9

Am nächsten Morgen klopfte Harold um sechs Uhr an Roses Tür und rief, sie solle zu ihm ins Restaurant kommen. Er hatte im Campingbus eine unruhige Nacht verbracht, war ständig raus- und reingeklettert, überzeugt, dass er Kratzgeräusche und verstohlene Schritte hörte. Dann war er aus der schwarzen, engen Blechhütte hinausgegangen und hatte unterm Sternenzelt Wache geschoben.

Als Rose erschien, trug sie wie immer Hose und Regenmantel, obwohl es nicht mehr regnete und die Sonne in einen wolkenlosen Himmel stieg. Sie kaute gerade an ihrer Toastscheibe, als sie ihm plötzlich ein paar englische Shilling hinschob und dafür einen Dollar wollte. Er gab ihr, was sie brauchte, lehnte aber die auf dem Tisch verstreuten Münzen ab.

»Was willst du dir kaufen?«, fragte er, und sie murmelte etwas von Frauenangelegenheiten, aber das war gelogen, denn sie ging geradewegs zum Tresen mit den Tabakwaren. Nachdem sie ihren Kauf getätigt hatte, rief sie ihm zu, sie gehe kurz hinaus, frische Luft schöpfen. Vermutlich brauchte sie eine Zigarette, und er fragte sich, warum sie lieber allein rauchte.

Als sie Pennsylvania hinter sich ließen und nach Ohio hineinfuhren, zwitscherte sie, das sei auch nicht anders als das Überschreiten der Grenze zwischen Lancashire und Yorkshire. Als sie hörte, dass sie schon die halbe Strecke nach Chicago zurückgelegt hatten, setzte sie sich auf und begann sogar die Karte zu studieren, warf sie aber gleich wieder beiseite und behauptete, sie kenne Chicago aus Gangsterfilmen. »Dort hat Al Capone seine ganzen Morde begangen.«

Als sie sich Cleveland näherten, packte ihn das Verlangen, seine alte Universität zu besuchen, und er machte einen Abstecher nach Akron. Vielleicht war das keine gute Idee, aber irgendetwas zwang ihn dazu. Eine seltsame Einsamkeit beschlich ihn, ein geistiges Abgekapseltsein. Wahrscheinlich kam das vom Schlafmangel und dem inneren Aufruhr.

Als sie den Campus erreichten, befahl er Rose, zu bleiben, wo sie war. Sie zog ein Gesicht, aber er beachtete es nicht. Ihre Gegenwart brachte ihn durcheinander. Sie war so streitlustig und sprach immer ohne nachzudenken. Mehr als zwei Stunden hatte sie nur vom Heiligen Geist und dem Tag des Zorns geredet. Das Begräbnis hatte ihre schlimmsten Eigenschaften hervorgekehrt. Sie war der Meinung, dass sogar der gefallene Soldat den Flammen der Hölle überantwortet wurde. Allmählich glaubte er, dass irgendeine Macht, vielleicht sogar Gott, sie beide zusammengespannt hatte, um seinen Entschluss ins Wanken zu bringen.

Mit hängenden Schultern trottete er zu den Verwaltungsgebäuden. Es war niemand zu sehen bis auf einen alten Mann mit einer Warze auf der Nase, der vor der geschlossenen Tür auf einem Stuhl saß. Er fragte Harold, was er wolle.

»Jahrgang 1945«, meldete dieser. »Ich kann mich an Sie erinnern, aber Sie erinnern sich bestimmt nicht an mich … zu viele Gesichter.« Er sprach nicht aus, dass er vor allem die Warze denkwürdig fand.

»Nö, ich erinner mich nicht«, erwiderte der alte Mann, »aber das ist kein Wunder. Meistens weiß ich nicht mal mehr, wie ich selber heiße.«

