12
Madeira, Dezember 1831
Heinrich ist einer meiner beiden Helden. Zu dem anderen komme ich später. Ich weiß es nicht anders auszudrücken. Lebensretter, Schutzengel? Wie kann ich je wiedergutmachen, was mein Schwager für mich getan hat? Immer, wenn ich mich bei ihm bedanke, sagt er, dass es doch eine Selbstverständlichkeit gewesen sei und dass ich die Existenz der Familie durch die Vortäuschung meines Todes und die Verfügung, Jannis als meinen Erben einzusetzen, gerettet hätte. Aber er hat mich nicht nur vor dem Gefängnis gerettet, sondern auch noch vor dem Ertrinken. Doch dazu später! Ach, ich habe in den letzten Wochen so viel erlebt, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Und es kommt mir so vor, als seien seit jenem schicksalshaften Tag, an dem ich meine Heimat verlassen musste, Jahre vergangen.
Ich hatte es in jener Nacht im Haus nicht mehr ausgehalten und war zu meiner Bank geschlichen. Dort hockte ich bibbernd vor Kälte und wartete darauf, dass man mich an Bord der Hanne von Flensburg holte. Draußen zu warten, war keine gute Idee gewesen. Vor allem hatte ich nicht nur mit dem klirrenden Frost zu kämpfen, sondern auch gegen eine bleierne Müdigkeit. Mir war klar, ich durfte auf keinen Fall einschlafen, doch das war gar nicht einfach. So schwer der Gedanke, mein Zuhause auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, auch auf meiner Seele lastete, ich war erleichtert, als ich Schritte vernahm. Ein junger Kerl, fast noch ein halbes Kind, pirschte sich auf leisen Sohlen heran. Ich ging ihm entgegen. Stumm verließen wir das Anwesen meines Vaters. Unten am Fuße des Hügels angekommen, blieb ich stehen und warf einen Blick zurück. Es wollte mir schier das Herz brechen, als ich die beiden prachtvollen Häuser unter dem Sternenhimmel sah. Hastig wandte ich mich ab und machte mich, ohne mich noch einmal umzudrehen, auf den Weg zum Hafen. Als wir uns dem Schiff näherten, wurde es laut. In der Stadt war es totenstill gewesen, hier tobte das Leben. Es wurde geredet, gelacht, gesungen, gehämmert, Waren wurden verladen. Ein buntes Treiben, in das ich mich sogleich stürzen wollte, doch da hielt mich der Junge zurück.
»Man darf Sie nicht in diesem Aufzug sehen«, ermahnte er mich und reichte mir ein paar Kleidungsstücke. »Sie müssen wie ein Schiffsjunge aussehen, hat der Alte befohlen.«
Ich sah ihn verwundert an, dann betrachtete ich prüfend ein Kleidungsstück nach dem anderen: eine dunkle Hose, ein Matrosenhemd, aber nicht zu vergleichen mit denen, die neuerdings Kinder als Sonntagsstaat trugen, sondern ein abgetragenes und verschlissenes Ding. Dazu reichte er mir einen flachen Hut, an dem zwei schwarze Bänder hingen. Und schließlich eine dicke Jacke.
»Und wo soll ich mich in einen Kerl verwandeln? Hier im Freien?«
»Nee, nee. Der Alte würde mich kielholen, wenn ich das zulassen würde. Kommen Sie mit zum Schuppen rüber.«
Ich folgte ihm zögernd, denn nun wurde es wieder stiller. Fast unheimlich still. Und auch der Schuppen, der vor uns auftauchte, machte auf mich nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck. Der Schiffsjunge öffnete die knarrende Tür und gab mir eine Leuchte in die Hand.
»Ich warte vor der Tür«, sagte er.
Das Tier, das ich im Schein der Funzel weghuschen sah, war nicht dazu angetan, mich besser zu fühlen. Eine derart fette Ratte hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Ich atmete tief durch, schien es mir doch nicht angebracht, mädchenhafte spitze Schreie auszustoßen. Dann aber versuchte ich eilig, die Luft anzuhalten, denn die Gerüche, die mir in die Nase strömten, verursachten mir sofort einen heftigen Brechreiz. Ich darf nicht so empfindlich sein, ermahnte ich mich streng. Wer weiß, was noch auf mich zukommt.
Ich wusste nicht viel über das Leben auf einem Schiff, nur dass die Seeleute ein besonderes Völkchen waren. Man kannte die düsteren Gassen am Hafen zumindest vom Hörensagen. Sie zu betreten, war uns jungen Damen natürlich verboten. Doch das, was man über das Leben der wüsten Gesellen erfahren hatte, reichte aus, um die Phantasie anzuregen. Von finsteren Spelunken war die Rede, von käuflichen Mädchen und Mengen von Alkohol. Würden die Matrosen nicht skeptisch werden, wenn sie mich sahen, denn, obwohl ich recht groß war, so hatte ich doch ganz eindeutig ein Frauengesicht? Wenn ich allerdings an den Milchbubi dachte, der mich hergebracht hatte – neben dem würde ich ohne Weiteres als Mann durchgehen.
