5
Montego Bay, Jamaika, März 1883

Behutsam bewegte Valerie ihre Hand. Sie tat nicht mehr weh, und die Schwellung war beinahe gänzlich verschwunden. Sie beschloss, sich auf den Weg zum Doktor zu machen, um ihr Pferd abzuholen. Der Sturz lag erst zwei Tage zurück. Zwei schrecklich lange Tage. Sie hasste es, nichts zu tun. Ihre einzige Ablenkung war Grandmas Tagebuch gewesen, aber davon schaffte sie täglich nur ein gewisses Pensum. Mehr konnte sie nicht verkraften, denn mehr als einmal wurde sie beim Lesen an ihre eigene Situation erinnert. James und sie hatten beide Familien gegen sich! Doch wie immer, wenn sie bemerkte, wie James sich in ihre Gedanken schlich, redete sie sich energisch ein, dass sie sich ja gar nicht für den jungen Mann interessierte. Umso mehr ärgerte es sie, dass sie die letzten zwei Nächte von ihm geträumt hatte. Beide Male hatte er sie im Traum geküsst. Und das Schlimme war, sie hatte seine Küsse genossen.

Noch einmal bewegte sie alle fünf Finger ihrer verstauchten Hand. Es tat nur noch an einer Stelle weh, dort, wo es blaugrün schillerte. Doch das bisschen Schmerz sollte sie nicht davon abhalten, in den Ort zu gehen und den Doktor aufzusuchen.

In der Diele begegnete ihr Grandma. Sie schien tief in Gedanken versunken. Als sie ihre Enkelin bemerkte, blieb sie allerdings stehen und musterte sie durchdringend.

»Wo willst du denn hin? Du gehörst auf dein Zimmer.«

»Meiner Hand geht es prächtig. Schau nur, wie ich sie schon wieder bewegen kann!« Valerie beugte und streckte demonstrativ ihre Finger.

»Aber sie ist doch noch ganz blau angelaufen. Sei vernünftig und schone dich!«, befahl die Großmutter in strengem Ton.

»Bitte schick mich nicht wie ein krankes Kind zu Bett. Ich halte es nicht aus, wenn ich so eingesperrt in meine vier Wände bin. Ich muss raus, die weiche, feuchte Luft auf meiner Haut spüren, den betörenden Duft von Jasmin einatmen …«

»Dann öffne dein Fenster und steck den Kopf hinaus«, erwiderte ihre Großmutter ungerührt.

»Grandma, nein! Ich vermisse Black Beauty und werde ihn mir jetzt holen!«

»Du willst reiten?«

»Ja, wonach sieht es denn sonst aus?«, gab Valerie zurück und deutete auf ihre Kleidung. Sie trug ihr Reiterkostüm.

»Weißt du, dass du ein eigenwilliges, unvernünftiges Menschenkind bist?«

»Ach ja?«, lachte Valerie. »Von wem ich das wohl habe?«

Hanne drohte ihr scherzend mit dem Finger.

»Wobei ich eher ein gehorsames Mädchen bin, wenn ich denke, was du einst für Pläne verfolgt hast, um deinen Willen zu bekommen.«

Hanne stutzte. »Was weißt du von meinen …« Sie unterbrach sich hastig. »Ach ja, das Tagebuch«, fügte sie leise hinzu. »Aber das nimm dir ja nicht zum Vorbild.«

»Solange du nicht Anstalten machst, mich mit unserem Nachbarn, dem Witwer Mister Evans, zu verkuppeln.«

Hanne verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Sehr gute Idee. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Er ist ein gut aussehender Mann, kultiviert, gebildet und wohlhabend.«

»Und dreifacher Großvater. Aber sag mal. Eine Frage hätte ich da noch zu deiner Geschichte.«

Hanne wurde schlagartig wieder ernst. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich erst darüber spreche, nachdem du alles gelesen hast!«, erwiderte sie in scharfem Ton.

»Ich wollte nur wissen, wie alt Pit Hensen damals gewesen ist«, sagte Valerie beinahe entschuldigend.

»Doppelt so alt wie ich. Sechsunddreißig. Aber bitte halte dich an unsere Abmachung. Ich stehe dir Rede und Antwort, sobald du meine ganze Geschichte kennst und meine …« Sie stockte.

»Deine Geheimnisse, ich weiß, ich weiß«, ergänzte Valerie.

»Warte, ich komme mit dir. Wir lassen uns die Kutsche vorfahren.«

»Das ist langweilig. Ich will reiten.«

»Ich würde mich aber sehr freuen, wenn du mich erst einmal auf die Plantage begleiten würdest.«

»Auf die Plantage?«, fragte Valerie erstaunt. Ihre Großmutter hatte sie noch niemals dorthin mitgenommen. Dem Angebot konnte sie nicht widerstehen. Sie folgte ihrer Großmutter nach draußen vor die Tür, wo die Kutsche bereits vorgefahren war. Es war die einzige geschlossene Kutsche auf der ganzen Insel. Alle anderen fuhren in offenen Wagen.

Als Valerie in das Innere der Kutsche stieg, wusste sie auch, warum. Es war schrecklich stickig unter dem schwarzen Dach. Kaum war sie eingestiegen, klebte ihr auch schon die Reitkleidung am Körper fest. Prüfend sah sie sich das Dach genauer an, bis ein Strahlen ihr Gesicht erhellte.

»Man kann das Dach öffnen, Grandma, was hältst du davon?«

»Ich will keinen Menschen sehen und auch nicht gesehen werden«, brummte ihre Großmutter.

»Dann musst du allein fahren. Hier fehlt einem ja die Luft zum Atmen.« Valerie machte Anstalten, die Kutsche zu verlassen.

»Schon gut«, schimpfte Grandma und rief nach Jerome. Als sie den schwarzen Kutscher bat, das Verdeck der Kutsche zu öffnen, glaubte er, sich verhört zu haben. Doch Valerie bekräftigte das Anliegen ihrer Großmutter.

