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Flensburg, Juli 1830
Sie glauben, ich merke es nicht, dass sie Sorgen haben, aber sie können es schwerlich verstecken. Mutter wird immer blasser und dünner. Und sie hustet ständig. Wenn ich sie frage, ob sie krank ist, beeilt sie sich immer, mir zu versichern, dass alles in Ordnung sei. Dabei bleibt sie auffällig häufig ganze Tage im Bett liegen. Da stimmt etwas nicht, warum sprechen sie nicht darüber? Bei Vater liegt der Fall wesentlich einfacher. Er wird immer ungerechter und aufbrausender, und ich ahne, warum. Bei Tisch wird ja von nichts anderem geredet. Die Erwachsenen denken wohl, ich verstehe nicht, wovon sie sprechen, aber da haben sie sich getäuscht.
Es ist eine Tragödie. Vater steht kurz vor dem Ruin. Er hat über die Hälfte seiner Schiffe durch den verdammten Krieg verloren. Mutter schimpft ständig auf die Engländer, die Gewinner, während Vater kein gutes Haar am dänischen König lässt, der sich ja unbedingt mit den Franzmännern verbünden musste, wie er es ausdrückt. Dann gibt es bei Tisch jedes Mal einen handfesten Krach. Mutter nennt Vater einen »deutschen Dickschädel«, Vater Mutter ein »dänisches blindes Huhn«. Ich merke im Alltag allerdings kaum, dass Vaters Vermögen schwindet. Ich bekomme immer noch alles, was mein Herz begehrt, und wir wohnen auch noch immer oben auf dem Hügel, umgeben von einem riesigen Park, der zu unserem Haus gehört. Es ist der größte Landschaftsgarten der ganzen Stadt und Vaters ganzer Stolz. Wer hat schon geheimnisvolle Grotten in seinem Park und einen Wasserfall?
Mein liebster Ort ist die Spiegelgrotte, ein unterirdischer Achteckbau, der durch die dreizehn Spiegel unendlich groß wirkt. Vater sagt immer, das solle die Unendlichkeit der Welt symbolisieren. Doch gerade vor ein paar Wochen hat Vater uns bei Tisch gestanden, dass uns nun nur noch die Hälfte des Gartens gehört. Und ausgerechnet den Teil mit dem Wasserfall und der Spiegelgrotte hat er verkauft. Und nur, weil der reiche Kaufmann Pit Hensen, der unlängst das angrenzende Gelände erworben und Clausens Haus in einen Protzbau verwandelt hat, Vaters Notlage ausgenutzt und ihm viel Geld für unseren Garten geboten hat. Es wundert mich, dass der Mann sich nicht gleich ein Schloss errichtet hat. Welches Haus braucht denn schon zehn Türme? Vater flucht nun den ganzen Tag offen auf den neuen Nachbarn, denn eigentlich hatte er Senator Clausens Haus nach dessen Tod noch dazukaufen wollen. Jetzt hockt dieser Geldsack unter meinem Wasserfall, schimpft er den ganzen Tag. Allein deshalb hasse ich diesen Kerl. Weil er Vater unglücklich macht! Doch daran kann ich natürlich ermessen, wie schlecht es um Vaters Finanzen bestellt sein muss. Dass er von dem so verhassten Menschen Geld angenommen hat.
Und dann kam vorige Woche auch noch die Nachricht vom Untergang der Brigg Else von Flensburg, Vaters bestem Schiff, mithilfe dessen er wie so viele andere Reeder nicht nur die Waren der anderen transportieren, sondern endlich auch seine eigenen Waren verkaufen und den Profit des Handels selbst einstreichen wollte. Ich musste den Salon verlassen, als der Kapitän der Condor Vater die traurige Botschaft überbrachte, aber unser Mädchen Anna hat den Herren einen Grog serviert und jedes Wort brühwarm an mich weitergegeben.
Die Condor war in der Nähe gewesen, als das Unglück geschah und hatte die vierzehn Mann Besatzung retten können. Auch meinen Schwager Heinrich Andresen, den Kapitän der »Else«, aber der lag nun mit einer Kopfverletzung danieder und hatte Vater die Nachricht nicht selbst beibringen können. Ich war daraufhin umgehend zu Lenes Haus am Holm gerannt, aber dort habe ich es nicht lange ausgehalten. Lene hat nur geweint, obwohl Heinrich wieder ganz munter ist. Heinrich hat nach seiner Genesung verraten, dass Vater alles auf eine Karte gesetzt und verloren hat. Es sei ja nicht nur der Verlust des Schiffes, der ihn schmerze, sondern er habe all sein Vermögen für die Ladung ausgegeben, unter anderem für Lebensmittel und gelbe Ziegel. Das Schiff ist voll beladen im Atlantik havariert.
