6

Weiter ging die Reise über schimmernde Straßen, gesäumt von krausen Bäumen. Wunderbarerweise oder vielleicht dank Webster war das Klappern im Motor verschwunden.

Rose fühlte sich jetzt, wo sie Harold tatsächlich berührt hatte, wesentlich wohler. Er zeigte es nicht, aber sie spürte, dass die Feindseligkeit zwischen ihnen abgenommen hatte. Es war ein bisschen wie bei der Scheu, die man empfindet, bevor man Sex hat, und der lockeren Vertrautheit, die sich einstellt, wenn es erst einmal passiert ist. Ihr war während der Präliminarien immer unbehaglich zumute, sie wusste nie, wie sie sich benehmen sollte, schwamm sich aber während des Aktes frei und verspürte eine tränenselige Erleichterung, wenn die Liebe verpuffte wie Wasserdampf aus einem Kessel.

Trotz ihres neuen guten Einvernehmens fand sie Harold immer noch sonderbar. Eine Weile palaverte er darüber, wie schlecht Webster die Frau mit den lackierten Zehennägeln behandelt hatte. Ganz offensichtlich habe er seine Liebhaberin bloßstellen wollen, er lasse es an Respekt fehlen. Rose fühlte sich verpflichtet, auszuführen, dass es nur männliche Liebhaber gebe, keine Liebhaberinnen; Dr. Wheeler als gebildeter Mann habe sie diesbezüglich korrigiert, nachdem sie von ihrem Verhältnis mit einem beleibten Physikprofessor erzählt habe. Außerdem habe es sich bei Scharlachzehe um Websters Schwester gehandelt, und sie sei so hysterisch gewesen, weil ihr Mann sie vor Kurzem wegen einer jüngeren Frau verlassen habe und der gemeinsame Sohn das übel nehme. Er heiße Milton – der Junge –, nach der Stadt, in der er geboren sei, nicht nach dem Dichter.

Darauf sagte Harold nichts und blieb auch stumm, während sich der Wagen einem verschwommenen Gebirge näherte. Rose blickte ihn von der Seite an, den buschigen Bart, die braunen Flecken auf den schwammigen Händen, sein ständig wippendes linkes Knie. Bestimmt handelte es sich bei ihm um eine in Finsternis verstrickte Seele. Vielleicht suchte er Dr.Wheeler deshalb so dringend, genau wie sie. Vor vielen Jahren, als sie geglaubt hatte, sie sei nicht mehr zu retten, hatte Dr. Wheeler ihr den Weg gewiesen. Er hatte nie etwas ausdrücklich erklärt, niemals von Gott gesprochen, sondern sie nur angestoßen und zu der Überzeugung gebracht, dass Erlösung nottat.

 

Aus der Vogelperspektive gesehen, liegt Wanakena nicht weit von Kanada. Es war Indianerland, und ursprünglich waren Siedler hier hergekommen, um Bäume zu fällen und in Bensons Bergwerk zu arbeiten. Harold wusste nicht genau, was man aus dieser Mine gefördert hatte, es dürfte wohl Eisenerz gewesen sein. Rose hatte in der Schule davon gehört, im Zusammenhang mit Altwasserarmen. Es gab ein kleines Dorf, einen Wald, einen Friedhof, einen See und einen Fluss. In einigen Gärten loderten Sonnenblumen, und ein Laden verkaufte Indianersouvenirs. Harold meinte, außer falschen Skalps und Pfeilspitzen finde man dort nichts Interessantes.

Seine Freundin Mirabella wohnte in einem eingeschossigen Blockhaus auf Stelzen; eine Holztreppe führte auf ein kleines, völlig von Bäumen eingeschlossenes Grundstück hinunter. Sie musste immer das Licht brennen lassen, weil die Sonne nie in die Fenster schien. Sie war mittleren Alters, sah gut aus und trug Reithosen, obwohl sie kein Pferd besaß. Wenn sie sprach, klang sie sehr selbstsicher und herrisch, ein wenig wie Mrs Shaefer. Das kam daher, dachte Rose, dass amerikanische Frauen keine Hemmungen hatten, sich Männern überlegen zu zeigen.