»So lässt es sich leben«, seufzte Valerie, als sie schließlich im offenen Wagen die Palmenallee entlangfuhren, und lehnte sich zurück. Bei der Aussicht, dass Grandma ihr endlich einmal die Plantagen zeigen wollte, wurde sie zunehmend aufgeregter.

»Warum willst du mich ausgerechnet heute mitnehmen?«, fragte sie schließlich.

»Weil du, sobald du mein Tagebuch studiert hast, das Geschäft übernehmen wirst«, entgegnete Grandma wie nebenbei.

»Ich soll es bald übernehmen?« Valerie war fassungslos. »Aber was hat das mit dem Tagebuch zu tun?«

Grandma zuckte die Achseln. »Das wirst du dann schon selber sehen«, entgegnete sie.

Sie fuhren eine ganze Zeit lang schweigend durch die Landschaft. Ganz bis zum Ende der Bucht, an die sich nahtlos Zuckerrohrfelder anschlossen, soweit das Auge reichte.

»Welches ist denn unsere Plantage?«, fragte Valerie neugierig, als sie sich den Feldern näherten.

Hanne lächelte. »Alles, was dein Auge erblickt, gehört uns!«

»Aber … aber, das … ich meine, das ist ja richtig viel Land«, stammelte Valerie.

»Ich habe in den Jahren, seit ich auf  Jamaika lebe, stets etwas hinzukaufen können.«

Die Plantage war durch ein Tor zu erreichen, vor der Grandma den Kutscher halten ließ.

»Warten Sie, Jerome, ich möchte meiner Enkelin nur die Plantage zeigen.«

Valerie sah sich staunend um. Wohin sie sah, kappten schwarze Männer mit Macheten das Zuckerrohr.

Als Grandma sich einem älteren Mann mit grauem Krauskopf näherte, richtete dieser sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Schön, Sie zu sehen«, begrüßte er sie sichtlich erfreut. »Und Sie auch: ihre Enkelin, nicht wahr?«

Valerie ergriff schüchtern die kräftige Pranke des Schwarzen. Sie hatte zunächst Mühe, ihn zu verstehen. Er sprach Englisch, aber anders, als sie es in der Schule gelernt hatte. Patwa, so hatte die Lehrerin im Unterricht stets behauptet, wäre der Untergang der englischen Sprache.

»Das ist Papa Jo, mein Vorarbeiter«, stellte Grandma Valerie den Mann vor. »Er müsste längst auf seiner Veranda hocken und seinen Ruhestand genießen, aber er will partout in der gleißenden Sonne schuften.«

Er lächelte breit. Eine Reihe perlweißer Zähne wurde sichtbar. »Ich würde eingehen, wenn ich nicht mehr ins Zuckerrohr könnte. Dann bin ich alt und zu nichts mehr nütze! Und außerdem traue ich dem Nachwuchs nicht.« Er deutete auf drei jüngere Männer, die ebenfalls dabei waren, das Zuckerrohr auf einen Karren zu verfrachten.

»Ihre Söhne, nicht wahr?«, fragte Grandma und winkte den Männern zu, die kurz einen Blick riskierten, bevor sie weiterarbeiteten.

»Misses Sullivan, das ist aber eine Überraschung«, rief nun eine erfreute Frauenstimme. Valerie sah in das propere Gesicht einer fülligen jungen schwarzen Frau, die ihr Haar unter einem bunten Kopftuch verborgen hatte.

»Lucy, was machen Sie denn auf den Feldern? Ich denke, Sie erwarten Ihr Kind!«, fragte Großmutter besorgt und fügte an Valerie gewandt hinzu: »Lucy ist Papa Jos Schwiegertochter. Sie bekommt ihr erstes Kind.«

»Kein Grund, den Männern kein Essen zu bringen«, lachte sie und reichte Papa Jo einen Korb.

Valerie kam aus dem Staunen nicht heraus. Bis eben hatte sie nicht einmal gewusst, wo sich die Plantage befand, und nun war sie mittendrin im bunten Leben. Und alle schienen Grandma zu mögen. Das war unübersehbar. Ob die Vorfahren von Papa Jo und Lucy Sklaven gewesen waren, fragte sich Valerie, gerade als Lucy begeistert ausrief: »Sie sind wunderschön, Miss Valerie!«

Woher kannte sie ihren Namen?

»Wir haben schon so viel von Ihnen gehört«, fuhr Lucy fort. »Aber Misses Sullivan hat nie gesagt, wie hübsch Sie sind. Die schönste junge Lady, die ich je gesehen habe.« Sie trat verschwörerisch einen Schritt auf  Valerie zu. »Sie sind nicht so schrecklich bleich. Das gefällt mir.«

Valerie lächelte verunsichert. Die Anspielung auf ihre Hautfarbe missfiel ihr, ganz gleich, von wem sie kam. Grandma schien das zu bemerken, denn sie zog Valerie mit sich fort.

»Ich zeig ihr die Mühle«, rief sie Papa Jo zu.

»Wie viele Leute arbeiten denn hier?«, fragte Valerie.

Großmutter zuckte die Achseln. »Da musst du Mister Kilridge fragen.«

»Und wo wohnen deine Arbeiter?«

»Ich zeige dir ihre Häuser nachher. Sie leben auf der Plantage. Wo früher der Zuckerrohrbaron gehaust hat, von dem ich die Plantage erworben habe.«

»Und sind sie Nachfahren von echten Sklaven?«, entfuhr es Valerie neugierig.

»Fast alle Schwarzen oder Mulatten, die du auf der Insel siehst, sind Nachkommen von schwarzen Sklaven. Sie kommen in der Regel von der Küste Guineas.«

Valerie biss sich auf die Lippen, um nicht mit der Frage herauszuplatzen, ob das auch für ihre Herkunft gelte. Doch sie wusste, dass Großmutter ihr wieder einmal die Antwort schuldig bleiben würde.

»Sieh, das ist unsere Mühle«, erklärte Grandma ihr nun und zeigte auf einen Unterstand, in dessen Schatten sich ein Rad drehte. Auch hier herrschte reger Betrieb. Einige luden Zuckerrohr von einem Karren, wieder andere standen unter dem Rad an einer Walze und stopften das Zuckerrohr hinein.