Ich bin recht nachdenklich nach Hause zurückgekehrt und habe Vater auf das Elend ansprechen wollen, aber er hat nur in einem fort gemurmelt: »Ich bin ruiniert! Ich bin ruiniert!«
Aber selbst, wenn ich in Zukunft keine schönen Kleider mehr bekommen werde, der Kummer meines Vaters kann mich nicht gänzlich von meiner rosaroten Wolke holen, denn ich bin verliebt. Und was gibt es Schöneres? Ich muss arg aufpassen, dass ich nicht singend durch das Haus schwebe, während Vater am Boden zerstört ist. Denn ich kann gar nicht anders, als an ihn zu denken, und dann werde ich so glücklich, dass ich singen und tanzen muss.
Ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn heiraten werde, auch wenn er bei Vater noch nicht um meine Hand angehalten hat. Ich werde nie vergessen, wie ich ihn das erste Mal sah. Auf dem Hochzeitsball meiner Freundin Nele. Er war in Begleitung eines unverschämten Kerls, der mich gegen meinen Willen zum Tanzen zwingen wollte, obwohl ich ihm einen Korb gegeben hatte. Kein Wunder, der ungehobelte Geselle ist der Neffe unseres neuen Nachbarn. Wie der Herr so’s Gescherr, wie unsere Küchenhilfe immer zu sagen pflegt. Er sieht nicht übel aus, dieser Christian Hensen, aber er hat ein unmögliches Betragen. Man munkelt, er habe in Saint Croix, wo er aufgewachsen ist, die Sklaven beaufsichtigt. Ach, ich möchte es gar nicht näher wissen. Er hat jedenfalls stechende Augen und einen bösen Blick. So, als würde ihm die Welt gehören. Ich erwähne ihn nur deshalb, weil sein Freund mich vor seinen Grobheiten gerettet hat. Er hat diesem Christian gesagt, dass man hier mit den Damen nicht so umgehen dürfe, und dann hat er mir den Arm gereicht. Als ich mit ihm zum Tanz gegangen bin, habe ich Christian noch einen flüchtigen Blick zugeworfen. Er hat mich angesehen, als wolle er mich umbringen und seinen Freund gleich mit.
Aber der Tanz hat mich alles vergessen lassen. Ich hatte nur Augen für meinen Retter. Er ist einen halben Kopf größer als ich, und seine Augen sind so blau und klar wie die Ostsee an einem heißen Sommertag, wenn kein Lüftchen weht. Man möchte darin versinken. Sein Haar ist hell und von der Sonne ausgeblichen, denn er lebte auch auf Saint Croix, bevor er vor ein paar Wochen auf einem Schoner von den Karibikinseln nach Flensburg kam. Das habe ich aber alles erst nach dem Tanz erfahren, als er mich in den Garten entführt hat. Er hat eine tiefe Stimme und schon viel von der Welt gesehen. Das imponiert mir mächtig. Ich wollte wissen, wie er als Däne auf die westindischen Inseln gelangt ist. Er heißt Hauke Jessen. Seine Familie stammt ursprünglich aus Kopenhagen. Sein Großvater war Kapitän bei der Westindien-Kompanie. Und der blieb eines Tages in Saint Croix, weil er sich in eine Engländerin verliebt hat, Haukes Mutter. Er ist nie wieder nach Hause zurückgekehrt und hat dort eine Familie gegründet. Hauke ist da geboren.
»Wer einmal auf den westindischen Inseln gelebt hat, kehrt niemals zurück«, hat Hauke an dem Abend in schwärmerischem Ton geseufzt. »Und warum bist du jetzt hier?«, habe ich ihn gefragt. Ich glaube, er fand mich anfangs ein wenig vorlaut, denn ich bin nicht sehr begabt darin, einen Mann anzuschmachten. Dazu bin ich auch viel zu groß. Die meisten Frauen auf dem Fest sind mindestens einen Kopf kleiner als ich und können immer so herrlich zu ihren Männern aufschauen. Mit dem gewissen Augenaufschlag! Deshalb hat meine Freundin Nele bestimmt auch so schnell einen Ehemann bekommen. Sie ist Meisterin ihres Faches. Wenn sie zu ihrem Per Hansen, dem frischgebackenen Polizeidirektor, hochblickt, dann spricht aus ihren Augen grenzenlose Bewunderung. Dann fühlt er sich bestimmt wie ein junger Gott. Dabei ist er ein unangenehmer Zeitgenosse. Er hat nicht die Spur Humor und mag nicht, wenn sie Zeit mit ihren Freundinnen verbringt. Mich kann er am wenigsten von allen leiden. Das lässt er mich jedes Mal spüren, wenn ich zu Besuch bin. Wahrscheinlich seit ich ihm auf den Kopf zugesagt habe, dass Nele sehr wohl in der Lage ist, auf einem Pferd zu galoppieren. Schließlich haben wir oft genug gemeinsame Ausritte gemacht. Er aber hat es ihr verboten, weil sich das für eine Dame nicht gehöre, und da ist mir der Kragen geplatzt.
