7
Bevor Harold zu Bett ging, fragte er Mirabella, ob es in Ordnung sei, wenn er länger bliebe, keine weitere Nacht, aber vielleicht noch einen Großteil des nächsten Tages. Es tue ihm gut, bei ihr zu sein und seine Verbundenheit mit Gerhardt zu erneuern, aber noch wichtiger sei es, dass der Rosenbusch über Dollies Grab beschnitten werde. »Er ist zu groß geworden«, sagte er mit brüchiger Stimme. »War zu erwarten.«
Sie antwortete, er könne bleiben, solange er wolle, unter den herrschenden Umständen brauche sie ihn sogar. Er wusste, was sie meinte. Sie war verrückt nach Gerhardt Kelmann, aber es war keine glückliche Verbindung – er machte ihr Kummer.
Als er aufwachte, wunderte er sich nicht, dass Kelmann von der Couch neben dem Kamin verschwunden war; nur Mütze und Hose lagen in einem Häufchen vor dem Holzstoß. Er stürzte ein Glas Milch hinunter, nahm sich ein Tranchiermesser aus der Küchenschublade und trat in den Wald hinaus. Er untersuchte den Campingbus, der auf einer Lichtung hinter dem Haus geparkt war, und ärgerte sich über die Vogelkleckse auf der Motorhaube. Kelmanns und Mirabellas Wagen waren unberührt.
Der Busch über Dollies Grab hatte sich völlig unkontrolliert nach oben geschraubt. Zitronengelbe Blumen drängten sich zwischen die verwelkten und welkenden Blüten; die spitzen Dornen ritzten ihm die Haut an den Armen auf.
Nach etwa einer Stunde streckte er sich außer Atem auf dem farblosen Gras aus. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte Dollies Gesicht nicht mehr sehen. Einen Monat, bevor sie ihn wegen Wheeler verließ, hatte sie einmal gesagt, die Zeit werde dafür sorgen, dass er sie vergesse, sie werde verblassen wie Farbe. »Farbe kann ein Leben lang halten«, hatte er geschrien. Er werde aufhören, an sie zu denken, beharrte sie, denn er sei der schuldlose Teil; sie, die Verräterin, werde ihn nie vergessen. Er fand das ein fadenscheiniges Argument.
»Da bist du ja«, brummte eine Stimme, und Gerhardt Kelmann ließ sich neben ihn fallen. »Sag, wenn ich störe, dann verschwinde ich.«
Er kannte Kelmann nicht gut, aber er wusste, dass er noch Schlimmeres erlitten hatte als er selbst. Für ein Kind war die Konfrontation mit einem plötzlichen Tod bestimmt noch entsetzlicher als für einen Erwachsenen. Mit elf Jahren hatte Kelmann seinen Vater, einen Dachdecker, mit eingeschlagenem Schädel hingestreckt auf einem Fußweg in Richtung der Bahnstrecke nach Long Island gefunden. Niemand war angeklagt worden, niemand bestraft, aber das war die Person, die für Dollies Ende verantwortlich war, auch nicht. Noch nicht.
»Das Schlimmste«, sagte er, setzte sich auf und trat nach der Erde rings um das Grab, »ist die Erkenntnis, dass die Zeit das meiste auslöscht.«
»Das muss so sein«, sagte Kelmann, »sonst würden wir verrückt.«
Die Sonne war jetzt sehr stark, sie schoss feurige Pfeile zwischen das filigrane Laub. Kelmann zündete sich eine Zigarette an. Er stieß den Rauch aus und sagte: »Sie ist ein komisches Mädchen.«
Harold nickte. Er wusste, wen er meinte.
»Sie spricht nur von ihrer Schulzeit.«
»Ja«, sagte er, »stimmt.«
»Weißt du, warum?«
»Ist nicht mein Bier.«
Beide schwiegen. Harold rubbelte mit dem Daumen über den geschwollenen Stich auf seiner Wange. Er ärgerte ihn nicht mehr, war schon ein Teil von ihm geworden.
