12
Achtundvierzig Stunden später – sie hatten sich in einer Stadt namens Bunkerville mit Schinken und Eiern gestärkt – fuhren sie in die Mojave-Wüste. Harold hatte zwei Wasserkanister mitgenommen, einen, falls der Motor heiß lief, und den anderen, damit sie nicht verdursteten. Rose fand die Fahrt enttäuschend, sie hatte den Film vor Augen gehabt, in dem Lawrence von Arabien mit Sandstürmen kämpft. Es gab zu viele Büsche, zu viele Baumgruppen; zweimal sah sie einen Fuchs in der Erde buddeln.
Sie kamen durch eine von Harolds Geisterstädten. Auf der sonnenverbrannten Hauptstraße patrouillierte eine Menschenmenge in Cowboyhüten auf der Suche nach der Vergangenheit. Das seien alles Touristen, sagte er, möglicherweise seien einige von ihnen hier geboren. Vor einem Haus lag ein alter Planwagen umgekippt auf der schmutzigen Straße, bei einem anderen hing ein mürbes Hemd an einer Wäscheleine, die an der eingestürzten Veranda befestigt war. Harold sagte, man habe es den Touristen zuliebe aufgehängt. In jenen verzweifelten Zeiten hätte niemand leichtfertig ein Kleidungsstück zurückgelassen.
Rose bat um etwas zu trinken – es war sehr heiß, und sie schwitzte –, aber Harold sagte, sie solle noch warten, er habe eine Art Ventilator, der ihnen Luft zufächle. Es wurde eine Spur kühler, aber die weite, flache Landschaft verstärkte ihr Trinkbedürfnis. »Ich könnte doch sterben«, sagte sie. Er lachte; er wusste nicht, dass Sand sie verstörte. Im Radio kam ein Interview mit einem Mann, der dabei gewesen war, als Robert Kennedy vor einem Jahr im Kongress eine Rede über Vietnam gehalten hatte. Krieg, hatte Kennedy gebrüllt, ist der leere Augenblick verblüfften Schreckens, wenn eine Mutter mit ihrem Kind den Feuertod aus einer unwahrscheinlichen Maschine fallen sieht, gesandt von einem Land, von dem sie fast nichts weiß.
»Was für ein komplizierter Satz«, sagte Rose. Harold sagte, sie solle still sein.
Wer sind wir, dass wir die Rolle des Racheengels spielen?, fragte die Stimme im Radio.
Nach weiteren zwei schweißtreibenden Stunden hielt Harold vor einem Gasthaus und weigerte sich weiterzufahren. Er nahm getrennte Zimmer. Sie aßen in einem voll besetzten Speiseraum zu Abend, schicker als sonst, mit großen Fotos von altmodisch gewandeten, ernst blickenden Männern an den Wänden. Gegenüber von Rose hing ein Porträt von Roosevelt. Am Nachbartisch saß ein älteres Paar; der Mann hatte sich eine Papierserviette unters Kinn geschoben und hatte schon einen tiefroten Ketchupklecks auf der Brust. Die Frau summte ziemlich laut irgendeine Melodie – wenn sie sich nicht Essen in den Mund stopfte.
»Dein Haar ist nass«, sagte Harold. Er klang streng. Rose gab zu, dass sie geduscht hatte. »Ich hasse es, aber ich habe geschwitzt wie ein Schwein.« Er starrte sie an, und seine Miene war schwer zu deuten.
»Was machst du«, fragte sie und versuchte zuversichtlich zu klingen, »wenn wir Dr. Wheeler gefunden haben? Bleibst du in Los Angeles und fährst dann den ganzen Weg alleine zurück?«
»Ich bin mir noch nicht sicher …«
»Ich weiß, dass er dir das Geld gibt, das ich dir schulde«, beruhigte sie ihn.
»Natürlich«, sagte er. »Auf Wheeler war immer Verlass.«
Ihr lag daran, ihm noch einmal zu sagen, wie dankbar sie für seine Hilfe war, dass sie es zu schätzen wusste, wie großzügig er sein Geld hinblätterte. »Es ist nicht so leicht, mit mir auszukommen«, räumte sie ein. »Das hat mit meiner Herkunft zu tun. Ich weiß, du hättest auch erwarten können, dass wir … du weißt schon … Sex haben … Die meisten Leute hätten unter diesen Umständen … aber …«
»Sprich leiser«, ermahnte er sie. »Du wünschst dir, dass es zu Ende ist«, murmelte er, »und ich auch.«
Sie wusste nicht, von welchem Ende er redete, und es war ihr auch egal. Innerlich ging sie auf eine Gestalt in einem Trilbyhut zu.