Das Traurige daran ist, Nele tut alles, was er sagt. Und sie behauptet, diesen Blick einer Frau von unten nach oben mit züchtig niedergeschlagenen Lidern mögen die Männer. Ich weiß nicht, ob das stimmt, und werde das wohl auch nie erfahren. All die kleinen Junggesellen der Stadt gucken mich genauso wenig an, wie ich sie. Aber ich will auch gar keinen von ihnen. Mutter ermahnt mich stets, mich nicht so burschikos zu benehmen.
Jedenfalls habe ich den ganzen Abend nur mit Hauke getanzt, endlich ein Mann, der mir von Herzen gefällt! Das Schönste ist, wir haben uns wiedergesehen und einen Spaziergang an der Ostsee gemacht. Nur wir beide. Hauke hat meine Hand genommen und mir tief in die Augen gesehen. Mir ist ganz blümerant geworden. Aber zurück zum Fest. Wenn meine neugierige Schwester Lene nicht gekommen und mich aus dem Garten geholt hätte, er hätte mich bestimmt geküsst, aber Lene fand, das gehöre sich nicht und sie müsse auf mich aufpassen. Dabei ist sie ein Jahr jünger als ich und fühlt sich nur deshalb so groß, weil sie schon verheiratet ist. Und da ihr Mann Heinrich eigentlich nie zu Hause, sondern stets auf See ist, hat sie sich zur Aufgabe gemacht, mich von »Dummheiten« abzuhalten, wie sie es nennt. Meine Eltern waren untröstlich, als sich Heinrich, Vaters Kapitän, für seine jüngere Tochter entschieden hat. Da ich die Ältere bin, meinte Vater, ich müsse erst unter die Haube. Wenn er oder gar meine Schwester wüssten, dass Heinrich mir vorher den Hof gemacht hat, ich ihn aber davon überzeugen konnte, dass Lene sich mehr dazu eigne, Tag für Tag am Fenster zu hocken und auf die Rückkehr ihres Mannes von See zu warten! Heinrich hat schallend gelacht und mir versichert, nein, so geduldig sei ich bestimmt nicht.
Ich mag Heinrich wie einen Bruder, oder besser gesagt: einen Schwager. Meine Schwester geht mir allerdings mächtig auf die Nerven. Sie tut immer so, als wäre sie ein besserer Mensch. Doch trotz ihres Eingreifens auf Neles Hochzeit konnte sie nicht verhindern, dass Hauke mich noch einmal zum Tanzen aufgefordert hat. Es war ein herrliches Gefühl, in seinem Arm … Dann allerdings hat Per mich unter einem Vorwand von der Tanzfläche gelockt, nur um mir eine Predigt zu halten, dass ich mich unmöglich benähme … Ich habe mich aber nicht um seine Worte geschert und gleich noch einmal mit Hauke getanzt. Er hat mich ganz eng an sich gezogen beim Walzer, so eng, dass –
Zwei Stunden später:
Es ist nicht zu fassen, was in den vergangenen zwei Stunden geschehen ist. Wie ein schlimmer Traum, aus dem man gern aufwachen würde, aber es geht nicht. Mutter kam vorhin, als ich endlich über Hauke schreiben wollte, in mein Zimmer mit der Bitte, dass ich mein schönstes Kleid anziehen solle. Sie hatte verquollene Augen. Ich vermute, sie hat geweint. Aber sie wollte mir nicht sagen, warum ich mich hübsch machen sollte. Nur, dass wir Besuch erwarten würden. Da schlug mein Herz plötzlich bis zum Hals, denn ich war mir sicher, dass es sich um Hauke handelte, der meinen Eltern seine Aufwartung machte. Ich bin ein paarmal durch mein Zimmer getanzt vor Freude und habe dann das süßeste Kleid angezogen, das ich besitze: ein hellblaues Taftkleid mit einem goldenen Muster. Es bringt meine Schultern vorteilhaft zur Geltung. Ich legte natürlich eine Stola um, die dann im richtigen Augenblick versehentlich von meiner Schulter rutschen würde. Ach, war ich aufgeregt, als ich die Treppen hinunterschwebte. Aus dem Salon hörte ich schon Stimmen. Die eine gehörte Vater und die andere … Haukes Stimme war es nicht! Enttäuscht wollte ich auf dem Absatz kehrtmachen, in mein Zimmer zurückeilen und mich umziehen, aber da kam mir Mutter mit ausgebreiteten Armen entgegen und überschlug sich mit Komplimenten.
Doch ich zog ein langes Gesicht. »Wer ist der Besuch?«, fragte ich aufgebracht.
Sie aber blieb mir die Antwort schuldig und zog mich mit sich in den Salon. Ehe ich michs versah, stand ich vor dem Tisch, an dem Vater und ein Herr saßen. Der Mann sprang von seinem Stuhl auf und begrüßte mich überschwänglich, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Erst in dem Moment erkannte ich ihn. Es war kein Geringerer als dieser reiche Spirituosenhändler, der im Rat der Stadt sitzt, Vater das Nachbarhaus vor der Nase weggekauft und sich die Hälfte unseres Parks unter den Nagel gerissen hat. Pit Hensen!
