17
Frederiksted, März 1832

Die Zeit vergeht wie im Fluge. Wenn ich mir vorstelle, dass ich inzwischen schon vier Wochen auf der Insel bin …

Saint Croix ist ein Paradies, und ich hatte unendlich viel Glück. Ich sollte eher sagen: Glück im Unglück, denn das, was mir bereits am ersten Tag in meiner neuen Heimat widerfahren ist, spottet jeder Beschreibung. Aber es fing vielversprechend an.

Ich war kaum im Ort angekommen, da sprach mich eine junge dunkelhäutige Frau in einem bunten Kleid, das sehr viel Haut zeigte, an. Ich hatte noch nie zuvor eine Schwarze gesehen und stierte sie fasziniert an. Sie war wunderschön. Ich kam mir in meinem schweren Winterstoff völlig deplatziert vor. Sie redete jedenfalls ohne Punkt und Komma auf mich ein. Leider konnte ich kein Wort verstehen, weil sie Englisch sprach. Ich wusste, wie sich die Sprache anhört, aber ich konnte sie weder verstehen noch sprechen. Hier sind übrigens viel mehr Engländer und Holländer als Dänen und Deutsche. Aber alles der Reihe nach.

Es kam also ein Fremder hinzu, der die Frau verstand und mir übersetzte, was sie von mir wollte. Die Schwarze wollte wissen, ob ich ein Zimmer bräuchte, denn im Haus ihres Herrn wäre gerade eines frei geworden. Wir wurden uns schnell einig mit dem Preis, und ich folgte ihr. Vor der Tür eines prächtigen Hauses, das unverkennbar aus gelben Flensburger Ziegeln gebaut war, blieb sie stehen und hielt die Hand auf. Sie wollte die erste Miete sofort. Das machte sie mir mit Händen und Füßen mehr als deutlich. Es war mir nicht recht, vor einer Wildfremden mein Bündel Geld hervorzuholen und einen Schein herauszuziehen, aber ich hatte keine andere Wahl. Dabei entging mir nicht ihr gieriger Blick auf meine Hand. Mir war ein wenig merkwürdig zumute, als ich ihr in das obere Stockwerk eines Hauses folgte, aber die Sehnsucht nach einem richtigen Bett war stärker als alles andere. Ich hatte gerade meine Sachen abgestellt, da rauschte eine ältere Dame ins Zimmer und schimpfte auf die Schwarze ein. Ich verstand kein Wort, aber die Gescholtene verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer.

»Was tun Sie da?«, rief ich empört aus, doch dann fiel mir ein, dass sie mich wahrscheinlich ebenso wenig verstehen konnte wie ich sie.

Statt mich ihrerseits anzugreifen, huschte ein breites Lächeln über ihr eher strenges Gesicht.

»Woher kommen Sie?«, fragte sie mich auf Deutsch. Ich sprach genauso gut Deutsch wie Dänisch und war hocherfreut, eine meiner Heimatsprachen zu hören.

»Ich bin aus Flensburg und gerade erst angekommen«, erwiderte ich rasch.

»Und was treibt Sie in dieses entlegene Paradies?«

Ich betete, dass mir schnell etwas Passendes einfallen würde. Etwas, das plausibel war und das mir auch alle anderen glauben würden, die mich in Zukunft auf der Insel nach dem Grund für meinen Aufenthalt befragen würden.

»Ach, das ist eine traurige Geschichte. Ich bin eine junge Witwe, und mein Mann hat mich recht mittellos zurückgelassen. Seine Familie soll auf Saint Croix leben.«

»Und wie heißen die Herrschaften?«

Mir wurde flau im Magen.

»Hensen«, erwiderte ich verstört und hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen, doch nun war es zu spät.

Ich hielt den Atem an, als die Frau ihre Stirn in grüblerische Falten legte. »Hensen? Hensen? Nein, also da sind Sie offenbar einem Irrtum aufgesessen. Eine Familie Hensen gibt es in Frederiksted nicht.«

»O weh, womöglich habe ich die lange Überfahrt vergeblich gemacht.«

»Das würde ich nicht sagen. Es sind ja drei Inseln. Versuchen Sie es auf Saint Thomas oder Saint John. Oder in Christiansted, unserer Hauptstadt.«

»Danke, dass Sie mir nicht sämtliche Hoffnung nehmen …« Um von mir abzulenken, brachte ich das Thema nun auf sie.

»Und Sie, was hat Sie hierhergetrieben?«

»Ich bin aus Hamburg und habe dort meinen Mann kennengelernt, einen Kapitän. Er hat mich auf eine Westindien-Reise mitgenommen, und dann ist der Dummkopf kurz vor Saint Croix sturzbetrunken über Bord gegangen und wurde Haifischfutter. Die Mannschaft hat sich eingebildet, es hätte ihm Unglück gebracht, dass eine Frau mit an Bord war. Und da wollten sie mich nicht mit zurücknehmen. Also bin ich in Christiansted vom Schiff gegangen und wollte warten, bis mich ein anderer Kapitän mit zurücknimmt. Doch dann bekam ich die Stellung als Haushälterin bei dem Witwer Mister Sullivan und bin geblieben. Und nun diene ich seinem Sohn.«

»Und warum haben Sie die junge Dame da eben ausgeschimpft?«

Dass die Frage nicht geschickt war, merkte ich sofort an der Miene von Mister Sullivans Haushälterin. Sie kniff die Augen gefährlich zusammen.