»Das ist eine gefährliche Arbeit«, raunte Grandma ihr zu. »Es hat früher schlimme Unfälle in der Zuckermühle gegeben, aber jetzt ist einer meiner Männer nur dazu da, zu überprüfen, dass die Leute nicht zu nahe an die Walze gehen und nicht betrunken sind.«

»Misses Sullivan, welch seltener Besuch!«, ertönte da eine tiefe Stimme. Valerie fuhr herum und blickte in ein Paar brauner Augen, die trotz der warmen Farbe etwas Kühles ausstrahlten. Sie gehörten einem hochgewachsenen Mann mit etwas dunklerer Haut als sie. Sein Haar war dunkel und gelockt. Er sprach das Englisch, das Valerie in der Schule gelernt hatte. Nicht die Kreolsprache, die von den meisten Schwarzen und Mischlingen gesprochen wurde. Valerie schätzte den Mann höchstens auf  Mitte zwanzig. Er trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, sodass seine muskulösen Unterarme sichtbar wurden.

»Das ist meine Enkelin, Miss Valerie, das ist Mister Gerald Franklin, der Verwalter der Plantage. Ihr werdet euch noch näher kennenlernen, denn wenn du, mein Kind, der Kopf des Unternehmens bist, halte dich immer an Mister Gerald, wenn du etwas über den Rum wissen willst. Er ist nämlich der Enkel des Zauberers und Hüter der Destille.«

Mister Gerald reichte Valerie die Hand, die sie zögernd ergriff und dann hastig losließ, als hätte sie sich verbrannt. Ihr war tatsächlich durch und durch heiß geworden, denn sein Händedruck war kräftig und auf eine merkwürdige Weise intensiv. Er hatte etwas Animalisches an sich, das Valerie zugleich abstieß und anzog.

Hanne aber schien davon nichts zu bemerken, denn sie trat an die Rinne, um die Qualität des ausgepressten Safts zu begutachten, der von hier in das Zuckerhaus floss.

»Sie will prüfen, ob man das Zuckerrohr sofort verarbeitet hat«, erklärte Mister Gerald Valerie, als Grandma nun an dem Saft schnupperte. »Wenn man das gekappte Zuckerrohr nicht an demselben Tag, an dem man es geerntet hat, durch die Mühle dreht, verdirbt es. Und das würde Ihre Großmutter riechen.«

Valerie konnte sich nicht helfen. Sie mochte seine Stimme, aber sie traute sich kaum, ihn anzusehen. Er hatte eine Ausstrahlung, der sie sich kaum entziehen konnte. Gerade diese leichte Arroganz in seinen Augen zog sie magisch an. Deshalb starrte sie stur hinüber zur Zuckermühle.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zuckerhaus von innen«, sagte er und berührte sie leicht am Arm, um ihr zu signalisieren, dass sie ihm folgen sollte. Wie ein Blitz durchfuhr es ihren Körper. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen, aber sie folgte ihm in das Haus aus Stein, in dem es entsetzlich stickig war. Kein Wunder, denn hier standen singende Frauen an Kesseln und dickten den Saft ein. Ein Duft von süßlicher Schwere lag über dem Raum.

Valerie fragte sich, wo Grandma blieb. Es war ihr unangenehm, auf Tuchfühlung mit dem zweifelsohne anziehenden Mann in dieser merkwürdig sinnlichen Atmosphäre zu sein. Seine flirrende Männlichkeit zog sie an und stieß sie gleichzeitig ab. Sie ahnte, was es war. Er besaß etwas Animalisches. Wie ein Tiger in der Brunftzeit, dachte sie verächtlich.

Sie starrte zur Tür und atmete erleichtert auf, als Grandmas blonder Lockenschopf sichtbar wurde.

»Haben Sie ihr alles gezeigt, Gerald?«, fragte sie.

»Nein, die Fässer haben wir noch nicht begutachtet«, erwiderte Gerald.

»Gut, dann erlöse ich Sie jetzt. Ich setze die Führung fort.« Hanne nahm Valeries Arm und zog sie zu einer anderen Ecke des Zuckerhauses.

»Auf Wiedersehen, Miss Valerie. Schön, Sie kennengelernt zu haben. Ich verstehe, warum Ihre Großmutter Sie uns so lange vorenthalten hat. So ein Juwel zeigt man nicht überall herum!« Seine Stimme klang rau und warm.

Valerie warf ihm einen Blick zu. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte sie steif und konnte doch nicht umhin, einen Moment länger bei seinen kühl taxierenden Augen zu verweilen, als sie wollte.

Der Mann ist gefährlich, dachte sie, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken rieselte. Er sah sie an, als würde er nur darauf warten, sie in seine Höhle zu schleppen, was in ihr äußerst gemischte Gefühle auslöste.

»Was ist das für ein Kerl, und warum hast du ihn noch nie zuvor erwähnt?«, stieß Valerie hervor. Dabei hatte sie sich auf keinen Fall nach ihm erkundigen wollen. Sie kannte ihre Großmutter. Die würde den Grund sofort durchschauen, aber offenbar war die alte Dame mit ihren Gedanken ganz woanders, sodass sie ihrer Enkelin bereitwillig Auskunft über ihren Verwalter gab.