Fragend sah ich an ihm vorbei, erst zu Vater, dann zu Mutter. Das konnte nur ein Versehen sein, dass sie ausgerechnet diesen Kerl zum Essen eingeladen hatten und von mir verlangten, dass ich bei ihm einen guten Eindruck machte. Und was, wenn er ihnen verriet … ich wurde rot, denn ich hatte den Eltern nichts von unserer Begegnung erzählt. Es war neulich im Park. Der Kerl saß doch tatsächlich auf meiner alten Bank unter meinem Apfelbaum mit Blick auf den Wasserfall. Ich war so wütend, denn für einen winzigen Moment hatte ich verdrängt, dass das alles jetzt ihm gehört, und ihn frech gefragt, was er in unserem Garten zu suchen habe. Er erwiderte, dass es sein Grundstück wäre, und grinste dabei so selbstgerecht, dass ich ihm die Zunge herausgestreckt habe, bevor ich fluchend davongerauscht bin. Er ist ein schrecklicher Mensch und bestimmt schon so alt wie Vater. Was, wenn er meinen Eltern von meinem ungebührlichen Benehmen berichtet? Mutter würde in Ohnmacht fallen.
»Schön, Sie zu sehen, Fräulein Asmussen«, säuselte er zur Begrüßung und gab mir zu meinem Entsetzen einen Handkuss. Wieder suchte ich die Blicke meiner Eltern, doch zu meiner Empörung lächelten sie falsch. Was wurde hier gespielt, fragte ich mich, und mir wurde zunehmend unwohl. Der Nachbar rückte mir meinen Stuhl zurecht. Man hatte ihm gegenüber für mich gedeckt. Ich nahm mir vor, meinen Unmut über dieses Essen durch hartnäckiges Schweigen zu zeigen. Und so redete ich kein Wort. Mutter, die neben mir saß, stieß mich mehrfach leicht an, aber ich kümmerte mich nicht darum. Bis Vater mit einem unüberhörbaren Vorwurf in der Stimme darauf aufmerksam machte, dass Herr Hensen ihn auf meine Vorliebe für das Reiten angesprochen habe. Ich hob nur kurz den Blick, den ich bis dahin streng in den Teller versenkt hatte.
»Ja, ich liebe das Reiten«, bemerkte ich knapp.
Er lächelte wissend. Ich zog die Mundwinkel noch weiter nach unten.
»Davon durfte ich mich neulich überzeugen, als ich in der Kutsche von einer Reise aus Altona zurückkehrte. Sie kamen uns kurz vor der Stadtgrenze im rasenden Galopp entgegen, sodass unsere Pferde beinahe gescheut hätten.«
Ich war sicher, er sagte nicht die Wahrheit. Es stimmte zwar, dass ich manchmal mein Pferd nahm und aus der Stadt über Land in Richtung Schleswig ritt. Und manchmal schaffte ich es sogar bis dorthin, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass einer, der in seiner Kutsche saß, mein Gesicht im Vorbeipreschen erkennen konnte. Es wäre besser gewesen, den Mund zu halten, aber es juckte mich, ihm zu widersprechen.
»Werter Herr Hensen, Sie übertreiben. Ich glaube kaum, dass Sie so schnell erfassen können, wer an Ihnen vorüberreitet.«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie trugen eine schneeweiße Lingeriebluse und ritten, mit Verlaub, nicht im Damensitz!«
Mein Gesicht brannte vor Verlegenheit, und ich befürchtete, dass es rot angelaufen war. Mutters strafender Blick bewirkte ein Übriges. Er hatte mich gesehen. Keine Frage. Ich zog es vor, mich wieder in Schweigen zu hüllen, denn mit jedem Wort, das ich mit diesem Herrn wechselte, beging ich anscheinend einen weiteren Fehler.
Wieder war es Vaters ungnädig klingende Stimme, die mich aufhorchen ließ.
»Du solltest Herrn Hensen antworten, wenn er schon so freundlich ist, dich trotz deines ungebührlichen Betragens zu einer Jagd einzuladen.«
Das fehlte mir noch. Niemals würde ich mich an einer Tierhatz beteiligen! »Nein danke. Das Töten von Rehen und Hasen ist nichts für mich!«
In diesem Moment begann ich mich zu fragen, was dieser ganze Besuch zu bedeuten hatte. Vater hatte bislang immer nur auf den Mann geschimpft, und nun saß er an unserem Tisch und versuchte, sich mit mir zu verabreden. Das hieß doch nicht etwa …? Es war schlicht nicht möglich, dass meine Eltern, die mir sonst jeden Wunsch erfüllten, mich mit diesem Mann verkuppeln wollten!
