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Harold erwachte, als der Himmel fahl wurde, und schnitt sich beim Toastbrotschneiden in den Zeigefinger. Als er den gestrigen Tag überdachte, gratulierte er sich dazu, wie alles gelaufen war. Rose hatte den Besuch bei Sears Roebuck offenbar genossen und war von seiner Wohnung beeindruckt, so unscheinbar sie sein mochte. Das war nicht weiter verwunderlich, wenn er bedachte, wie verkommen ihr viktorianisches Zimmer in London gewesen war. Freilich, beim Packen war sie keine große Hilfe gewesen, aber wahrscheinlich hatte sie es peinlich gefunden, seine persönlichen Habseligkeiten wie Boxershorts und dergleichen in die Hand zu nehmen.

Als ihm einfiel, dass sie sich nicht gewaschen hatte, bevor sie zu Bett ging – er hatte mit dem Kopf weit oberhalb der Bettdecke schlafen müssen –, ließ er die Badewanne einlaufen und versuchte sie wach zu rütteln. Auf ihre Reaktion war er nicht gefasst: Sie schlug nach ihm und kuschelte sich noch tiefer unter die Decke. Er musste an Dollie denken und ging aus dem Zimmer. Er aß den Toast, war aber zu aufgeregt, um sich die üblichen Frühstückseier zu braten, und so machte er sich daran, das Gepäck im Campingbus zu verstauen. Die Reservedecken, Konservendosen und Benzinkanister packte er auf den Dachständer, dazu einen Lederkoffer voller Papiere. Während er kam und ging, lag Rose wie tot da, nur ihr pfeifender Atem war zu hören. Er kroch gerade auf allen vieren im Bus herum, als sein Nachbar Artie Brune den Kopf durch die Tür steckte.

»Sie ist also gekommen«, sagte Artie mit boshaftem Blick.

Harold nickte.

»Und? Ist sie zu haben?«

»Na klar«, antwortete er genießerisch und hätte ihm den Rücken zugekehrt, wenn ihm nicht eingefallen wäre, dass Brune später einen Grund haben könnte, sich an sein Verhalten zu erinnern.

Artie klagte, seiner Mutter gehe es nicht besonders gut. »Sie ist im Krankenhaus«, sagte er.

»Schlimm, schlimm«, murmelte Harold.

Artie wusste nicht, wie krank sie war. Sie sei eine schlechte Mutter gewesen, aber wenn sie jetzt sterben würde, müsse er doch bei ihr bleiben, oder?

Ja, schon, meinte Harold.

»Wenn sie rumbumst, sagt sie immer, ich soll auf der Feuerleiter schlafen. Einmal sogar bei Schnee. Das ist doch nicht okay, oder?«

»Nein«, sagte Harold. In Gedanken ging er durch, was er tun würde, sobald sie in Washington waren. Rose sollte allein bei den Stanfords vorbeischauen. Er würde sich damit entschuldigen, dass er den Campingbus nicht unbeaufsichtigt lassen könne, nicht bei diesen Unruhen, und das stimmte ja schließlich.

Als er nach einer Stunde in die Wohnung zurückkehrte, ertappte er Rose dabei, wie sie einen Pappkarton öffnete, den er auf den Tisch gestellt hatte. Er schubste sie beiseite, schnappte sich den Karton und lief aus dem Zimmer. Er stopfte ihn in einen vorbereiteten Kopfkissenbezug und verstaute ihn auf dem Dach unter den Armeedecken. Nachdem er die Plane festgezurrt hatte, ging er wieder hinein, um sich mit Rose zu versöhnen. Er rechnete damit, dass es ihr ziemlich peinlich war und sie womöglich weinte. Er sagte, es tue ihm leid, dass er so grob gewesen sei, und er meinte es ernst.

»Nicht der Rede wert«, sagte sie, »ich hätte es wissen müssen. Die Neugier treibt den Vogel in die Schlinge.«

Ihr Tonfall und ihr frecher Blick brachten ihn aus der Fassung, und er hörte sich selbst Gründe für sein Verhalten anführen. »Wenn wir abends kampieren«, sagte er, »könnte es Schlangen geben, auf jeden Fall aber giftige Insekten … ganz zu schweigen von Fliegen. Wir brauchen starke Insektenschutzmittel.«

»Fliegen machen mir nichts aus«, sagte sie. »In meiner Kindheit hing immer ein klebriges Papier von der Glühbirne.«

Nervös sagte er, sie seien fast reisefertig. Wenn er sie einmal besser kannte, würde er ihr vielleicht gestehen, dass ihm Schlangen immer noch lieber waren als Fliegen.