Kelmann sagte: »Sie hat mir erzählt, dass ihr beide nach Fred Wheeler sucht.«
»Sie sucht, ich bin nur der Chauffeur«, erwiderte er. Er kniete sich hin und steckte das Messer in die Erde, die sein Liebesgespenst barg; der Metallgriff zitterte und blitzte silbern. »Ich muss allein sein«, sagte er zu Kelmann und schritt Richtung See.
Als er eine Stunde später ins Haus zurückkehrte, kümmerte er sich um seine zerkratzten Arme. Mit einem Handtuch aus dem Badezimmer wischte er das Blut ab. Als er ins Wohnzimmer hinüberging, war Mirabella allein. Sie sagte, Gerhardt und Rose seien ins Dorf spaziert und sähen sich indianisches Kunsthandwerk an; seine Freundin sei hinter Skalps her, unter anderem auch hinter dem von Gerhardt. Ob ihm nicht aufgefallen sei, wie sie sich an ihn kuschle?
»Sie ist nicht meine Freundin«, protestierte er. »Und Rose ist nicht interessiert an Männern, nur an Wheeler. Sie lebt in der Vergangenheit.«
»Wer tut das nicht?«, klagte Mirabella, und schwarze Tränen tropften aus ihren Kajalaugen. Sie war unfähig, sich stillzuhalten, stakste ruhelos durchs Zimmer, fingerte an den Verzierungen am Kaminsims herum, glättete die Tischdecke, schaltete das Radio ein und aus.
»Setzt dich um Gottes willen hin«, brüllte er. Sie ließ sich aufs Sofa fallen, drückte das Gesicht in ein Samtkissen, und ihre Schultern bebten vom Schluchzen.
Sofort kauerte er sich neben sie und tätschelte ihr den Kopf. »Du hast immer gewusst, dass es nicht funktionieren wird«, besänftigte er sie. »Kelmann ist nicht der Typ, der sich mit nur einer Frau begnügt … hast du selbst gesagt.«
»Wissen und Hoffen ist zweierlei«, entgegnete sie mit erstickter Stimme. »Gerade du müsstest das verstehen.«
»In meinem Fall liegt die Hoffnung schon lang unter der Erde.«
Sie setzte sich auf und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Ich bin nur müde«, murmelte sie und ließ zu, dass er sie in die Arme nahm.
Sie saßen immer noch so, ihr Kopf an seiner Brust und sein Mund in ihrem Haar, als Rose und Kelmann zurückkamen. Rose hatte einen Strauß Goldruten im Arm. »Die sind für Sie«, sagte sie und hielt sie Mirabella hin.
»Das sind Wildblumen«, sagte Harold, »die sind in einer Stunde verwelkt.« Er ließ Mirabella los, stand auf und deutete an, Kelmann solle seinen Platz einnehmen. Kelmann grinste und blieb stehen.
»Wir haben einen Mann kennengelernt«, plapperte Rose, »ein direkter Nachfahre eines Indianers namens Little Bush Fire. Er hat eine große Nase, bisschen so wie meine. Er sagte, es würde ihn nicht wundern, wenn wir von denselben Vorfahren abstammten.« Sie umklammerte noch immer ihren Goldrutenstrauß, lief zum Kamin, stellte sich auf die Zehenspitzen und musterte in dem darüberhängenden Spiegel ihr Gesicht.
»Heute ist ein besonderer Tag«, sagte Kelmann zu Mirabella. »Zum Gedenken an einen Vorfall vor zweihundert Jahren.«
»Aha«, antwortete sie. »Ist mir so was von egal.«
»Da kam ein britischer Oberst hierher und hat mit einem Indianerhäuptling Freundschaft geschlossen.«
»Hochinteressant«, sagte sie, und ihre Stimme troff von Hohn. Sie sah ihn an wie etwas, das unter einem Stein hervorgekrochen war.