Die Turnhalle lag hinter dem Chemielabor. Er verspürte das Bedürfnis, hinzugehen und durch die Fenster zu starren. Er war nicht allzu glücklich gewesen in diesen längst vergangenen Jahren, kein Wunder, aber zumindest war er teilweise der erstickenden Nähe seiner Mutter entkommen. Erinnerungen wirbelten ihm durch den Kopf wie ein Vogelschwarm. Jene erste Begegnung im Umkleideraum mit einem jungen Shaefer, dem das Wasser in den Augen stand wegen der Nachricht, dass Mahatma Gandhi erschossen worden sei; der Faustkampf mit Meredith Manning, den er dabei ertappt hatte, wie er Mrs Arlingtons Katze mit Steinen bewarf; sein erster herrlicher Absturz in die Trunkenheit, als die Musik der Tanzkapelle seine Schüchternheit hinweggeschwemmt hatte und Shaefer, einen schützenden Arm um seine Schulter gelegt, mit ihm ins Mondlicht hinausgegangen war. Shaefer war ein wahrer Freund, einer, der ihn nie betrogen hatte und nie betrügen würde. Schließlich das lebhafte Bild seiner Mutter, wie sie auf das Rothschild Building zuging, den Arm in einer schwarzen, mit falschen Diamanten besetzten Seidenschlinge. Sein zweiter Stiefvater hatte sie zusammengeschlagen, als er eine saftige Rechnung für zwei Bronzepferde erhalten hatte, die sie am Tor ihres Hauses in Long Island hatte aufstellen lassen, Kopien der Pferde vor Sankt Markus in Venedig. Ihr Arm hatte keinen bleibenden Schaden genommen, aber sie kannte keine Hemmungen, wenn es darum ging, Aufmerksamkeit zu erregen. Nur Shaefer hatte verstanden, dass Harolds Nöte von seiner Verlegenheit herrührten, nicht vom Mitleid.

Das Innere der Turnhalle hatte sich verändert. Es gab keinen Sprungkasten mehr, auch nicht die Reihe der Spinde, wo einmal sein Name gestanden hatte; verschwunden von den Wänden die Fotos der Baseballteams, verschwunden die gelben Seile, die immer von den Deckenhaken baumelten. So schnell wischte die Zeit sein Leben aus, dachte er.

Als er zurückkehrte, saß Rose draußen auf dem Gras und pulte sich den Dreck zwischen den Zehen heraus. Er fragte, ob sie Hunger habe, und wie immer sagte sie Nein. Als sie neben ihm im Campingbus saß, merkte er, dass sie ihn anstarrte.

Sie sagte: »Dein Gesicht schaut komisch aus.«

»Das hat mir schon mancher gesagt«, gab er zurück.

»Es hat keinen Sinn«, fuhr sie fort, »sich mit dem aufzuhalten, was man nicht ändern kann … davon wird man nur verrückt.«

Merkwürdig, dachte er, wie gebildet sie manchmal wirkte. Er blickte kurz zu ihr hinüber, und ihr Gesichtsausdruck kam ihm bekannt vor, eine Mischung aus Unbehagen und Tapferkeit. Sie versuchte offenbar nach Kräften, das Beste aus einer enttäuschenden Situation zu machen. Er wurde sich seines eigenen Verhaltens bewusst, seines mangelnden Mitgefühls, seines desinteressierten Tones, wenn sie sich endlos über ihre Kindheit ausließ, und beschloss, das alles wiedergutzumachen. Er wusste weiß Gott besser als die meisten Menschen, wie es sich anfühlte, wenn man unterschätzt wurde.

»Würdest du gern ins Kino gehen?«, fragte er plötzlich.

»Ja«, antwortete sie mit glänzenden Augen, »aber nur, wenn du auch willst.« Jetzt war sie glücklich.

Er fuhr Richtung Cedar Point und zu einem Campingplatz am Hang. Er war gut ausgestattet, wies sogar eine Minigolfanlage und einen großen Swimmingpool auf, in dessen blauem Wasser sich der Himmel spiegelte. Jenseits davon, unterhalb der Campingbusse und Zelte, bedrängte ein Gewirr von Fischerbooten den gleißenden Saum des Eriesees.

Rose war beeindruckt. Sie starrte auf die Männer in Shorts und die dicken Frauen in ihren Liegestühlen, wandte sich aber ab von den kreischenden Kindern, die unter den Zedern herumrannten und -purzelten. Irgendwo in der Nähe trommelte ein kleines Kind in einem Hochstuhl mit einem Löffel auf sein Holztablett; er merkte, dass Rose bei dem Geräusch zusammenzuckte und sofort ihre Sonnenbrille aufsetzte. Er hatte den Eindruck, dass sie nicht nur die Sonne ausblendete.

Obwohl er Hunger hatte, kümmerte er sich zuerst um die Reinlichkeit. Er zeigte auf die Waschküche neben dem Laden und fragte Rose, ob sie Kleidung habe, die gewaschen werden müsse. »Nein«, sagte sie. »Zu viel Sauberkeit macht anfälliger für Bazillen.« Überlegen lächelnd schaute sie zu, wie er das Leintuch von der Matratze zog und die Kissen gegen einen Baumstamm schlug. »Da krabbeln nur Insekten rein«, warnte sie ihn. Dann wanderte sie davon, und das ärgerte ihn, denn er hätte Hilfe brauchen können.

