte sie.
»Dana«, antwortete er. »Dana Halter. H-a-l-t-e-r.«
Noch während er überflüssigerweise den Namen buchstabierte, tippte sie ihn bereits ein. Bridger beobachtete ihr Gesicht, als sie auf den Bildschirm sah. Für eine Frau in mittleren Jahren war sie jetzt, da sie ihre Lippen nicht mehr so zusammenkniff, hübsch oder wenigstens beinahe hübsch. Er wollte, daß sie sich erbarmte, daß sie ihm half, ihn bemutterte und an der Hand nahm – sie war eine Schönheit, im Strahlenkranz der Wahrheit führte sie das Schwert der Gerechtigkeit. Jedenfalls während der wenigen Sekunden, die es dauerte, bis die Information auf dem Bildschirm war. Sogleich erlosch alles Leben in ihr, und sie war wieder alles andere als hübsch. Ihre Augen wurden hart, und der Mund war klein und verbittert. »Wir wissen noch nicht genau, was wir hier haben«, sagte sie knapp. »Es kommt erst nach und nach rein. Und wegen der Sache in Nevada wird sich wohl das FBI einschalten.«
»Der Sache in Nevada?«
»Überschreitung der Staatsgrenzen zum Zweck eines Verbrechens. Scheckfälschung.«
»Scheckfälschung?« wiederholte er ungläubig. »Aber sie ist doch nie in –« begann er und besann sich eines Besseren. »Hören Sie«, sagte er, »helfen Sie mir bitte. Ich verstehe das nicht ganz – es ist offenbar ein Irrtum, eine Verwechslung oder irgendwas in der Art. Ich muß jetzt bloß wissen, wann ich sie auf Kaution rausholen kann und wo ich die Kaution stellen soll.«
In ihren Mundwinkeln zuckte die zarte Andeutung eines amüsierten Lächelns. »Aus mindestens zwei Countys haben wir Haftbefehle mit Kautionsausschluß, weil sie trotz Kaution abgehauen ist, und das heißt, daß sich vor Montag wohl nichts ergeben wird.«
»Montag?« sagte er. Seine Stimme quietschte beinahe, er konnte nichts dagegen tun.
Eine Sekunde. Zwei. Dann bewegten sich ihre Lippen wieder: »Frühestens.«