3
Die Shaefers wohnten im sechsten Stock eines umgebauten Lagerhauses in einer Seitenstraße der Connecticut Avenue. Harold behauptete, es sei eine sehr vornehme Gegend, deshalb sei niemand zu Fuß auf den Straßen. Wer irgendwohin wolle, fahre mit dem Auto.
Mrs Shaefer öffnete ihnen die Tür. Sie war klein und stämmig und trug eine fleckige Schürze über einem langen, schwarzen Kleid. Noch ehe sie Guten Tag sagte, beschimpfte sie einen hinter ihr stehenden Mann mit Pferdeschwanz. Sie nannte ihn einen Scheißkerl. Rose fühlte sich wie zu Hause. Der Mann mit dem zurückgebundenen Haar umarmte Harold ungestüm.
Mrs Shaefer führte Rose in ein Schlafzimmer und bat sie, den Regenmantel aufs Bett zu werfen. Rose widersprach, er sei nass. Mrs Shaefer fand, das sei völlig egal. »Seit wann sind Sie hier?«, fragte sie. »Haben Sie schon etwas von der Stadt gesehen?«
Rose erzählte, Harold habe sie am Zaun des Weißen Hauses aussteigen lassen und ihr erklärt, dass es im Kolonialstil erbaut sei. Die Magnolienbäume hätten ihr gut gefallen. Dann habe er sie zu den Executive Buildings geführt.
»Er hat mir erzählt, dass Mr Truman sie für unzweckmäßig hielt und abreißen lassen wollte, aber Mr Kennedy hat es nicht zugelassen.«
»Typisch Harold«, sagte Mrs Shaefer. »Immer gut für spannende Informationen.«
In einem Raum von der Größe eines Hotelfoyers wurden Drinks serviert. Es gab drei Ledersofas, und grüne Glastüren öffneten sich auf einen Balkon. Rose bekam ein großes Glas mit etwas, das aussah wie Limonade. Es prickelte und war farblos bis auf ein Stückchen Zitrone, das ihr ständig im Weg herumschwamm. Es gab noch vier andere Gäste, eine Frau, einen Jungen und zwei Männer, Bud und Bob. Die Frau hieß Thora und trug weiße Bermudashorts. Mrs Shaefer wurde George genannt und ihr Mann Jesse. Der Junge sprach mit niemandem und verschwand, bevor das Essen serviert wurde. Washington Harold war mit den drei Männern zur Schule gegangen und hatte dann dieselbe Universität besucht wie Shaefer, der inzwischen Professor für Verfassungsrecht war und offenbar ziemlich oft zum Präsidenten gerufen wurde. Niemand erklärte, warum. Es wurde viel über Basketball gesprochen und über einen Trainer namens Curtis Parker.
Mr Shaefer schien sehr wütend auf Lyndon Johnson zu sein. Der Mann sei wahnsinnig, er habe den amerikanischen Traum in einen amerikanischen Albtraum verwandelt. Vier Tage bevor er verkündete, er werde die Nominierung für eine weitere Legislaturperiode nicht annehmen, hatte er erwogen, in Laos einzufallen, und noch einmal zweihunderttausend Soldaten nach Vietnam geschickt.
»Total wahnsinnig«, pflichtete Harold ihm bei.
Die Frau in den Bermudas gestand, dass sie früher furchtbare sexuelle Probleme mit Männern gehabt habe. »Aber dann hat mir Daddy einen Analytiker besorgt«, teilte sie der Runde vertraulich mit, »und jetzt bin ich in Ordnung.« Alle sprachen sehr laut, damit man sie über dem Autolärm von der Straße unten hören konnte.