Als er aus der Waschküche zurückkam, hockte sie in einiger Entfernung vom Campingbus auf dem Gras neben einem älteren Mann mit einem Strohhut. Sie sprachen nicht miteinander. Er war in seinem Sessel zusammengesunken, und Rose schaukelte vor und zurück, den Blick zu Boden gesenkt. Dann erschien ein jüngerer Mann und sagte etwas zu ihr, worauf sie aufstand und ihn in ein Gespräch verwickelte. Sie wirkte lebhaft, die meiste Zeit sprach sie. Einmal hielt sie die Hand hoch und wedelte damit vor dem Gesicht des Mannes hin und her, als wische sie etwas aus, was sie nicht hören wollte.

Später fragte Harold sie nach dem alten Knaben in dem Stuhl.

Sie sagte: »Er heißt Theodore. Er hat mal in England gelebt.«

Er dachte daran, wie alt der Mann war, und sagte: »Vermutlich hat er einen Haufen Unsinn dahergeschwafelt.«

»Nein«, berichtigte sie, »eigentlich hat er durchaus vernünftig gesprochen. Er hat gesagt, dass er verfault.«

»Verfault?«

»Gehör, Eingeweide, Füße, Sehkraft, Knochen … nichts ist mehr so wie früher.«

»Jesus«, sagte er. »Offensichtlich kein heiterer Mensch.«

»Er erwartet nichts Heiteres mehr«, sagte sie, »nicht, seit er alt ist. Es stellt sich dem Leben, wie es eben ist. Er wusste immer, dass er verfaulen würde.«

»Jesus«, sagte er wieder und bat sie einzusteigen.

Die Kinoleinwand stand auf einem Feld neben dem Golfplatz. Rose wunderte sich, dass Filme im Freien gezeigt wurden. Der Film hieß Der dritte Mann und handelte von einem Amerikaner, der nach Wien kommt, um seinen besten Freund zu besuchen, doch stellt sich heraus, dass der Freund tot ist, wenn auch noch nicht lang. Diesen schwer zu fassenden Typen spielte Orson Welles, und es endete damit, dass er durch die Kanalisation flüchtete. Harold hatte den Film schon einmal gesehen und nickte zwischendrin ein. Rose fand ihn wunderbar, verstand aber nicht, warum der Yankee Orson Welles umbringen wollte. Das habe doch keinen Sinn, sagte sie. Erst sucht er endlos nach seinem Freund, und wenn er ihn dann findet, erschießt er ihn. Das sei nicht normal. Außerdem erinnere sie sich nur an zwei Männer, wer denn der dritte gewesen sei? Harold versuchte zu erklären, dass Welles den Bösewicht spiele und den Tod verdiene, aber sie hielt dagegen, wirkliche Freundschaft dürfe nie so enden, egal unter welchen Umständen. Schließlich gab er auf und stimmte ihr zu, nur damit sie still war.

Bevor sie zu Bett gingen, bat sie um ein Blatt Papier und etwas zu schreiben. Der Füller ihres Vaters sei verschwunden. Er hörte ihren Magen knurren, während sie schrieb. Er hatte ein halbes Hähnchen gegessen, sie nur einen Happen Brot. Er wunderte sich, dass sie nicht wie ein Skelett aussah; er kannte so jemanden. Als sie in den Campingbus stieg, ließ sie das Papier am Feuer liegen. Zu seinem Erstaunen hatte sie etwas Lateinisches draufgeschrieben, wenn auch orthografisch falsch. Recordez Jesus pie, quod sum cause tua via ne me perder illa die. Mühsam übersetzte er: Gedenke, gnädiger Jesus, dass ich der Grund deines Kommens bin, lass mich an jenem Tag nicht untergehen.

Wieder schlief er schlecht, wachte auf, weil er geträumt hatte, dass er mit Wheeler durch ein Maisfeld wanderte, geblendet von der Sonne, die auf Wheelers Haar leuchtete, und von der blauen, pulsierenden Ader an seiner Stirn. Sie hatten ein Gespräch geführt, ein wichtiges, aber er wusste nicht mehr, worüber.