»Gerald Franklin ist der zuverlässigste Mitarbeiter, den ich mir vorstellen kann. Aber als Umgang für meine Enkelin nur bedingt tauglich.« Hanne lachte. »Er soll ein berüchtigter Frauenheld sein, aber darauf gebe ich nichts. Nur dass du weißt, woran du bist, und dich nicht verguckst. Aber du wirst dich nicht gerade in meinen Verwalter verlieben. Er ist der Sohn einer Maroon und eines Engländers.«

»Die Vorfahren seiner Mutter waren also geflohene Sklaven?«

»Genau, aber sie haben stets ihr eigenes Leben in den Bergen geführt. Seine Mutter Josalyn stammt aus einer legendären Maroonfamilie, sein Vater war ein englischer Botaniker, der auf Jamaika forschte und leider an einem Fieber verstarb. Josalyns Vater, Geralds Großvater, aber war bis zu seinem Tod Hüter der Destille auf unserer Plantage. Gerald hat in Kuba das Destillierhandwerk erlernt, aber es trieb ihn zurück nach Jamaika, und nach dem Tod seines Großvaters trat er in seine Fußstapfen und ist ebenso wie er unersetzlich auf der Plantage.«

»Aha«, gab Valerie betont desinteressiert von sich und wandte sich den Fässern zu. »Warum haben sie Löcher?«

Hanne schmunzelte. »Schau, das schwarze klebrige Zeug, der Abfall, das ist die Melasse, die wir als Grundstoff für die Herstellung des Rums benötigen. Was im Fass bleibt, ist der Rohrzucker. Auch den liefern wir nach Europa, aber der Handel hatte schon Anfang des Jahrhunderts schwere Einbußen erlitten, seit Zucker aus Rüben gewonnen wird. Doch in vornehmen Häusern in Preußen konsumiert man lieber den Rohrzucker.«

»Und was ist dort?«, fragte Valerie und deutete mit leicht angewiderter Miene auf eine Tür zu einem Nebenraum, aus dem ein merkwürdiger Gestank hineinwehte.

»Dort unter dem schattigen Dach wird die Maische angesetzt. Zu der Melasse kommt Hefe, damit alles vergärt. Und wenn es fertig ausgereift ist, geht es in die Brennerei.«

»Und wo ist die?« Valerie eilte rasch zum Ausgang ins Freie. Sie hatte es eilig, den für ihr Empfinden stechenden Gestank der vor sich hin gärenden Maische hinter sich zu lassen.

Hanne verabschiedete sich noch von den immer noch singenden Frauen, die unermüdlich in den Sirup-Kesseln rührten, bevor sie ihrer Enkelin an die Luft folgte, die über der Plantage beinahe noch feuchter zu sein schien als auf ihrem Hügel in Montego Bay. »Nun zeige ich dir noch die Wohnhäuser, und dann hast du genug gesehen«, erklärte sie entschieden.

Valerie verkniff sich die Frage nach dem Standort der Brennerei, doch dann erblickte sie die Destillerie. Es war ein von Palmen umgebenes Steinhaus mit einem riesigen Schornstein, aus dem Dampfschwaden gen Himmel waberten.

Hanne aber machte keinerlei Anstalten, ihr die Brennerei zu zeigen.

Das verwunderte Valerie. »Warum gehen wir nicht hinein?«

Grandma wand sich. »Ach, es ist zu heiß und stickig …«

Aber Valerie wusste, wann ihre Grandma schwindelte.

»Sag mir die Wahrheit! Warum gewährst du mir keinen Blick in die Brennerei?«

Hanne holte ein paarmal tief Luft. Dann flüsterte sie, was in Valeries Augen völlig verrückt war, denn sie waren allein auf weiter Flur.

»Darinnen findest du das Geheimnis meines Erfolgs und Wohlstands. Geralds Vater hat einst …« Hanne hielt inne. »Ach, Vally. Ich möchte nicht vorgreifen. Du wirst das alles in meinem Tagebuch lesen. Dann wirst du die dritte noch Lebende sein, die um dieses Geheimnis weiß, und der Zeitpunkt ist gekommen, dass du dich mit eigenen Augen davon überzeugen kannst.«

Valerie missfiel es, dass Grandma so viel Aufhebens um das Mysterium der Brennerei machte, aber sie hielt ihren Mund und eilte voran. Vor ihnen tauchte ein weiß gekalktes Herrenhaus auf. Der einstige Charme des Anwesens war verblichen.

»In dem Haus wohnen die Plantagenarbeiter und dort drüben der Verwalter.« Valerie drehte sich um und sah zwischen den Palmen ein hellblau gestrichenes Häuschen mit einem kleinen Garten davor. Es wirkte sauber und gepflegt, doch Valerie wollte sich dem Haus lieber nicht nähern. Es passte ihr ohnehin nicht, wie viel Aufmerksamkeit sie dem Verwalter schenkte. Das machte sie mindestens genauso wütend wie die Gedanken, die sie an James verschwendet hatte. Zumal Grandma sie ja in ihrer unnachahmlich direkten Art davor gewarnt hatte, persönliches Interesse an dem Verwalter zu entwickeln.

Schroff wandte sie sich ab und fragte, ob sie sich nicht langsam auf den Rückweg machen wollten. Schließlich musste sie noch ihr Pferd abholen. Ihr Blick blieb an ihrer Hand hängen. Nicht ein einziges Mal hatte sie während des Rundgangs an ihre Verletzung gedacht. Sie fühlte sich rundherum wiederhergestellt.

»Und was sagst du?«, erkundigte sich Grandma.

»Es ist spannend, und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass das alles einmal mir gehören wird«, entgegnete Valerie.

»Ach, ich weiß auch nicht, warum ich dich nicht längst einmal mitgenommen habe«, seufzte Hanne.

»Vielleicht hattest du Sorge, ich könnte in die Brennerei einsteigen und dein Geheimnis enthüllen«, entfuhr es Valerie. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Entschuldige, Grandma, das habe ich nicht so gemeint. Ich verstehe nur nicht, warum du mir nicht vertraust.«

Hannes Miene versteinerte. »Weil deshalb schon viel Blut geflossen ist und ich dich davor schützen möchte, solange es geht. Und nun komm. Ich habe Hunger!«

Ohne ein weiteres Wort eilte Hanne voran über die schmalen Wege, die durch die Zuckerrohrfelder führten.

Valerie war froh, als sie beim Tor angekommen waren. Jerome saß dösend im Schatten eines Guajakbaumes.

»Fahren Sie uns zum Charles Square. Ich möchte mit meiner Enkelin im Hotel Paradise speisen«, rief Hanne.

Valerie sah ihre Großmutter irritiert an.

»Du willst auswärts essen?«

»Hast du etwas dagegen?«

»Nein, nein, aber das haben wir so lange nicht mehr getan. Und außerdem ist das ein beliebter Treffpunkt der feinen Inselgesellschaft«, erwiderte Valerie.

