18
Montego Bay, Jamaika, November
1883
Seit dem schicksalhaften Hurrikan hatte Valerie ihren Mann nicht mehr gesehen. Und das war inzwischen zwei Monate her. Sie war an jenem Tag erst im Haus des alten Papa Jo wieder zu Bewusstsein gekommen.
An das, was dann folgte, erinnerte sie sich, als wäre es gestern gewesen: Sie hörte Stimmen dicht an ihrem Ohr. Erst war es nur ein diffuses Gewirr, doch dann hörte sie Ethan. »Es ist nichts Schlimmes. Sie hat keinerlei äußere Verletzungen erlitten. Wahrscheinlich war es der Schock darüber, dass auf der Plantage kein Stein mehr auf dem anderen steht.«
Valerie versuchte, die Augen zu öffnen. Ihre Lider waren schwer wie Blei, aber schließlich gelang es ihr. Ethan sah sie erleichtert an. »Was machst du denn für Sachen, mein Liebling?«
Seine Stimme klang vertraut und liebevoll, aber sie verzog keine Miene. Wenn er wirklich getan hatte, was sie vermutete, wenn er die Sache mit dem Kind vor ihr hatte vertuschen wollen … Sie hätte gern danach gefragt, aber sie brachte keinen Ton heraus. Ihr Mund war so trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen. Ethan reichte ihr wortlos ein Glas. Sie richtete sich auf und stürzte das Wasser in einem Zug hinunter. Dann sah sie sich um. Sie war allein mit Ethan. Die anderen hatten sich diskret zurückgezogen. Sie erkannte, dass es sich um das Wohnzimmer des alten Jo handelte. Eine Fotografie, auf der seine ganze Familie ernst in die Kamera schaute, verriet es ihr.
»Wo sind sie anderen geblieben?«, fragte sie mit schwacher Stimme.
»Sie wollten uns einen Augenblick allein lassen«, erwiderte Ethan und musterte sie voller Zärtlichkeit.
»Du musst dich um Cecily kümmern. Sie ist ohnmächtig«, stieß ich heiser hervor.
Er streichelte ihr sanft über die Wangen. »Keine Sorge, sie ist wohlauf. Es war nur der Schock, hat Gerald gesagt. Aber ich werde gleich nach ihr sehen. Gerald ist dir übrigens nachgeritten, nachdem Cecily aufgewacht war. Er hatte den Eindruck, du stündest völlig neben dir, als du sein Haus verlassen hast, um mich zu holen. Da ist er dir nach und fand dich ohnmächtig. Das ist aber kein Wunder, nach allem, was geschehen ist. Wir können ja froh sein, dass dieses Haus unversehrt stehen geblieben ist. Es hatten sich nämlich alle unter Papa Jos Dach geflüchtet …«
»Warst du es, der Rosas und Geralds Ehe eingefädelt hat?«
Ethan wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich habe Augen im Kopf. Und die sagen mir: Gerald liebt Cecily und Rosa liebt dich.«
Seine Augenlider zuckten verdächtig.
»Rede keinen Blödsinn. Du bist verwirrt. Das war alles zu viel für dich.«
Wenn er in diesem Moment die Wahrheit gesagt hätte, sie hätte ihm verziehen, aber dieses Leugnen, wo es gar nichts mehr zu leugnen gab, nein, das konnte sie kaum ertragen.
»Ist das Kind von dir?«, hakte sie erbarmungslos nach.
Er wand sich wie ein Fisch an der Angel.
»Liebling, ganz ruhig, schlaf erst einmal schön. Ich schaue jetzt nach deiner Freundin Cecily, hole dich dann später ab und bringe dich nach Hause.«
»Ist es dein Kind, mit dem Rosa schwanger ist?« Valerie suchte seinen Blick, er wandte sich ab, konnte ihr nicht in die Augen sehen. Plötzlich brach er in Tränen aus, schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe es nicht gewollt. Ich war so verliebt in dich, ich wollte dich nicht verlieren …«
»Hast du es etwa schon gewusst, als du um meine Hand angehalten hast?«
»Ja … nein … aber kurz darauf hat sie es mir gesagt, und da war mir klar, sie konnte nicht in unserem Haus bleiben.«
»Du hast sie also hinausgeworfen?«
»Nein, so kannst du das nicht sehen«, entgegnete er gequält. »Ich habe sie erst bei Freunden meines Großvaters untergebracht, und dann kam sie zurück. Sie wollte es dir verraten. Und irgendwann saß ich mit Gerald bei einem Glas zusammen, und er hat sich über deine Freundin Cecily bitter beschwert und darüber, dass sie jetzt diesen Lackaffen aus Kingston heiraten wird und sich ihn nur fürs Bett warmhalten will. Er war völlig aufgebracht und sann darauf, es ihr heimzuzahlen …«
»Ach ja? Und dann hast du ihm angeboten: Komm, heirate die Frau, die ich geschwängert habe! So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe!«
» Nein, nicht so direkt. In jener Nacht wurde die Idee geboren …«
»Deine Idee?«
»Ist das so wichtig?« Er musterte sie intensiv. In seinem Blick lag etwas Flehendes. Valerie wusste, dass er sie liebte, aber sie empfand nichts mehr für ihn. Nur noch Gleichgültigkeit und den Wunsch, nicht mehr mit ihm unter einem Dach zu leben. Sie stand vom Sofa auf und zog langsam ihre Schuhe an.
Ethan sah ihr dabei wie betäubt zu.
»Ich hole jetzt mein Pferd und reite los. Du kannst deine Sachen holen, sobald du alle Verletzten versorgt hast. Ich sage Asha Bescheid, dass du kommst.«
»Aber Vally, nein, du kannst mich nicht fortschicken. Wir lieben uns doch!«
»Wenn dem so wäre, hättest du Vertrauen zu mir gehabt und mich nicht so übel hintergangen.«
»Aber ich habe es für uns getan! Ich hatte Angst, dich zu verlieren«, schluchzte er, doch Valerie eilte zur Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen. Da spürte sie seine kräftigen Arme, die sie von hinten umfassten und verzweifelt am Gehen zu hindern versuchten.
Sie fuhr herum und fixierte ihn kalt. »Ethan, bitte, lass mich los. Es ist vorbei. Ich will dich nicht mehr sehen.«
Sein Gesicht war grau und eingefallen. Er wirkte um Jahre gealtert, aber sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz versteinert war. Sie empfand nicht einmal Mitleid mit ihm. Sie riss sich los, flüchtete aus dem Zimmer und rannte fluchend aus dem Haus. Vorbei an Papa Jo, seiner Tochter und vielen anderen ihrer Mitarbeiter, deren entsetzte Mienen sie nur schemenhaft wahrnahm. Wahrscheinlich haben sie durch die dünnen Wänden alles mit angehört, vermutete sie, aber es war ihr gleichgültig. Erst als sie bei Geralds Haus angelangt war, blieb sie keuchend stehen. Sie hatte kaum links und rechts gesehen, sie wollte nur noch weg, nach Hause, in den Schutz der sicheren Mauern. Der Anblick des vom Hurrikan verwüsteten Verwalterhauses ließ sie frösteln. Die Ruine war verlassen. Cecily, Rosa und Gerald waren fort. Sie sah sich um. Langsam wurde ihr bewusst, dass die Plantage zerstört war, und mit ihr die gesamte Ernte – und dass womöglich ihre Existenz gefährdet sein konnte. O Großmutter, dachte sie verzweifelt, bitte, steh mir bei. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Doch jetzt musste sie erst einmal ihr Pferd suchen. Sie hatte es vor der Katastrophe an einem Baum festgebunden. Neben dem von Cecily. Aber wo? Wenn sie sich umsah, musste sie feststellen, dass der Hurrikan auch vor einigen Bäumen nicht haltgemacht hatte. Ihr Blick blieb an einer großen Palme hängen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das war der Baum, an den sie die Pferde gebunden hatten.
