10
Jamaika, Juni 1883

Hätten Sie Lust, mich zu einem Cricketspiel zu begleiten?« Ethan Brown lächelte Valerie an. Der junge Mann aus London besaß Charme. Keine Frage. Und doch zögerte Valerie mit ihrer Antwort. Sie warf einen prüfenden Blick zu ihrer Großmutter hinüber, die gerade in ein angeregtes Gespräch mit Paul, wie sie Doktor Brown vertraut nannte, vertieft war. Was hatte sie damit bezweckt, den alten Doc und seinen gut aussehenden Enkel zum Essen einzuladen? Wenn es bei ihnen üblich wäre, Gäste zu haben … aber so? Wann hatte es das letzte Dinner im Hause Sullivan gegeben?

»Ist die Antwort derart schwierig, Miss Sullivan?«, lachte Ethan. »Oder finden Sie Cricket so gähnend langweilig?«

»Nein, nein«, beeilte sich Valerie zu sagen. »Ich komme gern mit.«

»Das freut mich außerordentlich. Ich war in London immer ganz wild danach. Mal sehen, wie hierzulande gespielt wird«, entgegnete er. »Nächsten Sonntag?«

Valerie nickte, wenngleich sich ihre Bedenken noch nicht zerstreut hatten. Hatten sich Großmutter und der Doktor abgesprochen? Versuchte Grandma, sie endgültig von ihren Gedanken an James Fuller abzubringen?. Valerie hatte zwar kein Wort mehr über ihn verloren, aber gedacht hatte sie häufig an ihn. Er war vor allem wie vom Erdboden verschwunden. Möglichst unauffällig hatte sie sich neulich bei Cecily nach deren Bruder erkundigt. Die hatte Valerie berichtet, dass James zurzeit in ihrem Geschäftshaus in Kingston arbeitete. »Ich glaube, Mutter hat ihn dazu verdonnert, damit er weit weg ist von dir«, hatte sie ungerührt hinzugefügt.

Wenn Cecilys Mutter wüsste, womit sich ihre Tochter die Zeit vertrieb, und vor allem, mit wem! Gerald Franklin war bestimmt nicht ihr Ideal von einem zukünftigen Schwiegersohn. Im Gegenteil, Valerie war sich sicher, dass sie den Umgang Cecilys mit einem Nachkommen von Maroons nicht gutheißen würde. Selbst Valerie hatte ein flaues Gefühl, wenn sie sah, wie leichtsinnig sich das junge Liebespaar benahm und vor allem, wie rasant sich die Dinge seit zwei Monaten entwickelt hatten. Cecily redete zwar nicht über Einzelheiten, aber Valerie bekam mehr davon mit, als ihr lieb war. Ihre Freundin bestand nämlich darauf, dass sie von Jerome zur Plantage gefahren wurde und dass Valerie jedes Mal gemeinsam mit dem Kutscher wartete, bis das Stelldichein vorüber war. Cecily kehrte dann mit einem verzückten Blick zur Kutsche zurück. Valerie missfiel es, dass sie dazu herhalten musste, die Anstandsdame für die Freundin zu spielen. Und das, obwohl Cecily der Mutter gegenüber behauptete, sie führe zu ihren wöchentlichen Gesangsstunden. Valerie hatte keinerlei moralische Vorbehalte gegen die aufkeimende ungleiche Liebe der beiden. Sie fühlte sich lediglich ausgenutzt. Nun hatte sie ihre Freundin zwar wieder, aber Cecily hatte allein Augen für Gerald und redete auch von nichts anderem. Sie versprach zwar hin und wieder, sich eines Tages dafür zu revanchieren, dass die Freundin ihr die Treffen mit Gerald ermöglichte. Doch das war stets nur ein kurzes Aufblitzen des Interesses an ihren Angelegenheiten, bevor sie Valerie wieder in allen Einzelheiten vorschwärmte, was Gerald für ein aufregender Mann wäre. Valerie aber blieb mit ihrem Kummer allein. So sehr sie sich auch bemühte, James wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Deshalb konnte sie sich auch kaum auf ihren Tischnachbarn konzentrieren.