Die Zimmer waren geräumig, hatten riesige Kamine und standen voller Eichenmöbel, dennoch entschuldigte sich Mirabella ständig dafür, dass es an Annehmlichkeiten fehle. Sie komme immer Anfang Juni hierher, um der Hitze in ihrer New Yorker Wohnung zu entfliehen. »Sie können sich gar nicht vorstellen«, sagte sie zu Rose, »was das für ein Backofen ist.«

Dr. Wheeler war nicht da. Mirabella sagte, sie habe ihn seit zwei Jahren nicht zu Gesicht bekommen, aber vor wenigen Tagen habe er ihr geschrieben, seine Freundin Rose sei wohl in den Staaten, und sie könne ihn über eine Adresse in Kalifornien erreichen.

Harold schien nicht überrascht, er bat nicht einmal darum, den Brief sehen zu dürfen. Er richtete Mirabella Grüße von Shaefer aus und brach dann auf einem der vielen Sofas zusammen. »Ach«, fiel ihm ein, »Jesse bat mich, dich zu erinnern, dass du noch immer sein Poster von Lyndon Johnson als Cowboy hast.«

Mirabella war sehr gesprächig. Sie erzählte von einer Miss Durant und einer Miss Jenks, die 1910 aus New York gekommen seien und zehn Häuser aufgekauft hätten, darunter auch das, in dem sie nun saßen. Wahrscheinlich waren sie mehr als nur Freundinnen gewesen, obwohl das in jener Zeit niemals nach außen drang. Über dem Hauptkamin hing ein Foto von Miss Jenks. Sie war sehr alt, ihr Mund eine grimmige, bleistiftdünne Linie, und sie trug eine Männermütze. Vor ihr hatte hier eine Musiklehrerin namens Madame Tweedy schockierenderweise mit einem Holzfäller zusammengelebt. Als dieser an einer rätselhaften, klaffenden Halswunde starb, wurde er durch ein Mädchen ersetzt, das dermaßen einem Leoparden glich, gefleckt und zähnefletschend, dass die Dorfbewohner schreiend davonliefen. »Ich habe irgendwo eine Zeichnung«, sagte Mirabella, sprang auf und begann in den Schubladen zu stöbern.

»Könnte ich bitte Dr. Wheelers Brief sehen?«, fragte Rose.

»Später, später«, versprach Mirabella. Als sie die Zeichnung von dem Leopardenmädchen nicht fand, erzählte sie von der unglücklichen Familie McDill, die jenseits des Oswegatchie River gelebt hatte. »Sie hatten vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Zwillingsjungen, einer davon hatte rote Haare.«

»Hat er gesagt, warum er ständig weiterzieht?«, sagte Rose.

»Er war erst ein Kind, nicht älter als sechs Jahre, da hatte er offenbar eine tote Wildkatze zum Leben erweckt, die von da an immer den Mond anheulte. Es hieß, er sei vom Teufel besessen. Blanke Idiotie. Die Obrigkeit hat ihn weggebracht, und seine Schwestern wurden Prostituierte.«

»Ich muss den Brief sehen«, sagte Rose.

»In jener Zeit lagen die Tragödien einfach in der Luft«, stellte Mirabella fest.

»Heutzutage auch«, sagte Rose. »Das hat sich nicht geändert.«

Als Harold aufwachte, gab es etwas zu essen, rosa Lamm, nicht richtig durchgebraten, begleitet von einer Menge grüner Beilagen. Harold sagte: »Jesse hat dich wohl angerufen«, und Mirabella nickte. Das folgende Gespräch drehte sich hauptsächlich um die Shaefers und wie gut Jesse und George ihr Leben meisterten, abgesehen von dem Problem, dass ihr einziges Kind offenbar drauf und dran war, sich Ärger einzuhandeln.

»Bleibt nächtelang weg«, sagte Mirabella.