Ich fröstelte, während ich mich aus meinem Kleid schälte. Hastig stieg ich in die Hose, die mir viel zu groß war, aber sie besaß einen Strick, mit dem man sie zusammenbinden konnte. In dem Matrosenhemd versank ich beinahe, aber ich stopfte es in die Hose und kaschierte es mit der dicken Jacke. Ein Problem war mein dickes langes Haar. So sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht, meine Lockenpracht unter den platten Hut zu stopfen. Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte, wenngleich mir allein der Gedanke Tränen in die Augen trieb. Ich war immer so stolz auf mein schönes Haar gewesen, aber es war jetzt keine Zeit für Sentimentalitäten. Schließlich ging es um mein Leben und die Existenz meiner Familie. Was war der Verlust dieser paar Locken gegen den Verlust des Lebens? Nein, meine Rolle in diesem Spiel war es nicht, das Opfer zu sein, sondern die Kämpferin!
Also bat ich den Jungen da draußen, mir eine Schere zu bringen. Zunächst schaute er mich begriffsstutzig an. Als ich aber seufzend auf meine Locken, die unter dem Hut hervorlugten, deutete, erhellte sich sein Gesicht, und er rannte zum Schiff zurück.
Wenig später kam er mit einer Schere zurück. Sie war so stumpf, dass es fürchterlich ziepte, als ich Strähne um Strähne abschnitt. Nun konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Mit zusammengebissenen Zähnen, um nicht laut aufzuschluchzen, kappte ich alles, was noch unter der Mütze hervorlugte.
Als ich fertig war, wischte ich die Spuren meiner Tränen fort, packte meine Frauenkleider in den kleinen Koffer und ging zu dem Jungen zurück. Der aber winkte ab.
»Bleiben Sie! Sie werden abgeholt. Hier sind Sie sicher.« Er griff nach meinem Koffer. »Ich soll Ihr Gepäck an Bord bringen. Befehl vom Alten.«
Der Gedanke, allein zurückzubleiben, behagte mir ganz und gar nicht. Seufzend kehrte ich in die stinkige Bude zurück und ließ mich auf eine Kiste fallen. Obwohl es ein schrecklicher Ort war, muss ich wohl kurz eingenickt sein, denn ich schreckte hoch, als ich Heinrichs Stimme vernahm.
»Wo bist du, Hanne?«
Meine Funzel war ausgegangen, und es herrschte völlige Dunkelheit in dem Schuppen.
»Hier bin ich«, rief ich. »Ich kann nichts sehen.«
»Ich öffne jetzt die Tür, und dann folge dem Licht«, befahl er.
Da sah ich auch schon seinen Schatten in der Tür auftauchen und warf mich verzweifelt an seine Brust. Er strich mir beruhigend über die Wangen, doch dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete mich prüfend. Er pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass du so einen feschen Kerl abgeben kannst. Und du hast dein ganzes schönes Haar unter den Hut gestopft?«
Ich lüftete den Hut. Heinrich stand da mit offenem Mund. Aus seinen Augen sprach das nackte Entsetzen. Dann erhellte sich seine Miene: »Wie ein gerupftes Huhn, aber tröste dich. Das wächst in den nächsten drei Monaten wieder nach. Und so lange werden wir nach Saint Croix brauchen.«
»Das ist ja mal eine gute Nachricht«, entgegnete ich spöttisch.
»Hat dich auch keiner gesehen, als du dich davongeschlichen hast?«
»Keiner außer dem Jungen, der mich abgeholt hat. Sie werden morgen meinen Abschiedsbrief vorfinden und sich entsetzlich darüber grämen, dass Hanne Hensen aus Kummer über den Tod ihres Ehemannes ins Wasser gegangen ist …«
Erst als ich das nackte Entsetzen in seinen Augen sah, bemerkte ich meinen Fehler. Ich hätte ihm auf offener See anvertrauen sollen, dass ich alle glauben lassen wollte, ich wäre tot, nicht wenige Schritte von zu Hause entfernt.
»Aber Lene weiß, dass du lebst, oder?«
»Was meinst du, würde geschehen, wenn man sie zu meinem Selbstmord befragen würde? Vor allem, wenn Christian dafür gesorgt hätte, dass die Ankläger sie nicht gerade mit Samthandschuhen anfassen?«
Heinrich zog eine finstere Miene und schwieg.