»Vally, träum nicht bei Tisch«, mahnte Grandma und riss sie damit aus ihren Gedanken. Valerie wandte sich Ethan zu und fragte ihn höflich, wieso er nach Jamaika zurückgekehrt sei.

Ethans Augen leuchteten vor Begeisterung, als er Valerie seine Motive darlegte. »Ich habe das Land meiner Kindheit nie vergessen können. Weder das Streicheln des warmen Windes auf meiner Haut noch den betörenden Duft von Jasmin. Ich sah an manchem nebeligen Londoner Tag pinkfarbene Drillingsblumen an den Häusern der Stadt emporranken. Oder im Teich des Hyde Parks das türkisfarbene Leuchten des Meeres. Ich war zwölf Jahre alt, als meine Eltern nach London zogen, und habe mir schon in dem Moment, als ich damals am Heck des Schiffes stand und Jamaika am Horizont verschwinden sah, geschworen, dass dies meine Heimat bleiben würde, in die ich eines Tages zurückkehren würde. Und nun sucht Großvater einen Nachfolger für seine Praxis. Er will im Alter lieber Cricket spielen und Blumen züchten …«

Ethan unterbrach seine Schwärmerei und warf seinem Großvater einen liebevollen Blick zu. Der aber war so in das Gespräch mit Hanne vertieft, dass er es nicht wahrnahm.

»Ich finde es wunderbar, dass Sie zurückgekehrt sind«, entfuhr es Valerie versonnen, und sie bemerkte erst an Ethans zärtlichem Blick, dass er ihre Worte mit Sicherheit missverstanden hatte. Sie hatte gemeint, dass er damit seinem Großvater große Freude bereitete.

»Ich … ich meine, das ist wunderbar, ich denke, wenn ein junger Mann wie Sie in das Land …« stammelte sie und spürte, wie sie errötete.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte er galant. »Wenn ich gewusst hätte, was für eine bezaubernde junge Lady in Montego Bay lebt, wäre ich noch früher gekommen.«

Valerie war sehr verlegen und zog es vor, keinerlei Erklärungsversuche mehr abzugeben. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm durch ihr Verhalten zu zeigen, dass sie ganz bestimmt nicht mit ihm anbändeln wollte. Obwohl er in ihren Augen zunehmend an Attraktivität gewann. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, entschied sie sich für einen Themenwechsel.

»Das Schönste, was es für mich gibt, ist ein Ausritt auf meinem Pferd. Auf Black Beautys Rücken habe ich das Gefühl, dass ich all diese typischen Gerüche und die Schönheiten der Insel in rasendem Galopp aufnehmen kann und …« Sie stockte, als sie seinen verträumten Blick wahrnahm.

»Reden Sie ruhig weiter. Es ist verrückt, aber ich empfinde es genauso intensiv, wenn ich einen Ausritt auf meinem Pferd mache. Sie müssen wissen, als Erstes habe ich mir nach meiner Ankunft ein Pferd gekauft. Mir fehlt nur noch eine passende Begleitung. Zu zweit macht es mehr Spaß. Finden Sie nicht auch?«

»Ja, schon, aber zurzeit kann ich nicht reiten, weil ich mir die Hand verletzt habe …«

»Was muss ich da hören? Die Hand schmerzt immer noch«, mischte sich der alte Doktor gut gelaunt ein und bat Valerie, ihm die kranke Hand zu zeigen.

Valerie hoffte inständig, dass keiner am Tisch merkte, wie peinlich ihr das war. Die verletzte Hand war doch nur eine Ausrede gewesen. Wohl oder übel musste sie die kleine Untersuchung über sich ergehen lassen.

»Ein Wunder!«, rief Doktor Brown aus. »Die Schwellung ist völlig zurückgegangen. Hiermit erteile ich Ihnen die ärztliche Erlaubnis, auszureiten!«

Ethan strahlte über das ganze Gesicht. »Das wird ja immer besser«, lachte er. »Jetzt sind wir nicht nur zum Cricketspiel verabredet, sondern auch zu einem Ausritt. Wann passt es Ihnen am besten? Noch drückt Großvater beide Augen zu und lässt mir ein wenig Freiheit. Wenn ich erst einmal in seine Fußstapfen getreten bin, dann ist es vorbei mit dem süßen Leben.«

»Besuchen Sie uns doch gleich morgen Vormittag«, schlug Hanne vor.