Rose nahm von alledem nichts auf. Die Fahrt heute Vormittag war eine wirre Folge von Überführungen, Unterführungen, Kreuzungen, Einmündungen und Schlagbäumen gewesen. Vorfahrt beachten, signalisierten die Schilder in Hellgelb. Mal gab es Wiesen mit Kühen, dann einen braunen, angeschwollenen Fluss, einmal eine Stadt mit Eisenbahnschienen mitten auf der Straße. Die Bäume, die zu beiden Seiten vor dem Highway zurückwichen, troffen vom Regen. Sie hatte nichts in ihrem Kopf behalten können. Sie war eine leere Schachtel, nur Staub unter dem Deckel. Sie war bestürzt, dass sie Dr. Wheeler nicht angetroffen hatte, obwohl es nicht überraschend kam. Tief drinnen hatte sie gewusst, dass er nicht da sein würde.
»Ist es klug, nach Wanakena zu fahren?«, fragte Mrs Shaefer; sie sprach mit Harold. Das war der Ort, den Dr. Wheeler als Nachsendeadresse angegeben hatte.
»Vermutlich nicht«, antwortete er. »Aber was soll ich sonst machen?«
»Telefonieren«, schlug sie vor, aber er schüttelte den Kopf. Rose fand, dass er unter Freunden anders klang, weniger krittelig.
Sie setzten sich zum Essen in ein von Bücherregalen umrahmtes Zimmer; auf einem Hocker neben der Heizung stand eine Eule unter einem Glassturz. Daneben befand sich ein Becher mit einem Füllfederhalter. Rose sagte Mrs Shaefer, dass hohe Temperaturen für ausgestopfte Tiere schädlich seien. Sie wisse das, weil ihr Vater ihr erzählt habe, seine Schwester Margaret sei depressiv geworden, nachdem ihr in Sprunghaltung präpariertes Lieblingstier, das vor dem Schrank mit dem Heißwasserboiler gestanden hatte, wegen Mottenfraß auseinandergefallen war.
»Es war eine getigerte Katze namens Nigger«, sagte sie.
Harold runzelte die Stirn. Mrs Shaefer lächelte; ihr Gesicht mit den dunklen Augen, der weißen Haut und den vollen Lippen schien zu leuchten.
Rose verschlang alles, was auf dem Teller lag, selbst die matschigen Salatblätter. Vorher, als Harold eine Essenspause eingelegt hatte, war sie deswegen nicht mitgegangen, weil sie ihre Geldreserven nicht angreifen wollte. Das wenige, was sie hatte, brauchte sie für Notfälle, zum Beispiel, wenn ihr die Zigaretten ausgingen. Sie hatte zwei geraucht, während er im Café war. Er hatte nicht gesagt, dass er etwas gegen das Rauchen habe, aber es war wohl so, denn als er wieder ins Auto stieg, hatte er übellaunig mit der Hand gewedelt.
»Möchten Sie noch etwas?«, fragte Mrs Shaefer.
»Ja, bitte, Jesse«, sagte Rose.
»George«, korrigierte Mrs Shaefer.
Rose antwortete: »Vielen Dank. Sehr freundlich von Ihnen.«
»Meine Güte, sind Sie höflich«, sagte Thora.
Es gab keine Nachspeise, nur noch mehr zu trinken, und es wurde geraucht. Rose fühlte sich mittlerweile sicher genug, um den Zitronenschnitz aus ihrem Drink zu fischen. Mr Shaefer begann ein Gespräch mit Bud oder Bob über das Rassenproblem. Es ging hoch her, und irgendwann wurde Mrs Shaefer so wütend, dass sie ihrem Mann einen Schlag auf den Kopf versetzte. Er redete unaufhörlich davon, dass sich die neuen Reformen als verfehlt erweisen würden. Einerseits sei Gleichberechtigung für die Schwarzen richtig, befand er, aber letztlich werde sie nicht funktionieren. Die gebildeten Schwarzen würden aufsteigen und ebenso viel Erfolg haben wie Weiße, aber die Mehrheit, die Unterprivilegierten, würde im Vertrauen auf die Wohlfahrt und ohne die Notwendigkeit, das reine Überleben zu sichern, ihre wenigen ehrlichen Methoden des Geldverdienens verlernen und sich dem Verbrechen zuwenden. »Ihr glaubt, wir haben jetzt ein Problem«, rief er, »aber wartet mal dreißig Jahre. Denkt daran, wie Dollie die Zukunft eingeschätzt hat.« Da hatte Mrs Shaefer ihn geschlagen.