»Nun sag schon! Hätte ich es riskieren sollen? Es geht um eure Zukunft!«
Heinrich lachte bitter auf. »Nein, es geht in erster Linie darum, deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Du wartest in Saint Croix ab, bis sich die Wogen geglättet haben, und dann kehrst du quicklebendig zurück und übernimmst dein Imperium! Derweil ist deine Schwester vor Kummer um deinen Tod aber vielleicht schon wahnsinnig geworden!«
»Du irrst dich, lieber Schwager! Meine Schwester hat erst einmal genug damit zu tun zu begreifen, dass eurem Sohn Jannis mein gesamtes Erbe zufällt und ihr es bis zu seiner Volljährigkeit verwalten werdet. Lene wird sich zwar vor Kummer die Haare raufen, aber später einsehen müssen, dass mein Tod die einzige Chance war, Hensen & Asmussen vor dem Zugriff Christians zu retten. Doch das funktioniert nur, wenn ich niemals zurückkehre. Ich habe keine Wahl. Überleg mal: Es ist für uns alle das Beste, mich einfach sterben zu lassen …«
Heinrich riss mich an sich und murmelte ergriffen: »Das kannst du nicht tun! Du kannst doch deine Heimat nicht auf ewig verlassen!«
»Lieber Schwager, ich habe keine Wahl. Wenn ich bliebe, würde ich unweigerlich im Gefängnis schmoren, und das Vermögen fiele an Christian. Und wenn ich als tot gelte, wird er im Gefängnis schmoren. Sollte ich wiederauferstehen, würde man ihn rehabilitieren und mich für immer einsperren.«
»Weißt du, dass du das tapferste Mädchen bist, das ich kenne?«
Ich rang mich zu einem Lächeln durch. »Die kommenden Monate werde ich wohl eher ein weibischer Schiffsjunge sein, auf den die rauen Gesellen bald mit Fingern zeigen!«
Jetzt war es an Heinrich, geheimnisvoll zu lächeln. »Nein, man wird dich mit Respekt behandeln, denn ich werde dich meinen Leuten als den Sohn eines reichen Handelsherren vorstellen, dessen Vater verlangt hat, dass der Junge, bevor er ihn beerbt, auf einem Schiff gefahren ist. Und ich werde ihnen nahelegen, den Burschen zu schonen, weil er mit seinen zarten Händen kaum in der Lage sein wird, vom Mast in die Rah zu klettern. Nein, du wirst dich in schüchterner Zurückhaltung üben. Dann kann die Maskerade kaum auffliegen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte ich und folgte ihm zum Schiff. Wohl war mir nicht, als Heinrich mich der versammelten Mannschaft – es waren knapp zwanzig Mann Besatzung an Bord – als Hans, den Sohn des Handelsherren Broder Brodersen, eines Bruders unseres Notars, vorstellte. Der Mann besaß so viele Söhne, dass keine Gefahr bestand, einer der Seeleute könne den Schwindel bemerken. Ich traute mich kaum, in die Runde zu blicken, denn die meisten der Seeleute sahen zum Fürchten aus. Sie trugen bis auf die Milchgesichter dichte Bärte, und bei den meisten guckte ungekämmtes Haar unter den Hüten hervor. Mit Bedauern stellte ich fest, dass ich mich gar nicht so schlimm hätte verschandeln müssen, aber nun war es zu spät.
Mir entging nicht, dass bei Heinrich ein recht spöttischer Unterton mitschwang, als er seine Leute ermahnte, den jungen Herrn Brodersen mit Respekt zu behandeln, obwohl er keine Ahnung vom rauen Leben an Bord habe.
Die Seeleute grinsten unverschämt, während Heinrich seine Rede hielt. Ich stand völlig verunsichert neben ihm.
»Ach ja, noch etwas, Männer, der junge Herr Brodersen ist äußerst schüchtern. Er schnackt nicht viel!«, fügte Heinrich feixend hinzu.
Ich betete, dass die Männer nicht bemerkten, wie ich errötete. Ich war noch nie zuvor mit einer Schar derart ungehobelter Kerle allein gewesen. Und wenn ich mir vorstellte, dass ich drei bis vier Monate mit ihnen verbringen würde …
»Damit der Junge keinen Schock fürs Leben kriegt, wenn er Tag und Nacht euren Sprüchen lauschen muss, bekommt er die Gästekoje neben meiner.«
Murren wurde laut.
»Ja, ja, warum nicht gleich ein Himmelbett für den Herrn?«, schimpfte ein älterer Seemann. Ich hatte den Blick gesenkt, aber ich war zu neugierig, wer der Mann war, der den Kapitän so offensichtlich zu kritisieren wagte.
Aus den Augenwinkeln betrachtete ich den vierschrötigen Kerl. Ein bulliger Riese mit düsterer Miene. Ich konnte nur hoffen, dass er mich in Ruhe lassen würde. Leider machte er nicht den Eindruck, denn der herausfordernde Blick, mit dem er mich musterte, sprach eine andere Sprache. So etwas wie: Dir werde ich schon beibringen, wie das raue Seemannsleben aussieht! Ich war auf das Schlimmste gefasst!
»Das ist übrigens unser Smutt, also unser Koch, Ole. Er wirkt wie ein oller Griesgram, hat aber ein Herz aus Gold«, stellte Heinrich mir den Seemann vor.
Ich mochte mir gar nicht vorstellen, dass dieser schmuddelige Kerl mein Essen zubereiten würde … Vielleicht sollte ich nur Zwieback zu mir nehmen.
Dass ich den Kerl richtig eingeschätzt hatte, sollte sich bald bewahrheiten. Der Smutt hatte tatsächlich einen Pik auf mich. Er ließ keine Gelegenheit aus, mich lächerlich zu machen. Und der Fraß, den er zubereitete, war in der Regel ein Brechmittel. Wie oft habe ich mich in die Kombüse geschlichen, wenn der Koch mal wieder volltrunken in einer Ecke geschnarcht hat, und habe mir Zwieback vom Küchenmaat – dem jungen Burschen, der mich zu Hause abgeholt hatte – zustecken lassen.
Aber eins nach dem anderen. Keiner konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, was für eine Katastrophe uns bald ereilen würde. Auch nicht an jenem Tag, auf den ich näher eingehen möchte. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren, aber es muss in der Woche gewesen sein, in der wir nach unserem Umweg nach Altona aus der Elbe hinaus in die Nordsee geschippert waren. An diesem kalten Tag jedenfalls strahlte die Sonne vom Himmel, während sich vor uns eine Schlechtwetterfront zusammenbraute. Heinrich aber schien das nicht weiter zu beunruhigen.
»Dass du eins auf die Mütze kriegst, gehört dazu«, erklärte er ungerührt, als ich ängstlich auf die dunklen Wolken am Horizont deutete.
»Da kotzt sich der Bubi doch die Seele aus dem Leib«, mischte sich Ole ein, der jede Gelegenheit nutzte, mir vorzuführen, was ich für eine Memme war.