Wie dem auch sei, das würde ich mir keinen Augenblick länger ansehen. Ich erhob mich, fasste mir übertrieben auf meinen Bauch und stöhnte auf, als hätte ich Schmerzen.
»Verzeiht, aber mir ist nicht wohl. Ich ziehe mich zurück. Auf Wiedersehen, Herr Hensen.«
Ohne eine Reaktion meiner Eltern abzuwarten, verließ ich den Salon, und zwar mit hocherhobenem Haupt. Auch etwas, das Mutter mir auszutreiben versuchte. Du könntest dich doch einfach ein wenig kleiner machen, pflegte sie mir des Öfteren zu raten.
»Soll ich gebückt gehen?«, fragte ich dann provozierend.
»Nein, nein, aber du gehst so gerade, als hättest du einen Stock verschluckt«, erwiderte sie dann meist.
Klein ist der Rumhändler allerdings nicht, dachte ich, während ich mich zornig auf mein Bett warf, er misst bestimmt einen Kopf mehr als ich. Nun, wo ich bäuchlings dalag und grübelte, wurde ich immer wütender. Und ich Dummkopf hatte geglaubt, es wäre Hauke, der gekommen war, um meinen Eltern die Aufwartung zu machen. Was bildete sich der alte Mann ein? Dass er mein Interesse erwecken würde? Da hatte er sich aber geirrt.
Ich sprang auf und riss das Fenster auf. Von hier hatte ich einen Blick über den Hafen. Dort lag eines von Vaters Schiffen, das demnächst nach Westindien auslaufen sollte, das aber, wollte man dem Gerede der Erwachsenen Glauben schenken, noch nicht genug Fracht an Bord hatte. Ich erinnerte mich, dass, wenn ich als Kind zum Fenster hinausgeschaut hatte, ein Schiff neben dem anderen gelegen hatte. Plötzlich überkam mich ein entsetzlicher Gedanke. Ob meine Eltern vorhatten, mich als Teil eines Geschäfts zu verscherbeln?
Doch gleichgültig, welche Pläne sie für meine Zukunft hatten, ich würde ihnen einen Strich durch die Rechnung machen und Hauke … ich konnte hier nicht untätig herumsitzen, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, ich musste zu ihm! Er wohnte nicht im Nachbarhaus wie der Neffe von dem reichen Hensen, dieser unmögliche Christian, sondern in dessen Geschäftshaus unten am Hafen. Dorthin würde ich mich jetzt umgehend aufmachen und ihm erzählen, dass der alte Hensen offenbar auf Freiersfüßen wandelte.
Ich riss mir das Kleid förmlich vom Leib und stieg in mein Alltagskleid, das ich getragen hatte, bevor Mutter mir befohlen hat, mich herauszuputzen. Auf Zehenspitzen schlich ich die Treppe in die Diele hinunter und war erleichtert, als ich bei der Haustür angelangt war. Doch just in dem Moment hörte ich die mahnende Stimme meines Vaters: »Hiergeblieben, junges Fräulein!«
Erschrocken wandte ich mich um. Ich wollte es bestimmt nicht, aber ein Gefühl von Mitleid durchfuhr mich. Ich hatte ihn selten so kümmerlich erlebt. Wo war mein starker Vater geblieben? Er war ja nur noch ein Schatten seiner selbst. Mir wurde flau zumute. Es hatte keinen Sinn, länger so zu tun, als ginge mich sein wirtschaftlicher Niedergang nichts an. In einem Impuls von unendlicher Liebe fiel ich ihm um den Hals.
»Vater, sag mir, dass es nicht wahr ist! Ihr wollt mich nicht an den Spirituosenhändler verschachern, oder?«, flüsterte ich angsterfüllt.
»Wir müssen reden. Folge mir in mein Arbeitszimmer«, raunte er zurück.
Ich tat, was er verlangte, wenngleich mir die Knie zitterten. Ich hatte kein gutes Gefühl. Wenn ich mich getäuscht hätte, so hätte Vater mir doch wohl heftig widersprochen.
Er verschanzte sich hinter seinem mächtigen Schreibtisch, und ich setzte mich auf den Stuhl auf der anderen Seite. Zwischen uns lagen Welten. Aus seiner Miene sprach das schlechte Gewissen.
»Hanne, du bist nun achtzehn Jahre alt, und es wird Zeit, dass du dir Gedanken über deine Zukunft machst, und deshalb …«, begann er.
»Sicher, Vater!«, unterbrach ich ihn hastig. »Sprich es nur aus, was du denkst. Da du eine Tochter nicht für fähig hältst, die Reederei fortzuführen, muss nun ein Ehemann für mich her. Und ich kann dich beruhigen, ich glaube, ich habe den Richtigen gefunden.«
Ich machte eine Pause und weidete mich an Vaters entgeistertem Blick. Ich hatte also ins Schwarze getroffen. Mein Mitgefühl schwand! Wie konnte er so etwas befürworten? Dass ich einen alten Mann heiratete?