»Black Beauty!«, rief sie. »Black Beauty!« Je näher sie der Palme kam, desto mulmiger wurde ihr, denn ein Pferd konnte sie beim besten Willen nicht sehen. Ob die anderen sich Black Beauty ausgeliehen hatten, ging ihr durch den Kopf. Mit diesem Gedanken tröstete sie sich. Sie wollte sich gerade umdrehen und zu Fuß auf den Rückweg machen, da entdeckte sie den Rest des Stricks, mit dem sie das Pferd festgemacht hatte. Er war offenbar abgerissen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Hieß das etwa, dass Black Beauty sich während des Hurrikans befreit hatte und in Panik fortgelaufen war?
Valerie rief wieder und wieder den Namen des Pferdes und umrundete das Trümmerfeld des zusammengestürzten Hauses. Keine Spur von dem Hengst. Sie ließ ihren Blick über die Überreste des Daches gleiten, die der Wind ein Stück vom Haus fortgetragen hatte. Was sie jetzt entdeckte, ließ ihren Körper erbeben. Ihr wurde so übel, dass sie bei jedem Schritt, den sie sich dem Trümmerberg näherte, würgen musste, doch es kam nichts. Sie hatte nichts mehr im Magen.
Es war keine Täuschung, wie sie bis zuletzt gehofft hatte. Nein, das, was da schwarz unter den Trümmern hervorragte, war der Kopf ihres Pferdes. Black Beauty sah sie aus großen braunen, leblosen Augen an. Der Körper des einst so stolzen Hengstes war unter den Trümmern begraben. Valerie stieß einen Schrei aus und versuchte wie besessen, den toten Pferdeleib unter den Trümmern hervorzuziehen. Sie schnitt sich in die Hand, schürfte sich die Knie auf, doch spürte den Schmerz nicht einmal. Besinnungslos wühlte sie in den Trümmerteilen. Immer wieder schrie sie verzweifelt den Namen ihres Pferdes, bis jemand sie energisch um die Taille fasste und hochzog. Sie schlug um sich und wollte den Helfer abwehren, aber er war stärker als sie.
»Ganz ruhig«, flüsterte er. »Schsch!« Erst als sie realisierte, dass es nicht Geralds Stimme war, fuhr sie herum, warf sich an seine Brust und begann jämmerlich zu schluchzen.
»Alles gut«, flüsterte James Fuller. »Alles wird wieder gut.«
Wie so oft in den letzten zwei Monaten musste Valerie auch jetzt an diesen magischen Moment denken, und sie fühlte es in jeder Pore: Wie geborgen sie sich in seinem Arm gefühlt hatte und dass sie für den Bruchteil einer Sekunde geglaubt hatte, ihr könne nichts mehr zustoßen, jetzt, da James bei ihr war. Ja, er war der Einzige, der sie sogar über den Verlust Black Beautys hatte hinwegtrösten können. Und sie würde niemals vergessen, wie James sie an diesem Ort des Schreckens geküsst hatte. Erst schüchtern und vorsichtig, später leidenschaftlich, ganz so, als gäbe es kein Morgen. Sie hatte die Welt um sich herum völlig vergessen. Es zählten nur noch James und sie. Und ihre einzigartige Liebe.
»Verzeih mir. Ich habe mich vergessen«, hatte er geraunt, nachdem sich ihre Lippen nach einer halben Ewigkeit voneinander gelöst hatten.
Entschuldige dich nicht, James, war ihr durch den Kopf gegangen, aber sie war unfähig gewesen, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen.
Erst als er sie vor dem Eingangsportal von Sullivan-House absetzte, fand sie die Sprache wieder.
»Wo kamen Sie her? Wieso waren Sie bei Geralds Haus?«, fragte sie matt.
»Ich wollte sehen, welche Schäden der Hurrikan auf unserer Plantage verursacht hat, und auf dem Weg dorthin sagte mir jemand, er hätte meine Schwester durch das Tor Ihres Anwesens reiten sehen. Ich habe meine Schwester gesucht – und Sie gefunden.«
»O, James!«, seufzte sie und wollte sich gerade erneut in seine Arme werfen, als er eine abwehrende Bewegung machte.
»Misses Brown, das sollten wir nicht tun. Das hätte niemals geschehen dürfen«, sagte er steif.
Ihre Antwort war ein wissendes Lächeln gewesen. Sie war frei, sie durfte das.
Am liebsten hätte sie ihm auf der Stelle verraten, was soeben im Haus von Papa Jo vorgefallen war. Und dass die Ehe mit Ethan ein Riesenfehler gewesen war, weil er versucht hatte, ein uneheliches Kind vor ihr zu vertuschen … Nein, an diesem Tag wollte sie es ihm nicht verraten, aber sobald sie alle Schäden inspiziert und die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet hatte, die Plantage wieder in Ordnung zu bringen, würde sie ihn zu sich einladen und ihm dann offenbaren, was ihr inzwischen widerfahren war.
In Valeries Kopf war es in jenem Moment wie in einem Bienenschwarm zugegangen. Ihre Gedanken surrten wild durcheinander. Doch an einem hatte sie keinen Zweifel: Nichts mehr auf der Welt konnte ihrem Glück mit James im Weg stehen! Jetzt kam es nicht mehr auf einen Tag an. Sie hatten ein ganzes Leben lang Zeit. Und sie würde Ethan vorher unbedingt um die Scheidung bitten. Valerie lächelte immer noch.
»Ach, lieber James, was halten Sie davon, wenn Sie, sagen wir, heute in drei Wochen – am letzten Freitag im Oktober – zu mir zum Dinner nach Sullivan-House kommen?«
»Das letzte Wochenende im Oktober?«, wiederholte er mit heiserer Stimme. »Das geht leider nicht, Valerie, ich habe schon etwas vor. Ich gedenke zu heiraten. Und ich weiß auch überhaupt nicht, ob es so sinnvoll ist, mit Ihnen und Ihrem Gatten zu speisen.«
Valerie schluckte. Sie war zu entsetzt, um ihm zu widersprechen und richtigzustellen, dass Ethan auf keinen Fall dabei sein würde.
»Dann gratuliere ich«, presste sie stattdessen rau hervor, bevor sie sich umdrehte und im Haus verschwand.
Valerie wusste nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, sich auf den Beinen zu halten, denn das Zittern, das ihren Körper erschüttert hatte, spürte sie immer noch in jeder Faser. Der Gedanke an seine Hochzeit schnürte ihr auch in diesem Moment, Wochen später, die Kehle zu. Wie naiv war es doch von ihr gewesen zu glauben, durch einen Kuss könnte alles wieder gut werden. Manchmal schämte sie sich dafür, dass sie James’ wegen wesentlich mehr Tränen vergossen hatte als um ihre gescheiterte Ehe. An Ethan dachte sie nämlich herzlich wenig. Als er seine Habseligkeiten abgeholt hatte, war sie außer Haus gewesen. Das Einzige, was sie wusste, war, dass er offenbar eine Praxis in Black River aufgemacht hatte. Sie hatte ein paarmal seinen Großvater getroffen, der unvermindert freundlich ihr gegenüber war. Allerdings lag stets die Traurigkeit wie ein Schleier über den Augen des alten Mannes. Er schien zu bedauern, dass die Ehe nicht funktioniert hatte. Valerie wusste nicht, ob er die wahren Gründe kannte. Sie fragte auch nicht danach.
Jedenfalls fühlte sich Valerie in letzter Zeit unendlich allein in ihrem Haus auf dem Hügel. Insgeheim befürchtete sie, dass sich das Schicksal ihrer Großmutter wiederholte und sie als unnahbare »nordische Lady« ihr einsames Dasein fristen würde. Sie hatte keinen Menschen mehr, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, denn Cecily hatte sie seit dem Hurrikan auch nicht wieder gesehen. Misses Fuller war wohl inzwischen das Verhältnis zwischen ihrer Tochter und Gerald zu Ohren gekommen, und so hatte man Cecily auf schnellstem Weg aus dem Verkehr gezogen und nach Kingston verfrachtet. So jedenfalls hatte es Asha Valerie brühwarm berichtet, die es wiederum von einem Hausmädchen der Fullers wusste. Sicher wusste Asha auch, wo sich James Fuller und seine Gattin zurzeit aufhielten. Valerie hütete sich allerdings davor, nach ihm zu fragen.