Harold erwiderte: »Das kann man ihm kaum verdenken.«

Es dauerte eine Stunde, bis Rose noch einmal Dr. Wheelers Brief zur Sprache bringen konnte; da war Harold schon wieder zum Sofa gestolpert. Nach dem Geschnaufe zu urteilen, das bald darauf den Samtkissen entstieg, versank er wieder im Land der Träume.

»Tut mir leid, wenn ich lästig bin«, sagte Rose, »aber ich muss diesen Brief sehen.«

Er war sehr kurz, nur eine Adresse in einer Stadt namens Malibu, die an Rose weitergeleitet werden sollte, und die höfliche Hoffnung, dass es Mirabella gut gehe. Roses Name war nicht einmal großgeschrieben.

»Wir hatten damals eine schöne Zeit miteinander«, sagte Mirabella. »Einmal fuhren wir alle auf Freds Kosten nach Paris. Jesse … Bob Maitland … und ich.«

»Wann ist Dr. Wheeler abgefahren?«, fragte Rose.

»Abgefahren?« Mirabella machte ein verwundertes Gesicht.

»Er hat geschrieben, er sei hier«, sagte Rose. »Deshalb bin ich ja gekommen. Ich habe in Washington einen Brief erhalten.«

Mit einer Gabel schob Mirabella die restlichen Salatblätter in eine Papiertüte; einer ihrer Finger war mit Heftpflaster verklebt. »Was sollte er hier?«, fragte sie. »Er ist auf Wahlkampftour für Kennedy irgendwo in Oregon.«

»Aber der ist tot«, sagte Rose.

Mirabella lachte leise. »Nicht der«, korrigierte sie. »Sein Bruder.«

Es war Abend, als Harold erwachte. Er kratzte sich am Bart wie ein Mann, der von irgendwelchem Krabbelgetier befallen ist, und sagte, er müsse spazieren gehen. Als Rose fragte, ob sie mitkommen dürfe, lehnte er rundweg ab. »Du gehst nicht raus«, befahl er.

»Der Rosenstrauch wird dir gefallen«, sagte Mirabella. »Er klettert bis in den Himmel.«

Sie gab ihm eine Taschenlampe, falls es dunkel wurde. Bevor er ging, entschuldigte er sich dafür, dass er sie mit Rose allein ließ. »Du musst sie im Haus halten«, sagte er. Sie antwortete, er solle sich keine Sorgen machen, sie habe schon verstanden. Rose fand beide unverschämt.

Als er fort war, fragte Mirabella, wo sie und Harold sich kennengelernt hätten. Ihrem funkelnden Blick nach glaubte sie wohl, dass sie mehr als nur Freunde waren.

»Bei Bekannten von mir … Polly und Bernard … vor ungefähr einem Jahr. Bernard macht häufig Geschäfte mit Amerikanern. Ich glaube nicht, dass Harold mich versteht, nicht so richtig … wir sind nicht auf derselben Wellenlänge … aber er war sehr nett und hat mein Flugticket bezahlt. Ich selbst habe nicht viel Geld, und es ist ein Glück, dass er Dr. Wheeler genauso dringend finden möchte wie ich. Sie kennen sich schon lange.«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Mirabella. Sie ging zum Herd, machte sich dort zu schaffen und fingerte an einem Glas Kaffee herum. Sie lächelte leise, wie jemand, dem gerade ein Witz eingefallen ist.

»Ich war noch ein Kind, als ich Dr. Wheeler kennengelernt habe«, sagte Rose. »Er hat sich für mich interessiert.«

»Das ist ungewöhnlich«, sagte Mirabella. »Fred konnte Kinder nicht ausstehen.«

»Er hat immer gesagt, wenn ich ihn mal bräuchte, würde er auf mich warten.«

»Aber diesmal nicht«, sagte Mirabella.

»Ich hatte eine schwierige Kindheit«, platzte Rose heraus. »Dr. Wheeler hat mich gerettet. Er hat mir sozusagen den Kopf zurechtgesetzt.«

»Sie Glückliche«, sagte Mirabella.

»Macht es Ihnen was aus«, fragte Rose, »wenn ich mir die Beine vertrete?« Sie bewegte sich Richtung Tür.