Einen Augenblick lang sprach niemand. Rose spürte, dass die plötzliche Stille nichts mit den Schwarzen zu tun hatte. Dann fuhr sich Washington Harold mit der Hand über den Mund und sagte mit einem Blick von Rose zu Jesse Shaefer: »Sie interessiert sich für Martin Luther King jr. Ich habe ihr erzählt, dass du dabei warst.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Rose. »Wirklich. Ich bin zu einer Freundin gegangen, um ihn im Fernsehen zu sehen.« Das war die Wahrheit. Sie hatte mit Polly und Bernard die Fernsehsendung angeschaut. Aus irgendeinem Grund hatte Polly geweint.
Jesse Shaefer schilderte erst einmal die Ereignisse im Vorfeld der Ermordung. Dr. King war nach Memphis zu einer Demonstration gefahren, die den sozialen Aufstieg der Farbigen forderte. Das Ganze war schlecht organisiert und artete in einen Krawall aus. Die Polizei eröffnete das Feuer; Ergebnis: ein Toter, sechzig Verletzte. Dr. King, ein überzeugter Pazifist, verließ Memphis.
Mrs Shaefer gähnte laut und stand auf. »Ich kenne das alles schon«, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Die anderen folgten kurz darauf und ließen Rose mit Jesse allein am Tisch. Er fragte: »Wollen Sie das wirklich hören?«
»Nur wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«
»Es ist ein wichtiges Stück Geschichte«, sagte er, »entscheidend für unsere Zukunft. Die Menschen müssen einen Blick für Konsequenzen bekommen.«
Er wirkte sehr selbstsicher; sie sah, wie seine Hand nach hinten griff und an seinem Pferdeschwanz herumfingerte.
»Am 4. April, einem Donnerstag, kam er wieder nach Memphis und stieg dort im Hotel Lorraine ab. Man hatte ihm vorgeworfen, dass er immer in den besten Hotels abstieg, deshalb wählte er eins, das weniger Anstoß erregen würde. Er blieb fast den ganzen Tag in seinem Zimmer Nr. 306 und sprach über seinen Glauben. Vermutlich wusste er, was passieren würde.«
»Herrje«, seufzte Rose.
»Er sagte, er habe die Angst vor dem Tod überwunden, und obwohl er gern lange leben würde – ein langes Leben sei etwas Schönes –, sorge er sich nicht mehr, er wolle nur Gottes Willen erfüllen. Gott habe ihm gestattet, auf den Berg zu gehen, und von dort habe er das Gelobte Land erblickt.«
Rose schwieg. Es klang sehr fromm.
»Gegen sechs Uhr trat er auf den Balkon. Jemand zeigte auf einen Mann in der Menge unten, der am Abend bei Kings Ansprache in der Kirche die Orgel spielen sollte. King sagte: »O ja, wunderbar. Sag ihm, er soll Precious Lord spielen, und er soll es wirklich schön spielen.«
Rose starrte ihn an und sah ihn nicht mehr. An seine Stelle war Dr. Wheeler getreten und beobachtete sie.
Sie war elf Jahre alt. Sie hockte neben einem Graben und untersuchte eine Gewehrkugel, die sie im Schlamm gefunden hatte. Sie wusste, wer er war, obwohl er uralt und deshalb fast unsichtbar war. Er wohnte hinter der Eisenbahnüberführung in dem Haus mit dem Türmchen. Seine Frau trug einen verrückten Panamahut und fuhr mit dem Rad. Wenn sie zur Pommesbude in der Brows Lane fuhr, hängte sie immer einen Korb an den Lenker, damit niemand sah, dass sie ihr Abendessen in Zeitungspapier eingewickelt heimbrachte. Er sagte: ›Wenn du einen Gegenstand so dicht vor die Augen hältst, schließt du den Rest der Welt aus.‹ Sie antwortete: ›Ja, danke‹, denn so antwortete man älteren Leuten.