Valerie funkelte ihre Großmutter zornig an. Glaubte sie allen Ernstes, dass sie nicht merkte, wie sie sie mit diesem jungen Arzt verkuppeln wollte? Gerade sie, die alles Verständnis der Welt dafür haben musste, dass ihr Herz anderweitig vergeben war! Aber dann stutzte Valerie. War es denn wirklich so, dass sie immer noch rettungslos für James Fuller entflammt war? Wo war er denn, der tolle Kerl? Hatte er sich jemals wieder bei ihr gemeldet? Oder hatte er sich nicht vielmehr aus dem Staub gemacht? Und hatte er nicht Mary Tenson versprochen, sie zu heiraten, für den Fall, dass in Valeries Adern schwarzes Blut fließen sollte? Einen Kerl, der seine Liebe an Bedingungen knüpfte, den wollte sie nicht! Was sprach also dagegen, einem attraktiven Verehrer wie Ethan Brown eine Chance zu geben?

Ihre Miene hellte sich auf, und sie wandte sich ihrem Tischnachbarn zu. »Gut, kommen Sie morgen früh vorbei. Ich werde Ihnen meinen Lieblingsweg zeigen, wenn Sie ihn nicht schon kennen«, flötete sie.

Hanne schenkte ihr ein warmes Lächeln. Aber über Valeries Gesicht huschte ein Schatten. Es missfiel ihr, dass sich ihre Großmutter derart in ihr Leben einmischte und ihr einen Mann aufdrängen wollte, wie es dereinst ihre Eltern bei ihr getan hatten.

»Und woher kennen Sie meine Großmutter eigentlich so gut?«, wandte Valerie sich an Doktor Brown. »Sie hat niemals durchblicken lassen, dass Sie beide sich so nahe stehen.«

»Ach, liebe Miss Sullivan, das ist eine lange Geschichte. Ich war einmal sehr …«

»Ich glaube, das sollten wir heute Abend nicht weiter vertiefen«, ging Hanne hastig dazwischen. »Und außerdem kommt soeben der Hauptgang. Schaut nur den köstlichen Fisch!«

Valerie kämpfte mit sich: Sollte sie lockerlassen oder weiterbohren? Doch als Asha das üppige Mahl servierte, entschied sie sich, ihren Ärger zurückzuhalten, bis sie mit ihrer Großmutter allein war. Sie besann sich darauf, was Grandma in jungen Jahren schon alles hatte durchmachen müssen. Sie hatte in dem Alter, in dem Valerie jetzt war, auf entsetzliche Weise ihren Ehemann verloren. Und ihre beiden Eltern. Nun gut, Valerie war auch Waise, aber im Gegensatz zu ihrer Großmutter hatte sie ihre Mutter und ihren Vater niemals kennengelernt. Sie war ja ein Säugling gewesen, als die beiden verunglückt waren. Mit einem Mal hielt Valerie inne. Wahrscheinlich wusste der Doktor mehr über den Unfall. Ob sie ihn fragen sollte?

»Sagen Sie, Doktor Brown, Sie kannten meine Mutter doch, und …«

»Können wir jetzt bitte essen?«, unterbrach Grandma sie unwirsch.

Valerie warf ihrer Großmutter einen wütenden Blick zu, doch was sie jetzt in deren Augen sah, erschreckte sie bis ins Mark. Tieftraurig sah sie aus. Es durchfuhr Valerie eiskalt. Ihre Großmutter schien entsetzlich zu leiden. Es war nicht richtig, dass ich den alten Doc ausfragen will, dachte Valerie beschämt. Und außerdem meint Grandma es doch nur gut, dass sie dieses Essen gibt. Schließlich ist Ethan Brown kein reicher alter Kerl, den eine Frau aus finanziellen Gründen heiratet, sondern ein gut aussehender junger Mann, nach dem sich, sobald sich dessen Anwesenheit in Montego Bay herumgesprochen hat, die ledige Damenwelt nur so reißen wird.