Ich darf mir nicht länger das Herz beschweren, sagte sie sich ganz entschieden, dazu war die Lage des Unternehmens zu ernst. Ihre ganze Kraft wurde benötigt, um gemeinsam mit Mister Kilridge und Gerald Pläne zu schmieden, wie sie mit der Zerstörung der gesamten Ernte umgehen konnten, ohne das Unternehmen zu ruinieren. An diesem Tag war sie mit Gerald verabredet. Er wollte sie endlich in das Geheimnis der Destille einweihen, denn wie von Zauberhand war das Haus, in dem der Rum gebrannt wurde, unversehrt stehen geblieben.
Noch hatte Valerie allerdings ein wenig Zeit und überlegte, ob sie nicht vorher einen Austritt zum Strand machen sollte. Sie hatte sich kurz nach dem Unglück eine Stute gekauft, die zwar nicht annähernd so viel Klasse besaß wie Black Beauty, ihr wegen ihres freundlichen Wesens dennoch rasch ans Herz gewachsen war. Natürlich konnte das liebe Tier sie nicht gänzlich über den Verlust des Rassepferdes hinwegtrösten, denn Black Beauty war nun einmal untrennbar mit James Fuller verbunden gewesen. Und abgesehen davon, dass sie an Black Beauty gehangen hatte, kam es ihr vor, als wäre mit dessen Tod das letzte Band zwischen James und ihr gekappt. In den letzten Tagen kam ihr immer öfter der verwegene Gedanke, ob sie nicht Ethan bitten sollte, zu ihr ins Haus zu ziehen. Sie hatten einander doch immer gut verstanden, bis er versucht hatte, sein Kind mit Rosa vor ihr zu verheimlichen. Dass sie wie Mann und Frau unter einem Dach lebten, konnte sie sich zwar nicht mehr vorstellen, aber das Haus war so riesig, dass es Platz für zwei getrennte Wohnbereiche bot. Sie nahm sich fest vor, Ethan bald in Black River einen Besuch abzustatten und ihm dieses Angebot zu unterbreiten.
Ein Pochen an der Tür zum Salon riss Valerie aus ihren Gedanken. »Misses Valerie, Post für Sie«, rief Asha und händigte ihr zwei Briefe aus. Valeries Herz machte einen Sprung, als sie den Absender des ersten erkannte. Ohne den anderen Brief zu beachten, riss sie das Kuvert auf und vertiefte sich in die Zeilen ihrer Freundin.
Liebe Vally,
verzeih, aber ich konnte mich nicht einmal von dir verabschieden. Mutter hat wie ein Schießhund auf mich aufgepasst. Sie macht dich für alles verantwortlich, weil Gerald dein Brennmeister ist. Sie behauptet, du hättest uns verkuppelt, damit ich mich auch mit einem Mischling einlasse … aber glaub mir, ich habe dich verteidigt gegen ihre hässlichen Anschuldigungen. Doch noch mehr als ich hat ihr mein Bruder die Meinung gesagt. Was kann Valerie Sullivan dafür, wenn sich Cecily mit ihrem Angestellten einlässt? Er ist so laut geworden, dass Mutter einen Heulkrampf bekommen hat. Ich weiß nicht, wer uns verraten hat, aber es war vor Mutter nicht länger zu leugnen. Gerald hat mich an dem Tag der schrecklichen Katastrophe nach Hause gebracht, weil ich noch ein wenig wacklig auf den Beinen war. Mutter hat ihn rauswerfen lassen und als Verführer beschimpft. Am nächsten Tag schon ist sie mit mir nach Kingston gereist. An dem von Mutter bereits lange geplanten Hochzeitstermin im Oktober wurde ich Misses Ben Hunter. Leider durfte ich dich nicht einladen. Na ja, und es wäre ja auch nicht angebracht gewesen wegen Paula und James …
Valerie konnte nicht weiterlesen. Die Gewissheit, dass man in Kingston eine Doppelhochzeit gefeiert hatte, raubte ihr den Atem.
»Was habe ich denn anderes erwartet?«, murmelte sie laut vor sich hin. »Was?« Es dauerte eine Weile, bis sie sich in der Lage sah weiterzulesen.
Ich hatte doch keine andere Wahl, als Ben zu nehmen, jetzt, da Gerald diese merkwürdige Person geheiratet hat, oder? Warum hat er das bloß getan? Ich habe gemerkt, dass er mich noch liebt und nicht diese Mulattin! Und ich glaube ja nicht einmal, dass er mit ihr etwas hat. Hast du gesehen, dass er nur Augen für mich hatte? Das ist nicht normal bei einem frisch verheirateten Mann. Das war sicher die Rache für meine Verlobung mit Ben. Und von wem diese Frau auch ein Kind erwarten mag, bestimmt nicht von Gerald. Dafür wird der Vater seines Kindes nun Ben Hunter heißen. Ja, ich bin schwanger und bestimmt nicht erst seit der Hochzeitsnacht, die übrigens todlangweilig war. Ben Hunter ist ein lieber Kerl, aber ein wenig tumb. Er wird mir fraglos abnehmen, dass es sein Spross ist. Und mir bleibt etwas von Gerald. Gib ihm einen Kuss von mir, wenn du ihn siehst …
Das werde ich ganz bestimmt nicht tun, dachte Valerie empört, bevor sie sich weiter in den Brief vertiefte.
Ich werde dich bestimmt einmal besuchen, wenn das Kind da ist und ich wieder in einem Zustand, in dem ich für einen Mann begehrenswert bin. Vielleicht passt du dann mal auf meinen Nachwuchs auf, während ich mich mit meinem alten Bekannten Mister G. am Strand verabrede. In seinem Haus können wir uns ja leider nicht mehr treffen, seit diese merkwürdige Frau dort wohnt und er mit ihr diese Scheinehe führt. Dass ich nun in Kingston wohnen muss, hat auch seinen Vorteil. Ich habe jetzt nämlich mein eigenes Haus und stehe nicht mehr unter Mutters Aufsicht. Deshalb habe ich eine wunderbare Idee: Willst du, oder besser gesagt, wollt Ihr, Ethan und du, uns nicht zu Weihnachten besuchen? Ich würde mich riesig freuen, und Ben ist ohnehin immer mit allem einverstanden, was ich vorschlage. Bitte gib mir Bescheid. Du kannst bestimmt eine Erholung gebrauchen nach dem Schock, dass die gesamte Ernte zerstört ist. Auch meine Familie ist in großer Sorge, wie es weitergehen soll, denn auf unserer Plantage hat ebenfalls kein Zuckerrohrhalm den Hurrikan überlebt. Ach bitte, komm doch!
Deine Freundin Cecily
Valerie musste wider Willen schmunzeln. Auch wenn sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, einem Mann das Kind eines anderen unterzujubeln, es war typisch für Cecily. Sie kam immer wieder auf die Füße und war von einer Sorglosigkeit, um die Valerie sie nur glühend beneiden konnte. Vielleicht sollte sie wirklich zu Weihnachten nach Kingston reisen? Aber da verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Was, wenn sie James und seiner Frau in Kingston begegnete? Nein, das Risiko würde sie auf keinen Fall eingehen. Außerdem musste sie dann Erklärungen abgeben, warum Ethan nicht dabei sein würde.
Seufzend legte Valerie den Brief beiseite und nahm den zweiten zur Hand. Er war aber gar nicht an sie adressiert, sondern an ihre Großmutter. Sie zögerte. Sollte sie Grandmas Post öffnen oder sie nicht lieber ungeöffnet an den Empfänger zurückgehen lassen? Als sie den Absender sah, entschied sie sich dafür, ihn lieber zu lesen. Er war nämlich aus Flensburg von einer gewissen Gyde Andresen. Valerie lief ein kalter Schauer über den Rücken. Andresen? Hatte der Schwager ihrer Großmutter, Kapitän Heinrich, nicht so geheißen? Mit zittrigen Fingern öffnete sie das Kuvert, dem anzusehen war, dass es bereits eine längere Reise zurückgelegt hatte. Sie war froh, dass es ein kurzer Brief war. Ihre Kenntnisse der deutschen Sprache waren dank Großmutters einstigem Unterricht ganz passabel, aber die ein oder andere Vokabel fehlte ihr.