»King beugte sich übers Balkongeländer. Als er sich wieder aufrichtete, fiel der Schuss.«
Ein Jahr später, im Winter, sprach er sie wieder an. Er trug einen Dufflecoat und einen grauen Trilbyhut. Sie versuchte gerade, einen toten Frosch aufzuspießen, der in einer zugefrorenen Pfütze unter den Föhren steckte.
»Er sackte zusammen und lag hingestreckt am Geländer«, sagte Shaefer.
›Was machst du da?‹, fragte er. ›Frösche aufspießen‹, antwortete sie. ›Das sind keine Frösche‹, korrigierte er. ›Das sind Kreuzkröten.‹
Harold kam ins Zimmer. »Ich bin gleich fertig«, beschwichtigte ihn Shaefer. »Alles in Ordnung da draußen?«
»Alles prima«, sagte Harold. »Bud verbreitet sich über die Zeit, als wir ins Lager fuhren und Mason jr. auf den Bär geschossen hat. Den Moment, wo er geschrien hat und in den Fluss gesprungen ist, hat er ausgelassen.«
Shaefer kicherte. Harold nahm ein Tablettenröhrchen, das neben dem Salzstreuer stand, steckte es in die Tasche und ging wieder hinaus. Rose sah er nicht an.
»Er hatte einen Füllfederhalter in der Brusttasche«, sagte Shaefer. Er zeigte auf den Becher neben der ausgestopften Eule. »Als er fiel, rutschte der Füller heraus und rollte in eine Ecke.«
Einen Monat später sah sie ihn wieder, allerdings wechselten sie da keine Worte. Einem plötzlichen Einfall folgend, bog sie hinter der Eisenbahnüberführung links ab und folgte der Schlackespur, die zu den Kohlelastern neben dem Kraftwerk führte. Sie ging nicht oft dorthin. Eine Weile kletterte sie auf den Lastwagen herum, rauf und runter, und warf Kohlebrocken in die Unterführung. Dann fand sie im Sand einen alten Hammer und eine hölzerne Munitionsschachtel mit zersplittertem Deckel. Sie spielte, dass sie im besetzten Frankreich war, auf der Flucht vor den Deutschen, und Verbindung zur Résistance hatte. ›Tommy Handley … Tommy Handley‹, klopfte sie, ›kann ich Sie jetzt versorgen, Sir?‹ Es war ein Geheimcode und bedeutete, dass sie auf ein Zeichen wartete, um die Bomben zu zünden. Es begann zu regnen, erst nur ein Sprühregen, dann ein Platzregen. Sie wollte schon in die Unterführung rennen und klopfte: ›Ich bin allein … warten Sie … warten Sie … Gefahr… ich bin nicht allein.‹
Shaefer sagte: »Er war wie erstarrt, bis auf das Blut, das aus einem großen Riss am Hals strömte.«
Dann stand sie so lange im Freien und ließ sich nass regnen, bis sie das Gefühl hatte, Gott habe sie rein gewaschen. Ihr Herzklopfen ahmte das verzweifelte Wumm! Wumm! der Boje nach, die am Horizont auf dem gleißenden Meer hin und her geworfen wurde. Als sie den Hammer von sich schleuderte, stürzte er wie ein Raubvogel in die Dünen. Sie betrat die Unterführung, wackelte auf Zehenspitzen am Metallgeländer entlang und hielt plötzlich inne. Vorn am Ausgang stand dunkel ein Mann. Als er sich abwandte, wurde das Gesicht einen Augenblick lang vom aprikosenfarbenen Licht erhellt, und sie erkannte Dr. Wheeler. Dann war er fort.