Als könnte Ethan Gedanken lesen, sagte er: »Heute habe ich einen Hausbesuch bei einer jungen Dame der feinen Gesellschaft gemacht, die Sie gut zu kennen schien.«

Valerie versuchte, ihre brennende Neugier hinter vorgespieltem Gleichmut zu verbergen. »Ich kenne fast alle jungen Damen der feinen Gesellschaft. Die meisten zählen zu meinen Freundinnen«, erwiderte sie hochmütig und konnte sich selbst nicht leiden, zumal es eine Lüge war. Seit das Gerücht umging, sie besitze schwarzes Blut, hatte sie gar keine Freundinnen mehr. Außer Cecily …

»Diese Dame gehörte wohl eher nicht zu Ihren Freundinnen. Ich erzählte ihr beiläufig, dass ich heute bei den Damen Sullivan zum Dinner eingeladen wäre, da richtete sie sich trotz des Fiebers, an dem sie erkrankt war, plötzlich auf, und ihre glühenden Wangen wurden bleich. Diese Miss Tenson behauptete doch allen Ernstes, Sie würden alles daran setzen, ihr den Verlobten auszuspannen.«

»Und das glauben Sie so einfach?«, schnaubte Valerie, der allein die Nennung des verhassten Namens die Zornesröte auf die Wangen trieb. Die Unterhaltung zwischen Doktor Brown und Hanne war jäh verstummt. Beide sahen sie gleichermaßen irritiert an. Auch in Ethans Blick lag Ratlosigkeit.

»Nein, natürlich habe ich ihr kein Wort abgenommen. Ich fand nur, Sie sollten wissen, was da für Gerüchte über Sie in Umlauf sind.«

»Das ist aber reizend von Ihnen«, spottete Valerie. »Was hat sie denn noch erzählt? Dass ich angeblich ein Mischling bin, durch dessen Adern Negerblut fließt? Hat sie Sie davon abhalten wollen, uns dubiosen Damen einen Besuch abzustatten? Und bedauern Sie es jetzt, mich zum Cricket und zum Ausreiten eingeladen zu haben, wo Sie von diesem weiteren Gerücht, das in Montego Bay herumgeistert, hören? Aber fragen Sie meine Grandma. Es ist offensichtlich nichts dran!« Valerie hatte sich rasch in ihren Zorn hineingesteigert. Dabei wusste sie sehr wohl, dass ihre Wut nicht Ethan galt, sondern Mary Tenson und all diesen dummen Gänschen der feinen Gesellschaft, die sie schnitten, seit Misses Fuller das Gerücht in der ganzen Bucht gestreut hatte. Und sie spürte zum ersten Mal, dass ihr die üble Nachrede keineswegs gleichgültig war, denn sie wollte kein Mischling sein!

Herausfordernd funkelte Valerie ihre Großmutter an. »Nun sag es ihm doch. Dass nichts an dem Gerücht dran ist! Und verweise mich ja nicht auf dein Tagebuch. Ich denke, unser Gast würde es gern genau wissen. Nicht wahr, Ethan? Sie möchten Gewissheit, bevor sie sich mit mir in der Öffentlichkeit blicken lassen … Geben Sie es ruhig zu! Aber meine Großmutter wird Ihnen umgehend versichern, dass durch meine Adern allein weißes Blut fließt und ich …«

»Halt ein, Valerie!«, unterbrach Hanne ihre Enkelin in warnendem Ton.

»Wieso? Es ist doch die Wahrheit. Es gab schon einmal einen jungen Mann, der mir vorgegaukelt hat, Gefühle für mich zu haben, der aber verschwunden ist, nachdem ihm diese Gerüchte zu Ohren gekommen sind …«

»Valerie, bitte nicht!« Hannes Worte klangen flehend, aber ihre Enkelin schien das zu überhören. Im Gegenteil, sie hatte sich dermaßen in Wut geredet, dass sie nichts mehr von dem wahrnahm, was um sie herum geschah. Weder den verzweifelten Blick des alten Doc Brown noch den mitleidigen Blick seines Enkels.