Liebe Großtante Hanne,
vielen Dank für deinen letzten Brief. Ich verstehe sehr gut, dass du mit dem Herzen immer noch an dem Flensburger Anwesen hängst. Es ist inzwischen schon seit vielen Jahren in kleine Parzellen eingeteilt, und ich weiß nicht, wem sie gehören. Du weißt ja, warum wir das Anwesen nicht halten konnten. Vater und ich fühlen uns sehr wohl in dem neuen Haus an der Förde. Er ist so froh, dass ich Spaß an dem Geschäft habe. Und ich war ja gerade erst geboren, als Mutter und Vater den Hügel verlassen mussten. Ist es nicht ein Wunder, dass wir es wieder zur reichsten Familie der Stadt gebracht haben? Nein, es ist kein Wunder. Wir haben es allein dir und deinem sagenhaften Mut zu verdanken. Und deinem Scharfsinn. Wie konntest du ahnen, dass die Regierung tatsächlich mit dem Gedanken spielt, den Zoll für Rum von dem Wertzoll in einen Gewichtzoll umzuwandeln? Noch haben sie die Bestimmungen zwar nicht geändert, aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann wir nach Gewicht zahlen müssen. Und dann ist die Konkurrenz doppelt benachteiligt. Sie führen eh schon weniger Rohstoff als wir ein und würden im Ernstfall auch noch mehr für weniger Qualität zahlen müssen. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht auf denselben Gedanken kommen wie wir und in Zukunft auch den puren statt den fertigen, trinkbaren Rum verschiffen. Schade ist nur, dass ich wohl niemals die Gelegenheit haben werde, mit dir über solche Dinge am warmen Ofen zu plaudern. Eine Reise in die Karibik ist utopisch. Ich werde vor Ort gebraucht. Und ich kann mir auch kaum vorstellen, dass du dich auf die lange Reise begibst. Vater sagt immer: Wir werden den Engel, der unsere Existenz gerettet hat, wohl nie persönlich kennenlernen. Und dann fügt er bedauernd hinzu: »Sie wird sich nie davon überzeugen können, was für ein Mann der Tat aus dem kleinen Jannis geworden ist.« Ich bin ja nur froh, dass Vater meinem Zukünftigen und mir das Geschäft nach Mutters Tod überlassen und sich zur Ruhe gesetzt hat. Er hätte sonst bis zum Umfallen gearbeitet. Er lässt dich jedenfalls grüßen. Ich heiße übrigens bald nicht mehr Andresen, sondern – lach nicht – Brodersen. So wie meine Großmutter nach Großvater Heinrichs Tod einen Brodersen geheiratet hat, werde ich auch demnächst einen jungen Mann aus der Sippe ehelichen. Ich habe neulich im Nachlass von Großmutter Lene deinen Brief gefunden, in dem du ihr schreibst, dass du noch lebst. Ich glaube, das war für sie damals ein großer Trost, nachdem Großvater tot war. Danke, dass du das Geschäft so gut im Griff hast. Auch wir in der Heimat profitieren davon und können uns vor Abnehmern kaum retten. Denn sei gewiss: unser Rum ist immer noch mit Abstand der beste. Wir lagern die Fässer bei uns manchmal noch Jahre, bevor wir unseren Alkohol und unser Flensburger Wasser hinzugeben. Die Mischung macht es dann. Aber das weißt du ja. Schließlich bringt dir jedes unserer Schiffe genügend Flaschen Hensen-Rum mit. Was meinst du, wie oft ich gefragt werde, warum er so einzigartig schmeckt. Ich sage dann immer: Familiengeheimnis! Es ist schön zu hören, dass du dich nun doch entschlossen hast, meine Großcousine in das Geschäft einzuführen. O weh! Ich muss Schluss machen. Das nächste Schiff nach Jamaika läuft gleich aus, und ich muss den Brief noch zur Poststelle bringen. Dein Rum ist schon an Bord. Und schicke ja viel Nachschub, denn wir kommen der enormen Nachfrage kaum hinterher. Hensen-Rum ist im gesamten Deutschen Reich beliebt. Seit unsere kleine preußische Provinz zu diesem Staat gehört, haben sich die Bestellungen um ein Vielfaches gesteigert. Und stell dir vor, ein Londoner Unternehmen hat angefragt, ob wir sie nicht beliefern könnten. Sie beziehen ihren fertigen Rum bislang von einem Unternehmen mit dem Namen Fuller. Die Qualität des Rums soll schlecht sein. Dieses Handelshaus hat seinen Sitz auch in Montego Bay. Vielleicht kennst du sie!
Grüß meine Cousine unbekannterweise
Deine Großnichte Gyde
Gedankenverloren legte Valerie den Brief auf dem Tisch ab. Wenn du wüsstest, liebe ferne Cousine, dass ich dir eine traurige Nachricht überbringen muss … Dann zwang sich Valerie, an das Geschäft zu denken. Sie musste unbedingt Mister Kilridge fragen, wann das nächste Schiff die Rückreise nach Flensburg antrat. Wenn sie es recht erinnerte, würden die nächsten Schiffe aus dem fernen Hafen überhaupt erst Anfang Februar in Montego Bay ankommen und Ende desselben Monats den Rückweg antreten. Die bange Frage war, was diese Schiffe an Fracht mit zurück über den großen Teich nehmen würden, wenn die Ernte des Zuckerrohrs entfallen und deshalb auch kein neuer Rum hergestellt werden konnte. Heute nicht, entschied Valerie, heute sah sie sich nicht in der Lage, einen Brief an die Verwandten zu schreiben. Noch hatte sie ein paar Monate Zeit, und bis dahin musste ihr etwas eingefallen sein. Sonst blieben die Schiffe leer und die Kassen über kurz oder lang ebenfalls.
Plötzlich stand Asha in der Tür. Ihre Augen waren verquollen.
»Was ist geschehen?«, fragte Valerie besorgt, doch Asha blieb ihr eine Antwort schuldig.
»Doktor Brown wartet unten in der Halle und wünscht Sie zu sehen«, verkündete sie steif.
»Dann bitten Sie ihn in den Salon und servieren uns einen Tee«, erwiderte Valerie sichtlich erfreut. Sie hatte auch schon überlegt, ob sie ihn aufsuchen sollte, um ihn direkt nach ihrer Meinung zu ihren Plänen Ethan betreffend zu befragen. Es musste ihm schier das Herz brechen, dass er nicht sein Praxisnachfolger werden würde, weil er Montego Bay ihretwegen mied.
Er kann nur begeistert sein, ging es Valerie durch den Kopf.
Als der alte Doc den Salon betrat, erschrak sie jedoch. Er ging gebückt und sah um Jahre gealtert aus. Seine Haut war aschfahl und der Blick aus seinen sonst stets blitzenden Augen seltsam leer.
Bevor Valerie ihn nach dem Grund fragen konnte, stöhnte er: »Ethan ist tot!«
Valerie starrte ihn an wie einen Geist. Das kann nicht sein, er ist doch noch so jung, dachte sie. Wie von ferne hörte sie den Doktor sagen: »Er hat sich am Dengue-Fieber infiziert und konnte sich selbst nicht helfen. Einer seiner Mitarbeiter hat mich gerufen, da lag er schon im Sterben. Er war noch bei Bewusstsein, als ich eintraf, aber es ging aufs Ende zu. Sein Gesicht war überall mit roten Stellen übersät und …« Er stockte und wischte sich hastig mit dem Ärmel seiner Jacke über die feuchten Augen. »Er bat mich, dir zu sagen, dass du ihm verzeihen mögest. Er hat geglaubt, allen Beteiligten gerecht zu werden, als er die Ehe zwischen Rosa und Gerald arrangiert hat. Er bedauert es zutiefst.«
Valerie schluckte. Doktor Brown kannte Ethans Geheimnis.