Shaefer sagte: »Wir wussten, er war hinüber.«
Nur noch einen Meter, und sie würde am Strand rauskommen. In diesem Augenblick stieß ihr Fuß gegen ein Hindernis am Geländer. Sie sah genauer hin und erkannte Billy Rotten, den Einsiedler, der in einer Treibholzhütte im Föhrenwald lebte. Schwarzer Schleim lief ihm aus dem Ohr. Er sah sie ängstlich an, hob die Hand und berührte ihren Mund. Dann sackte sein Körper zusammen. Sie spürte Feuchtigkeit auf den Lippen und leckte Blut ab. Sie sagte: »Entschuldigung, Mr Billy« und hastete weiter.
»Man sah es an seinen Augen…«, sagte Shaefer.
Seit dem Ersten Weltkrieg war Mr Billy nicht mehr der Alte, und wer gescheit war, kam ihm nicht zu nahe. Er litt unter einer Kriegsneurose, einem Gebrechen, das er sich zugezogen hatte, als ihm Erdklumpen aus den Schützengräben ins Gehirn geflogen waren. Mit der Zeit, erklärte Mutter, sei daraus eine ›Perversion‹ geworden, eine geheimnisvolle Krankheit, die ihn zwang, sich Kinder zu schnappen und etwas in sie hineinzustecken, das explodieren konnte.
»… sie standen weit offen, aber sie sahen nichts mehr.«
Sie rannte aus dem Tunnel und blickte nicht zurück. Das Meer verschluckte die blutrote Sonne, und die Welt wurde dunkel. Im ersterbenden Licht flimmerten die Silberstreifen des Strandhafers auf den Wanderdünen. Über dem schwarzen Koloss des Kraftwerks erschien das Blinken eines ersten Sterns. Nirgendwo eine Spur von Dr. Wheeler.
»Es war ein Weißer, der ihn umgebracht hat«, sagte Shaefer.
Sie erzählte niemandem, dass sie Dr. Wheeler an diesem Abend gesehen hatte, nicht einmal, als der Vikar ihre Mutter wegen des Laientheaters aufsuchte und sie ihn fragte, ob es stimme, was der Metzgerlehrling behaupte, dass Billy Rotten einem Bajonettstich zum Opfer gefallen sei. Der Vikar sagte, das stimme keineswegs, er habe von George Rimmer, dem Kohlenmann, gehört, Mr Rotten sei durch einen heftigen Schlag auf den Kopf gestorben. Sie hätten im Sand einen Hammer gefunden. Einmal in Gang gesetzt, wurde der Vikar rührselig, seine Augen glitzerten feucht, er sprach über das Gewissen und dass derjenige, der für ein solches Vergehen verantwortlich sei, niemals Frieden finden werde, weder in dieser Welt noch in der nächsten.
»Es war kein Mord aus Hass«, sagte Shaefer, »nur ein Versuch, die Aufmerksamkeit auf die Probleme unserer Zeit zu lenken.«
»Natürlich«, sagte Rose.
Shaefer schnäuzte sich, dann half er ihr aufzustehen. »Nur wohlhabende Leute«, dachte Rose, »können es sich leisten, sich wegen der Farbigen so aufzuregen.« Als er sie in das Zimmer mit den Sofas schob, duftete es dort nach Blumen. Jenseits der Glastüren überflutete ein purpurroter Sonnenuntergang den Himmel. Bud oder Bob stolzierte auf und ab, die Schultern hochgezogen und den Arm ausgestreckt. »Peng! Peng!«, schrie er und versuchte, das hupende Gewühl unten auf der Straße zu übertönen.
Rose kämpfte mit dem Schlaf und fand sich plötzlich zusammengesackt neben der Frau mit den Bermudashorts wieder; sie fragte sie, warum Harold Tabletten nehme.
»Die Verdauung«, sagte Thora. »Er leidet unter Blähungen.« Sie legte einen Arm um Rose und schüttelte sie. Dann beugte sie sich näher zu ihr und flüsterte: »Das war sicher ein Schlag … als Sie Fred nicht angetroffen haben.«
»Fred«, echote Rose.