»Dame?«, spuckte sie verächtlich aus. »Sie haben wohl wirklich keinen Schimmer von unseren Sitten, was?«

Ich bekam eine dunkle Ahnung, worauf sie anspielte. Ob die schwarze Frau eine Sklavin war? Niemand hat mir je Näheres darüber erzählt, aber ich habe zu Hause manches Gespräch der Erwachsenen belauert. Und manchmal redeten sie unter vorgehaltener Hand darüber, wessen Reichtum in Flensburg auf dem Sklavenhandel beruhte. Vater pflegte stets im Brustton der Überzeugung zu versichern: »Ich würde mit Kühen und Schweinen handeln, aber nicht mit Menschen!« Und ich verstand von dem Gerede der Männer immerhin so viel, dass ich mir das Los eines Sklaven nicht in rosigen Farben ausmalte. Ich hatte sogar mal aufgeschnappt, dass die armen Menschen von ihren Herren geschlagen wurden. Spielte die Haushälterin darauf an? Dass Sklavinnen keine Damen sein konnten?

»Was hat sie Ihnen getan?«

»Ich mag nicht, wenn sie im Haus ist. Sie irritiert Mister Sullivan mit ihrem Augenaufschlag. Er ist ein feiner Kerl, der so etwas eigentlich nicht tut, aber wenn Nafia so weitermacht, kann ich für nichts garantieren. Eines Tages verliert er die Beherrschung, und dann ist das Geschrei da draußen groß, und sie schimpfen auf die Weißen, die sich an ihren Töchtern vergehen.«

Ich schnappte vor Empörung nach Luft. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, sie wäre selbst schuld, wenn dieser Mister Sullivan sie vergewaltigen würde?«

»Genau das! Sie müssen noch viel lernen, wenn Sie hier leben wollen, Misses Hensen!«

Als sie meinen Namen aussprach, lief es mir trotz der mörderischen Hitze eiskalt den Rücken hinunter. Das durfte ich auf keinen Fall unwidersprochen stehen lassen. So groß war die Insel auch wieder nicht, dass Jakob Hensen davon nicht durch einen dummen Zufall Wind bekommen könnte.

»Werte Misses … wie heißen Sie eigentlich?«

»Leyland. Ich bin Misses Leyland.«

»Verzeihen Sie, Misses Leyland, aber ich glaube, ich habe vorhin ein wenig undeutlich gesprochen. Die Familie meines Mannes heißt Hansen. Aber das ist seine Verwandtschaft mütterlicherseits. Mein Mann hieß Brodersen.« Ich lachte gekünstelt. Dieser Name würde mich noch verfolgen. Wenn unser Notar in Flensburg nur wüsste, dass ich quasi seinen Nachnamen angenommen hatte. »Also heiße ich auch so, also Brodersen!«, fügte ich hastig hinzu.

»Und Sie wollen das Zimmer mieten, Misses Brodersen. Zu welchem Preis denn?«

Ich nannte ihr das, was Nafia mit mir ausgehandelt hatte.

Misses Leyland rümpfte die Nase. »Also, ich hätte mehr verlangt, aber nun gut, abgemacht ist abgemacht. Und …«, sie zauderte, »… verzeihen Sie die Frage, aber wir hatten auch schon Pech mit unseren Gästen. Können Sie den Preis denn auch bezahlen?«

Ich wollte ihr gerade verraten, dass ich die erste Miete für eine Woche bereits geleistet hatte, da schluckte ich meine Worte herunter. Nein, das konnte ich nicht verantworten, wenngleich ich mich sehr über Nafias Verhalten ärgerte. Aber das würde ich ihr persönlich sagen, nachher, wenn ich das Geld von ihr zurückforderte. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie meine Forderung sogar verstehen würde, wenn ich dieser mit Händen und Füßen Ausdruck verlieh!

»Ja, ich habe einen Großteil meines Schmucks verkaufen können, denn ursprünglich war einmal Geld in der Familie Brodersen. Eine angesehene Familie von Juristen, nur mein Mann hat sein Geld in windigen Geschäften verloren. Er ist das schwarze Schaf der Familie Brodersen. Deshalb konnte ich ja auch nicht in Flensburg bleiben …« Ich unterbrach die lebhafte Schilderung meiner erfundenen Lebensgeschichte, um Luft zu holen. Je mehr ich zu erzählen habe, desto glaubwürdiger wirke ich auf die strenge Haushälterin, sagte ich mir und fügte noch eine Einzelheit hinzu, die mir sicherlich ihre Sympathie bringen würde. »Und mein Mann …« Ich senkte die Stimme. »Er hat dem Alkohol zugesprochen.«

Ich hatte auf die richtige Karte gesetzt, denn sie murmelte jetzt: »Ach, diese Männer, wenn sie wüssten, was sie uns damit antun. Aber, Sie sind noch so jung. Armes Kind.« Sie tätschelte meinen Arm. »Gut, dann richten Sie sich erst einmal häuslich ein. Die Küche ist …« Misses Leyland trat ans Fenster. »Dort, sehen Sie das Haus, das ist unser Kochhaus. Da können Sie sich jederzeit etwas selbst kochen oder gegen ein geringes Entgelt von unserer Köchin etwas herrichten lassen. Und das kleine Haus auf der anderen Seite ist das Waschhaus.«

Ich war völlig fasziniert von dem Ausblick in den tropischen Garten, an den riesige Felder mit Zuckerrohr grenzten. Ich wusste genau, wie eine solche Pflanze aussah, denn in unserem Haus in Flensburg hatten ein paar Bilder von Plantagen gehangen. Sofort wurde mir schwer ums Herz. An mein Zuhause sollte ich lieber gar nicht erst denken.

Im Garten wucherten Bäume und Büsche in Grüntönen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, und Blumen in den leuchtendsten Farben. Das Einzige, was nicht zu dieser Idylle passen wollte, waren Hütten, die ich nun in der Ferne, ganz am Ende der Plantage, bemerkte.