»Nachdem ein bisschen wertloser Kram den Besitzer gewechselt hatte, sagte der Häuptling, es sei in Ordnung, die Siedler dürften loslegen. Er versprach sogar, Holz für Hütten zu liefern.«
»Das war doch nett, oder?«, sagte Rose.
»Das Pech war nur«, fuhr Kelmann fort, »dass diese sogenannten Siedler in Wirklichkeit die wahnsinnigen Insassen englischer Gefängnisse waren … also Verrückte und Verbrecher.«
Mirabella weinte wieder, das Kissen vor den Mund gedrückt.
»Man muss auch Verständnis haben«, sagte Rose. Sie wandte sich zu Kelmann um und fuhr mit einem Finger den Umriss ihrer Nase nach. »Wahrscheinlich waren sie wegen ihrer schrecklichen Kindheit ganz durcheinander.«
»Teufel noch mal!«, donnerte er. »Die kamen hierher, haben die Eingeborenen abgeschlachtet und dann mit dem Bergbau ein Vermögen verdient!«
Rose starrte ihn erschrocken an. Dann ging sie zur offenen Tür und blieb mit hochgezogenen Schultern stehen. Harold folgte ihr.
»Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Wirklich.«
»Um dich mach ich mir keine Sorgen«, zischte er, stieß sie die Stufen hinunter und ging mit großen Schritten unter die Bäume.
In einiger Entfernung vom Friedhof stellte er sie zur Rede. Sie hätte nicht mit Kelmann weggehen dürfen. Ob sie nicht kapiere, dass Mirabella mit ihm reden wolle?
»Aber Mirabella hat doch selbst gesagt, wir sollen gehen«, widersprach Rose.
»Hast du nicht gemerkt, wie sehr sie das verletzt hat?«
»Sie weint nicht wegen ihm«, rief sie. »Der ist ihr piepegal.«
Er starrte sie an. Sie fegte sich mit den Blättern der Wildblumen über die Wange, und zum ersten Mal nahm er ihre Augenfarbe wahr.
Sie sagte: »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, aber irgendwas ist vor langer Zeit passiert. Wie war sie denn früher?«
»Darüber will ich nicht reden«, sagte er. »Ich habe anderes im Kopf.«
In diesem Moment fragte sie ihn, warum er ihr nicht von seiner Frau erzählt habe. Das sei seine Privatangelegenheit, beharrte er. Es verblüffte ihn, wie sie das Gespräch von sich abgelenkt hatte. Er sagte: »Deine Augen … die sind ja grün.«
Sie lächelte. »Du hast mich noch nie angesehen«, sagte sie, »jedenfalls nicht richtig. Deshalb schnauzt du mich ständig an. Amerikaner sagen nie die Wahrheit … Ich meine damit nicht, dass du lügst, sondern dass du es einfacher findest, Dinge zu verheimlichen. Wo ich herkomme, spricht man alles aus.«
Er zeigte ihr Dollies Grab. Sie sagte nicht viel, nur dass die Rosen malträtiert aussähen. Dann gestand sie, sie mache sich Sorgen, ob sie noch bis zu dem Ort kämen, wo sich Dr. Wheeler aufhalte. Sie müsse ziemlich bald nach England zurück, sonst würde sie ihren Job verlieren.
Als sie wieder zum Haus kamen, war Kelmann fort. Mirabella drückte sich ein Handtuch an die Lippen. Es war dasselbe, das Harold für seine zerkratzten Arme benutzt hatte. Sie sagte, Kelmann habe sie geschlagen, bevor er wegging. Sie war ganz ruhig, und obwohl sie rote Wangen hatte, schien ihr Mund nicht geschwollen.
Sie küsste Rose zum Abschied und bedauerte, dass sie fortmusste. Als Rose und Harold von dem schmalen Sträßchen auf den Highway rumpelten, näherte sich Kelmanns Wagen aus der Gegenrichtung.
»Harold, halt…«, rief Rose, aber er bremste nicht. Er hatte genug eigene Probleme.