»Wheeler«, sagte Thora. Obwohl der Tag verblasste, reflektierten ihre dicken Knie das Licht.
»Sie kennen ihn?«, rief Rose.
»Psst«, zischte sie. Sie streckte sich und lächelte Harold, der sich zu ihnen umgedreht hatte, nichtssagend zu.
Schließlich schlug Jesse Shaefer vor, Rose solle hier übernachten. Harold werde den Campingbus bestimmt nicht unbeaufsichtigt in der Tiefgarage stehen lassen, nicht mit dem Gepäck auf dem Dach, aber deshalb brauche Rose nicht auch auf ein richtiges Bett zu verzichten. Seine Frau gab ihm recht. Harold nickte nur.
Als es schon ziemlich dunkel war, wurden Kerzen angezündet, und Schatten wanderten über die Zimmerdecke. Harold begann von einem Mann zu erzählen, der für den Tod von jemand anderem verantwortlich war, obwohl er keinen Finger am Abzug gehabt hatte. Rose sah nicht sein ganzes Gesicht, nur wie seine Lippen die Worte über seinem Zottelbart ausspuckten.
»Mrs Stanford war sehr taktvoll«, unterbrach sie ihn, »sie hat ihren verstorbenen Mann nie erwähnt.«
Mrs Shaefer brachte sie in ein Zimmer mit einem Poster an der Wand, auf dem ein Junge mit sehr kurzem Haar Baseball spielte.
»Ich bin nicht ganz bei mir«, gestand Rose. »So weit weg von daheim. Und mit Harold ist es nicht leicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er mich mag.«
»Morgen früh sieht alles anders aus«, sagte George. »Schlafen Sie erst einmal darüber.«
»Er ist sehr herrisch«, beharrte Rose. »Sehr selbstsicher.«
»Komisch, dass Sie das finden«, sagte George und schob sie aufs Bett. »Man findet wohl schwerlich einen Mann, der weniger selbstsicher ist.«
»Ich kann mich nicht ausziehen«, protestierte Rose, zerrte sich die Schuhe von den Füßen und krabbelte unter das Laken. »Ich geniere mich vor Fremden. Zu Hause haben wir uns nie ausgezogen.«
»Kein Problem«, sagte Mrs Shaefer.
»Diese Dame in der kurzen Hose«, murmelte Rose, schon halb eingeschlafen, »sie sagt, sie kennt Dr. Wheeler.«
»Wir kennen ihn alle«, erwiderte Mrs Shaefer und zog die Tagesdecke nach oben, als wäre sie ein Leichentuch.
Harold wachte früh auf und nahm sicherheitshalber eine Tablette. Seine Bauchschmerzen waren auf wundersame Weise verschwunden, als er Dollie kennengelernt hatte, und wiedergekommen, nachdem sie ihn verlassen hatte. Seine Mutter, eine strenge Frau, glaubte nicht an Verdauungsbeschwerden. Solche Störungen, fand sie, entstünden in den Gehirnen derer, die nicht bereit seien, sich der Realität zu stellen; ihr erster Mann hatte nach dem Börsenkrach 1929 eine Dickdarmentzündung bekommen.
Er kontrollierte, ob sich jemand an der Plane zu schaffen gemacht hatte. Vorsichtshalber zog er die Pappschachtel heraus, wickelte sie aus dem Kissenbezug und schob sie unter den Fahrersitz. Dabei bekam er ein Papier zu fassen; es war der Zeitungsausschnitt, den er in Baltimore an die Schlafzimmertür gepinnt hatte. Er stopfte ihn in die Tasche, dann ging er nach oben in die Wohnung. Rose schlief immer noch.
Jesse machte Frühstück. Er und George zeigten sich besorgt über sein Vorhaben. Sie fanden es bedauerlich, dass die Begegnung nicht in Washington stattfand, wo sie ihm hätten helfen können. Drei Köpfe seien besser als einer, schließlich seien fünf Jahre vergangen, und Wheeler trage nicht allein die Schuld. Man habe auf beiden Seiten Fehler gemacht.