»Und was sind das dort hinten für Bauten?«

Misses Leyland folgte mit dem Auge der Richtung meines Fingers. »Ach das?«, erwiderte sie mit herablassender Stimme. »Dort wohnen unsere Sklaven.«

Mir lagen noch so viele Fragen auf der Zunge, aber ich verzichtete darauf, sie zu stellen, weil sie Misses Leyland sicher nicht behagt hätten. Und ich wollte sie auf keinen Fall gegen mich aufbringen. Ich hatte so ein vages Gefühl, dass mir ihre Zuneigung einmal sehr nützen würde. Wie sehr ich damit recht hatte, konnte ich allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Dabei interessierte mich natürlich brennend, ob es stimmte, was ich einst gehört hatte: dass die Sklaven keine Rechte besaßen, sondern ihrem Herrn wie bei uns dem Bauer das Vieh gehörten. Danach würde ich lieber Nafia fragen, aber ob ich das mit Händen und Füßen schaffen würde? Da kam mir eine glänzende Idee.

»Wollen Sie sich ein wenig dazuverdienen, Misses Leyland?«, erkundigte ich mich.

»Das kommt darauf an«, entgegnete sie ausweichend.

»Ich würde gern Sprachunterricht bei Ihnen nehmen und Englisch lernen. Ich denke, das kann man hier gebrauchen.«

»Ich muss Sie aber warnen. Ich bin eine strenge Lehrerin.«

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Das hätte ich jetzt gar nicht gedacht«, bemerkte ich süffisant, aber Misses Leyland verstand glücklicherweise keinen Humor und erklärte mir ernsthaft, Strenge und Härte lerne man im Umgang mit den Sklaven, die ja keine andere Sprache verstünden.

Dann hielt sie ihre Hand auf und verlangte die erste Monatsmiete. Seufzend zahlte ich noch einmal und nahm mir fest vor, Nafia das Geld wieder abzunehmen, bevor sie es ausgeben konnte. Doch vorher erkundigte ich mich bei der Haushälterin, wo ich einen Schneider finden konnte.

»Den gibt es nur in Christiansted. Aber wir haben ein Geschäft mit Stoffen. Da können Sie sich eindecken und sich die Kleider von Nafia nähen lassen. Sie näht für alle Frauen im Sullivan-Haus.«

»Und gibt es denn auch eine Misses Sullivan?«, fragte ich neugierig.

»Nein, der alte Herr ist ja erst kürzlich verstorben, und sein Sohn muss nun erst einmal in Christiansted bei den Geschäftspartnern seines Vaters Antrittsbesuche machen und auch in Charlotte Amalie ein paar Herren besuchen.«

»Charlotte Amalie? Das war die Frau des dänischen Königs.«

»Nach ihr wurde die Hauptstadt der Insel Saint Thomas benannt. Und soviel ich weiß, gibt es da genügend junge Damen, die sich darum reißen, vom jungen Sullivan geheiratet zu werden. Vielleicht kommt er mit einer Braut zurück.«

»Vielleicht«, wiederholte ich. Dabei hatte ich ihr gar nicht mehr richtig zugehört, denn in Gedanken sah ich mich schon in einem leichten Sommerkleid durch Frederiksted flanieren. Deshalb beschloss ich, die Stoffe sofort auszusuchen.

All dies geschah an meinem ersten Tag, und wenn ich jetzt an mir hinuntersehe, dann weiß ich, dass es sich gelohnt hat. Das Kleid, das ich heute trage, ist aus leichtem grünen …

Aber ich will nicht vorgreifen. Ich habe also gleich am ersten Tag – es war inzwischen Nachmittag – die Stoffhandlung aufgesucht. Auf dem Weg dorthin hatte ich ein schlimmes Erlebnis. Man hat einen herrlichen Blick über das Meer, und ich erkannte am Horizont eine Bark, fest davon überzeugt, dass es die Hanne von Flensburg war. Vor lauter Heimweh schossen mir die Tränen in die Augen, und ich wäre am liebsten hingeschwommen. Ich kann sehr gut schwimmen. Vater hat immer gesagt, das muss eine Reederstochter können. Und er hat es meiner Schwester und mir in der kalten Ostsee beigebracht. Damals im Hochsommer hielt ich sie für warm, aber gemessen daran, welche Temperatur das Wasser hier besaß, war sie eisig! Dieses Schiff jedoch würde der beste Schwimmer der Welt nicht erreichen! Ich wandte den Blick zu den Hügeln, die hinter der Stadt lagen, und schluchzte laut auf.

In der Stoffhandlung von Mister Wu, einem lebhaften Chinesen, wurde meine Laune allerdings schlagartig besser. Ich ließ mir schöne Stoffe zeigen und entschied mich für einen grünen, einen roten und einen blauen. Mister Wu, mit dem ich mich auch nur mit Händen und Füßen verständigen konnte, versprach, die Stoffe gleich am nächsten Tag gegen Barzahlung zu liefern. Man schien einander zu kennen, denn als ich ihm das Haus von Mister Sullivan nannte, rief er erfreut aus: »Yes, Sullivan-House.«

Ich fand ohne Probleme den Weg zurück, betrat aber nicht das Haus, das wirklich eines der schönsten weit und breit war. Es lag nicht ganz im Ortskern, sondern ein Stück weiter weg vom Meer. Mein Ziel war die Plantage. Ich wollte die junge Schwarze aufsuchen und hatte Glück. Ich war noch gar nicht ganz bei den Hütten, als mir Nafia in Begleitung eines finster dreinblickenden jungen Schwarzen begegnete.