»Du wusstest also von Rosas Schwangerschaft? Warst du in den Plan eingeweiht?«
Doktor Brown schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe mir nur meinen Teil gedacht, nachdem Rosa uns Hals über Kopf verließ, ich sie wenig später traf und sah, dass sie schwanger war. Ich habe Ethan gefragt. Er schien erleichtert, dass er es mir noch vor seinem Tod anvertrauen konnte. Valerie, bitte verzeih ihm!«
»Das habe ich doch längst. Ich wollte ihn sogar gerade bitten, ob er nicht wieder zu mir nach Sullivan-House ziehen könnte«, schluchzte Valerie auf und warf sich dem alten Mann an die Brust. Vereint weinten sie um Ethan.
»Kommst du zur Beerdigung, Valerie?«, fragte Doktor Brown schließlich.
»Aber natürlich«, schniefte sie.
Kaum hatte der alte Mann sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel gewischt, machte er sich schon wieder zum Gehen bereit. Es war ein trauriger Anblick, wie er zur Tür schlurfte, als wäre er hundert Jahre alt. In diesem Zustand konnte er weder praktizieren noch allein in seinem Haus wohnen. Ein Gedanke durchzuckte sie.
»Willst du nicht bei mir einziehen? In Großmutters Räumen, da ist so viel Platz!«, platzte es förmlich aus ihr heraus.
Er wandte sich ihr zu und musterte sie liebevoll. »Danke, mein Kind, das ist sehr nett von dir. Aber ich gehöre in mein Haus, und es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn ich eines Tages ohne Hanne in ihrem Haus leben würde.« Für den Bruchteil einer Sekunde umspielte ein Lächeln seinen Mund.
»Schade«, bemerkte sie enttäuscht. »Ich glaube, ich ende wie meine Großmutter als einsame schwarze Frau auf dem Hügel!«
Wieder war ein Anflug von Lächeln im Gesicht des alten Mannes zu erkennen. »Sie war nicht immer einsam. Als sie so jung wie du war und auch noch, als sie zu uns nach Jamaika kam und schon eine gestandene Frau war, da war sie die umschwärmteste Schönheit weit und breit. Damals hat sie nicht im Traum daran gedacht, ihr Leben allein zu fristen. Außerdem hatte sie ja Henny …« Er stockte. »Tut mir leid. Dass ich sie erwähnt habe …«
»Keine Sorge«, raunte Valerie. »Großmutter hat mir schon vor Monaten ihr Tagebuch gegeben. Und ich denke, ich werde noch früh genug alles erfahren.«
Doktor Brown strich ihr unbeholfen über die dunklen Locken. »Du bist noch so jung. Du wirst eine Familie haben. Zu Sullivan-House gehört Kinderlachen. Glaub es mir! Du kommst ganz nach deiner Großmutter, bist eine wahre Schönheit …«
»Mit einem kleinen Unterschied. Sie war eine Weiße, und ich bin es nicht!«
Der alte Doc stieß einen tiefen Seufzer aus. »Mach dir das Leben nicht unnötig schwer. Früher, da war das ein Makel und hat für viel Elend gesorgt, aber das ist vorbei. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als die Sklaverei abgeschafft wurde. Ich war ein junger Arzt und sehe noch die freien Schwarzen durch die Straßen tanzen. Es war das Jahr 1834. Doch sie wurden nach der Feier zum Teil gejagt, zu Tode gehetzt und wieder eingefangen. Es gab einige Plantagenbesitzer, die das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei einfach ignorierten. Die Regierung in London, die das Gesetz beschlossen hatte, war weit weg. Auf unserer Insel galten andere Regeln. Sie dachten, es wäre wieder nur falscher Alarm. Schließlich hatte es bereits 1831 aufgrund der Gerüchte, die Sklaven seien frei, in dieser Gegend einen schweren Aufstand gegeben. Aber ich will dir keinen Geschichtsunterricht erteilen. Nur so viel: In den Zeiten damals waren die Schwarzen und auch die Mischlinge in den Augen der Weißen keine Menschen. Damals war es schlimm, die falsche Hautfarbe zu besitzen. Aber du bist eine bildhübsche, reiche Lady und kannst darauf spucken, wenn so ein dummes Weib wie Elizabeth Hamilton über dich herzieht. Ihr Vater hat noch Sklaven aufhängen lassen, nachdem das Gesetz längst in Kraft war …«
Der alte Doc hatte sich regelrecht in Rage geredet. Einmal abgesehen davon, dass Valerie seine Worte wie ein Schwamm aufsog, besonders, was die Rolle der Hamiltons betraf, schien ihn das von seinem Kummer um Ethan abzulenken. Kaum hatte er innegehalten, sprach wieder tiefer Schmerz aus seinen Augen.
»Die Beerdigung ist übermorgen«, murmelte er.
»Und du willst wirklich nicht hierbleiben? Nicht einmal bis zur Beerdigung?«
Wieder huschte der Hauch eines Lächeln über seine traurige Miene. »Nein, es geht nicht. Ich denke, du wirst mich verstehen, wenn du Hannes Tagebuch gelesen hast.«
»Nun gut«, seufzte Valerie. »Dann lass mich dich wenigstens zur Tür bringen.« Sie wartete keine Antwort ab, sondern hakte den alten Mann unter.
»Ach noch etwas!«, sagte Doc Brown, als er schon fast draußen war. »Ich … also Ethan … hat ein wenig Geld gespart, und das sollte ich dir übergeben.« Er fasste in seine Jackentasche und zog einen Lederbeutel hervor, den er Valerie in die Hand drückte.
Sie war zu perplex, um die Annahme zu verweigern, doch schon in diesem Moment war für sie sonnenklar, dass sie das Geld auf keinen Fall behalten würde. Und sie hatte auch schon einen Plan, wer es bekommen sollte …
Sie sah Ethans Großvater versonnen nach, bis er zwischen den Hibiskusbüschen verschwunden war. Eigentlich war sie jetzt mit Gerald verabredet. Sie haderte mit sich. Am liebsten würde sie sich in den Schatten des Hauses zurückziehen und sich in Großmutters Tagebuch vertiefen. Doktor Browns Worte hatten ihre Neugier erregt. Doch würde sie sich überhaupt darauf konzentrieren können? Würden ihre Gedanken nicht ständig zu Ethan abschweifen und der Frage, ob er noch am Leben wäre, wenn sie über ihren Schatten gesprungen und die unselige Affäre einfach hingenommen hätte?
Es hilft keinem, wenn ich mir ständig das Hirn zermartere, statt zu handeln, ging es ihr entschlossen durch den Kopf, und sie nahm sich vor, lieber ihre Pflicht als neue Herrin zu erfüllen.
In ihrem Reiterkostüm betrat sie wenig später den Stall. Montego Lady, wie Valerie ihre Stute getauft hatte, wieherte laut, als sie sich der Box näherte.
»Na, mein Mädchen«, raunte sie und kraulte das Tier hinter dem Ohr. Black Beauty hatte sich nie gern kraulen und streicheln gelassen. Montego Lady liebte das.
Als sie die Stute satteln wollte, kam Jerome herbeigeeilt und wollte ihr die Arbeit unbedingt abnehmen. Er war regelrecht verärgert, weil sie darauf bestand, es allein zu erledigen. Schließlich ließ sie ihm seufzend den Vortritt.
Während er das Pferd sattelte, sagte er leise: »Misses Brown, tut mir ganz leid um Ihren Mann. Hat so vielen meiner Brüder und Schwester in Black River Leben gerettet.«
Valerie legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Ja, es ist traurig«, seufzte sie und wunderte sich, dass Jerome sie nun von Kopf bis Fuß missbilligend musterte.
»Ist was?«, fragte sie nichtsahnend.