»Heute mache ich eine Ausnahme von meinem Einsiedlerleben, mein Schatz. Und es wird mir eine Freude sein, vor den Augen all dieser Neider fürstlich zu speisen.«

Valerie musste bei der Vorstellung schmunzeln. »Das könnte vergnüglich werden!«

»Es wird vergnüglich. Das verspreche ich dir hoch und heilig.«

»Es ist wahrscheinlich müßig, dich zu fragen, warum du ansonsten eher menschenscheu bist, nicht wahr?«

»Auch das wirst du erfahren. Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, diesen besonderen Tag mit einem Glas Champagner und einem köstlichen Fischgericht zu feiern. Ich habe lange darüber nachgegrübelt, wann ich dir die Plantage zeigen soll. Und heute war der Tag. Ich habe gar nicht lange überlegt, sondern gespürt, dass es keinerlei Aufschub duldet. Merkwürdig, nicht wahr?«

Valerie drückte Großmutters Hand ergriffen und hielt sie den ganzen Weg über fest.

In dem vornehmen Restaurant des ersten Hauses am Platz waren nur noch wenige Tische frei. Als das Personal Hanne Sullivan und ihre Enkelin wahrnahm, ging ein Raunen durch den Vorraum. Sofort stürzte ein weißer Kellner auf sie zu und bot ihnen überschwänglich einen schönen Tisch am Fenster an.

Grandma straffte wie immer die Schultern und überragte sogar den keineswegs kleinen Kellner, der sie eilfertig an einen Tisch führte, von dem aus sie einen Blick über den Hafen genossen.

Valerie entging nicht, wie neugierig die anderen Gäste die Hälse nach ihnen reckten und wie an einem Tisch nach dem anderen aufgeregtes Getuschel einsetzte. Doch sie schritt ebenso ungerührt wie ihre Großmutter an allen vorüber. Trotzdem schnappte sie den ein oder anderen Satz der Leute auf.

»Stimmt es, dass sie die reichste Frau der Montego Bay sein soll?«

»Pst, sie soll Ohren wie ein Luchs haben!«

Valerie bedauerte, dass sie nicht stehen bleiben und nachfragen konnte. Da hörte sie eine ihr bekannte Stimme laut und deutlich sagen: »Guten Tag, Misses und Miss Sullivan!«

Während Grandma so tat, als wäre sie schwerhörig, blieb Valerie wie angewurzelt stehen und warf einen Blick in die Richtung, aus der die Stimme sie so durchdringend begrüßt hatte. Als sie erfasste, wer dort saß, wollte sie sich umgehend abwenden, aber sie konnte nicht. Fassungslos sah sie von einem zum anderen. Die ganze Familie war dort versammelt. Misses und Mister Fuller, Misses und Mister Tenson, Mary Tenson, ihre Schwestern, Cecily, ihr Bruder Richard und … James! Letzterer starrte sie ebenso entgeistert an wie sie ihn, doch Valerie wandte sich entschieden ab und steuerte ohne ein Wort oder eine Geste der Begrüßung zu dem Tisch, an dem ihre Großmutter bereits Platz genommen hatte.

»Grandma, können wir tauschen?«, wisperte sie aufgeregt. »Wenn ich hier sitze, muss ich die ganze Zeit diese Leute sehen. Du kannst mir nicht weismachen, dass du die Tensons und Fullers nicht gesehen hast!«

»Ich entscheide, wen ich sehe«, gab Hanne zurück, während sie aufstand und den Platz einnahm, von dem sie einen freien Blick auf den Tisch der Tensons und Fullers genoss. Ihr schien es aber nicht das Geringste auszumachen, denn sie bestellte eine Flasche Champagner und orderte die Karte.

Valerie aber musste ein paarmal tief durchatmen, damit ihr heftiges Herzklopfen nicht bis zu James hinüberschallte.

»Was machen sie jetzt?«, fragte sie aufgeregt, um sogleich eine abwehrende Geste zu machen. »Ach, ich will es gar nicht wissen!«

»Elizabeth Hamilton erhebt ihr Glas Champagner, und alle tun es ihr gleich. Bis auf ihren Sohn James, der in diese Richtung stiert, als habe er einen Geist gesehen. Und das, obwohl Mary Tenson ihm ganz offensichtlich ihren Ellenbogen in die Rippen gerammt hat.«

»Meinst du, sie feiern deren offizielle Verlobung?«, fragte Valerie erschrocken.

Hanne legte den Kopf schief. »Was soll ich sagen? Du weißt, dass es mir mehr als recht wäre, wenn James Fuller dir nicht länger den Kopf verdrehen würde, doch so, wie er auf dein Erscheinen reagiert, gilt zu befürchten, dass er der guten Elizabeth seinen Gehorsam verweigert, und das kann die Gute gar nicht leiden. Oho, sie wirft mir einen Blick zu, der mich vom Stuhl kippen ließe, wenn Blicke töten könnten.«

Hannes Gesicht verzog sich zu einem falschen Lächeln, und sie winkte Misses Fuller damenhaft zu, bevor sie sich in die Speisekarte vertiefte.

»Ich denke, ich nehme einen Fisch in Kokosmilch, und du, meine Kleine?«

»Mir ist der Appetit vergangen!«, gab Valerie zurück, tat aber ihrerseits so, als sei sie intensiv mit dem Studieren der Speisekarte beschäftigt.

»Das kommt gar nicht in Frage, dass wir uns von denen das schöne Essen verderben lassen«, erwiderte Hanne ungehalten.

In diesem Moment kam der Champagner. Hanne strahlte. Sie liebte dieses prickelnde französische Getränk. Nachdem der Kellner ihnen eingegossen hatte, prostete Hanne ihrer Enkelin zu.