 

Als sie sich am nächsten Nachmittag Chicago näherten, hielt er Rose einen Vortrag über die Stadt, um sie zum Schweigen zu bringen; sie erging sich immer noch endlos über Gott. Ursprünglich habe es Fort Dearborn geheißen, eine Siedlung am Ufer des Michigansees mit nur hundert Einwohnern. Sechzig Jahre später war es umbenannt, beherbergte eine Million Einwohner und war zum größten Agrarhandelsplatz der Welt geworden.

Sie schien nicht interessiert. Er verstummte und erzählte ihr nicht, dass die Innenstadt 1871 bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Sie hätte nur wieder von den Feuern der Hölle angefangen. Dann fragte sie, was Agrarhandel sei. Er lachte und antwortete nicht, überzeugt, dass sie scherzte.

Ohne nachzudenken, hielt er in einer Straße im Stadtteil Wicker Park, einer ehemals reichen Wohngegend. Die großen Häuser waren längst in mehrere Wohnungen unterteilt, der Rasen in Stellflächen für Mülleimer und Autos. Rose dachte an die Adresse auf dem Brief und bat ihn, ihr das Haus zu zeigen, wo Wheeler noch vor wenigen Wochen gewohnt hatte.

»Das ist Zeitverschwendung«, sagte er. »Er ist längst weg.«

»Ich muss es nur sehen.«

»Wozu?«

»Du brauchst nicht mitzukommen«, fauchte sie. »Sag mir nur, wo ich hingehen muss.«

Stirnrunzelnd zeigte er auf ein Haus, dessen weißer Turm in den kobaltblauen Himmel stach. Sie öffnete die Tür, als eine Schallwelle, gefolgt von donnerndem Gebrüll, die Luft erschütterte. Der Campingbus zitterte. Erschrocken drehte sie sich um und packte ihn am Arm. »Das ist die El«, beruhigte er sie, »nur ein Zug«, und er zeigte auf das Gleis, das in Höhe der Kamine verlief.

»Kein Wunder, dass er hier wohnen wollte«, sagte sie. »Er und seine Frau haben direkt neben einem Bahnübergang gewohnt … und sein Haus hatte auch einen Turm.«

»Wheeler hatte keine Frau.«

»Doch … sie fuhr Fahrrad. Und in der Pommesbude hat sie sich immer vorgedrängt.«

»Wie sah sie denn aus?«, fragte er, überzeugt, dass sie log.

»Alt, dick, viele graue Locken unter einem Strohhut.«

»Er hat nie erwähnt, dass er verheiratet war.«

»Du auch nicht«, gab sie zurück, und das brachte ihn zum Schweigen.

Das Bargeld ging ihm aus, und er musste einen Scheck einlösen. Sie bestand darauf mitzukommen. »Es tut mir gut, wenn ich mich bewege«, sagte sie, »mein Po ist schon ganz taub.«

Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätte den Campingbus bewacht, aber sie sprang schon aus der Tür. Gleichgültig, an welchem Laden sie vorbeikamen, sie flitzte hin, um einen Blick ins Schaufenster zu werfen. Sie konnte ihre Gedanken nicht für sich behalten, stieß leise Schreie des Erstaunens aus, wenn sie sich umdrehte, um die Passanten zu mustern, und machte laute Bemerkungen über die vielen verschiedenen Rassen. »Dieser Farbige«, rief sie und stupste ihn in die Rippen, »hat Augen wie ein Chinese.« Er wünschte ihr den Tod.

Die Bank war nur halb voll, und er musste nicht lange warten. Vor ihm stand eine hinkende Frau, und ein anderes weibliches Wesen am nächsten Schaltergitter trug eine rosa Schleife im hochtoupierten, gefärbten Haar. Er stellte gerade einen Scheck aus, als jemand gellend schrie. Er drehte sich um und sah einen Mann mit einer Maske über dem Gesicht, der Rose am Hals gepackt hatte und ihr eine Pistole an die Schläfe hielt. Sie drehte sich in seinem Arm um und begrub ihr Gesicht in seinem Mantel; verblüfft tätschelte er ihr den Kopf, als tröste er einen jungen Hund. Ein Mann am Eingang, der sich einen Schal über Nase und Mund gezogen hatte, befahl allen, sich auf den Boden zu werfen.