Er ging ins Bad, um zu kontrollieren, ob er seine Tabletten eingesteckt hatte, und sah, dass ihre Zahnbürste noch immer verpackt war. Er nahm sie mit und hatte gute Lust, sie zu fragen, ob sie sie überhaupt zu benutzen gedenke, doch er hielt sich zurück. Er durfte sie nicht herumkommandieren, solange er noch nicht ihr Vertrauen gewonnen hatte. Trotzdem war es wichtig, sie auf ihren Platz zu verweisen. Er sagte milde: »Du warst ganz schön von der Rolle heute früh. Ich habe dir die Wanne einlaufen lassen.«

»Ich brauch nicht zu baden, ich hab in London gebadet, bevor ich abgeflogen bin.«

»Du hast mich wüst beschimpft. Wenn ich nicht zurückgetreten wäre, hättest du mir die Nase eingeschlagen.«

»Ich dachte, du wärst mein Vater. Der hat mich immer wach gerüttelt, wenn ich in die Schule musste.«

»Ich wollte, dass du genug Zeit hast, um dich fertig zu machen«, sagte er. »Wir sollten jetzt losfahren. Ich habe noch etwas auf der Bank zu erledigen und muss zu meinem Broker.«

Jetzt lächelte sie ihn an, errötete vor Vorfreude und wollte unbedingt wissen, wie viele Tage sie bis Washington brauchten.

»Nicht Tage«, sagte er. »Stunden… höchstens zwei oder drei. Das hängt davon ab, wie schlimm die Unruhen letzte Nacht waren.«

Verdutzt fragte sie ihn, warum sie einen Lieferwagen brauchten, wenn es so nahe war.

»Weil ich bezweifle, dass Wheeler noch unter der Adresse zu finden ist, die er dir gegeben hat. Vermutlich ist er schon wieder auf Achse.«

Er wunderte sich über den plötzlichen Anflug von Angst in ihren Augen. Das Rosa war aus ihren Wangen gewichen. Ihm kam der Gedanke, dass sie gar nicht so draufgängerisch war, wie sie gern tat, und er fühlte sich als Beschützer; Angst war etwas, worauf er sich verstand.

Er erzählte ihr nicht, dass er in Chicago Wheelers Nachsendeadresse in die Hand bekommen hatte, und auch nicht, dass die Stanfords, denen die Wohnung am Stadtrand von Washington gehörte, im Besitz eines Briefes waren, den sie ihm hartnäckig vorenthielten, weil es geheißen habe, er dürfe nur dem Mädchen aus England ausgehändigt werden. Er hätte ihnen Geld angeboten, aber von der Art waren sie nicht.

Er fragte Rose, ob sie fertig war. Sie trug eine Hose und eine zerknitterte Bluse unter einem Regenmantel und war ungekämmt. Vielleicht hätte er ihr sagen sollen, dass sie heute bei den Shaefers zu Abend aßen.

Als sie hinaustraten, lehnte Artie Brune an der Motorhaube des Busses. »Ich hab schon viel von dir gehört, Mädel«, sagte er und musterte Rose von oben bis unten. Sein verzogener Mund machte deutlich, dass sie nicht der Betthase war, den er sich vorgestellt hatte.

Rose kletterte auf den Vordersitz und starrte geradeaus. Als Harold den Motor anließ, fragte sie: »Ist dieser Mann ein Freund von dir?«

»Ja«, sagte er, obwohl das übertrieben war; nur Arties Katze verdiente diese Bezeichnung.

Sie äußerte kein Wort mehr, während sie in die Innenstadt von Baltimore fuhren. Er hielt sie auf dem Laufenden, wo sie gerade waren, aber als er zur Seite blickte, schaute sie auf ihren Schoß, fummelte an ihrer Oberlippe herum und achtete nicht auf die Arbeiter, die Schaufenster mit Brettern zunagelten und Glasscherben in die Abflussrinnen kehrten. In der 26. Straße waren die Türen der Synagoge mit blutroter Farbe bestrichen.