»Wer ist es?«
Nein, so leicht würde ich es ihm nicht machen.
»Bevor ich dir auch nur ein Wort verrate, sag du mir auf den Kopf zu: Ist unser Nachbar bei uns zum Essen, weil er Interesse an mir hat?«
Vater wand sich. »Er ist fort!«, stieß er schließlich hervor.
»Das beantwortet meine Frage nicht, warum plötzlich der Mann an deinem Tisch sitzt, über den du noch kürzlich gesagt hast, er sei nicht besser als ein gieriger Pfeffersack, der den Rachen nicht vollkriegen könne, und dass er es eines Tages bitter bedauern werde, dass er sich das Anwesen der Clausens und unsere Grotte unter den Nagel gerissen habe …«
Vater machte eine wegwerfende Bewegung. »Ach, was weißt du schon vom Leben? Ich habe gute Gründe, meine Meinung zu ändern.«
»Wenn du glaubst, ich hätte nur Kleider im Sinn, dann täuscht du dich. Glaubst du, ich sehe nicht, dass zurzeit nur noch eines deiner Schiffe im Hafen liegt, und das schon seit Wochen? Meinst du, ich kann nicht ermessen, dass dich der Verlust der Else von Flensburg in den Ruin getrieben hat? Dann müssen wir eben in ein kleines Haus umziehen. Noch gehört dir dieser Teil des Hügels. Aber wie dem auch immer sei, das ist kein Grund, mich an diesen Mann zu verkaufen.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, konterte Vater empört. »Ich würde dich niemals verkaufen. Davon einmal abgesehen gehört die Muntehe ins Mittelalter. Ich mache keine Geschäfte mit dir!«
»Dann ist ja gut. Ich brauche mir also keine Sorgen zu machen, dass du von mir verlangen könntest, ich solle den Nachbarn heiraten.«
»Er hat mir ein Geschäft vorgeschlagen. Er würde gern meine Schiffe kaufen, um sich einen Platz unter den führenden Gesamthandelshäusern zu sichern. Das machen schließlich alle. Keiner will mehr etwas abgeben, und wenn er eigene Schiffe hat und Heinrich als Kapitän, dann …«
»Und was bietet er?«
Vater seufzte. »Er hat mir noch keinen Vorschlag gemacht, denn er ließ durchblicken, dass es natürlich günstiger wäre, wenn ich meine Schiffe nicht verkaufen müsste, sondern wir Partner würden.«
Keine Frage. Vater redete um den heißen Brei. Natürlich war ich Teil des Geschäfts. Aber nicht mit mir!
»Ich verstehe«, bemerkte ich spitz. »Als dein Schwiegersohn wäre es für ihn natürlich ein Leichtes, das Handelshaus Hensen & Asmussen zu gründen. Und das, ohne einen Taler dafür zu zahlen. «
Vater wurde noch weißer um die Nase. »Bitte, Hanne, wir könnten unser Haus behalten. Und glaub mir, ich würde mich ja mit einer kleinen Bleibe begnügen, aber deine Mutter.« Er klang schrecklich gequält, aber ich empfand kein Mitleid, nur eiskalte Wut.
»Wie bitte?« Ich sprang von dem Stuhl auf und lief aufgebracht im Zimmer auf und ab. Schließlich blieb ich vor seinem Sessel stehen. »Er erpresst dich also? Und so einem Verbrecher willst du deine Tochter anvertrauen?«
»Nein, er hat es nicht einmal ausgesprochen. Er hat nur durchblicken lassen, dass er dich mag und …«
»Was?« Ich stützte meine Hände wütend in die Hüften. »Was hat er durchblicken lassen?«
»Dass er in letzter Zeit mit dem Gedanken spielt, noch einmal zu heiraten!«
»Soll er doch. Es gibt genug alte Witwen in der Stadt, die sich darum reißen würden.«
Vater holte ein paarmal tief Luft. »Er braucht einen Nachkommen, der das alles einmal erbt. Zumindest seinen Anteil. Sonst fällt das gesamte Unternehmen an die Familie seines Bruders. Und das ist ihm aus Gründen, die er nicht näher ausgeführt hat, nicht lieb.«
Auch wenn ich Pit Hensen alles andere als in mein Herz geschlossen hatte – was ihm in dieser Sache Unbehagen bereitete, ahnte ich. Denn, wenn ich es richtig sah, würden dann der Sklavenhalter Christian, dieser ungehobelte Geselle, und dessen Vater im fernen Saint Croix alles erben. Das würde mir als Erblasser auch missfallen! Trotzdem sah ich nicht im Geringsten ein, warum ich dafür herhalten sollte.
»Gut, aber warum soll ich ausbaden, dass sein Neffe so ein Schuft ist? Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich einen Mann heiraten werde, nur um ihm einen Erben zu schenken? Hast du Mutter geheiratet, weil du Erben wolltest, oder weil du sie liebst?«
Vater räusperte sich verlegen. Offenbar hatte ich ins Schwarze getroffen.