Finger krallten sich um ihren Ellbogen. »Ich konnte es nicht verhindern«, entschuldigte sich die summende Frau, »mir ist aufgefallen, dass Sie einen englischen Akzent haben. Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästige, aber mein Mann und ich fahren nächste Woche nach London. Es gibt da einiges, was wir gern wissen würden, wenn Sie etwas Zeit für uns hätten.«
Harold wollte nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Zweimal versuchte die Frau, ihn einzubeziehen, doch er antwortete nicht. Er und der Mann mit der schmutzigen Serviette konzentrierten sich auf ihren Teller.
Die Frau sagte, sie heiße Mrs Weiner; sie sei Theosophin und glaube an die Wiedergeburt. Außerdem könne sie wahrsagen, handlesen und Karten legen, ja eigentlich jedem persönlichen Gegenstand Informationen über die Vergangenheit oder Zukunft seines Besitzers entlocken. In letzterem Fall genüge schon ein Knopf. Die Verbindung zu einem Verstorbenen lasse sich am zuverlässigsten durch Kopfkissenfedern herstellen, denn die hätten etwas mit Fliegen zu tun, und Fliegen habe etwas Vagabundierendes, Vergeistigtes.
»Wie interessant«, sagte Rose. Ihre Hand steckte in der Tasche ihres Regenmantels, und ihr Daumen strich glättend über das Foto von Dr. Wheeler.
»Die Theosophie wird gar nicht so selten praktiziert, wie Sie vielleicht denken«, versicherte Mrs Weiner. »Sie wurde in Amerika begründet, aber jetzt ist sie eine weltweite, auch in Ihrem Land starke Bewegung. Ich soll in zwei Wochen eine Konferenz in London besuchen, in St. John’s Wood. Liegt das auf dem Land? Brauche ich da einen Sonnenhut, ein Mückenspray?«
»Wohl kaum«, sagte Rose.
»Wir treffen uns in einem Haus, in dem einmal Madame Blavatsky gewohnt hat. Haben Sie von der schon gehört?«
Rose schüttelte den Kopf.
»Alles wird bezahlt«, sagte die Frau, »Flugtickets, Hotels. Sind die Lebensmittel noch rationiert? Muss ich Süßstoff mitnehmen?«
Seltsam, dachte Rose, wie jemand, der sich so gut mit der Zeit auskannte, der vergangenen und der künftigen, so ahnungslos sein konnte, was das Hier und Jetzt betraf. Sie sagte: »In den Hotels wird man sich um Sie kümmern, aber es wäre vernünftig, ein paar Pullover und einen Regenschirm mitzunehmen.«
Während sie sprach, stand Harold auf und sagte, er gehe in sein Zimmer. Er streckte eine Hand aus, als wollte er ihr übers Haar streichen, ging dann aber unvermittelt weg. Sie sah zu, wie er sich an den Tischen vorbeischob und in die Nacht hinaustrat.
Mrs Weiner rückte näher. In einer halben Stunde finde in einem Raum neben der Rezeption eine Versammlung von Gleichgesinnten statt, Mitglieder einer Gruppe, die unterwegs zu einer theosophischen Konferenz in Arroyo Grande sei. Das Gespräch heute Abend widme sich dem Bemühen, verschüttete, vergessene Ereignisse ans Tageslicht zu ziehen. »Die Menschen, die wir einmal waren«, deklamierte Mrs Weiner, »an die wir uns nicht mehr erinnern, bergen die meisten Geheimnisse.« Der Eintritt sei frei. Rose würde es bestimmt anregend finden.
Rose beschloss hinzugehen, schon weil sie nichts Besseres zu tun hatte. Nur neun Leute waren in das Nebenzimmer gekommen, alles Frauen bis auf den Ehemann mit dem Ketchupfleck und einen dicken Mann mit einer Fliege, der neben Mrs Weiner saß.
Rose nahm ganz hinten Platz, rückte dann aber weiter nach vorn; sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie allein dasaß. Die Sitzung begann mit einem Gebet zu Gott in der Höhe, darauf folgte eine Darbietung von »I Want To Hold Your Hand«, ohne Begleitung gesungen von einer älteren Dame in einer pechschwarzen Perücke. Rose hätte gern gelacht. Dann zeigte der Mann mit der Fliege auf eine dünne Gestalt in einem blauen Kleid. »Sie brauchen nicht zu stehen«, sagte er, »ich weiß, was Sie plagt. Sie sind krank.«
»Ja, ja«, quiekte das blaue Kleid und hielt sich mit Mühe aufrecht. »Helfen Sie mir.«
»Es ist Krebs«, erklärte die Fliege mit klangloser Stimme und ohne jedes Mitleid. »Begreifen Sie ihn als eine Fehlfunktion der Zellen, nicht als Strafe von Gott. Sie können nichts mehr tun als froh sein, dass Ihnen noch Zeit bleibt, die letzten Konflikte Ihres Lebens aus der Welt zu schaffen. Halleluja.«
»Danke, danke«, rief das blaue Kleid, offenbar erfreut, dass das Ende so nahe war.