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte ich wütend. »Schlimmer als deinen Fraß zu mir zu nehmen, kann es auch nicht sein!« Heinrich hatte mir zwar verboten, den Mund aufzumachen, aber da meine Stimme ohnehin recht tief war, bestand nicht die Gefahr, dass ich mich dadurch verriet. Und ich fand, dass ich lange genug geschwiegen hatte. Als stummer Passagier würde ich mir wohl kaum Respekt bei diesem Kerl verschaffen. Es erfüllte mich mit Schadenfreude, dass er vor Wut schäumte.
»Schlauscheißer«, schnaubte Ole. »Von mir kriegst du keinen Happen mehr, Bohnenstange.« Diesen Spitznamen hatte Ole mir gleich am zweiten Tag verpasst, und nun nannte mich jeder so. Heinrich fand das offenbar witzig, denn er grinste in sich hinein.
Mir lag eine Erwiderung auf der Zunge, aber Heinrichs mahnender Stoß in die Rippen ließ mich verstummen.
»Da kommt was runter. Alle Achtung!«, prophezeite Ole mit triumphierendem Blick auf mich. In diesem Moment verdüsterte eine Wolke die Sonne, und der Wind frischte auf.
»Du gehst am besten in die Koje«, ordnete Heinrich an. Ich zögerte, denn unter Deck wurde mir schnell übel, während mich das Schaukeln an der frischen Luft nicht anfocht.
»Kann ich nicht lieber hierbleiben?«, fragte ich, doch Heinrich hörte mir gar nicht mehr zu. Er rief dem Steuermann am Ruder Kommandos zu. Binnen weniger Augenblicke hatte sich der Himmel zugezogen, und über uns bildeten sich bizarre Wolkenformationen. Es wurde immer dunkler, als würde plötzlich die Nacht über uns hereinbrechen. Außerdem war der Wind noch stärker geworden und zerrte wütend an den Segeln.
Über Deck fegten nun heftige Böen, die mich umzureißen drohten. Ich drückte mich in eine Ecke, in der ich nicht störte, und beobachtete hilflos das geschäftige Treiben an Bord. Ein Segel wurde eingeholt, während der Sturm an dem anderen rüttelte. Aus dem Meer war ein Hexenkessel geworden. Schwarze Wolken hingen über dem Schiff, als wollten sie es verschlingen. Die Wellen türmten sich zu hohen Bergen auf, und das Schiff kam mir plötzlich wie eine Nussschale in der wütenden See vor.
Schreie wurden laut, nachdem das Reißen eines Segels zu hören war und im Windgeheul unterging. Ich ahnte, dass es lebensbedrohlich war, wenn ich weiterhin an Deck blieb. Während ich noch darüber nachgrübelte, wie ich es schaffen sollte, unter Deck zu kommen und in der Koje meinem letzten Stündlein entgegenzusehen, erblickte ich direkt vor mir an der Bordwand Ole, wie er von einer Bö erfasst wurde. Der kräftige Mann kam ins Trudeln, und sein massiver Oberkörper neigte sich gefährlich nach draußen. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, aber ich hechtete nach seinen Beinen, packte sie und umfasste sie fest. Als sich Oles Oberkörper aufrichtete, schwanden mir die Sinne, aber nicht, weil ich mich überhoben hatte, sondern weil mir etwas gegen die Stirn prallte.
Ich steige die Treppe zum Rumkeller hinunter, ich weiß, dass Christian dort unten auf mich lauert, um mir den Rest zu geben. Wenn ich einer Einladung zu diesem letzten Kampf nicht folge, tötet er Jannis. Ich muss mich ihm stellen. Er oder ich, hat er mir angedroht, einer geht drauf, und dem anderen gehört alles. Auch die Hanne von Flensburg! Ich setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Wo hat er sich bloß versteckt? Höhnisches Gelächter ertönt aus den Rumfässern. Ich rieche seinen fauligen Atem. Er muss ganz in der Nähe sein. Ich höre schwere Schritte, fahre herum und sehe in seine feixende Fratze. Er öffnet den Mund, aber es ist gar nicht sein Gesicht. Die vom Kautabak bräunlichen Stumpen im Mund gehören doch keinem Geringeren als …
Schreiend setzte ich mich auf und öffnete die Augen. Und schrie noch einmal laut auf, denn es war kein Traum. Oles Zähne sahen wirklich zum Gotterbarmen aus.
»Ruhig, Mädchen, ganz ruhig!« Oles Stimme klang weich und tröstend. So hatte ich ihn noch niemals reden hören. Aber hatte er nicht gerade »Mädchen« gesagt? Ich war doch der junge Brodersen oder »die Bohnenstange«.
»Bitte kneif mich, ich möchte wissen, ob das alles nur ein Traum ist«, stieß ich verängstigt aus.
»Alles gut gegangen, Dirn. Der Karren wird gerade wieder flott gemacht. So’n büschen Wind kann diese schnieke Bark nicht kleinkriegen.«
Wind? Bark? Da fiel es mir wieder ein. Ich war auf der Hanne von Flensburg. Wir waren in einen Sturm geraten. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, waren die stacheligen Männerbeine in zu kurzen Hosen, auf die ich mich gestürzt hatte, um den Koch vor dem Überbordgehen zu retten. Zu wissen, dass ich mich nicht in Christians Gewalt befand, tröstete mich, aber das war nur von kurzer Dauer. Denn nun fragte ich mich bang, was es zu bedeuten hatte, dass ich offenbar in einer Koje lag, Ole auf der Kante saß und mich »Mädchen« nannte.