»Auf dass du eines Tages zur guten Herrin über das Imperium des Hensen-Rums wirst.«

Zögernd erhob Valerie ihr Glas. »Das kommt alles ziemlich überraschend«, raunte sie. »Dann werde ich wohl dein Schicksal teilen und als alte Dame allein auf dem Hügel thronen. Nur mit dem Unterschied, dass du wenigstens einen Mann von Herzen geliebt hast.«

Hanne wurde ernst. »Das stimmt, ich habe einen Mann aus vollem Herzen geliebt. Und nur, weil der junge Fuller aus Gründen, die du noch verstehen wirst, niemals dein Mann werden kann, heißt das noch lange nicht, dass du ledig bleibst.«

»Wen schlägst du denn vor, Grandma? Deinen Verwalter vielleicht?« Valerie bereute – kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hatte –, dass sie den Gedanken überhaupt hatte. Sie rechnete fest damit, dass ihre Großmutter sie wegen dieser Bemerkung kritisieren würde, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hob ihre Großmutter das Glas noch höher und ließ spöttisch verlauten: »Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen, aber, wenn ich es mir recht überlege, wäre das nahezu ideal. Das Geheimnis bliebe in der Familie.«

Entsetzt stellte Valerie ihr Glas auf dem Tisch ab, ohne einen Schluck genommen zu haben. »Grandma, das meinst du nicht ernst, oder«, fauchte sie.

»Natürlich nicht!«, sagte Hanne hastig. Mit einem Blick zu dem Tisch der Tensons und Fullers, an dem jetzt laut gelacht wurde, fügte sie hinzu: »Tu wenigstens so, als würdest du mit mir anstoßen und dich freuen. Denn sonst wird dein Verehrer womöglich noch an unseren Tisch kommen. Er sieht so aus, als würde er jeden Moment von seinem Stuhl aufspringen.«

Valerie verzog das Gesicht zu einem verkrampften Lächeln und prostete Hanne zu. »Gut so?«, fragte sie und übertrieb ihr Lächeln noch ein wenig mehr.

»Wenn du dir nun noch etwas zum Essen aussuchst, bin ich zufrieden«, erklärte Hanne, während sie ihren Blick noch einmal zum Tisch der vergnügten Gesellschaft schweifen ließ. »O Gott, nein!«, entfuhr es ihr da erschrocken, und ihr Lächeln erstarb.

»Kommt er an unseren Tisch?« Valerie lief bei der Vorstellung rot an.

»Schlimmer!«, zischte Hanne, aber da war es zu spät. Der Herr des Gesamthandelshauses, Mister Fuller, war an den Tisch getreten.

Valerie atmete erleichtert auf. James’ Vater war stets freundlich zu ihr gewesen. Wenn sie ihm zufällig auf der Straße mit ihrer Freundin Cecily begegnet war, hatte er immer ein nettes Wort für sie gehabt. Und er hatte nie vergessen, Misses Sullivan Grüße ausrichten zu lassen. Diese allerdings hatte Valerie niemals weitergegeben, wusste sie doch, wie sehr die Fullers ihrer Großmutter ein Dorn im Auge waren. Im Gegensatz zu seiner Frau hatte Valerie den gutmütigen rundlichen Mister Fuller immer gemocht.

»Gnädige Frau, Misses Sullivan, wie schön, Sie in diesem Lokal zu sehen. Wie lange ist es her, dass wir uns nicht mehr begegnet sind?«

Zu Valeries großer Erleichterung reagierte Grandma wie eine geborene Lady. Sie reichte Mister Fuller ihre Hand, sodass er ihr einen Handkuss geben konnte.

»Werter Mister Fuller, fragen Sie mich nicht. Ich liebe mein Einsiedlerleben, aber heute gibt es etwas zu feiern. Meine Enkelin wird in absehbarer Zeit meinen Rumhandel übernehmen.«

Valerie stockte der Atem. Was war in Grandma gefahren? Dass sie ausgerechnet dem Oberhaupt der verhassten Fuller-Familie etwas derart Privates offenbarte. Doch dann fiel Valerie ein, dass Grandmas Hass sich nicht gegen die Fullers richtete, sondern gegen die Hamiltons.

»Darf ich Ihre Tochter und Sie vielleicht an unseren Tisch bitten?«, fragte Mister Fuller nun und sah dabei recht unschuldig drein. Offensichtlich ahnte er nicht im Geringsten, wie groß die Abneigung seiner Frau gegenüber den Sullivan-Damen war, durchfuhr es Valerie eiskalt, und sie rechnete fest damit, dass Großmutter diese Einladung ablehnen würde.

Doch da hörte sie ihre Großmutter bereits säuseln: »Natürlich, wenn es den anderen am Tisch recht ist.«

»Die frage ich gar nicht«, scherzte Mister Fuller. »Schließlich habe ich vor, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen.«

Hanne lächelte. »Aber, Mister Fuller, Sie wissen, dass ich mich mit keinem Partner zusammentue und kein Interesse an einem deutsch-englischen Handelshaus habe.«

»Und Sie wissen, dass ich es niemals aufgebe«, erwiderte er ebenfalls lächelnd.

Valerie sah verwirrt zwischen den beiden hin und her. Warum hatte ihre Großmutter bislang verschwiegen, dass Mister Fuller ganz offensichtlich Geschäfte mit ihr tätigen wollte?

»Trotzdem tun Sie mir bitte den Gefallen und leisten uns Gesellschaft.« Er beugte sich vertraulich zu Hanne hinunter. »Die Damen dominieren das Tischgespräch. Es geht um Weiberkram. Verlobungen, na, Sie wissen schon … Und meine Frau hat mir verboten, am heutigen Tag mit Mister Tenson über Geschäfte zu sprechen, aber mit Ihnen wären wir schon drei …«

Bei dem Wort »Verlobung« war Valerie zusammengezuckt. Auf keinen Fall würde sie einen Fuß an den Nachbartisch setzen und womöglich fröhlich auf Mary und James anstoßen.

»Grandma, wollten wir nicht in Ruhe essen?«

»Aber das können Sie auch drüben bei uns. Wir lassen noch einen Tisch dazustellen. Wir haben auch noch nichts gegessen. Bitte, machen Sie mir die Freude!«

»Wenn Sie uns schon so bitten …«

»Grandma!«, unterbrach Valerie sie energisch.