»Will nicht vorschreiben Missus, was anziehen. Aber Mann tot, Frau tragen schwarze Kleid.«
Valerie errötete. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie galt ja nun als Witwe, musste sich dementsprechend kleiden und auch so benehmen. Eine Witwe, die im Reitdress zu ihren Plantagen galoppierte, war mit Sicherheit mehr als unschicklich.
»Ich habe schon verstanden, Jerome. Du kannst Montego Lady wieder absatteln. Hol mich mit der Kutsche vor dem Portal ab. Ich ziehe mich nur rasch um. Und bitte nenn mich nicht Missus!«
»Wird gemacht, Misses Valerie!«, lachte Jerome.
Valerie rannte zum Haus zurück. Sie hatte sich zu Großmutters Beerdigung ein schwarzes Kostüm gekauft, das sie aber nur an dem Tag getragen hatte. Von Enkelinnen wurde keine Trauerkleidung erwartet, aber von Witwen.
Jerome warf ihr einen anerkennenden Blick zu, als sie schwarz gekleidet in die Kutsche stieg. Und als sie im Vorüberfahren feststellte, wie vielen Menschen sie an diesem Tag unterwegs begegneten, war sie froh, dass er ihr den Hinweis mit der Trauerkleidung gegeben hatte.
Wie immer wartete Jerome am Tor zur Plantage. Die Wege durch die Felder waren zu uneben, um sie mit einem Wagen zu befahren. Valerie staunte nicht schlecht, als sie Geralds neues Haus sah. Sie hatte ihm erlaubt, es so groß und schön zu errichten, wie er wollte. Und er hatte binnen zwei Monaten ein wunderschönes Holzhaus mit einer großen Veranda gebaut. Als sie näher kam, hörte sie Rosa voller Inbrunst singen. Valerie blieb stehen und versteckte sich schnell hinter dem Stamm eines gewaltigen Brotbaums. Die junge Frau hatte eine Stimme, die Valerie bis tief ins Herz berührte. Als Rosa plötzlich verstummte, war Valerie regelrecht enttäuscht. Sie hätte dem Lied, von dem sie allerdings kein Wort verstand, noch stundenlang lauschen mögen.
Valerie trat aus dem Schatten des Brotbaumes hervor und ging auf das Haus zu. Gerald stand schon in der Tür und winkte ihr zu. Er schien bester Stimmung zu sein, stellte sie fest.
»Schön, dass Sie es endlich geschafft haben, Misses Valerie. Das wurde aber auch langsam mal Zeit.«
»Das Haus ist wunderschön«, erwiderte sie. Ihr Eindruck verstärkte sich noch, als er ihr voller Stolz das Innere des Hauses vorführte. Es war von einer anheimelnden Gemütlichkeit, die Geralds Haus vorher nicht besessen hatte. »Und wie hübsch es eingerichtet ist.«
»Das ist alles das Werk meiner Frau«, erklärte Gerald. Valerie entging nicht, dass seine Augen funkelten, während er von Rosa schwärmte.
»Was halten Sie davon? Trinken Sie einen Tee mit uns, bevor wir zur Destillerie gehen?«
Valerie nickte und fuhr fort, sich neugierig umzusehen. Bis ins kleinste Detail war die einfache Einrichtung perfekt aufeinander abgestimmt.
»Also wirklich, Gerald, hier kann man sich wohlfühlen«, rief Valerie begeistert aus.
»Das sollten Sie gleich noch einmal wiederholen. Es ist ja schließlich auch für Rosas Ohren bestimmt.«
Er strahlte über das ganze Gesicht und deutete hinter Valerie. Sie drehte sich um. Die hochschwangere Rosa strahlte genauso wie er. Sie ist wunderschön, musste Valerie neidlos zugeben. Sie war bis auf den Bauch immer noch schlank und rank, aber ihr Gesicht hatte rundere Züge bekommen, und das stand ihr ausgezeichnet.
Was ist mit den beiden geschehen, fragte sich Valerie. Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass sie zumindest Rosa die gute Stimmung gleich mit der Nachricht über Ethans Tod verderben würde. Doch bevor sie etwas sagen konnte, trat Rosa einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand. Valerie war völlig verblüfft.
»Es tut mir so leid«, raunte Rosa.
»Sie wissen es schon?«
»Ja, Doktor Brown war hier und hat es mir gesagt.«
»Wann?«
»Heute Morgen.«
Valerie wusste, dass es kleinlich war, sich in Gedanken auszumalen, dass Doktor Brown es Rosa früher als ihr mitgeteilt hatte, aber es gab ihr einen Stich.
»Tja, inzwischen weiß es wohl jeder, dass Sie Gerald nur geheiratet haben, um zu vertuschen, dass Sie von Ethan schwanger sind«, rutschte es ihr bissig heraus.
»Das geht zu weit, Misses Valerie«, mischte sich Gerald empört ein. »Wie können Sie so etwas behaupten?«
Zur Bekräftigung seiner Worte stellte er sich neben Rosa und legte ihr beschützend den Arm um die Schulter. Sie sah ihn dankbar an. Und da sprach noch mehr aus seinen Augen als Dankbarkeit. War es Liebe? Valerie war verwirrt.
»Es ist gleichgültig, was einmal war«, fügte Gerald nachdrücklich hinzu. »Jetzt sind wir beide ein glückliches Paar, das sein erstes Kind erwartet.«
Seufzend musterte Valerie die beiden. Sie warfen sich verliebte Blicke zu. Anscheinend stimmte, was er sagte. Offenbar war aus dieser Notgemeinschaft eine richtige Ehe geworden. Sie konnte sich nicht helfen: Es wirkte echt.
»Sie haben recht, Gerald. Wem nützt es, nachträglich in den Wunden zu bohren? Aber trotzdem möchte ich Ihrer Frau etwas für das Kind geben.«
Valerie holte aus ihrer Handtasche den Lederbeutel und reichte ihn Rosa.
»Was ist das?«, fragte sie mit einer Mischung aus Neugier und Ablehnung.
»Es ist Ethans Vermögen. Doktor Brown hat es mir gegeben, aber ich möchte es nicht annehmen und finde, dass es Ihrem Kind zugute kommen sollte.«
Rosa starrte Valerie ungläubig an.
»Nein, Misses Valerie, das wollen wir nicht haben«, verkündete Gerald entschlossen.
Rosa nahm seine Hand und drückte sie liebevoll. »Doch, Gerald, ich glaube, wir können es ruhig annehmen. Wir müssen Misses Brown nichts vorspielen. Und Ihre Entscheidung, es dem Kind zu überlassen, zeugt von Großmut und Herzensgüte.« Sie fixierte Valerie. »Ich danke Ihnen. Und ja, ich habe Sie gehasst, weil ich glaubte, Sie hätten mir Ethan fortgenommen, dabei hat er mich nie annähernd so geliebt wie Sie. Vielleicht würde ich Sie immer noch abgrundtief hassen, wenn ich durch dieses Arrangement nicht. …« Rosa suchte Geralds Blick. Die beiden sahen sich tief in die Augen.
Ob mir Derartiges wohl auch noch einmal vergönnt sein wird, fragte sich Valerie traurig.
»Ethan hat sich sogleich in Sie verliebt, Misses Brown. Ich sah es ihm an, als er von dem Dinner bei Ihnen zurückkehrte. Er war wie verwandelt. In seinen Augen funkelten tausend Sterne. Ich fragte ihn, was geschehen sei, und er sagte: Sei nicht böse, Rosa, aber heute ist mir die Frau meines Lebens begegnet, und ich werde sie heiraten …«
Diese Worte genügten, um Valerie die Tränen in die Augen zu treiben. Spontan umarmte sie Rosa, und die beiden Frauen weinten gemeinsam um einen Menschen, den jede von ihnen auf ihre Weise geliebt hatte.
Sie verstummten erst, als Gerald sich laut zu räuspern begann. Ihm war es offensichtlich unangenehm, dass die beiden in seiner Gegenwart um einen anderen Mann trauerten.