»Woher weißt du das … ich meine Sie …?«, stammelte ich. Seine Antwort war ein breites Grinsen.
»Ich hab ja Augen im Kopp.«
»Was ist geschehen?«
»Du hast mich festgehalten, als der Sturm mich über Bord katapultieren wollte. Und gerade, als ich sehe, dass ich mein Leben dem Milchbubi zu verdanken habe, kriegst du das Brett vom Ausguck auf den Dötz. Also anne Stirn. Du hast geblutet wie ein Schwein, und ich hab dich denn in die Koje runtergetragen. Na ja, und denn habe ich den Hut runtergenommen, um zu sehen, ob oben auf der Rübe alles heile geblieben ist. Da war mir denn eigentlich klar, dass du nicht Hans heißt. Ja, und denn habe ich mich davon überzeugt …«
»Du hast mich nicht etwa ausgezogen?«, schrie ich entsetzt auf.
»Nee, nee, nur die Jacke, und denn war alles klar. Ich meine, ich bin nicht blind. Wenn das Hemd so ne Beulen hat.« Ole machte eine ausladende Bewegung mit der Hand.
»Nun übertreib man nicht«, widersprach ich scherzhaft, doch dann wurde ich gleich wieder ernst. »Es darf keiner wissen, hat Heinrich gesagt.«
Ole betrachtete mich mit scheelem Blick. »Du bist nicht etwa mitgefahren, um unseren Kapitän zu verwöhnen, oder? Das hätte ich Heinrich ja niemals zugetraut. Der hat doch eine fesche junge Frau zu Hause. Also, dann würde ich mir den Burschen mal vorknöpfen!«
»Nein, um Himmels willen. Ich bin nicht Heinrichs Liebchen! Niemals, ich soll auf Saint Croix heiraten. Und eine Frau an Bord, das wollte Heinrich nicht riskieren. Am besten sagst du auch Heinrich nichts davon, dass du hinter mein Geheimnis gekommen bist. Lass uns beide so weitermachen wie bisher. Ich meckere über dein Essen, und du machst dich über mich lustig.«
»Keine Sorgen, das bleibt hier drinnen verschlossen, denn die Kerle da draußen sagen tatsächlich, Weiber an Bord bringt Pech … aber was meine Kochkünste angeht, da würde ich an deiner Stelle mal ganz ruhig sein.«
Er bückte sich und griff nach einem Topf, den er auf dem Boden abgestellt hatte. Als er den Deckel öffnete, war ich auf das Schlimmste gefasst, aber es roch erstaunlich gut.
»Eine Suppe, habe ich nur für dich gemacht, damit du wieder zu Kräften kommst«, verkündete er mit vor Stolz geschwellter Brust. »Mund auf, min Dirn!«
Ich tat, wie er verlangte, und ließ mich von dem bulligen Kerl wie ein Kind füttern, aber ich hatte solchen Hunger, dass ich nicht weiter darüber nachdachte, sondern seine Suppe genoss wie ein Festessen. Ich verspürte Gewissensbisse, weil ich diesen herzensguten Kerl so dreist belog. Ich würde auf Saint Croix heiraten … und wie flüssig mir diese Lüge über die Lippen gekommen war! Aber ich hatte keine Wahl. Mitwisser konnten Heinrich und ich partout nicht gebrauchen.
Als ich den letzten Bissen gierig geschluckt hatte, konnte ich mir die Frage nicht verkneifen, wieso er sich mit einem Mal als akzeptabler Koch entpuppte. Denn die Suppe war zwar kein Wunderwerk der Kochkunst, aber sie schmeckte um Längen besser als alles, was ich bisher aus seiner Küche genossen hatte.
Er klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel. »Ich bin immer gut, aber dein Essen habe ich stets besonders zubereitet, weil ich dem kleinen feinen Bengel mal zeigen wollte, was ein richtiger Seemann ist. Für so eine junge Lady hätte ich natürlich besser gekocht. Aber in Zukunft kümmere ich mich persönlich drum, dass es dir schmeckt. Denn du bist viel zu dürr für deine Größe.«
»Ich weiß schon, warum du mich ›Bohnenstange‹ nennst. Und das tu bloß weiter. Die anderen schöpfen Verdacht, wenn du aufhörst, ekelhaft zu mir zu sein.«
Er wischte sich seine fettigen Hände an der speckigen Hose ab und reichte mir seine Hand.
»Darauf kannst du dich verlassen! Wie heißt du eigentlich?«
Wir tauschten einen kräftigen Händedruck, wie er zwischen zwei Seemännern üblich war.
»Ich heiße Hanne«, sagte ich. Erst nachdem ich meinen Namen ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, dass ich einen groben Fehler begangen hatte. Anna, Anne, Heike, aber doch nicht Hanne. Nein, das hätte mir nicht passieren dürfen.
»Wie unser Schiff?«
Mist, der Koch war natürlich darüber gestolpert. Und ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss. So schnell wollte mir partout keine Ausrede einfallen. Ich beschloss, in die Offensive zu gehen.