»Nun sag schon, Vater, war es Liebe bei Mutter und dir?«
Vater schüttelte unwirsch den Kopf. »Wer hat dir bloß solche Flausen in den Kopf gesetzt? Eine Heirat aus Liebe? Wo gibt es denn so etwas? Nein, unsere Ehe wurde von Mutters und meiner Familie arrangiert. Mutter brachte eine ansehnliche Mitgift mit, weil ihre Brüder das elterliche Handelshaus erbten, und ich war als wohlhabender Handelsherr eine gute Partie …«
Vaters schonungslose Ehrlichkeit erschreckte mich. »Aber habt ihr euch denn gar nicht gemocht?«
Vater lachte verlegen. »Sie war das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Und wie ich sie wollte. Ich habe sie auf einem Fest kennengelernt und keinen Tanz ausgelassen …«
Ich musste unwillkürlich an Hauke denken. Wir hatten auch den ganzen Abend miteinander getanzt.
»… und nach dem Abend habe ich meinen Eltern davon berichtet. Mein Vater hat sich mit Mutters Vater in Verbindung gesetzt. Es gab keine Bedenken, und so konnte ich ihr den Hof machen und um ihre Hand anhalten. Natürlich muss es passen. Und das war bei unseren beiden Familien der Fall.«
Mir blieb die Spucke weg. Das sagte der Mann, der mich gerade zu einer Ehe mit einem alten Kerl überreden wollte. Zugegeben, Pit Hensen war nicht unansehnlich. Das musste ich bei allem Widerwillen gegen ihn zugeben. Wahrscheinlich war er früher mal ein gut aussehender Mann gewesen. Nun besaß er ein kleines Bäuchlein. Und er war sicher auch ein wenig jünger als Vater, wenngleich ich aus lauter Trotz auch weiterhin das Gegenteil behaupten würde.
»Warum ist er denn nicht verheiratet? Ich meine, alt genug ist er ja wohl. Der könnte seinen Erben schon zwanzigmal haben!«, stieß ich hervor.
Vater seufzte tief. »Seine Frau starb einst im Kindbett und mit ihr der Säugling.«
»Vater, du willst nicht allen Ernstes von mir verlangen, dass ich ihn freiwillig heirate, oder?«
Vater ruderte hilflos mit den Armen in der Luft herum. »Nein … ich weiß nicht … doch … es wäre für uns alle das Beste.«
»Für uns alle?« Ich schrie so schrill auf, dass sich meine Stimme überschlug.
»Bitte nicht streiten«, erklang da eine flehende Stimme. Ich fuhr herum und erblickte Mutter. Sie sah zum Gotterbarmen aus.
»Bitte leg dich ins Bett. Ich mache das schon!«, befahl Vater ihr. Aus seinen Augen sprach große Sorge. Ich sah fragend von einem zum anderen.
»Was ist mit dir Mutter?«, wollte ich wissen, fest entschlossen, mich nicht mit einer lapidaren Beschwichtigung zufriedenzugeben. Zu meiner Überraschung sagte sie gar nichts, sondern ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. Ein furchtbarer Hustenanfall überfiel sie. Ich war vor Angst wie gelähmt. Es ist hoffentlich nichts Schlimmes, ging mir durch den Kopf, doch da sah ich voller Entsetzen die roten Spritzer auf dem blütenweißen Spitzentuch, das sie sich vor den Mund gehalten hatte.
»Mutter, um Gottes willen!«, schrie ich auf und eilte zu ihr. »Nun sag mir endlich die Wahrheit.«
»Mutter leidet unter der Schwindsucht«, erwiderte mein Vater statt ihrer, und seine Augen wurden feucht. Das hatte ich bei meinem Vater noch niemals gesehen, und ich ließ mich mit klopfendem Herzen zurück auf meinen Stuhl fallen.
Mir lagen so viele Fragen auf der Zunge, aber ich war unfähig zu sprechen. Denn eines war mir auch ohne Nachfrage klar. Meine Mutter war sterbenskrank!
»Wie lange?«, presste ich schließlich gequält hervor.
»Der Arzt will sich nicht festlegen«, erwiderte Mutter in einem derart ruhigen Ton, als würde sie mir mitteilen, dass es am Sonntag Wildbret gab. Ich konnte mich nicht beherrschen. Mir kullerten ungehemmt Tränen die Wangen hinunter. Ich wollte sie umarmen, aber sie wehrte das ab.
»Du darfst nicht mehr so in meine Nähe kommen. Keiner weiß, wie ich diese Krankheit bekommen konnte, aber man befürchtet, derjenige, den man anhustet, könnte gefährdet sein.«
Ich hockte mich stattdessen zu ihren Füßen auf den Boden und umklammerte ihre Beine. Ein Leben ohne meine Mutter konnte und wollte ich mir nicht vorstellen. Vater war von jeher mit seinen Schiffen verheiratet gewesen und hatte wenig Zeit für mich erübrigt. Aber meine Mutter war immer für mich da gewesen.