Erst als Nafia ihm erklärte, wer ich sei, hellte sich seine Miene auf. Ich kämpfte mit mir, ob ich sie vor dem Mann zur Rede stellen sollte, und entschied mich dagegen. Stattdessen schaffte ich es, ihr klarzumachen, dass ich Stoffe gekauft hätte und mir gern ein paar Kleid von ihr schneidern lassen wolle. Sie strahlte über das ganze Gesicht, klatschte in die Hände und bat mich ihr zu folgen.

»Brother«, sagte sie mit ihrer gurrenden Stimme und zeigte auf den jungen Mann.

»Dein Bruder?«, gab ich zurück.

»Bruder!«, wiederholte sie und zog mich mit sich fort. Der Bruder schlenderte in die andere Richtung. Wenn ich dem Blick, den er seiner Schwester zugeworfen hatte, bevor er seiner Wege gegangen war, ein wenig mehr Bedeutung zugemessen hätte, wäre mir viel erspart geblieben. Aber so schoss mir nur kurz die Frage durch den Kopf, warum er sie so drohend ansah. Mochte er es nicht, dass sie für weiße Frauen Kleider nähte?

Kaum war der Bruder außer Sichtweise, als ich wie ein störrischer Esel stehen blieb. Nafia schien das gar nicht zu behagen. Ob sie bereits ahnte, was jetzt kommen würde? An ihrem verschreckten Blick konnte ich schließlich erkennen, dass sie meine Sprache mittels Händen und Füßen verstanden hatte. Als ich fordernd die Hand aufhielt, brach sie in Tränen aus. Obwohl sie mir leidtat, rang ich mich dazu durch, hart zu bleiben.

»Los, gib mir das Geld zurück«, herrschte ich sie an, während ich ihr stur meine Hand entgegenstreckte.

Plötzlich ging sie schluchzend auf die Knie und zeigte mir ihre leeren Hände. Ich schloss daraus, dass sie das Geld nicht mehr besaß. Was sollte ich tun? Verzichten oder weiterbohren?

Erst einmal wollte ich, dass sie aufstand, aber wenn ich sie richtig verstand, vermutete sie, dass ich sie schlagen wollte, denn sie hielt nun schützend die Hand vor ihr Gesicht. Mir wurde übel, und mein Geld war mir völlig egal. Schließlich hatte ich genug davon.

Ich trat auf sie zu, nahm ihre Hände und sprach beschwichtigend auf sie ein. Ihr Schluchzen wurde schwächer, verebbte schließlich ganz. Sie sah mich entgeistert an. Mit einer Mischung aus grenzenloser Verwunderung und großer Erleichterung.

»Thank you, Missus, thank you, thank you«, stammelte sie, und ich verstand, was sie mir zu sagen versuchte. Sie bedankte sich bei mir. Ich reichte ihr meine Hand und half ihr beim Aufstehen. Den ganzen Weg zu ihrer Hütte redete sie auf mich ein, wobei ich allerdings kein einziges Wort verstand.

In der Hütte war es dämmrig und stickig, aber als Nafia ein Tuch zur Seite schob, strömten Luft und Helligkeit hinein. Die Hütte war einfach eingerichtet. Über einem Stuhl lagen ein paar Kleider. Sie breitete eines nach dem anderen vor mir aus, bis ich begriff, dass sie alle von ihr stammten und ich mir einen Schnitt aussuchen sollte.

Meine Wahl fiel auf ein luftiges Kleid, das nicht geschnürt wurde. Wenn ich mir vorstellte, wie mir das am schwitzenden Körper kleben würde … Das erfuhr ich ja gerade am eigenen Leib, weil ich immer noch in diesem viel zu dicken Mieder steckte.

Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich gleich morgen die Stoffe vorbeibringen würde. Ich glaube, sie verstand. Als ich Anstalten machte, zurück zum Haus zu gehen, nahm sie mich erneut bei der Hand und zog mich in Richtung des Gartens. Dort führte sie mich zuerst ins Koch- und danach ins Waschhaus. Ich fand das lieb von ihr und auch hochinteressant, nur machten meine müden Füße langsam nicht mehr mit. Wie mich überhaupt eine bleierne Müdigkeit überkam. Ich hatte nur noch den einen Wunsch: mich in das schöne, weiche Bett zu legen!

Nafia wollte mich gar nicht gehen lassen. Ich hatte meine liebe Mühe, ihr klarzumachen, dass ich sehr müde war.

Auf dem Weg zum Haus kam mir Nafias Bruder entgegen. Er schien mich aber gar nicht wahrzunehmen, sondern eilte mit gesenktem Kopf an mir vorbei. Als ich gerade meine Zimmertür hinter mir schließen wollte, hörte ich Misses Leyland aufgeregt rufen: »Halt, Misses Brodersen. Warten Sie doch!«

Stöhnend blieb ich stehen. »Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte ich mich höflich.

»Ich will ja nicht die Pferde scheu machen, aber ich habe eben Leroy aus dem Haus kommen sehen. Und das ist kein gutes Zeichen. Ich traue ihm nicht. Man hat mir zugetragen, dass er flüchten will. Aber ich als Frau kann da wenig ausrichten. Wenn Mister Sullivan zurück ist, werde ich ihm gleich davon berichten. Der wird sich den Knaben schon vorknöpfen. Aber bis dahin: Schließen Sie lieber die Tür ab!«

»Natürlich!«, entgegnete ich hastig und war froh, dass ich endlich allein in meinem Zimmer war. Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar: Jemand war in meinem Zimmer gewesen und hatte meine Sachen durchwühlt. Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich, als ich entdeckte, dass jemand mein unberührtes Bett zerwühlt hatte. Dann hatte er bestimmt … ich mochte den Gedanken gar nicht zu Ende denken. Es zog mich zu dem Ort, an dem ich mein Geld versteckt hatte, nämlich unter dem Kopfkissen. Meine Hände zitterten, als ich es hochhob, und ich stieß einen spitzen Schrei aus: nur noch ein paar Münzen lagen verstreut auf dem Laken. Alles andere war fort!