»Du könntest wenigstens noch ein paar Nächte bleiben«, sagte George. »Ich habe am Donnerstag Geburtstag.«
»Sie wird schon wieder sechsundvierzig«, sagte Jesse.
»Ich muss ihn sehen«, widersprach Harold. »Ich muss ihm etwas sagen.«
Das stimmte nicht. Es gab nichts mehr zu sagen, und selbst wenn er Worte gefunden hätte, wären sie ihm im Hals stecken geblieben. Bevor er Dollie kennengelernt hatte, war er ein ganz vernünftiger Mann gewesen, fast schon langweilig. Er machte sich diesbezüglich nichts vor. Als er ein Junge war, hieß es, er sei zurückhaltend, eine freundliche Umschreibung. Dollies Verhältnis mit ihm hatte alle überrascht, ihn selbst am allermeisten. Sie hatten versucht, ihn zu warnen. Bud hatte ihn damals in der Herrentoilette des Restaurants Monticello beiseitegenommen und relativ zartfühlend gefragt, ob er wisse, auf was er sich da einlasse. Er hatte gebrüllt, das sei ihm egal, und Bud hatte ihn mahnend darauf hingewiesen, Leidenschaft sei ein zweischneidiges Schwert. Sie steche einem nicht nur ins Herz, sondern auch in den Verstand.
Jesse stellte einen Teller mit Spiegeleiern auf den Tisch und sagte, er finde es seltsam, dass Wheeler dem Mädchen keinen richtigen Brief geschrieben, sondern nur eine Adresse hinterlassen habe. Das sei, als spiele er nur mit ihr.
»Hat er jemals etwas anderes getan?«, fragte George.
Keiner von ihnen begriff Wheelers Freundschaft mit Rose. Sie war alles andere als sein üblicher Frauentyp. George empfand sie als beinahe einfältig.
»Die Briten haben da eine andere Einstellung«, hielt Jesse dagegen. »Das fällt mir immer wieder auf. Es kommt wohl daher, dass diese Kultur auf Isolation gründet … der Isolation eines Inselvolkes.«
»Sie hat mir erzählt«, berichtete George, »dass ihr Vater ihr Leben zerstört hat und ihre Mutter an Spritzen gestorben ist, die man normalerweise Pferden gibt.«
Jesse meinte, das sei der Gin gewesen. Und Rose sei sehr jung, kaum mehr als ein Kind.
George sagte: »Ihr Vater kannte Wheeler und hat ihn als Gauner bezeichnet. Offenbar wohnten sie in derselben Straße. Einmal wurden sie fast handgreiflich, wegen einem Sitzplatz im Zug. Mit dieser lächerlichen Geschichte platzte sie heraus, als wir gerade mit Bob darüber redeten, dass Johnson noch mehr Truppen nach Vietnam geschickt hat.«
»Sie ist älter, als ihr denkt«, sagte Harold. »Sie ist fast dreißig.«
Er besprach die Route nach Wanakena. Er wollte Richtung Jersey City fahren und dann den Hudson flussaufwärts über Poughkeepsie, Rhinebeck und Ravena; in Corinth würde er Zwischenstation machen und Chip Webster besuchen. Jesse staunte, dass er immer noch Verbindung zu Webster hatte. Er habe nicht gewusst, dass sie so gut Freund seien.
»Sind wir auch nicht«, sagte Harold.
George fand es schade, dass er New York umfuhr. Da kam dieses Mädchen von so weit her und ließ sich Ellis Island entgehen! Die Briten seien doch so scharf auf Vergangenheit.
Harold erwiderte: »Ich bezweifle, dass Rose jemals von Ellis Island gehört hat. Die einzige Vergangenheit, die sie interessiert, ist ihre eigene.«
Als Rose sich zu ihnen gesellte, war er verblüfft über ihr Aussehen. Ihre Kleidung war zwar noch ärger zerknittert, doch ihr Gesicht hatte sich verändert. Nicht dass sie hübsch gewirkt hätte, aber ihm fielen zum ersten Mal die gewölbten, dunklen Augenbrauen unter dem hellen Wuschelkopf auf.