»Lieber Gott«, rief er und stupste sie mit dem Ellbogen an. Sie riss den Kopf hoch, schwieg aber immer noch. Er wusste nicht, ob sie schmollte oder nur müde war. Als sie sich dem Waffengeschäft Wild Bill näherten, musste er wegen der vielen auf dem Gehsteig patrouillierenden Polizisten langsamer fahren.

Er parkte hinter der Medical Library und versprach, sich zu beeilen. Am unteren Ende der St. Paul’s Street brannte es immer noch, und er musste einen Umweg machen. Bei der Bank hinterlegte er einen Brief, der im Falle seines Todes geöffnet werden sollte, und eine Abschrift davon brachte er seinem Broker. Er war stolz darauf, sein Leben so wohl geordnet zu haben.

Als er zurückkam, saß Rose nicht mehr im Campingbus, nur ihre Schuhe waren noch da. Er ging auf und ab, und gerade als seine Unruhe sich zur Wut hochschraubte, sah er sie barfuß auf der anderen Straßenseite daherschlendern. »Der Campingbus!«, brüllte er. »Er ist nicht abgesperrt.« Sie winkte ihm beruhigend zu und rief zurück: »Kein Grund, so aus dem Häuschen zu geraten … ich hab ein Auge drauf gehabt.« Er kletterte auf den Fahrersitz und zwang sich, ruhig zu bleiben.

Es dauerte, bis sie die Straße überquert und sich neben ihn gesetzt hatte. »Komisch, nicht wahr?«, sagte sie. »Ein Laden, der Gewehre verkauft wie Karotten oder Rüben.«

Er konnte nicht antworten, jedenfalls nicht höflich.

»Als ich klein war«, plapperte sie, »habe ich mir mehr als alles andere auf der Welt ein Spielzeuggewehr gewünscht, aber die wurden nicht mehr hergestellt, weil doch Krieg war. Deshalb habe ich Mutters Straßenbesen entzweigesägt und ein Gummiband von einem Ende zum anderen gespannt, mit einem Korken dran. Es hat nicht sehr gut funktioniert, war aber besser als nichts. Ich bin herumgerannt und habe Deutsche erschossen. Mutter war böse wegen ihrem Besen.«

»Kann ich mir vorstellen«, brachte er mühsam heraus.

»Eines Tages, als ich auf dem Feld hinter dem Haus spielte, kam ein feindliches Flugzeug daher. Es hatte sich wohl nach einem Luftangriff verirrt. Es kam so weit runter, dass ich den Piloten sehen konnte. Er fing an, mit seinem Maschinengewehr zu schießen...«

Er musste an Carl Bloomfield denken, einen Studenten im zweiten Jahr, der allen Ernstes behauptet hatte, sein Vater sei ein so fanatischer Fotograf gewesen, dass er erst mal ein Foto gemacht habe, als Bloomfield in ein Schwimmbecken gefallen sei, und auch als er beim Autofahrenlernen gegen eine Wand geknallt sei.

Rose sagte: »Meine Mutter stand an einem Fenster an der Rückseite des Hauses und schrie.«

Nur Shaefer hatte Bloomfield nicht für einen Fantasten gehalten. Er war überzeugt, in Bloomfields Augen etwas gesehen zu haben, das an Wahrheit grenzte.

»Ich hab mich in den Sträuchern versteckt«, sagte Rose, »und hörte, wie die Kugeln das Gras zerfetzten.«

Niemand hatte Shaefer geglaubt, bis Bloomfield an Thanksgiving heimfuhr und seine Eltern erschoss, als sie gerade den Truthahn tranchierten.

»Kein Wunder, dass Mr Kennedy ermordet wurde«, sagte Rose. »Oder dieser Luther King.«

»Heute Abend essen wir bei einem Freund«, sagte Harold, »der sich an dem Tag, als Dr. King erschossen wurde, im selben Hotel aufhielt.«

»Mannomann.«

Er fragte, ob sie Hunger habe; ihm knurre schon der Magen. Sie entgegnete, sie mache sich nichts aus Essen. »Wir essen alle viel zu viel«, sagte sie. »Das ist schlecht fürs Gehirn.« Sie saß zusammengesackt neben ihm, die nackten Füße mit den Schmutzrändern unter den Zehennägeln gegen das Armaturenbrett gestemmt, und lutschte am Daumen.