»Ja, genau, es wurde nach mir benannt. Ich habe es sogar getauft. Mit einer Buddel Rum.«
»Dann bist du ja, oh Verzeihung, ich muss ja jetzt wohl ›Sie‹ zu dir sagen, also, denn sind Sie wohl die Tochter vom alten Asmussen.«
Erst in diesem Augenblick fiel mir mit Schrecken ein, dass Hanne Asmussen sich vor Kummer ertränkt hatte und er spätestens nach seiner Rückkehr erfahren würde, dass die junge Dame sich umgebracht hatte. Dann wusste er, dass der Selbstmord fingiert war und ich mich stattdessen nach Saint Croix abgesetzt hatte … Nein, Mitwisser konnten wir wirklich nicht gebrauchen. Ich musste mich irgendwie aus der Affäre ziehen.
»Ich, äh, nein … ich bin … nein, ich bin …«, stotterte ich, als plötzlich ein fürchterliches Gepolter ertönte, das mich erschrocken verstummen ließ.
Es war Heinrich, der den Aufgang zur Kapitänskoje hinuntertorkelte. Er sah entsetzlich mitgenommen aus. Im Gesicht war er aschfahl. Das Haar hing ihm in feuchten Strähnen in die Stirn, und seine Augen waren verquollen. Und er stank wie Pits ganzer Rumkeller.
»Das wäre geschafft«, lallte er, »aber wir sind am Absaufen haarscharf vorbeigeschrabbt …« Plötzlich stutzte er. Ich vermutete, dass er meinen unbedeckten Kopf wahrnahm und sich fragte, ob sein Koch das ebenfalls bemerkt hatte. Doch bevor er etwas sagen konnte, verdrehte er die Augen und fiel auf meine Koje.
Ich bekam einen höllischen Schrecken, denn erstens war er ein schwerer Klotz, und zweitens hatte er eben ausgesehen, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen.
»Was ist mit ihm?«
»De is bannig besupen!«, lachte der Koch, packte den betrunkenen Heinrich unter den Achseln, befreite mich von der Last und schleppte ihn in seine Kajüte.
Ich bekam kaum mehr Luft. So eingenebelt war ich von der Fahne meines Schwagers.
»Mensch, da hat er aber ordentlich zugelangt in der kurzen Zeit. Alle Achtung!«, bemerkte ich, nachdem Ole in meine Kajüte zurückgekehrt war.
Die Antwort des Kochs war wieder ein dröhnendes Lachen.
»Kurze Zeit? Was meinst du wohl, wie lange du hier gelegen hast?«
Ich zuckte die Achseln.
»Das Unwetter war gestern. Ich hab dich in die Koje gepackt und bin denn an Deck zurückgerannt. Es wurde jede Hand gebraucht. Ein Segel ist gerissen, und wir hatten großes Glück. Bald hätte es das Ruder erwischt. Ja, ich sag doch, Weiber an Bord bringen nix als Unglück. Aber ist ja gut gegangen. Wir haben die ganze Nacht geschuftet, und als wir alles hinter uns hatten, hat der Alte erst mal eine Runde ausgegeben. Der war so fertig, dass er wohl eine Buddel allein intus hatte.«
Ich erinnerte mich lebhaft an die Trinksitten an Bord. Mit diesem Seemannsbrauch hatte ich bereits beim Auslaufen Bekanntschaft gemacht und festgestellt, dass an Bord Rum getrunken wurde wie zu Hause Wasser. Anscheinend wurden die Seeleute zu jeder Gelegenheit mit einem anständigen Schluck belohnt. Kaum war das Kommando »Besanschot an« ertönt und das Manöver gefahren worden, hatte Heinrich seine Mannschaft zum Rumtrinken auf dem Achterdeck zusammengetrommelt. Unter dem Gejohle der Männer hat er auch mich genötigt, einen Schluck von dem Teufelszeug zu nippen. Wenn ich gewusst hätte, wie scheußlich das Gesöff schmeckt, mit dessen Import mein Pit reich geworden ist …
In diesem Augenblick durchfuhr mich ein pochender Schmerz. Ich fasste dorthin, wo es am meisten wehtat und fühlte einen Verband um meine Stirn.
»Bist du auch die Krankenschwester gewesen?«, fragte ich ungläubig.
»Na ja, das hat geblutet wie Sau. Und ganz ehrlich, ich habe nicht so genau gewusst, ob du wieder wirst. Bin ab und zu nach dir gucken gekommen. Und als du so bannig lang ohnmächtig warst, habe ich befürchtet, na ja … Heinrich habe ich vorgeflunkert, dass der junge Herr Brodersen kotzend in der Koje hängt. Der Alte musste ja nicht unbedingt wissen, dass sein feiner Gast, beziehungsweise die feine junge Lady, einen auf den Dötz bekommen hat.«
»Ach, Ole, du bist herrlich!«, entfuhr es mir, und ich drückte dem Koch überschwänglich einen Kuss auf die Wange.
»Nu kann ich mich nie wieder waschen«, scherzte er.
»Das tust du eh nicht«, erwiderte ich lachend.
Ole drohte mir scherzhaft mit dem Finger.
Ich aber wurde sofort wieder ernst, als mir einfiel, dass ich dem Koch um ein Haar meine wahre Identität verraten hätte.