Ich ließ mich auf das Bett fallen und weinte bitterlich. Ich musste darüber eingeschlafen und offensichtlich so müde gewesen sein, dass ich erst am nächsten Morgen durch ein lautes Klopfen geweckt wurde. Ich brauchte einen Moment, um zu mir zu kommen. Erst wusste ich gar nicht, wo ich war. Ich meinte, in meiner Koje auf der Hanne von Flensburg zu liegen. Doch die Geräusche waren völlig anders. Und dann wieder das Klopfen an der Tür.

»Ja, ich komme«, rief ich und rappelte mich auf. Ich fühlte mich völlig zerschlagen und wankte auf unsicheren Beinen zur Tür. Auf dem Flur warteten schon der Verkäufer des Stoffgeschäfts und eine sichtlich aufgebrachte Misses Leyland.

»Stellen Sie sich vor. Leroy ist geflüchtet. Mit ein paar anderen. Auf einem Boot. Heute Nacht. Ich möchte wissen, woher sie das Geld dafür hatten …«

Das brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Nun konnte ich mich an alles erinnern und hegte keinen Zweifel, dass keine Geringere als ich die Spenderin des Bootes gewesen war. Ich ballte wütend die Fäuste. Das würde er mir büßen. Mit Nafia hatte ich ja noch ein gewisses Mitgefühl, aber dieser Kerl hatte mir eiskalt meine Lebensgrundlage entzogen.

»Dieser verdammte Bursche hat …«, stieß ich hervor und bremste mich. Erst einmal wollte ich in Erfahrung bringen, was mit ihm geschah, wenn ich ihn verriet und man ihn schnappte.

»Den Jungen kriegen sie nicht mehr, oder?«

Misses Leyland lachte spitz. »Da muss er schon viel Glück haben, um nicht in Ketten zurückgebracht zu werden. Und wenn Mister Sullivan zurückkommt, wird er entscheiden, was mit ihm geschieht. Wenn er Glück hat, überlebt er das.«

Ich zuckte zusammen. Das hörte sich schlimm an, und wenn ich es so recht überlegte: Mein Geld würde ich ohnehin nicht zurückbekommen. Dafür hatten sie sich das Boot oder den Platz auf demselben besorgt. Nein, es war keine gute Idee, zu petzen, dass er mein Geld gestohlen hatte. Aber Nafia würde ich später gewiss zur Rede stellen.

»Mister Wu will die Stoffe abliefern«, erklärte mir Misses Leyland und nannte mir den Preis. Ich wurde bleich. Was, wenn die Münzen nicht reichen würden?

»Vielleicht kann ich nachher vorbeikommen und Ihnen das Geld bringen?«, bat ich den Besitzer des Stoffgeschäftes, was Misses Leyland prompt übersetzte.

Mister Wu schüttelte energisch den Kopf, wandte sich sichtlich erbost an die Haushälterin und überschüttete sie mit einem Schwall von Worten.

»Nein, er bedauert, Mister Wu wünscht Lieferung gegen Bezahlung«, übersetzte sie die Worte des Verkäufers.

»Gut, dann darf ich Sie bitten, draußen zu warten«, entgegnete ich mit fester Stimme und schlug Mister Wu und der sichtlich neugierigen Misses Leyland die Tür vor der Nase zu. Am ganzen Körper bebend sammelte ich die Münzen zusammen und zählte sie. Ganz knapp hätte ich zwei der Stoffe bezahlen können. Aber das war mir zu riskant. Ich brauchte noch einen Notgroschen. Doch gänzlich auf ein Kleid für diese Hitze konnte ich auch nicht verzichten.

Niedergeschlagen schlich ich zur Tür zurück und reichte Mister Wu den Preis für den grünen Stoff.

»Ich, äh … ich, äh, nehme erst einmal nur den einen Stoff. Nachher gefällt mir Ihre Ware nicht, und ich habe das Geld umsonst ausgegeben«, stammelte ich mit hochrotem Kopf.

Misses Leyland gab ihm meine Worte zwar sinngemäß korrekt wieder, aber sie ließ durchblicken, dass sie mein Verhalten höchst merkwürdig fand.

Die Wangen des Verkäufers glühten vor Zorn. Misses Leyland hätte gar nicht übersetzen müssen, weil es ihm ins Gesicht geschrieben stand, was er dachte. Doch sie ließ es sich nicht nehmen, mir die empörten Worte des Verkäufers zu überbringen.

»Das hätten Sie sich aber früher überlegen müssen. So etwas ist mir ja noch nie vorgekommen! Bestellen und nicht bezahlen. Wo gibt es denn so etwas?« Misses Leyland hielt inne und musterte mich streng. »Also, Misses Brodersen, so einen Wankelmut kennen wir auf der Insel nicht, wenn es um Geschäfte geht. Ich würde Ihnen dringend raten, die Ware abzunehmen, die sie ihm im Laden abgekauft haben!«

Ich aber nahm den grünen Stoff an mich und verschwand damit ohne weitere Erklärung in meinem Zimmer. Dort ließ ich mich erschöpft auf mein Bett fallen und überlegte. Meine Großzügigkeit würde ohne Frage Konsequenzen haben. Mit den paar Restmünzen konnte ich mir zwar etwas zu essen kaufen, und die Miete für eine Woche hatte ich bereits bezahlt, aber dann? Was würde ich ohne Geld anfangen? Mir wurde übel. Das war einfach zu viel. Ich fand, dass ich alle Strapazen tapfer auf mich genommen hatte. Eine Woge von Selbstmitleid überfiel mich. Ich fühlte mich wie ein verlassenes Kind und brach in lautes Schluchzen aus.