»Lassen Sie Harold lieber in Ruhe«, sagte Mirabella. »Er besucht seine Frau.«

Erschrocken starrte Rose sie an. »Seine Frau?«, wiederholte sie.

»Hat er Ihnen das nicht erzählt?« Mirabella stellte das Kaffeeglas weg, nahm Rose am Ellbogen und lotste sie an den Tisch zurück. Sie stand vor ihr, blickte auf sie nieder und zupfte an ihrem verpflasterten Finger.

Rose sagte: »Er hat nie erwähnt, dass er verheiratet ist. Auch sonst hat niemand etwas gesagt.«

»Die Männer behalten immer alles für sich«, erklärte Mirabella. »Sie sollten sich das nicht zu Herzen nehmen.«

»Nein, nein«, rief Rose. »Ich verstehe nur nicht, warum er mir nicht gesagt hat, dass er hierherkommt, um seine Frau zu besuchen. Wo ist sie?«

»Liegt auf dem Rücken«, sagte Mirabella und wies mit dem verletzten Finger Richtung Fenster, »sechs Fuß unter der Erde.«

Die nachfolgende Erklärung war kurz und sachlich.

Seine Frau, sie hieß Dollie, hatte sich in einen anderen Mann verliebt. Sie verließ Harold, um mit dem anderen zusammenzuleben, aber der bekam sie nach zwölf Monaten satt. Sie war eine kluge Frau und hätte wissen müssen, worauf sie sich einließ. »Sie ist nicht zum ersten Mal fremdgegangen«, sagte Mirabella mit blitzenden Augen. »Sie hatte auch ein Techtelmechtel mit Shaefer, aber das war nur Sex.«

»Ist Harold dahintergekommen?«

»Um Gottes willen, nein. Er hält große Stücke auf Jesse. Auf jeden Fall kam Dollie nach Wanakena und ertrank in dem See hinter den Bäumen. Man sprach von einem Unfall, obwohl einige Zeitungen einen Selbstmord andeuteten. Er wurde vertuscht, sodass sie ein ordentliches Begräbnis erhielt. Selbstmörder dürfen nicht in geweihter Erde bestattet werden.«

»Warum hier?«, fragte Rose.

»Sie haben hier ihre Flitterwochen verbracht. Ich habe ihnen das Haus zur Verfügung gestellt.«

»Ich habe einmal einer Lehrerin erzählt, dass meine Mutter sich umgebracht hat. Das war gelogen. Ich bin eine Woche nicht in die Schule gegangen, weil es zu Hause Probleme gab, und ich habe vage angedeutet, meine Mutter sei weggegangen. Miss Albright hat mich ins Lehrerzimmer mitgenommen, und ich kam mir blöd vor, weil draußen vor dem Fenster Rita Dickens und ihre Freundinnen aus der vierten Klasse aus ihren Schlüpfern Laub rauszogen, das sie sich vorher reingestopft hatten … Sie spielten Kinderkriegen.«

»Wie originell«, sagte Mirabella.

»Ich wollte nur sagen, Mutter sei von uns weggegangen, aber Miss Albright verstand von uns gegangen … für immer. Sie hatte ganz glitzerige Augen.«

Wieder lächelte Mirabella.

»Ich muss raus, nachdenken«, sagte Rose. »Ich verspreche, dass ich nicht nach Harold suche.«

Kaum war sie die Stufen hinuntergestiegen, wurde sie von den Schatten verschluckt. Es war, als sei sie wieder klein und laufe los, um Dr. Wheeler im grünen Dämmer zu treffen. Vor sich ahnte sie die graue, unter dem dunkelnden Himmel ungleichmäßige Uferlinie dieses schrecklichen Sees.