»Also, Ethan, bevor Sie mir weitere Komplimente machen, warten Sie bitte auf die klärende Antwort meiner Großmutter, die es wohl wissen wird, ob mein Vater womöglich ein Mischling gewesen ist …«

»Dein Vater war ein Weißer«, erwiderte Hanne in einem merkwürdigen Ton, der Valerie hätte stutzig machen müssen, doch sie hatte in diesem Moment kein Gespür für Zwischentöne. Im Gegenteil, ihr war so, als würde die ganze Geschichte wie ein Vulkan, der schon lange unter der Oberfläche brodelt, zum Ausbruch kommen. Valerie spürte nur noch die Verletzung, die sie deshalb erfahren hatte, den Schmerz über James’ Verhalten und die Enttäuschung, dass ihre Großmutter nicht zu Miss Fuller gegangen war und ihr untersagt hatte, weiterhin solche Lügen zu verbreiten.

»Da hören Sie es aus dem Mund meiner Großmutter – und die muss es ja wissen. Sie können also beruhigt mit mir ausgehen und jeder dieser jungen Damen, denen Sie in Zukunft einen Hausbesuch abstatten, das Maul stopfen, wenn sie behaupten, ich wäre ein Mischling!« Erschöpft hielt Valerie inne. Als sie die betretenen Gesichter wahrnahm, ahnte sie, dass sie zu weit gegangen war. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und sie rang soeben nach Worten der Entschuldigung für ihr Benehmen, da hörte sie Ethan wie von ferne und ganz ruhig sagen: »Ich wäre auch mit Ihnen ausgegangen, wenn durch Ihre Adern schwarzes Blut fließen würde, Miss Sullivan. Aber nun befürchte ich, das Problem liegt auf Ihrer Seite, so vehement, wie Sie eine Antwort von Ihrer Großmutter verlangt haben. Nun können Sie doch zufrieden sein, aber …« Ethan Brown musterte sie mit ernster Miene. »Mir hätte es übrigens nicht das Geringste ausgemacht, wenn Sie ein Mischling gewesen wären«, fuhr er fort, während er sich vom Tisch erhob. »Im Gegenteil, ich bin nämlich selbst einer, aber aus Ihrer großen Aufregung konnte ich ersehen, dass es Ihnen sehr wohl etwas ausmachen würde. Und deshalb werde ich mich jetzt empfehlen.«

»Ethan, bitte bleiben Sie«, bat Hanne. »Sie haben meine Enkelin missverstanden. Ich habe sie so erzogen, dass sie keinen Menschen wegen seiner Hautfarbe verachtet.«

»Das glaube ich Ihnen gern, Misses Sullivan. Gut, dann werde ich bleiben, wenn …«

»Ich verstehe. Wenn sich meine Enkelin bei Ihnen entschuldigt«, vollendete Hanne den Satz des jungen Mediziners.

»Nein, ich erwarte keine Entschuldigung, ich würde das Thema nur gern für den heutigen Abend beendet wissen.«

Valerie biss sich auf die Lippe. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien vor Wut, aber diese galt allein ihr selbst. Wie ein trotziges Kleinkind habe ich mich aufgeführt, schoss es ihr durch den Kopf. Aber sie fand den Ausgang aus diesem Irrgarten
nicht.

»Bitte bleiben Sie, Doktor Brown«, bemerkte sie steif. »Ich denke, ich werde mich zurückzuziehen.«

»Miss Sullivan!«, mischte sich der alte Doktor Brown, der sich bislang noch gar nicht geäußert hatte, in strengem Ton ein. »Sie tun geradezu so, als sei es unter Ihrer Würde, mit einem Mischling an einem Tisch zu speisen …«

»Bitte, Paul, nicht!«, flehte Hanne, doch nun war es Doktor Brown, der einen Einwand einfach ignorierte.

Er funkelte Valerie wütend an. »Sie sind eine reizende Person. Ich mag Sie von Herzen, aber Ihre Überheblichkeit ist wirklich nicht angebracht, wenn man bedenkt, dass nicht mehr und nicht weniger schwarzes Blut durch Ihre Adern rauscht als durch die meines Enkels Ethan.«

Valerie starrte den alten Doktor an. Mindestens ebenso fassungslos wie Ethan.