Sie war keine unkomplizierte Begleiterin, so viel war klar. Er machte das Radio an, um das Schweigen zu übertönen. Irgendwer krächzte einen Jazzsong … Here’s a photo of me when I was three … And here’s my pony too. Here’s a picnic we had. And Jane with dad … Here’s me in love with you. Verlegen wegen dieser Gefühlsäußerungen griff er nach dem Knopf, um einen anderen Sender zu suchen.

»Lass es, das ist doch schön«, rief sie und schob mit dem Fuß seine Hand weg.

Er fragte sich, ob Bloomfield wohl auf den Gedanken gekommen war, ein Foto von seinen auf dem Thanksgivingtisch hingestreckten Eltern zu machen.

»Das Wort Fotografie kommt aus dem Griechischen«, sagte er. »Es bedeutet Lichtzeichnung.«

Rose antwortete nicht.

Here’s our house in Maine … and me again … that’s me in love with you, heulte die Stimme.

Zwei Querstraßen vor dem Freeway musste der Campingbus anhalten. Eine ältere Frau, die mit ihren schwarzen Fäusten in die Luft boxte, wurde in einen Streifenwagen bugsiert. Er kurbelte das Fenster hoch, um die gellenden Schreie aus ihrem Mund zum Verstummen zu bringen.

Es dauerte mehr als drei Stunden, bis sie den Stadtrand von Washington erreichten. Da er ohne seine Frühstückseier losgefahren war, brauchte er etwas zu essen. Er hielt bei einem Diner am Straßenrand in der Nähe von Gaithersburg und fragte Rose, ob sie mitkommen wolle, aber sie lehnte ab.

Als er sich wieder hinters Lenkrad setzte, merkte er, dass sie geraucht hatte; er öffnete das Fenster nicht, weil er den Tabakduft mochte.

Die meiste Zeit schien Rose zu dösen, erst als sie einen Wegweiser nach Bethesda passierten, setzte sie sich auf und stellte, durchaus lebhaft, fest, dass sie sich an diesen Namen aus dem Religionsunterricht erinnere. Es verblüffte ihn, wie oft sie ihre Kindheit erwähnte. Es wurde ihm klar, dass sie einander ähnelten; die Vergangenheit hatte die Gegenwart ausgelöscht.

Vor dem Einfamilienhaus der Stanfords zog sich ein von Kirschbäumen gesäumter Weg zur Eingangsveranda hinauf. Rose stieg nicht sofort aus; wieder fummelte sie an ihrer Lippe herum.

Er sagte: »Es hat einmal einen berühmten Architekten mit dem Namen Stanford gegeben. Er hat den Madison Square Garden entworfen … in New York. Er wurde umgebracht.«

»Von seiner Frau?«, murmelte sie.

»Nein«, erwiderte er. »Er war ein Frauenheld und wurde von einem wütenden Ehemann erschossen. Frauen töten nicht.«

Sie rührte sich immer noch nicht. Endlich öffnete sie die Autotür und verblüffte ihn mit der Frage, ob er mitkomme.

»Lieber nicht«, sagte er. »Es ist gut, wenn du mit ihm allein bist … erst mal.«

Er sah zu, wie sie den Weg hinaufging, die Schultern gegen den Regen hochgezogen, und fühlte sich schuldig, weil er ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sobald er sah, dass sie das Haus betreten hatte, fuhr er etwas weiter die Straße hinauf.

Alles an Rose verwirrte ihn, ihr Verhalten, ihre Herkunft, am allermeisten ihre Verbindung zu Wheeler. Der Anblick des unscharfen Fotos auf ihrem staubigen Nachtkästchen hatte ihn arg mitgenommen. Ihre Geschichte, dass sie ihn vor sechzehn Jahren in einem abgelegenen Küstendorf in Nordengland kennengelernt habe, ergab einfach keinen Sinn. Was tat er da, verkrochen in einem Loch am Ende der Welt? Rose hatte keine Ahnung, welcher Arbeit er nachging; sie habe nie gefragt, sagte sie; man habe ihr beigebracht, es sei unverschämt, jemanden zu fragen, womit er sein Geld verdiene.