Dr. Wheeler qualmte eine Zigarette. Er starrte nach oben und sagte, der Rauch vermische sich mit der unsichtbaren Anwesenheit derer, die einst gelebt hätten. Sie standen vor dem Grabstein von Mary Eldridge, Mutter zweier Kinder, Ella und Robert, an einem Fieber gestorben am 5. Juni 1868. Rose meinte, die Kinder hätten sicher viel geweint, auch wenn Mrs Eldridge vielleicht keine gute Mutter gewesen sei. Daraufhin warf er ihr vor, sie denke immer nur an ihre eigenen Eltern und immer abfällig. Niemand von uns kann wissen, schalt er, wie unser Tun sich auf andere auswirkt, erst wenn es zu spät ist, und wir dürfen die Schuld an unseren Fehlern nicht anderen zuschieben.

Die Bäume standen so dicht, dass sie das eiserne Friedhofstor teilweise verdeckten. Rose hatte Schwierigkeiten, es aufzustoßen. Es war keine Kirche zu sehen, nur reihenweise Grabsteine, die sich leicht nach vorn neigten, als marschierten sie Richtung Himmel. Die Vögel in den Zweigen machten einen Radau, der Tote auferweckt hätte.

Harold tat ihr sehr leid, und sie ärgerte sich, dass sie ihm nicht zugetraut hatte, verheiratet zu sein oder ein großes Unglück erlitten zu haben. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie die Gefühle anderer Menschen und die Gründe für ihre Schwächen zu spüren vermochte. Merkwürdig, dass sie trotz ihrer Menschenkenntnis in Harold nicht den Männertypus gesehen hatte, der eine Ehefrau hatte, schon gar nicht eine, die sich den Garaus gemacht hatte.

Sie blieb nicht lang auf dem Friedhof, für den Fall, dass Harold auftauchte und zornig wurde. Hätte sie in seiner Haut gesteckt, wäre es ihr auch zuwider gewesen, wenn ihr jemand folgte. Kein Wunder, dass er sie so komisch angesehen hatte, als sie ihm die Geschichte von Mutters Selbstmord erzählt hatte. Sie trat aus dem Tor, schob es wieder zu, setzte sich unter die Bäume und sah zu, wie das Laub immer schwärzer wurde, während das Licht aus dem Himmel wich. Sie spürte eine Mischung aus Traurigkeit und freudiger Erregung, aber schließlich ist das Unglück anderer Menschen immer ergreifender als das eigene.

Sie wurde gestört von einem plötzlichen Lärm, einem Geräusch zwischen Grunzen und Brüllen, dann folgte ein lautes Knacken von Zweigen. In der Ferne hüpfte ein winziger Lichtstrahl wie ein flatternder Schmetterling über den Boden. Sie duckte sich und wartete darauf, dass die Nacht ihr Beben einstellte.

Als sie die Stufen zum Haus hochstieg, kam Washington Harold hinter ihr her. »Ich habe dich gesucht«, zischte er. »Ich habe dir gesagt, du sollst nicht rausgehen. Du hättest getötet werden können.«

Sein von der Taschenlampe beleuchtetes Gesicht sah zerfurcht und wütend aus.

»Getötet?«, ächzte sie.

Ob ihr nicht klar sei, dass in der Müllgrube neben dem Friedhof Bären rumschnüffelten?

»Bären?«, fragte sie. »So wie im Zoo?«

»Nein, so nicht«, erwiderte er. »Die hier laufen frei rum und haben rote Zähne und Klauen.«

Wenn Harold die Wahrheit sagte, hätte er nicht sie anzuschreien brauchen. Mirabella hatte kein Wort von wilden Tieren gesagt, aber wahrscheinlich langweilte sie sich hier zu Tode und brauchte ein bisschen Abwechslung. Es war bestimmt nicht lustig, in einem Wald festzusitzen, wo alles Aufregende vor hundert Jahren passiert war.

»Entschuldigung«, log sie, »Mirabella hat mir abgeraten, rauszugehen, aber ich konnte nicht anders.«

Harold beruhigte sich, als sie ins Haus traten. Er schenkte ihr ein Glas Wein ein und tätschelte ihre Hand, als meinte er es ernst; trotzdem wusste sie, dass er sie gar nicht wahrnahm. Er machte sich auch nicht die Mühe, sie dem Mann mit der Strickmütze vorzustellen, der nun neben Mirabella am Tisch saß.