»Oh, Paul, wie konntest du nur!«, stöhnte Hanne verzweifelt.

Eine kleine Ewigkeit herrschte angespanntes Schweigen.

»Was hat das zu bedeuten, Grandma?«, stieß Valerie schließlich heiser hervor.

»Warte, bis du mein Tagebuch gelesen hast. Ich habe nichts verschwiegen!« Hanne rang um Fassung.

»Bin ich ein Mischling? Ja oder nein?«, hakte Valerie unerbittlich nach.

»Frag Doktor Brown«, erwiderte Hanne schwach.

»Nein, ich frage dich! Ja oder nein?«

Hanne nickte schwach.

»Also doch! Und warum, verdammt noch mal, hast du so ein Geheimnis daraus gemacht? Warum lässt du es zu, dass die sogenannte feine Gesellschaft ungeniert über meine Hautfarbe spekuliert? Weshalb hast du mir nicht das Rüstzeug mitgegeben, mich dieser Tatsache kämpferisch zu stellen?«

Hanne senkte den Kopf. »Ich weiß, dass ich einen schweren Fehler begangen habe. Aber ich wollte verhindern, dass du annähernd dem ausgesetzt sein würdest, was ich habe durchleiden müssen.«

»Oho, das diente also alles nur meinem Schutz«, höhnte Valerie. »Du hast dir also keine Gedanken darüber gemacht, dass dieses Geheimnis womöglich auf anderen Wegen ans Tageslicht gelangen würde.«

Hanne zuckte die Achseln. »Ich vermutete, dass es diejenigen, die davon wussten, aus unterschiedlichen Gründen mit ins Grab nehmen oder sich in Schweigen hüllen würden.«

»Und zu welcher Gruppe gehört Misses Fuller, der es ja offenbar größtes Vergnügen bereitet hat, mich vorzuführen?«, fragte Valerie in spitzem Ton, bevor sie sich an den alten Doc Brown wandte. »Sie zählen ja ganz offensichtlich zu Letzteren, Doktor Brown. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, dass Sie Ihr Schweigen endlich gebrochen haben.«

»Ich habe das nicht gewollt, Miss Sullivan, es ist mir im Zorn über Ihren Hochmut herausgerutscht, was ich zutiefst bedauere. Was würde ich darum geben, wenn ich es rückgängig machen könnte.« Er sah Hanne bedauernd an. »Kannst du mir jemals verzeihen?«

Hanne rang sich zu einem Lächeln durch. »Aber ja, Paul. Du hast stets zu mir gestanden. Und es wäre ohnehin bald herausgekommen. Aber wenn du unbedingt willst, kann ich es dir auf der Stelle erzählen, Vally. Es ist eine lange Geschichte …«

»Behalte sie nur weiter für dich«, schnaubte Valerie. »Meinetwegen nimm sie mit ins Grab! Ich will gar nichts mehr davon hören. Lasst mich doch alle in Ruhe!«

Mit diesen Worten rannte Valerie aus dem Zimmer, verließ das Haus und eilte zum Stall. Dort sattelte sie eilig ihr Pferd und galoppierte los, als wäre der Teufel hinter ihr her. Als sie unten am Strand angekommen war, fegte sie so kräftig durch das Wasser, dass es zu beiden Seiten mächtig spritzte. Sie hatte nur einen Wunsch: zu vergessen, was sie soeben erfahren hatte! Keinen einzigen Blick würde sie mehr in dieses Tagebuch werfen, weil sie gar nicht mehr an der Wahrheit interessiert war. Schließlich kannte sie jetzt das Geheimnis, das ihr Leben betraf. Misses Fuller hatte also nicht gelogen. Nein, durch ihre Adern floss tatsächlich schwarzes Blut!

Aber deshalb werde ich mich noch lange nicht demütigen lassen, beschloss sie kämpferisch. Und sollte ich James Fuller jemals wiedersehen, werde ich ihm die Wahrheit ins Gesicht schleudern, damit er endlich Mary Tenson heiraten kann!

Das Haus an der Montego Bay: Roman
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