»Also, ich wollte noch mal erklären, wer ich … ich meine, warum ich das Schiff getauft habe. Ich bin jedenfalls nicht Asmussens Tochter.«
»Auf keinen Fall!«, entgegnete er, und mir war so, als würde er das mit einem spöttischen Ton sagen, aber er fügte entschieden hinzu: »Ich habe die Dirns mal in der Stadt von Weitem gesehen, fällt mir gerade wieder ein. Da flanierten die beiden mit ihrem Vater über den Holm … Das waren feenhafte Geschöpfe, kein Wunder, unser Alter hat schon einen guten Geschmack. Eine ist ja seine Frau. Nein, wahrlich, du kannst nicht die Schwester dieses anmutigen Wesens sein.«
Es war mir sonnenklar, dass der Koch mich auf den Arm nahm. Er hatte uns bestimmt gesehen. Und einen größeren Kontrast zwischen Lene und mir gab es kaum. Ich konnte ihm also nichts vormachen und spielte mit. Er wusste genau, wer ich war. Und ich konnte nur darauf vertrauen, dass er sein Wissen tief in seinem Herzen bewahrte. Jedenfalls würde ich noch einmal heftig dagegen protestieren, für Hanne Asmussen gehalten zu werden.
»Ja, das stimmt, die beiden Asmussentöchter sind gleichermaßen liebreizend. Ich bin aber leider nur eine entfernte Cousine der beiden und habe Hanne bei der Schiffstaufe vertreten. Ihr Vater ist der Bruder von meinem …«
Plötzlich musste ich mit aller Macht an meinen Vater denken. Er war tot. Und ich hatte nicht einmal die Gelegenheit bekommen, mich anständig von ihm zu verabschieden. Ehe ich mich versah, rollten mir dicke Tränen über die Wangen.
»Carl Asmussen, mein Onkel, ist tot«, schluchzte ich. »Sein Herz, musst du wissen …«
Ole holte ein schmuddeliges Schnupftuch aus der Hosentasche und wischte mir die Tränen vom Gesicht.
»Tja, dann sind wir uns ja einig, Dirn. Von mir erfährt keine Menschenseele, dass du seine Nichte bist«, murmelte er, nachdem meine Tränen versiegt waren. Dann erhob er sich und reichte mir unvermittelt eine Flasche Rum. Ich verzog angewidert das Gesicht.
»Nu nimm mal einen ordentlichen Schluck. Du musst dich gesund schlafen.«
Zögernd setzte ich die Flasche an den Hals und trank. Und dann noch einmal. Das Getränk brannte wie Feuer in meinem Bauch, aber die ganze Aufregung fiel binnen weniger Augenblicke von mir ab. Der Koch grinste über beide Backen, als ich nach einem dritten Schluck verlangte. Wie er es mir prophezeit hatte, fiel ich kurz darauf in einen tiefen Schlaf.
Auch in den folgenden Tagen musste ich in der Koje bleiben. Ole verwöhnte mich mit kräftigen Suppen und gesalzenem Fisch. Offenbar wunderte sich Heinrich sehr darüber, dass mir Ole höchstpersönlich das Essen brachte. Aber er sagte nichts, wenn er mich kurz besuchte. Er guckte nur immer so komisch, als würde er sich fragen, ob Ole blind war.
Ole und ich waren uns sicher, dass sich Heinrich, so besoffen er gewesen war, nicht mehr erinnerte, wie er in meine Kajüte gekommen war, als ich mit entblößtem Kopf dagelegen hatte. Nun trug ich ja wieder meinen Hut. Sogar beim Schlafen.
Dass wir uns geirrt hatten, erfuhren wir ein paar Tage später. Heinrich hatte sich angeschlichen, als wir gerade ganz vertraut einen »Schnack hielten«, wie der Koch unsere Unterhaltung nannte.
»Was wird hier eigentlich gespielt?«, ertönte plötzlich seine Stimme aus dem Hintergrund.
Wir fuhren gleichermaßen vor Schreck zusammen. Der Koch fand zuerst seine Sprache wieder. »Der arme Junge muss doch wieder zu Kräften kommen!«
Heinrich musterte seinen Koch streng. »Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Ich war zwar blau, aber nicht blind und blöd!«
Ole versuchte, sich dumm zu stellen.
»Keine Ahnung, was du meinst.«
»Ach ja?« Heinrich hatte sich meiner Koje drohend genähert. Ich rutschte weiter unter meine Decke.
»Du weiß also nicht, wer sich unter der Mütze verbirgt?«, fragte er und ließ den Blick nicht von Ole.
Ich konnte nur beten, dass er nicht Falsches sagen würde. Wenn Heinrich erfuhr, dass ich dem der Koch meine wahre Identität verraten hatte …
Ich zuckte zusammen, als der Koch mit fester Stimme verkündete: »Ich weiß, wer die junge Dame ist. Schließlich habe ich ihr den Verband gelegt und sie in die Koje verfrachtet …«
Ole warf mir einen beschwörenden Blick zu, der soviel sagte wie: Lass mich nur machen!
Heinrich pfiff durch die Zähne. »Also doch«, zischte er. »Mir war so, als hättest du ohne deinen Hut im Bett gelegen! Und dass er dich so gesehen hat.«
»Keine Sorge, Hein, ich schwöre dir, das bleibt unter uns. Du weißt, wie die Kerle durchdrehen, wenn ein Weiberrock im Spiel ist. Und das wollen wir ja der Nichte vom alten Asmussen, ich meine der Cousine von deiner Frau … nicht antun …« Der Koch schlug sich mit gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. »Ach, Hein, du solltest gar nicht erfahren, dass ich weiß, dass er die Dirn ist.«
Niemals hätte ich dem Koch zugetraut, dass er so schwindeln konnte. Ich verspürte einen Lachreiz, aber ich schaffte es, mich zu beherrschen. Stattdessen blickte ich betreten drein.
»Meine Cousine?«, gab Heinrich irritiert zurück.
»Angeheiratete Cousine«, ergänzte Ole trocken.