»Misses Valerie, ich will Sie ja nicht drängen, aber was meinen Sie? Wollen wir nicht endlich an die Arbeit gehen?«
Valerie löste sich aus der Umarmung mit Rosa und nickte. »Ja, deshalb bin ich ja schließlich hergekommen«, schniefte sie.
»Sie sind eine großartige Frau, Misses Brown«, seufzte Rosa zum Abschied und winkte ihnen nach.
Schweigend machten Gerald und Rosa sich auf den Weg. Auf den meisten Feldern war noch das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar, und umgeknickte Halme bestimmten das Bild. Auf anderen Feldern waren fleißige Hände damit beschäftigt, die Halme der zerstörten Pflanzen am unteren Ende zu kappen.
Neugierig blieb Valerie stehen und sah ihnen bei der Arbeit zu.
»Bald wächst es wieder, Missus!«, rief ihr Papa Jo zu, der inmitten der Arbeiter schuftete.
»Wie lange wird es dauern, bis wir wieder ernten können?«, fragte Valerie Gerald.
Der legte seine Stirn in Falten. »Frühestens in einem Jahr«, erwiderte er zögernd.
»Aber was geben wir den Schiffen mit, wenn wir vorläufig keinen Nachschub an Rum mehr produzieren können?«
»Tja, wenn ich das wüsste«, erwiderte er eifrig. »Darüber grübele ich Tag und Nacht. Vielleicht sollten wir Plantagen dazukaufen. Einige kleinere Pflanzer sind zurzeit durchaus bereit, ihre Plantagen abzustoßen. Es rentiert sich für einige nicht mehr. Ich habe mir erlaubt, morgen im Hotel Paradise ein Treffen für Sie zu arrangieren mit einem gewissen Mister Owens. Seine Pflanzen sind verschont geblieben, aber für ihn lohnt sich das Geschäft mit dem Zucker schon lange nicht mehr. Und wenn er verkaufen würde, dann könnten wir im Februar direkt auf der neuen Plantage abernten und genügend Rum produzieren.«
Valerie klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Das ist ja mal eine gute Nachricht, Gerald. Natürlich kaufe ich die Plantage. Das Geld ist nicht das Problem. Noch nicht. Das würde erst knapp werden, wenn wir ein Jahr mit dem Handel aussetzen und die Schiffe leer zurückfahren ließen. Ob Sie bitte Mister Kilridge Bescheid sagen könnten? Ich möchte gern, dass Sie beide bei dem Gespräch mit Mister Owens dabei sind.«
»Aber ich bin nur der Verwalter und der Brennmeister«, widersprach Gerald.
»Bitte, ich fühle mich sicherer, wenn ich – mit Verlaub – zwei alte Hasen an meiner Seite habe.«
»Gut, das wird zu Ihrer Zufriedenheit erledigt. Morgen dreizehn Uhr im Restaurant des Paradise.«
Erst in diesem Augenblick stolperte Valerie über den Namen des Treffpunkts. Um das Hotel Paradise hatte sie nämlich einen großen Bogen gemacht, seitdem sie dort Zeugin der Verlobung von Mary und James geworden war. Sie überlegte kurz, ob sie um einen anderen Ort bitten sollte, verwarf den Gedanken aber. Das Kapitel James Fuller ist endgültig beendet, redete sie sich gut zu.
Gerald hatte sie mittlerweile mit sich fortgezogen. Er schien es kaum mehr abwarten zu können, ihr das Herzstück der Plantage zu zeigen. Die Brennerei. Mit großer Geste und feierlicher Miene holt er den Schlüssel hervor.
»Es gibt nur den einen«, erklärte er. »Und den trage ich immer bei mir. Man müsste mich schon umbringen, um ihn in seinen Besitz zu bringen.«
Im Inneren der Destillerie war es erstaunlich hell. Das verwunderte Valerie zunächst, denn es gab keine Fenster. Gerald zeigte nach oben an die Decke. Das Dach war aus Glas wie bei einem Gewächshaus.
In der Mitte des Raumes stand etwas, das wie ein riesiger Kupferkessel aussah.
»Da steht sie, die Zauberin«, stieß er schwärmerisch hervor. Valerie lächelte. Es war rührend, wie begeistert er von seiner Destille sprach, die in ihren Augen zunächst einmal nicht mehr als ein großes Gefäß aus Kupfer war.
Valerie ließ sich gern von seinem Enthusiasmus anstecken und trat dicht an die Destille heran.
»Sie ist nicht nur besser gebaut als die der Konkurrenz nach Plänen von Misses Sullivans erstem Mann, sondern wir produzieren auch anders. Die Pläne der Destille befinden sich in einem Bankfach. Falls unsere Destille einmal ausfällt«, flüsterte er verschwörerisch. »Darf ich Ihnen einen Überblick über die wesentlichen Unterschiede geben?«
»Ich bin gespannt«, entgegnete Valerie.
»Wir erhitzen die Maische zweimal in dem Brennglas. Zunächst erhalten wir ein Destillat, das einen Alkoholgehalt von bis dreißig Prozent hat, beim zweiten Brennen kommen wir auf bis zu achtzig Prozent. Dann haben wir unseren puren Rum, und dank unserer Destille bleiben alle Aromen erhalten. Aber damit nicht genug. Wir stellen nicht nur eine Sorte puren Rum auf diese Weise her, sondern mehrere. Jedes Destillat hat seine eigene Note. Und dann werden diese vermischt und ohne weitere Zusätze in die Fässer gefüllt. Sehen Sie dort.«
Valerie blickte zum anderen Ende des hallenähnlichen Raumes. Dort standen Unmengen von Fässern.
»Und was ist daran das Besondere?«, fragte Valerie zaghaft.
»Wir stellen puren Rum her, der erst in Flensburg mit reinem Alkohol und Wasser auf Trinkstärke herabgesetzt wird. So können wir viel Inhalt in den Fässern liefern. Viel mehr als die anderen.«
»Ach, das hat meine Großcousine gemeint. Jetzt verstehe ich. Das ist also wesentlich profitabler.«
»Genau! Die Fässer der anderen enthalten bereits die fertige Mischung, wir liefern nur den Grundstoff. Die anderen liefern also auch eine Menge Wasser. Und wir lassen drüben das beste Wasser hinzusetzen, das es gibt. Und das ist das Flensburger Wasser. Verstehen Sie?«
»Natürlich. Die Fässer der Konkurrenz sind zum Teil mit Wasser gefüllt, das bei uns erst in Flensburg hinzugesetzt wird. Dadurch ergibt unser pures Destillat am Ende wesentlich mehr verkaufbaren Rum.«
Gerald strahlte über das ganze Gesicht. »Genauso ist es. Und deshalb müssen wir dieses Geheimnis hüten, sowie die besondere Konstruktion unserer Destille.«
»Ich sage es bestimmt nicht weiter«, lachte Valerie.
»Sie glauben ja gar nicht, was mir schon geboten worden ist, damit ich es verrate«, knurrte Gerald.
»Man hat versucht, Sie zu bestechen?«, fragte Valerie empört.