Die nächsten Sekunden waren wirr und traumatisch. Ein Teil von Harold überlegte, ob er aufspringen und Rose dem Gangster entwinden solle, aber der größere Teil hieß ihn auf dem Bauch liegen bleiben, klopfenden Herzens und mit dem Gesicht auf dem Holzboden. Minuten später, es hätten auch Stunden gewesen sein können, stürmte eine Schar bewaffneter Polizisten das Gebäude, und der Gangster und sein Komplize wurden überwältigt. Schüsse fielen keine. Der Mann, der Rose festhielt, warf seine Waffe auf den Boden. Als ihm die Maske vom Gesicht gerissen wurde, wirkte er verdutzt. Harold zitterte und hatte das Gefühl, in einem Film mitgespielt zu haben. Entsetzt merkte er, dass er sich nass gemacht hatte.

Rose und er mussten noch dableiben und wurden befragt. Er erinnere sich einzig und allein an den Schrei seiner Freundin, sagte er.

»Ich habe nicht geschrien«, protestierte sie. »Warum hätte ich schreien sollen? Ich habe gedacht, die Pistole ist nicht echt.«

Er merkte, dass die Bullen sie seltsam fanden, teils wegen ihres englischen Akzents, teils weil sie so gar nicht hysterisch reagierte. Sie sagte, geschrien habe die Frau mit den Perlenohrringen und der Schleife im Haar.

»Ohrringe habe ich keine gesehen«, sagte er.

»Ich habe die Augen zugemacht«, sagte sie zu den Polizisten. »Ich hab mal gelesen, sie erschießen einen nicht, wenn man ihnen nicht ins Gesicht starrt.«

Sie beschrieb eine Frau mit einem Pflaster auf dem Knie, die Sekunden vor Harold am Schalter gewesen sei. Außerdem habe in der Schlange hinter ihm ein Mann gestanden, der auf einer Zeitung rumgekritzelt und einen Schal getragen habe; dann sei er zur Tür gerannt und habe sich den Schal übers Gesicht gezogen.

»Der Schal hatte ein Schottenmuster. Ich weiß nicht, welcher Clan.«

Auf die Frage, wo sie sich aufhalten werde, antwortete sie: »Irgendwo in Malibu. Eine reiche Stadt am Meer.«

Die Polizei überprüfte noch Harolds Bankdaten und ging mit ihnen zum Campingbus, um Roses Pass und Visum zu kontrollieren, dann durften sie weiterreisen.

Wieder unterwegs, versuchte Harold mit ihr zu reden. Sie musste sich doch schwach und verängstigt fühlen. Er war entsetzt über seinen Wunsch von vorher, sie möge tot sein; ihn quälte der absurde Gedanke, Gott habe ihn erhört.

»Du darfst jetzt zusammenbrechen«, sagte er. »Ich verstehe das. Das ist nur normal nach dem, was du durchgemacht hast.«

»Mir ist nicht nach Zusammenbrechen«, sagte sie, »so ungewöhnlich war es ja auch wieder nicht.«

Er wurde nicht schlau aus ihr und kam zu dem Schluss, dass seine eigene Reaktion aus einem wachen Bewusstsein für Gefahr erwachsen war; bestimmte Menschen waren eben sensibler als andere. Um die Zweifel zu verdrängen, die ihn bestürmten, schaltete er das Radio an und landete in einer politischen Debatte über Kennedys Chancen, die Vorwahlen in Oregon zu gewinnen.

Viele Amerikaner haben das Gefühl, dass die Gesellschaft an einer Funktionsstörung leidet, einer so schwerwiegenden und irritierenden, dass ein normaler Politiker da nicht mehr Abhilfe schaffen kann … Nur Kennedy hat die Autorität, die charismatische Autorität …

Aber jeder weiß, das Charisma etwas Unbeständiges ist, sich womöglich als fragil und wenig anpassungsfähig erweist. Es kann zu Fehlern kommen, und wenn der Zaubermantel einmal zerrissen ist, kann man ihn nie wieder flicken …

»Ich hatte mal einen Mantel«, plapperte Rose. »Er gehörte meiner Tante. Es stimmt nicht, dass man sie nicht flicken kann, man muss sie nur zu einem Schneider bringen.«

Gereizt fragte er: »Bist du sicher, dass du keine Angst gehabt hast?«

»Nein«, sagte sie. »Ich hab mal was drüber gelesen.«

»Über was? Von wem?«

»Ich weiß nicht mehr«, sagte sie. »Es ging um Napoleon den Ersten oder Zweiten. Dr. Wheeler hat es mir geschenkt.« Sie glitt in ihren Sitz, schloss die Augen und blendete ihn aus.