Entweder hatte ich das Klopfen überhört, oder Misses Leyland hatte mein Zimmer ohne Ankündigung betreten. Jedenfalls stand sie plötzlich vor meinem Bett und strich mir unbeholfen über den Kopf.

»Was ist mit Ihnen? Da stimmt doch etwas nicht.«

»Ich, ich … also, ich habe kaum Geld. Das ist alles für die Überfahrt draufgegangen. Sie haben behauptet, eine Frau an Bord bringt Unglück und haben mich dann ausgenommen wie eine Weihnachtsgans.« Schon wieder schwindelte ich sie an, doch hatte ich eine andere Wahl, wenn ich Leroy nicht verpetzen wollte?

»Und was haben Sie jetzt vor?«, fragte Misses Leyland voller Mitgefühl. Ich glaubte, sie hegte mir gegenüber so etwa wie mütterliche Gefühle.

Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, was ich tun soll. Und wohin ich gehen kann. Ich bin allein und mittellos.«

»Das stimmt allerdings«, bekräftigte Misses Leyland meine Worte. »Aber ich habe da einen Einfall.«

Ich horchte auf.

»Können Sie kochen?«

»Ja, ich habe mich auf dem Schiff mit dem Smutt angefreundet und für ihn gekocht.«

Misses Leyland schmunzelte. »Nun ja, eine Kombüse ist das hier nicht. Mister Sullivan legt äußersten Wert auf gutes Essen. Deshalb haben wir auch eine hervorragende schwarze Köchin, die, obwohl sie einst als Sklavin ins Sullivan-House kam, einige Privilegien genießt. Schon Mister Sullivans Vater hat Marisha die Freiheit geschenkt, und sie besitzt ein eigenes kleines Häuschen hinter dem Kochhaus. Der alte Mister Sullivan hat wohl nicht gewagt, sie ins Haus …« Misses Leyland schlug sich erschrocken die Hand auf den Mund. »Darüber sollte ich nicht reden.«

»Aber jetzt, wo Sie schon einmal angefangen haben. Was war mit dem alten Mister Sullivan und Marisha?«

»Es ist eigentlich nicht für Ihre Ohren bestimmt, aber nun gut. Mister Sullivan hat sich Marisha ins Bett geholt, auch schon vor dem Tod seiner Frau. Aber aus Rücksicht auf den Jungen, also den jungen Mister Sullivan, hat er ihr eine Bleibe im Garten geschenkt und sie nicht mit ins Haus genommen. Das machen hier viele Männer. Allen voran unser Generalgouverneur, Mister Scholten. Seine schwarze Mätresse lebt sogar mit ihm unter einem Dach. Also, ich finde das ziemlich geschmacklos und war deshalb sehr froh, dass Marisha nicht im Haus ein und aus ging. Aber eines muss man ihr lassen, sie ist eine hervorragende Köchin.«

»Aber wenn Sie eine Köchin haben, wozu brauchen Sie mich dann?«

»Weil die Küchenhilfe Molly mit Leroy und den anderen Kerlen abgehauen ist. Sie wird, wenn man sie jemals einfangen sollte, bestimmt nicht wieder in der Küche arbeiten dürfen, sondern muss, wenn sie nicht strenger bestraft wird, zurück ins Zuckerrohr. Also ist die Stelle frei.«

»Und Sie meinen, ich könnte sie bekommen?«

»Ja, denn ich bestimme, wer hier wo arbeitet. Und da du keine Sklavin bist, wirst du außer Kost und Logis ein wenig Geld bekommen. Aber dann werde ich dich duzen müssen. Wie heißt du mit Vornamen?«

»Anne«, erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. »Ich werde alles tun, damit ich überleben kann«, versicherte ich der Haushälterin eifrig.

»Gut, dann pack deine Sachen und folge mir in den Garten. Dort gibt es ein kleines Häuschen für weiße Hausangestellte. Zurzeit bist du außer mir die Einzige auf dem Gelände des Sullivan-Hauses. Bis auf den Kutscher, aber der ist mit dem gnädigen Herren auf Reisen.«

Die Sitten hierzulande sind äußerst gewöhnungsbedürftig, dachte ich und packte meine Waschutensilien und den grünen Stoff in meinen Koffer und folgte Misses Leyland. Das Gute war, dass sie Deutsch mit mir spricht, ging es mir durch den Kopf, als mir einfiel, dass ich ja nun gar kein Geld mehr besaß, um bei ihr Unterricht in englischer Sprache zu nehmen.

»Misses Leyland, wie kann ich denn nun bloß Englisch lernen, wenn ich Sie nicht bezahlen kann?«, entfuhr es mir verzweifelt.

Misses Leyland blieb stehen und legte mir vertraulich die Hand auf den Unterarm. »Du hast mir doch das Geld für die Miete gegeben. Dafür unterrichte ich dich«, erklärte sie, und es klang wie ein großzügiges Angebot.

Vor einem kleinen Holzhaus an der Grenze zur Plantage blieb Misses Leyland stehen. Ich verliebte mich auf den ersten Blick in das putzige Häuschen. Es war hellblau gestrichen, hatte ein gelbes Ziegeldach und besaß eine kleine Veranda. Drinnen gab es nur einen Raum, der ein offenes Fensterloch mit einem Fliegengitter davor besaß. Ich konnte einen schweren Bambusvorhang davorziehen, wenn ich wollte. Gegen diese Hütte war das Gästezimmer, dass ich ja anfangs für recht bescheiden erachtet hatte, eine hochherrschaftliche Behausung. Und wenn ich mir dann vorstellte, wie groß und prächtig meine Zimmer in Pits Haus gewesen waren …

Mit einem Schrei riss mich Misses Leyland aus meinen Gedanken.