»Gut, ich werde derweil alles veranlassen«, entgegnete Mister Fuller, als würde er überhaupt nicht bemerken, wie Valerie sich sträubte, an seinen Tisch zu wechseln. Kaum dass er außer Hörweite war, zischte sie wütend: »Grandma, das ist nicht dein Ernst. Was hast du mir neulich noch für Vorträge gehalten, wie du die Fullers verachtest …«

»Ich sagte, die Hamiltons«, gab Hanne ungerührt zurück. »Und wenn ich Elizabeths versteinerte Miene sehe, wird es mir ein wahres Vergnügen sein, mich von ihrem Gatten hofieren zu lassen. Er strebt schon lange eine enge Zusammenarbeit unserer Unternehmen an.« Mit diesen Worten erhob sich Hanne und setzte ein falsches Lächeln auf. »Und auch für dich kann es nur Klarheit bringen«, flüsterte sie Valerie zu. »Wenn das wirklich die Verlobung der beiden ist, die dort gefeiert wird, dann solltest du dir den jungen Mann endgültig aus dem Kopf schlagen. Insofern kann unser Umzug an den Tisch nur heilsam sein!«

Valerie ballte die Fäuste, obwohl sie zugeben musste, dass Grandma nicht unrecht hatte. Sollte James Fuller wirklich gerade dabei sein, seine Verlobung mit Mary Tenson zu feiern, würde sie in der Tat keinen einzigen Gedanken mehr an ihn verschwenden.

Valerie erhob sich und folgte ihrer Großmutter zögerlich.

Mister Fuller hatte bereits zwei Stühle an die Tafel stellen lassen und bat Hanne, sich neben ihn zu setzen. Misses Fullers Miene wurde daraufhin noch säuerlicher.

Für Valerie blieb nur der Platz genau gegenüber von James. Als sie ihn mit einem Kopfnicken knapp grüßte, blieb ihr Blick an Marys Hand hängen, die sie in diesem Moment provozierend vertraulich auf seinen Unterarm legte.

»Schön, dich wiederzusehen, Valerie!« Mit dieser lauten Begrüßung riss Cecily Valerie aus ihren Gedanken. Hastig löste sie den Blick von Marys Hand und erwiderte ihrer einstigen guten Freundin mit gespielter Unbeschwertheit: »Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Wir haben uns ja lange nicht gesehen.«

»Das letzte Mal bei mir, als ich euch von meiner bevorstehenden Verlobung mit James berichtet habe«, mischte sich Mary ein und musterte Valerie triumphierend.

»Dann haben Grandma und ich wohl eure Feier gestört. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch.« Das klang bitter. Immerhin wurde sie Zeugin, wie James sich unauffällig von Marys Hand befreite. Er sah Valerie durchdringend an, wollte etwas sagen, doch seine Mutter kam ihm zuvor.

»Ja, liebe Miss Sullivan, Sie dürfen gratulieren, denn mein Sohn hat heute endlich um Marys Hand angehalten.« Sie erhob ihr Glas. »Und daraufhin sollten wir beide anstoßen.« Misses Fuller fixierte Valerie.

Valerie suchte Grandmas Blick, aber ihre Großmutter war in ein angeregtes Gespräch mit Mister Fuller vertieft. Obwohl Misses Fuller ihr Glas Valerie immer noch fordernd entgegenhielt, ignorierte Valerie sie und vertiefte sich in die Speisekarte. In Wirklichkeit diente die ihr nur als Schutzschild gegen James’ Mutter, die es darauf angelegt zu haben schien, sie zu quälen. Ob sie ahnte, dass es ihr ganz und gar nicht gleichgültig war, dass ihr Sohn Mary Tenson zu heiraten gedachte?

»Ich möchte noch einmal das Glas erheben auf die Verlobung unserer Kinder Mary und James«, schallte Misses Fullers Stimme laut über den Tisch. Alle hoben ihr Glas. Bis auf Valerie und … sie konnte es kaum glauben, denn auch James rührte seinen Champagnerkelch nicht an. Stattdessen bat er Mary, sie kurz unter vier Augen sprechen zu dürfen. Ungeachtet der bitterbösen Blicke seiner Mutter und Misses Tensons Bemerkung, was das denn solle, verließ er das Restaurant. Mary zögerte, doch dann erhob sie sich ebenfalls, wenn auch nicht, ohne Valerie hasserfüllt anzusehen. »Cecily hat mir alles erzählt. Du willst ihn mir ausspannen, aber das schaffst du nicht, Valerie Sullivan!«, zischte sie, bevor sie ihm nach draußen folgte.

Es war nur für Valeries Ohren bestimmt gewesen, aber Misses Fuller schien es verstanden zu haben. »Mein liebes Kind, wenn du meinem Sohn den Kopf verdrehst, dann gnade dir Gott. Du wirst mir nicht dazwischenpfuschen, nicht du M–«, drohte sie ihr unverhohlen.

Valerie aber hörte ihr gar nicht mehr zu, sondern stand hastig auf. »Grandma, ich halte das keine Sekunde länger aus. Iss du nur in Ruhe. Ich hole mein Pferd vom Doktor und reite nach Hause! Die Luft an diesem Tisch ist zum Schneiden!«, sagte sie laut und vernehmlich. Aller Augen waren auf sie gerichtet, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie setzte eine abweisende Miene auf und stolzierte hocherhobenen Hauptes an der Tischgesellschaft vorbei in Richtung Ausgang.

Vor der Tür hielt sie inne. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Vorsichtig blickte sie erst nach links und nach rechts. Auf  keinen Fall wollte sie Mary und James in die Arme laufen.

Gerade als Valerie sich nach ein paar Schritten in Sicherheit wähnte, kamen ihr die beiden entgegen. James gestikulierte wild, während Mary laut schluchzte. Noch hatten die beiden sie nicht entdeckt. Es blieb ihr Zeit, sich hinter einer Palme zu verstecken und mit pochendem Herzen darauf zu warten, dass sie vorbeigingen. Unfreiwillig wurde sie zur Lauscherin.