Er hatte sich bei Jesse Shaefer erkundigt, und der hatte widerstrebend und umständlich angedeutet, Wheelers Aufenthalt in England könne etwas mit den in der Türkei stationierten Jupiter-Raketen zu tun gehabt haben; ausführlicher wollte er sich nicht äußern. Shaefers Erklärung kam der Wahrheit vermutlich ziemlich nahe. Rose sagte, Wheeler sei häufig weg gewesen – im Urlaub, glaubte sie, denn er war sonnengebräunt, wenn alle anderen blass waren.

Er selbst hatte Wheeler vor sieben Jahren durch Shaefer kennengelernt, auf einem Empfang anlässlich der Ernennung des Bruders des Präsidenten zum Justizminister. Wheeler trug einen grauen Anzug und edle braune Schuhe. Wenn er mit leicht geneigtem Kopf ein Zimmer durchquerte, schien er nicht zu gehen, sondern zu gleiten. Wenn er sprach, beschattete er manchmal die Augen mit der Hand, wie wenn man in die Ferne blickt. Das wirkte keineswegs aufgesetzt, er war einfach einer dieser vom Glück begünstigten Menschen, die Eindruck auf andere machen. Natürlich war er sich dessen bewusst, aber wer wollte ihm das vorwerfen? Anerkennung ist etwas, wonach sich jeder sehnt, und sei es nur, um sich der eigenen Existenz zu versichern. In den folgenden zwölf Monaten hatten sie etwa ein halbes Dutzend Mal zusammen gegessen, und Wheeler hatte jedes Mal die Rechnung bezahlt. Am Jahresende bekamen sie Ehrenkarten für das Spiel der Green Bay Packers gegen die New York Giants. Wheeler tauchte nicht auf, aber kurz danach bekam Dollie einen Strauß Rosen sowie eine Karte mit einer Entschuldigung geschickt.

Es war schmeichelhaft gewesen, von einem so wichtigen, im Mittelpunkt stehenden Mann umworben zu werden – zumindest solange die wahren Motive für sein Interesse noch nicht offenbar waren. Deshalb war auch seine Beziehung zu Rose so unbegreiflich. Ihre erste Begegnung konnte nicht sexueller Natur gewesen sein. Sie war noch ein Kind, und er war kein Narr. Und nach Roses Beschreibung von ihrem letzten Treffen in London zu urteilen, dem Besuch bei Madame Tussaud, dem Geblödel über die Schlacht von Waterloo, der letzten Tasse Kaffee am Bahnhofsbuffet, waren sie nie intim miteinander gewesen. Dennoch hatten sie einander offenbar nahegestanden, denn Rose äußerte Gedanken, die zu überfrachtet und verschroben waren, um einem so ungebildeten Kopf wie dem ihren zu entstammen. Das Kinn fettglänzend vom Steak und die Gabelzinken auf seine Brust gerichtet, hatte sie gestern Abend erklärt, bald wären sie alle alt, und dann würden sie in leeren Zimmern von Menschen träumen, die vor langer Zeit mal eine Tür zugeschlagen hatten; vor so langer Zeit, dass es mittlerweile keine Bedeutung mehr hatte.

Rose kehrte eine Stunde später zurück; sie schien nicht allzu bestürzt, dass sie Wheeler nicht angetroffen hatte. Sie berichtete, Mrs Stanford habe Teppiche an den Wänden hängen und auf der Toilette ein Porträt von Walt Whitman. Man habe ihr Tee ohne Milch angeboten.

»Keine Spur von Wheeler?«, fragte er.

»Du hattest recht«, sagte sie. »Er ist schon seit längerer Zeit weg. Vor ein paar Wochen kam ein Mann vorbei und hat nach ihm gefragt, aber er hat seinen Namen nicht genannt.«

»Ich schätze, Wheeler kennt viele Leute.«

Sie zog einen Umschlag aus der Tasche. Vorn drauf stand ihr Name getippt. Sie sagte: »Sie haben sich endlos darüber ausgelassen, wer der nächste Präsident werden könnte. Es gibt Richard Nixon, Hubert Humphrey, Eugene McCarthy, Robert Kennedy, Jimmy Wallace …«

»George«, korrigierte er.

»Wer auch immer«, sagte sie und zerknüllte den Brief in ihrer Faust. Er schielte zu ihr hinüber und sah eine Träne von ihrer Wange plumpsen.