Sie wandte sich an George. »Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie ich mich gestern Abend aufgeführt habe. Ich war ein bisschen aus dem Takt.«
George winkte ab. »Nicht so schlimm wie Bud«, sagte sie. »Der hat sich im Lift übergeben.«
»Ich habe einen komischen Traum gehabt« sagte sie, »von Dr. Wheeler. Er ist über einen Friedhof spaziert und hat Namen aufgeschrieben.«
Niemand antwortete. Jesse spielte mit der Kaffeemaschine. Harold starrte auf die Straßenkarte und dachte an einen Morgen im Hochsommer mit Vogelgezwitscher in den Bäumen und zuckenden Insekten über einem See, der in der Sonne glitzerte. »Aber ich liebe dich doch«, hatte sie beteuert, und er, krank vor Angst, hatte gesagt, Liebe sei nicht das Problem. Liebe falle vom Himmel, ungefragt, unverdient. Seine Mutter habe er geliebt. Das Schwierige sei es, jemanden gernzuhaben.
George fragte: »Weiß Wheeler, dass Sie mit Harold fahren?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Rose. »Ich habe ihm zwar geschrieben, dass ich einen netten Amerikaner kennengelernt habe, aber ich habe keinen Namen genannt, weil Harold damals noch nicht erwähnt hatte, dass er ihn kannte – erst viel später. Da hatte Dr. Wheeler Chicago schon verlassen. Meinen nächsten Brief hat er bestimmt nicht erhalten.«
»Das ist ein interessantes Phänomen«, sagte George, »wenn du wissen willst, wie du wirklich über jemanden denkst, musst du darauf achten, welchen Eindruck seine Handschrift auf dem Briefumschlag auf dich macht.«
»Es wird langsam Zeit«, unterbrach Harold sie und faltete die Karte zusammen.
George fragte Rose, was sie frühstücken wolle. Sie sagte: »Nichts, danke, nicht nach diesem mächtigen Abendessen.« Jesse reichte ihr einen Apfel, groß und rot, und sie biss ungestüm hinein.
Als sie sich verabschiedeten, küsste Rose George Shaefer auf die Wange. George hob den Saum ihrer Schürze und tupfte die Stelle ab. Jesse begleitete seine Gäste zum Lift und drängte Harold, mit ihm in Verbindung zu bleiben. »Du kannst mich jederzeit anrufen«, beteuerte er und umarmte ihn. Auch Harold drückte ihn an sich, was beide überraschte. »Na, na«, murmelte Jesse und klopfte ihm auf die Schulter.
Als sie zum Campingbus kamen, schleuderte Rose den halb gegessenen Apfel auf den Tiefgaragenboden. Der Aufprall kam als Echo von den Betonwänden zurück. Harold ballte die Fäuste, sagte aber nichts. In seinem Kopf entstand ein Bild, wie er sie um Mitternacht auf einem einsamen Highway stehen ließ. Er würde rasch beschleunigen und zusehen, wie ihr Bild im mondbeschienenen Rückspiegel immer kleiner wurde.
Bevor sie Washington verließen, fuhr er die Wisconsin Avenue entlang, wo er vor Jahren mit Chip Webster in einer Zweizimmerwohnung gelebt hatte. Das Haus sah fast noch genauso aus, nur dass die Äste des damals frisch gepflanzten Ahorns jetzt über dem Dach schwankten. Er habe im Erdgeschoss gewohnt, erzählte er Rose, und sie fragte ihn, ob er dort glücklich gewesen sei. »Glücklich?«, wiederholte er, als sei das ein Wort in einer fremden Sprache. Dann erklärte sie, den Apfel habe sie weggeworfen, weil sie an Obst nicht gewöhnt sei, wegen der Rationierung in ihrer Kindheit. Er war verblüfft; das klang nach einer Entschuldigung.