»Nicht bewegen!«

Ich tat, was sie verlangte. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie sie mit ihren derben Schuhen auf ein graufarbiges Insekt eintrat, das wie ein Krebs aussah.

Nachdem sie das ein paarmal wiederholt hatte und sicher sein konnte, dass das gepanzerte Tier tot war, nahm sie ihren Fuß fort und befahl mir, dass ich es mir genau ansah. Ich musste mich sogar bücken.

»Das ist ein Skorpion«, erklärte sie mir. »Und sein Stich kann tödlich sein! Sieh dich also vor. Untersuche vor dem Schlafengehen deine Hütte, und lass immer den Bambusvorhang geschlossen. Licht bekommst du draußen genug.«

»Aber wird es nicht zu heiß?«

»Nein, schau nach oben. Zwischen den Wänden und dem Dach ist es nach allen Seiten offen. So, und nun gebe ich dir diesen Tag frei. Geh ans Meer, sieh dir den Ort an, und vor allem: Lass dir dein Kleid nähen.«

»Wie kann ich Ihnen für all das danken, Misses Leyland?«, fragte ich gerührt.

»Indem du ein Auge auf Nafia hast, wenn der junge Herr zurückkehrt. Ich weiß, dass sie ein gefährliches Ding ist, und ich möchte nicht, dass es ein Unglück gibt.«

»Ich glaube, Sie übertreiben. Nafia ist eine anständige junge Frau und kein Tier«, entgegnete ich ungehalten.

Das brachte mir einen bitterbösen Blick der Haushälterin ein. Ich erkannte, dass unsere Freundschaft jederzeit ins Gegenteil umschlagen konnte. Misses Leyland war offensichtlich nur ihresgleichen gegenüber freundlich gesonnen. Und denen gegenüber, die ihre Meinung teilten. Ich nahm mir fest vor, meinen Mund nicht allzu weit aufzumachen. Doch ich hegte meine Zweifel, ob es mir gelingen würde. Schließlich war ich in einem Haus aufgewachsen, in dem man die Sklaverei regelrecht verdammte. Vater hatte sich deshalb sogar mit einigen Handelsherrn überworfen, die auf seinen Schiffen Sklaven hatten transportieren wollen. So waren ihm einige lukrative Geschäfte durch die Lappen gegangen, aber Vater war in diesem Punkt unbestechlich gewesen, obwohl er wusste, dass viele andere die Augen vor der Grausamkeit dieses Handels verschlossen und damit reich geworden waren.

Ach, Vater, dachte ich traurig, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass du uns verlassen hast. Dabei waren seit seinem Tod nicht einmal vier Monate vergangen. Mir kamen sie vor wie Jahre, denn ich war nicht mehr dieselbe. Voller Dankbarkeit dachte ich daran, was er mir mitgegeben hatte. Das waren sein Hang zum Humanismus und die damit verbundene Achtung vor den Menschen. In diesem Punkt war ich ganz und gar seine Tochter. Sich über schwarze Menschen zu erheben und ihnen sämtliche Rechte abzusprechen, war verabscheuungswürdig.

Trotzdem zog ich es vor, zu schweigen und der Haushälterin nicht an den Kopf zu werfen, wie rückschrittlich ihre Ansichten waren.

Misses Leyland machte eine wegwerfende Geste. »Ach, das hat doch gar keinen Sinn, mit jemandem wie dir darüber zu sprechen. Du hast ja nicht die geringste Ahnung. In deiner Heimat gibt es so etwas nicht, aber hier gehört es zum Alltag. Und wenn du nicht lernst, diese Kreaturen richtig einzuschätzen und entsprechend zu behandeln, wirst du böse Überraschungen erleben. Aber wer nicht hören will, muss fühlen. Du wirst schon deine Erfahrung machen.«

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und dachte mir meinen Teil. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ich niemals solche Ansichten vertreten würde wie die Haushälterin, und wenn ich für den Rest meines Lebens auf dieser Insel verbringen musste. Und das, obwohl mir ein Sklave all mein Geld – auch das von Pit, das ich ebenfalls unter der Matratze verwahrt hatte – gestohlen hatte.

Misses Leyland aber schien ernsthaft beleidigt und verließ grußlos mein neues Heim. Ich konnte nur hoffen, dass ich es mir nicht völlig mit ihr verscherzt hatte, denn von ihrem Wohlwollen hing meine nahe Zukunft ab.

Ich spürte plötzlich erneut, wie mir das dicke Kleid am Körper klebte, griff mir den grünen Stoff und machte mich auf den Weg zu Nafias Hütte.

Ich rief ihren Namen, doch ich bekam keine Antwort. Ich versuchte es noch einmal. Vergeblich! Ich wollte bereits aufgeben, da kam eine ältere schwarze Frau des Weges, deutete aufgeregt zum Hütteneingang und redete auf mich ein. Ich verstand nur immer den Namen Nafia.

Wollte sie mir sagen, dass Nafia doch zu Hause war? Zögernd trat ich in das Innere der Hütte. Es war ziemlich duster, sodass ich rasch wieder umkehren wollte. Ein letztes Mal rief ich Nafias Namen, und ehe ich es mich versah, huschte ein Schatten an mir vorbei und rannte nach draußen. Wie der Blitz schoss ich hinterher und schaffte es, sie am Eingang an ihrem ausladenden Rock zu greifen.

»Was soll das?«, schimpfte ich, doch Nafia hatte sich vor mir in den Staub geworfen und faltete die Hände. Was tat sie da? Betete sie? Mir war ihr Verhalten unerklärlich. Ich reichte ihr die Hand, woraufhin sie sich die Hände vors Gesicht schlug. Jetzt fiel es mir wieder ein. Hatte sie das nicht schon einmal gemacht?