»Es tut mir so leid, Vetter Heinrich, dass ich verraten habe, wer ich bin, aber das ist mir so herausgerutscht.«
Heinrich nickte beipflichtend. »Das bleibt aber unter uns, nicht wahr, Ole?«, fragte er hastig nach. »Dass sie Asmussens Nichte ist, nicht wahr?«, fügte er hinzu.
»Hein, wo denkst du hin? Ja, ich geh denn mal!« Ole stand übereilt auf und verschwand aus meiner Kajüte.
»Du bist mir ja eine«, sagte Heinrich nicht ohne Bewunderung. »Wie kamst du denn auf die Idee, dich als deine Cousine auszugeben?«
»Sollte ich ihm vielleicht verraten, dass ich Hanne Asmussen bin?«
»Auf keinen Fall! Sobald wir zurück in Flensburg sind, wird die Nachricht vom Tod der Asmussentochter auch die Runde unter den Matrosen machen.« Er tätschelte unbeholfen meine Wange. »Nein, das hast du ausgezeichnet gemacht, wobei es natürlich besser gewesen wäre, du hättest dir einen völlig fremden Namen ausgedacht.«
»Ole würde nie ein Sterbenswort verraten. Selbst wenn er wüsste, wer ich wirklich bin«, entgegnete ich eine Spur zu heftig, was mir einen prüfenden Blick meines Schwagers einbrachte.
»Richtig, Ole würde nie etwas verraten, wenn ich ihn darum bitte!«, erklärte er nachdrücklich.
Ich habe Heinrich eigentlich schon an dem Tag angemerkt, dass ihm die Angelegenheit zumindest merkwürdig vorkam, aber er hat mich bisher noch nicht darauf angesprochen.
Seit ein paar Tagen liegt das Schiff im Hafen von Funchal, der Hauptstadt der Insel Madeira. Dort nehmen wir Proviant an Bord, bevor wir mit dem Passatwind über den Atlantik segeln. Heinrich hat mir ein wenig über die Insel erzählt. Sie gehört zu Portugal und besitzt ein herrlich mildes Klima.
Es ist mir vergönnt, es nach Herzenslust zu genießen, denn Heinrich hat mich bei der Familie eines portugiesischen Händlers untergebracht. Als Nichte von Carl Asmussen. Die Dame des Hauses, eine freundliche rundliche Matrone, die kein Wort Deutsch oder Dänisch versteht, mit der ich mich jedoch lebhaft mit Hilfe von Händen und Füßen verständige, hat mich sehr herzlich aufgenommen. Sie umsorgt mich wie eine eigene Tochter. Offenbar hat Heinrich ihrem Mann mein Wohlbefinden ans Herz gelegt, denn Senhora Isabella liest mir jeden Wunsch von den Augen ab.
Als ich ihr heute mein Tagebuch gezeigt und in den Garten gedeutet habe, hat sie mir einen Tisch auf die Veranda gestellt. Von hier oben habe ich einen traumhaften Blick über die Bucht von Funchal. Wenn ich mich umdrehe, habe ich freie Sicht auf hohe Berge. Ich habe noch nie zuvor eine solch beeindruckende Naturkulisse gesehen. Wie auch? So schön es bei uns im Norden ist. Das Land ist flach, und mehr Erhebungen als die sieben Hügel meiner Heimatstadt kenne ich nicht. Die Berge hier sind beängstigend hoch und das Meer von einem tiefen Blau, das unsere alte Ostsee selbst an einem sommerlichen Tag nicht annimmt. Dazu weht eine leichte Brise, die einem sanft über das Gesicht streicht. Dafür, dass es mitten im Winter ist, herrscht eine angenehme Temperatur. Auf Senhoras Befehl habe ich zwar ein dickes Wolltuch um Oberkörper und Kopf gewickelt. Damit ist es auf Madeira im Garten so warm wie bei uns im Sommer.
Und es riecht unglaublich intensiv und blumig. Ich weiß zwar nicht, was es für Pflanzen sind, die meine Sinne betören, aber neben dem milden Wetter sind sie es, die mich hinaus in den Garten getrieben haben. Denn so zauberhaft und hell es hier draußen ist, drinnen im Haus ist es düster. Die Wände sind mit dunklem Holz vertäfelt, dazu gibt es nur schweres Mobiliar.
Wenn man aus dem Haus tritt, hat man das Gefühl, in eine andere verzauberte Welt zu gelangen. Obwohl ich von der Seekrankheit verschont geblieben bin, bin ich sehr froh, wieder einmal festen Boden unter den Füßen zu haben … und ich genieße es, ausgiebige Spaziergänge zu machen. Dabei komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Diese fremdartigen Pflanzen, Häuser, Menschen. Ich denke, das ist ein Vorgeschmack auf die Welt, die mich erwartet und mit Sicherheit nichts mit der gemein hat, aus der ich komme.
Nun werde ich mein Tagebuch schließen und die restlichen zwei Tage, die mir an Land bleiben, die fremdartige Pracht genießen, so gut es geht. Natürlich habe ich auch ein wenig Angst, dass die Last der Ereignisse plötzlich doch noch über mir zusammenbricht und mich unter sich begräbt, wenn ich auf dieser herrlichen Insel ein wenig zur Ruhe komme. Wie gut, dass ich von Natur aus neugierig bin und die Abwechslung liebe. Ich glaube, sonst könnte ich den Gedanken kaum ertragen, meine Heimat womöglich niemals mehr wiederzusehen.