»Ich mag dich wirklich, aber sieh mal, wir sind nur gute Freunde. Du weißt genau, dass Mutter mich unter einem Vorwand hergelockt hat und dass ich dir keinen Antrag gemacht habe.« Das waren James’ Worte, denen Mary mit schriller Stimme widersprach. »Doch, das hast du!«

»Aber da waren wir Kinder. Das zählt nicht. Ich, ich habe doch nicht gewusst, dass ich mich …«, stammelte er.

»Und du bildest dir ein, mit diesem Mulattenkind glücklicher zu werden, nur weil dein Herz bei seinem Anblick schneller schlägt. So etwas vergeht, aber was, wenn deine Kinder schwarz werden? Das erlaubt deine Mutter niemals.«

Valerie stockte der Atem. Die beiden stritten sich ihretwegen, und James hatte eben zugegeben, dass er sich in sie verliebt hatte. Noch konnte alles gut werden! Aber was würde er auf  ihre gehässige Bemerkung erwidern? Valerie erwartete ein glühendes Plädoyer, doch stattdessen hörte sie ihn unwirsch sagen: »Hör auf, sie so zu nennen! Das sind nur bösartige Gerüchte, die ihr dummen Mädchen erfunden habt, weil ihr neidisch auf  Valerie seid! Sie ist genauso weiß wie du und ich!«

»Das hättest du wohl gern, James Fuller! Aber es war deine eigene Schwester, die mich darüber aufgeklärt hat!«

»Dieses dumme Ding. Dabei war sie mal Valeries beste Freundin. Ich verstehe nicht, warum sie so einen Unsinn verbreitet. Na warte, die kann was erleben!«

»Sie hat es sich nicht ausgedacht! Deine Mutter hat es ihr verraten, und die weiß von ihrem Vater, dass ihre Großmutter, die hochwohlgeborene schwarze Lady, einst …«

»Halt deinen Mund!«, herrschte James Mary Tenson an. »Du lügst nur, um mich an dich zu binden. Aber ich lasse mich nicht von meiner Mutter verkuppeln. Hörst du? Ich mache da nicht mit!«

Mary heulte laut auf. »Aber, James, warum sollte ich mir so etwas ausdenken? Dein Großvater muss es wissen! Er kannte den Mann, sagt deine Mutter!«

»Mary Tenson! Wenn du nicht augenblicklich dein Klatschmaul hältst, werden wir nicht einmal Freunde bleiben!«

»Und wenn es die Wahrheit wäre, was würdest du tun? Ein Mulattenmädchen heiraten auf die Gefahr hin, dass du schwarze Nachkommen zeugst?« Marys Stimme klang schrill und unnatürlich.

»Ich werde dir beweisen, dass Valerie Sullivan so weiß ist wie du und ich! Ich werde nicht ruhen, bis ich die Wahrheit kenne, und dann wirst du dich bei Valerie entschuldigen«, gab James kämpferisch zurück.

»Und wie willst du das herausfinden? Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass die ›nordische Lady‹ dir freiwillig ihre Lebensgeschichte anvertraut?«, fragte Mary höhnisch.

»Ich habe Mittel und Wege!«

»Und was, wenn es doch stimmt?«

»Was fragst du so dumm? Du kennst die Antwort. Niemals würde ich einen Mischling heiraten!«

Valerie wurde schwindlig. Sie hielt sich am Stamm der Palme fest.

»Versprichst du mir eines?« Marys Stimme hatte wieder einen einschmeichelnden und weichen Klang.

»Was denn?«, fragte er unwirsch.

»Wenn es sich als Wahrheit herausstellt, heiratest du dann mich?«

»Meinetwegen«, brummte James.

Valerie biss sich auf die Faust, um nicht laut aufzuschreien. Sie verspürte den Impuls, aus ihrem Versteck zu springen, sich vor James Fuller aufzubauen und ihm ins Gesicht zu schreien, dass sie ganz gleich, was für Blut durch ihre Adern floss, nicht daran dachte, jemals seine Frau zu werden! Sie wollte gerade aus ihrem Versteck hervorkommen, als jemand sie von hinten mit einer Hand festhielt und ihr mit der anderen den Mund zuhielt. Valerie war starr vor Schreck. Sie hörte, wie sich die beiden hastig entfernten. Vergeblich versuchte sie, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, doch plötzlich ließen die Hände freiwillig von ihr ab. Wie der Blitz fuhr Valerie herum und blickte in die spöttischen Augen von Richard Fuller.

»Na, du kleine Lauscherin«, stieß er grinsend hervor.

»Was fällt Ihnen ein?«, fauchte Valerie James’ Bruder an.

»Ich habe gerade zufällig das kleine Geplänkel zwischen meinem Bruder und seiner Zukünftigen mitbekommen. Das, was du auch belauscht hast. Also, unter uns, ich würde einspringen, wenn mein Bruder ausfällt. Ich fände das sehr reizvoll, eine Mulattin im Arm zu halten. Die schwarzen Mädchen sind Meisterinnen der Liebe.«

Valeries Miene versteinerte. Für diesen Mistkerl war ihr jedes Wort zu schade. Stattdessen wollte sie sich wortlos an ihm vorbeidrücken und verschwinden, doch er packte sie grob bei den Schultern. »Von mir kannst du alles haben, du kleine Wildkatze«, raunte er anzüglich und versuchte, sie zu küssen. Valerie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte.

»War ja nur ein Versuch. Aber wenn du nicht willst, bitte! Dann habe ich einen anderen Vorschlag: Ich verhelfe dir zur Ehe mit meinem Bruder, und du verrätst mir das Geheimnis eures einzigartigen Rums!«

Valerie fuhr empört herum und zischte: »Ich bin nicht käuflich, und wenn Sie es noch einmal wagen, mir zu nahe zu kommen, bringe ich Sie um!«

Richard Fuller brach in dröhnendes Gelächter aus. Es verfolgte sie, bis sie um die Straßenecke gebogen war.

Das Haus an der Montego Bay: Roman
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