Ich zog meine Hand zurück und blieb regungslos stehen. Offenbar befürchtete sie erneut, ich würde sie züchtigen wollen. Für mich ein Beweis, dass sie vom Diebstahl meines Geldes wusste.

Vorsichtig zeigte ich ihr die Münze, die ich mitgenommen hatte, um sie dafür zu bezahlen, dass sie mir ein Kleid nähte. »Brother?«, fragte ich und ließ das Geld hinter meinem Rücken verschwinden.

Nafia nickte. Dicke Tränen rannen über ihr ebenmäßiges, schönes Gesicht.

Ich wusste, wenn ich ihr meine Hand reichen würde, würde sie erneut in Panik geraten. Deshalb redete ich beruhigend auf sie ein. Ich weiß gar nicht, was ich alles gesagt habe. Dass sie keine Sorge haben müsse, ich würde sie nicht schlagen. Und dass ich es ja verstehen könne, warum ihr Bruder hatte fliehen müssen …

Irgendwann begriff Nafia, dass ich es gut mit ihr meinte. Sie erhob sich vom Boden und ließ sich den grünen Stoff von mir in die Hand drücken. Sie schien zu verstehen, was ich von ihr wollte, denn sie musterte meine Formen mit durchdringendem Blick. Plötzlich nahm sie meine Hand und zog mich zu meinem Haus. Ich wusste allerdings nicht, was sie von mir wollte, doch als sie, kaum, dass wir auf der Veranda angekommen waren, an meinem Kleid zerrte, schwante mir etwas: Sie brauchte es, um meine Maße zu haben. Zögernd zog ich es aus und reichte es ihr. Nun stand ich in meinen Unterkleidern vor ihr. Sie starrte mich an wie einen Geist. Ob sie diese Art von Unterkleidern nicht kannte? Es wurde Zeit, dass ich die englische Sprache lernte.

Bevor sie mit dem grünen Stoff über dem Arm davoneilte, wollte ich ihr noch die Münze in die Hand drücken, doch sie schüttelte energisch den Kopf. Sie wollte mein Geld nicht. Ich drängte sie allerdings auch nicht, es anzunehmen. Nun waren wir quitt. Wir schenkten uns ein Lächeln. Und ich ahnte, dass ich eine Freundin auf der Plantage gewonnen hatte.

Die Ahnung wurde zur Gewissheit, als am nächsten Morgen auf der Veranda zwei wunderschöne neue Kleider hingen. Eines in meinem grünen Stoff, ein anderes in einem zarten Rosé. Ich weiß bis heute nicht, wie sie es geschafft hat, in einer einzigen Nacht zwei Kleider zu nähen. Es grenzte an Zauberei. Die beiden Kleider sind fast zu schön, um sie als Küchenhilfe zu tragen, war mein erster Gedanke, als ich sie ungläubig bestaunte. Dann erst fand ich unter meinem alten Kleid ein schlichtes beiges mit einer passenden Schürze.

Nafia verstand meine Dankesbezeugung auch ohne Worte.

Mittlerweile verstehe ich wenigstens schon den einen oder anderen Brocken. Das liegt daran, dass ich abends regelmäßig von Misses Leyland unterrichtet werde und jede freie Minute nutze, um zu lernen. Ich hasse es, wenn ich mich nicht unterhalten kann, zumal es mich brennend interessiert, was Marisha, die Köchin, aus ihrem bewegten Leben zu erzählen hat. Noch beschränkt sich unsere Unterhaltung auf Anweisungen, die sie mir mit Händen und Füßen erteilt. Aber das ist nicht schwer zu verstehen, wenn dir eine Schüssel Gemüse vor die Nase gestellt und ein Messer in die Hand gedrückt wird. Oder wenn die Köchin auf einen Berg voll mit schmutzigem Geschirr deutet.

Ohne dass wir uns unterhalten können, merke ich ganz deutlich, dass sie vor mir eine gewisse Scheu hat. Wahrscheinlich hat sie noch nie einer weißen Frau Befehle erteilt. Ich werde sie fragen, sobald ich der englischen Sprache mächtig bin.

Die nächsten Tage werde ich allerdings nicht zum Lernen kommen, weil die Rückkehr des Hausherrn bevorsteht. Misses Leyland läuft seitdem wie ein aufgescheuchtes Huhn herum und geht allen mächtig auf die Nerven. Den Grund, warum alles perfekt sein muss, hat sie mir unter vorgehaltener Hand verraten. Man habe ihr zugetragen, dass er in Begleitung einer jungen Frau sei, und das deute auf eine baldige Hochzeit in Sullivan-House hin. Mich ließ diese Nachricht relativ kalt, bis auf die bange Frage, ob der Herr des Hauses womöglich etwas gegen mich haben und mich entlassen könnte. Ich nahm mir vor, ihm aus dem Weg zu gehen, so gut ich konnte. Aber noch ist er nicht in Saint Croix angekommen, und ich genieße die Abendstunden auf meiner klitzekleinen Veranda. Immer wieder wandert mein Blick über mein englisches Lehrbuch zu der atemberaubenden Pracht des tropischen Gartens.

Doch jedes Mal, wenn ich so etwas wie Freude in diesem Paradies empfinde, meldet sich sofort das Heimweh. Wenn alles gut geht, bin ich nächstes Jahr wieder zu Hause, denke ich und konzentriere mich auf die vielen Vokabeln, die Misses Leyland mir mit ihrer akribischen Schrift in ein Heft geschrieben hat. To shed hope, lese ich dort und lächle still in mich hinein. Nein, die Hoffnung aufgeben werde ich nie und nimmer! Never, wie eines der Wörter heißt, die ich bereits gelernt habe.

Das Haus an der Montego Bay: Roman
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