Rose glaubte fest, dass die Frau nicht authentisch war, sondern eingeschleust, um die Hellsicht der Verantwortlichen zu demonstrieren. Auch das zweite und dritte Opfer hielt sie nicht für echt, obwohl sie deren verschüttete Erinnerungen wunderlicher fand, eher geeignet, die Einbildungskraft zu befeuern. Nummer zwei wurde von Mrs Weiner gefragt, ob es in ihrer Vergangenheit etwas gebe, das mit einem Mann auf Krücken zu tun habe.
»Er ist nicht groß, trägt einen roten Schal um den Hals … nein, grün, nicht rot, und versucht Ihnen etwas zu sagen.«
Nummer zwei antwortete: »Ich kann mich an niemanden auf Krücken erinnern.«
»Denken Sie nach«, spornte sie Mrs Weiner an. »Ich sehe ein hohes Gebäude und einen Wolkenwirbel. Nein … nein, es ist Rauch … und ich sehe eine Gestalt am offenen Fenster stehen.«
»Oh… oh…«, rief Nummer zwei und riss in plötzlichem Entsetzen die Arme hoch. Sie erinnerte sich an ein Feuer und daran, dass ihr Großvater sich aus dem Fenster geworfen hatte, zum Glück nur zwei Stockwerke über einem breiten Sims. Der Großvater überlebte mit einem steifen Bein, es war also keine richtige Katastrophe. Die entscheidende Frage, was er ihr sagen wollte, blieb allerdings unbeantwortet.
Nummer drei war Ausländerin und schwer zu verstehen. Sie trug baumelnde Ohrringe. Der Mann mit der Fliege sprach von einem alten Auto, einer Panne und einem Kind, das zusah, wie das Auto eine Straße entlanggeschoben wurde. Die Ausländerin schüttelte den Kopf, und das Metall an ihren Ohrläppchen klimperte. Es gebe eine Kreuzung, soufflierte die Fliege, und ein Mann sei zu Hilfe gekommen. Dann habe er eine kreischende Frau ins Gebüsch gezogen und eine Straftat begangen. Das Kind habe nur Beine ohne Strümpfe gesehen, die im Laub zappelten.
Eine Pause wurde anberaumt, damit das Kind, nunmehr eine Frau mittleren Alters, sich erholen konnte. Das sei ihre Mutter gewesen, war sie herausgeplatzt, sie habe gesehen, wie sie ins Unterholz gezogen worden sei. Papiertaschentücher lagen bereit.
Rose wusste, dass sie als Nächste dran war. Sie blieb, weil sie dieses bescheuerte Vorspielen ausgegrabener Erinnerungen amüsant fand. Was würde sie wohl tun, wenn Mrs Weiner ein Bild heraufbeschwor, in dem Sand auf Billy Rottens Kopf geschüttet wurde? Sie hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Ihr beschrieb man nur einen jungen Mann in einem gelben Pullover, der auf einem schwarzen Pferd vorbeigaloppierte.
»Hellgelb?«, fragte sie und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Sie sah sich in dem langweiligen Raum um: weiße Wände, kein Bild, die niedere Decke übersät mit Punktstrahlern. »Er war zu einer wichtigen Zeit bei Ihnen«, sagte Mrs Weiner.
Rose antwortete: »Ich mag keine Pferde.« Das stimmte nicht. Als Kind hatte sie oft auf der braunen Stute gesessen, die den Wagen des Milchmanns durch die Dorfstraßen zog, aber dieses Tier hatte sich nie schneller als in einem gelassenen Trab bewegt. »Sie kennen ihn nicht«, räumte Mrs Weiner ein, wahrscheinlich meinte sie den Gelben Pullover, »aber Sie haben viel gemeinsam.«
Rose verkrümelte sich Richtung Tür, eine Hand über den Augen, als verberge sie ihre Tränen; dem Sammelteller wich sie aus.