»Mehrfach, aber letztes Mal habe ich diesem Kerl eins aufs Maul gegeben. Seitdem hat er es nicht mehr versucht.«
»Und wer ist dieser Mensch?«
Gerald verdrehte die Augen. »Ich will Sie nicht unnötig mit so etwas belasten.«
»Bitte, Sie müssen es mir sagen. Ich sollte wohl wissen, wer uns auszuspionieren versucht.«
»Ungern«, seufzte er. »Es ist Cecilys Bruder! Ihre Familie besitzt, wie Sie ja wissen, ebenfalls große Plantagen. Die legendären Hamilton-Plantagen, über die wüste Gerüchte im Umlauf sind. Da soll viel Blut geflossen sein, als der alte Hamilton noch der Zuckerbaron Jamaikas war. Inzwischen sind die aber auch ganz groß ins Rumgeschäft eingestiegen und schielen natürlich neidisch auf unsere Erfolge …« Er stockte und musterte sie besorgt. »Was ist denn mit Ihnen? Sie sind auf einmal so blass.«
Valeries Herz schlug bis zum Hals. Sie betete, dass es sich nicht um James handelte. So wenig sie sich das auch vorstellen konnte, sie wollte es genau wissen. »Wie heißt besagter Fuller mit Vornamen?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Gerald zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Er hat sich mir nicht namentlich vorgestellt. Er ahnte ja nicht, wie nahe ich seiner Schwester war. Aber ich wusste sofort, dass er ihr Bruder ist. Er ist bekannt wie ein bunter Hund in Montego Bay.«
»Wie sieht er aus? Ist er groß, hat eine stattliche Statur, blonde Locken und ein kantiges Gesicht?«
»Wenn Sie ihn mir so beschreiben, ja, dann würde ich sagen, so sieht der Kerl aus. Sie müssten ihn eigentlich ganz gut kennen, wo Cecily doch Ihre beste Freundin ist, oder?«
Diese Frage ignorierte Valerie. »Er heißt aber nicht James, oder?« Sie hoffte, dass er nicht merkte, wie sehr sie dieser Gedanke innerlich aufwühlte.
Gerald kratzte sich am Kinn. »Doch, mir hat er sich als James Fuller vorgestellt. Jetzt erinnere ich mich wieder. James Fuller, ja, so hieß der Kerl.« Er musterte sie erneut besorgt. »Ist Ihnen nicht gut?«
»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich bewundere Sie, dass Sie standhaft bleiben und sich nicht an die Konkurrenz verkaufen.«
»Aber Misses Valerie, ich bin kein Verräter! Ich könnte mich gar nicht mehr im Spiegel betrachten, wenn ich Geld annehmen würde, um Misses Sullivans Geheimnis zu verraten! Dann wäre ich jetzt übrigens ein reicher armer Mann. Der junge Fuller hat sein Angebot dreimal erhöht. Ich hätte ausgesorgt, aber was wäre hier drinnen …« Er deutete auf sein Herz. »… ich könnte mich selbst nicht mehr leiden!«
Valerie rührte die Aufrichtigkeit des Brennmeisters, und sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte, was auch geschah. Zu glauben, dass James ein derart ausgekochter Schuft war, fiel ihr schwer. Und warum hatte er sich nicht geschickter angestellt? Er hätte nach dem letzten Kuss doch alles von mir haben können, ging es Valerie durch den Kopf, warum hat er es nicht ausgenutzt? Darauf wollte ihr partout keine passende Antwort einfallen.
»Misses Valerie, es tut mir aufrichtig leid, was Ihnen widerfahren ist«, hörte sie Gerald nun wie von ferne sagen.
Was meinte er damit, fragte sich Valerie, die immer noch ihren Gedanken an James nachhing.
»Es war nicht rechtens, was sich Ihr Mann und ich uns da ausgedacht haben«, sagte Gerald nun schuldbewusst. »Es ging auch mehr von mir aus. Ethan war einfach nur ratlos. Und ich war in der Nacht so zornig auf Cecily und ihre Kaltblütigkeit. Stellen Sie sich nur vor: Sie hat mir auf den Kopf zugesagt, sie würde den Mann aus Kingston nur aus Vernunftsgründen heiraten, und wir könnten trotzdem weiter unseren Spaß haben. Das hat mich zutiefst gekränkt, und so kam ich auf den Gedanken, Ethan das Problem abzunehmen, um mich an Cecily zu rächen.«
»Es war gar nicht seine Idee?«
»Sagen wir mal so, wir beide haben uns in unserem Rausch in diesen Gedanken verstiegen. Und wir sind dann noch in jener Nacht zu Rosa gegangen und haben ihr den Vorschlag unterbreitet. Ich sehe ihr tieftrauriges Gesicht noch heute vor mir. Sie fühlte sich von Ethan verraten und verkauft. Aber sie stimmte zu. Und so waren wir wenig später verheiratet. Das Gute daran war: Wir mochten uns auf Anhieb, wurden fast so etwas wie Freunde, halfen uns gegenseitig über den Schmerz hinweg, den uns die geliebten Menschen zugefügt hatten. Dass daraus Liebe werden würde, hätten wir beide nicht geahnt. Und nun freue ich mich auf dieses Kind, als wäre es mein eigenes. Und es tut mir aufrichtig leid, dass das Schicksal Ihnen keine Chance mehr geschenkt hat, sich mit Ihrem Mann zu versöhnen.«
Valerie dankte ihm für seine einfühlsamen Worte und schämte sich insgeheim dafür, dass sie im Moment nur von dem einen Gedanken dominiert wurde: Hatte sich James Fuller womöglich nur in ihr Herz geschlichen, um ihr früher oder später das Geheimnis des Hensen-Rums zu entlocken?
»Sie sind also über die Enttäuschung mit Cecily hinweg?«, fragte sie hastig, um zu überspielen, dass sie nicht ganz bei der Sache war.
Gerald sah sie irritiert an. »Ja, ich denke gar nicht mehr an sie. Ich gebe zu, ich habe mich in dieses hübsche Ding verguckt und geglaubt, unsere Liebe könne über die Konventionen und Familientradition siegen. Dabei habe ich übersehen, dass Cecily Fuller eine selbstverliebte, oberflächliche Person ist, die nie im Traum daran gedacht hat, mit mir eine Familie zu gründen. Ich verstehe übrigens offen gestanden nicht, was Sie beide verbindet. Sie, Miss …«
»Sagen Sie einfach Valerie zu mir, Gerald«, unterbrach sie ihn.
»Gut, Valerie, mir ist ihre Freundschaft ein Rätsel. Sie sind so völlig anders als diese bornierten Töchter der feinen Gesellschaft. Ich finde, Sie kommen ganz nach Ihrer Großmutter und sind eine würdige Nachfolgerin.«
Valerie wurde rot. Sie hätte nie gedacht, dass der manchmal ungehobelt wirkende Gerald ihr solche Komplimente machen konnte und dabei den richtigen Ton traf. Plötzlich fiel ihr Cecilys Brief ein, und ihr wurde heiß und kalt zugleich. Was, wenn Gerald davon Kenntnis erlangen würde, dass Cecily sein Kind unter dem Herzen trug? Aber hatte er nicht ein Recht dazu, es zu erfahren? War es nicht sogar ihre Pflicht, ihn aufzuklären?
Valerie atmete ein paarmal tief durch, bevor sie beschloss, dass ihr Mund versiegelt bleiben würde. So sehr sie Cecilys Betrug auch verurteilte, sie war keine Verräterin. Aber, und das nahm sie sich fest vor, sie würde ihrer Freundin ins Gewissen reden und ihr raten, das Kind ihrem Mann nicht einfach unterzujubeln. Und wenn ich dazu Weihnachten nach Kingston reisen muss, dachte sie.
»Ich bin heilfroh, dass Sie für mich arbeiten, Gerald«, sagte Valerie aus vollem Herzen. »Und ich freue mich für Sie, dass Sie auf diese ungewöhnliche Weise Ihre große Liebe gefunden haben.«
»Valerie? Wollen Sie nicht Patin werden?«
»Ich? Aber was wird Rosa dazu sagen?«
»Ich bin überzeugt davon, dass sie es gutheißt. Und verzeihen Sie mir bitte, dass ich vorhin so schroff Ihnen gegenüber war. Ich habe immerzu das Gefühl, ich muss meine Frau beschützen.«
»Schon gut, Gerald.« Valerie legte ihre Hand beruhigend auf seinen Arm. »Wir sehen uns morgen um dreizehn Uhr im Paradise Hotel.«
»Ich werde pünktlich dort sein, und Mister Kilridge wird den vorbereiteten Vertrag dabeihaben. Es wird alles gut.«
Valerie rang sich zu einem Lächeln durch, das, kaum dass sie sich von ihm abgewandt hatte, auf ihren Lippen erstarb. Die Vorstellung, James Fuller könnte sich ihr womöglich aus rein geschäftlichen Gründen genähert haben, wollte ihr förmlich das Herz zerreißen.