Eine Minute, nachdem sie sich gesetzt hatte, merkte sie, dass der nackte Fuß des Mannes an ihrem Bein rauf und runter rieb. Es störte sie nicht, an so etwas war sie gewöhnt, und außerdem war er sehr großzügig mit Zigaretten. Er hatte buschige Augenbrauen und eine Narbe an der Oberlippe. Ab und zu warf Mirabella ihr einen argwöhnischen Blick zu; die selbstbewusste Frau war verschwunden.

Sie redeten viel über die Katastrophe des Vietnamkriegs und dass man Präsident Johnson loswerden müsse, je eher, desto besser für alle Beteiligten. Harold wollte, dass Richard Nixon gewann, denn er kam aus einer Quäkerfamilie, und das war etwas ganz anderes als die alteingesessenen Aristokraten Neuenglands oder die Großgrundbesitzer im Süden. Wo der herstamme, habe man sich den Weg durch den Kontinent mit Kämpfen und Beten gebahnt.

In Roses Kopf entstand plötzlich das Bild einer Indianerhorde, die einen Berg hinunter auf eine Lichtung zugaloppierte, wo zahllose Menschen auf den Knien lagen.

Der Mann mit der Mütze – er hatte den komischen Namen Dear Heart, Liebes Herz – war kein Befürworter Nixons, obwohl sie offenbar in derselben Anwaltskanzlei an der Wall Street arbeiteten. Mirabella war der Ansicht, Kennedy werde bei den kalifornischen Vorwahlen einen gewissen McCarthy schlagen. »Er muss einfach«, sagte sie. »Zu unser aller Wohl.«

»Ich würde nicht drauf wetten«, rief der Mützenmann.

»Erinnerst du dich an diesen Film«, unterbrach ihn Rose, an Harold gewandt, »wo der kleine Junge neben seiner toten Mutter kauert? Sie war mit einem Tomahawk erschlagen worden. Alles war voller Blut.«

»Er kann gewinnen, aber er wird nicht lange genug leben, um weiterzumachen«, sagte der Mützenmann. »Die Kubaner haben ihn auf dem Kieker. Das ist ein Fall von ›Wie du mir, so ich dir‹, nach dem, was er Castro antun wollte. Denkt daran, was letzten Monat in Los Angeles passiert ist…«

Weder Harold noch Mirabella schienen zu wissen, wovon er sprach.

»Man hat ihn angeschossen, als er die Universität im San Fernando Valley verließ.«

»Das war ein Stein, kein Schuss«, widersprach Harold. »Jemand hat einen Ziegelstein von einer Brücke geworfen. Kennedy hat nur einen blauen Fleck an der Wange abbekommen.«

»In den britischen Nachrichten war es ein Schuss«, sagte Dear Heart, »und die britischen Nachrichten sind sehr genau.« Rose klatschte, aber niemand schloss sich an.

Später gab Harold sein Vorhaben, im Lieferwagen zu übernachten, auf und sagte, er werde auf dem Sofa schlafen. Er hätte ein Schlafzimmer haben können, aber er bestand darauf, dass er hören müsse, ob sich draußen jemand herumtreibe. Bestimmt sorgte er sich nicht wegen der Bären; Rose glaubte kurz, er denke an Indianer, aber sie hatte zu viel getrunken, um sich zu fürchten. Der Mann mit der Mütze wollte die andere Couch nehmen, für den Fall, dass etwas passierte, aber sie sah den Blick, den er Mirabella zuwarf.

Sie bekam ein Zimmer mit einem Foto an der Wand, eine Frau, umgeben von neun Kindern. Rose zählte sie. Die Mutter war sehr jung und offensichtlich arm wie eine Kirchenmaus. Mirabella, die sich die Augen mit einem Kajalstift umrahmt hatte, sagte, die Frau heiße Ethel. Sie zeigte ihr das Waschbecken und den Schalter der Bettlampe und floh.

Rose hätte gern von Frau zu Frau mit ihr geplaudert. Komisch, dass jemand, der sich so gut schminken konnte, einem Gespräch unter vier Augen so abgeneigt war.