Draußen war es fast dunkel und immer noch warm. An einer Stelle senkte sich das Grundstück zu einem Halbkreis aus Bäumen, in denen Laternen hingen; Motten flatterten wie Schneeflocken um das mandarinfarbene Licht. Davon angezogen, trat sie näher und blieb abrupt stehen. Sie hatte ein Paar entdeckt, das sich im Schatten umarmte. Ein romantisches Bild. Hoffentlich schlugen ihre Herzen im Takt. Sie selbst hatte in all den Jahren sexueller Begegnungen wahre Liebe nur einmal erlebt. »Eine schmutzige Vereinigung unzüchtiger Minderjähriger« hatte ihre Mutter das genannt, deshalb musste das daraus resultierende Kind fortgegeben werden. Darauf war Verlass: Mütter wussten immer, was am besten war.
Rose war in ihrem Zimmer und schon halb ausgezogen, als es an der Tür klopfte. Sie fragte, wer es sei, und hörte Harolds Stimme. Als sie ihn einließ, fummelte er an der offenen Knopfleiste seiner Shorts herum und stopfte seinen erigierten Penis in ein Kondom. Er packte sie und stieß sie aufs Bett. Sie hätte aufspringen oder ihn wegboxen können, aber sie tat keins von beiden. Er lag auf ihr, und seine Zunge schlabberte in ihrem Ohr herum. Über dem Brüllen der See hörte sie ihn murmeln: »Hilf mir … ich muss … ich kann…«
Weil er so leicht in sie eindringen konnte, glaubte er wahrscheinlich, dass sie erregt war. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie zu jenen Weibchen gehörte, deren Körper immer bereit war, auch wenn sie selbst sich innerlich verschlossen. Nach ein paar Sekunden war es vorüber. Er verließ sie fast sofort.
Sie schlief traumlos, und als sie am nächsten Morgen hinausging, fand sie zu ihrer Überraschung das Motel von bewaffneter Polizei umstellt. Weitere Polizisten patrouillierten unter den Bäumen. Sie fantasierte vor sich hin und stellte sich vor, dass Harolds Verhalten zu einer Festnahme geführt hatte. Aber als sie ins Frühstückszimmer kam, lief er auf sie zu und nahm ihren Arm. »Es hat einen Mord gegeben«, sagte er, »unten am Bach.« Er wirkte mitgenommen. In der Morgendämmerung war ein weiblicher Leichnam mit aufgeschlitzter Kehle gefunden worden. Es war die Frau eines Bluessängers aus Las Vegas. Der Leiter des Motels war ihr Vater, der arme Mann.
Sie wollten sich gerade zum Frühstück setzen, als Mrs Weiner, die Spiritistin, sich näherte und nach Roses Arm griff.
»Haben Sie es gemerkt?«, zischte sie, und ihre Wangen glühten vor Aufregung. »Wir können tatsächlich Dinge voraussehen!«
»Was für Dinge?«, fragte Rose.
»Den Tod«, sagte Mrs Weiner. »Diese Frau gestern Abend, die von einem Schwarzen ins Gebüsch gezogen wurde…«
Harold unterbrach sie streng. »Wir wissen nicht, ob es ein Farbiger war. Sie haben kein Recht, das anzunehmen … Der Name Abe Lincoln bedeutet Ihnen vermutlich nichts.«
Mrs Weiner ließ sich nicht einschüchtern. »O doch«, schnaubte sie. »Das war der, der gesagt hat, dass Nigger niemals Weiße heiraten oder sozial und politisch gleichberechtigt sein dürfen.«
Harold wich einen Schritt zurück, als habe er eine Ohrfeige erhalten.
»Die Mutter der Frau mit den Ohrringen ist nicht gestorben«, sagte Rose und schubste Mrs Weiner weg, »die ist nur belästigt worden. Sie bringen alles durcheinander.«
Sie führte Harold zu einem Tisch in der Nähe der Tür. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Es dauert noch einige Zeit, bis die Leute die Dinge anders sehen«, sagte sie. »Was ihnen heute schlimm vorkommt, werden sie eines Tages für normal halten.« Sie wusste selbst nicht so recht, was sie damit sagen wollte.
Sie verzehrte ein riesiges Frühstück, sogar die Kartoffelpuffer, und plauderte entspannt mit Harold. Sie bewunderte sein grün gestreiftes Hemd, das sie noch nie an ihm gesehen hatte, und sagte: »Mach lieber die oberen drei Knöpfe auch zu. Mit deinen Mückenstichen siehst du aus, als hättest du die Pest.«
Er schaute sie beleidigt an. Rose tätschelte ihm die Hand. Jetzt, wo sie ihm nichts mehr schuldete, fiel es ihr leicht, unbefangen mit ihm zu reden. Sie sagte, sie wolle nachsehen, wie das Wetter sei, stand rasch auf und ging Richtung Tür. Geblendet vom Sonnenlicht, schlug sie sie hinter sich zu und hörte im selben Augenblick einen Schmerzensschrei.