Ich heulte laut auf. »Du darfst nicht gehen!«, schluchzte ich.
Sie strich mir sanft übers Haar.
»Gott wird sich schon etwas dabei gedacht haben, wenn er mich zu sich holt«, entgegnete sie und schien tatsächlich zu glauben, was sie sagte. Ich habe ihre übermäßige Frömmigkeit nie geteilt, und das tat ich auch in diesem Augenblick nicht. Denn was konnte das schon für ein Gott sein, der mir so einfach die Mutter nehmen wollte?
»Ich verstehe deine Aufregung wegen Pit Hensens Besuch«, fuhr Mutter mit sanfter Stimme fort. »Aber kannst du nicht verstehen, dass ich euch in gesicherten Verhältnissen zurücklassen möchte. Vater soll auf keinen Fall seinen geliebten Hügel verlassen, und du sollst eigenen Kindern das Leben schenken.«
Ich wusste genau, dass das nicht der rechte Zeitpunkt war, Mutter zu widersprechen, aber da standen meine Worte bereits im Raum. Hart, unmissverständlich und deutlich!
»Und du glaubst wirklich, ich könne mit einem alten Mann glücklich werden, nur, weil er reich ist und einen Erben braucht?«
Die Augen meiner Mutter verengten sich zu Schlitzen. »Was heißt denn schon Glück? Eine Ehe ist eine Einrichtung zum gegenseitigen Nutzen. Man gibt einander das Beste. Und das Beste, mein Kind, ist eine große Familie. Was meinst du, wie ich darunter gelitten habe, als die Ärzte mir nach deiner Geburt untersagt haben, jemals wieder ein Kind zu bekommen? Und warum, glaubst du, habe ich mich über das Verbot hinweggesetzt und wäre bei Lenes Geburt beinahe gestorben? Und trotzdem hätte ich es noch ein drittes Mal riskiert, und wenn es mich das Leben gekostet hätte. Ja, ich hätte mein Leben dafür gegeben, deinem Vater einen Sohn zu schenken, aber er wollte dieses Opfer nicht annehmen.«
Vater warf ihr einen zärtlichen Blick zu. Sie lieben einander sehr, schoss es mir durch den Kopf. Und durfte Mutter wirklich erwarten, dass ich angesichts ihres baldigen Todes einen Mann heiraten würde, den ich niemals im Leben lieben würde? Nur, weil er vermögend war und Vater auf seinem Hügel wohnen ließ? Ich konnte und wollte das beim besten Willen nicht einsehen.
»Er hat uns gestanden, dass er dich sehr gern hat!«, mischte sich mein Vater ein.
»Ach ja? Hat er euch auch erzählt, dass ich ihm neulich im Park die Zunge rausgestreckt habe, als er auf meiner Bank unter meinen Apfelbaum saß und behauptete, all das gehöre nun zu seinem Grundstück? Er lügt, wenn er behauptet, dass er mich mag!«
Mutter stöhnte auf. »Davon hat er nichts erzählt, aber du bist ungerecht. Er hat sich als kultivierter und angenehmer Zeitgenosse entpuppt.«
»Ach ja? Hat er nichts mehr von einem raffgierigen Pfeffersack?«
»Ich bedauere zutiefst, dass ich so hart über ihn geurteilt habe, nur, weil er das Nachbargrundstück und einen Teil des Parks gekauft hat. Ich war ungerecht. Er hat mir einen fairen Preis gezahlt, sodass ich mir ein neues Schiff leisten konnte. Dass ich sein ganzes Geld beim Untergang der ›Else‹ versenkt habe, dafür kann er nichts. Ich bin ein alter sturer Esel, und er ist ein feiner Kerl.«
»Schön, dass ihr ihn inzwischen in euer Herz geschlossen habt. Aber was, wenn es längst einen anderen Mann gibt, der mich zu heiraten gedenkt?« Mein Herz pochte mir bis zum Hals, und ich ahnte in demselben Augenblick, in dem ich es ausgesprochen hatte, dass es nicht geschickt war, Hauke zu erwähnen, bevor ich eine Sicherheit besaß, dass er es wirklich ernst mit mir meinte.
»Wer ist der Kerl?«, fragte Vater, während Mutter erschrocken hervorstieß: »Hanne, Kind, was hast du getan?«
Ich biss so heftig auf meine Lippe, dass es blutete. Was befürchtete sie? Dass ich bereits schwanger von ihm war? Ach, wäre es bloß so, dachte ich wütend, dann würden sie von ihrem Plan ablassen, mich einem alten Mann anzudienen. Wie konnten sie nur so grausam sein? Warum durfte ich mir nicht selbst aussuchen, wen ich heiraten wollte? Gut, das war in unseren Kreisen nicht üblich. Die Wahl des Ehemannes wurde immer mit den Eltern abgestimmt, aber Mutter und Vater waren stets anders und auf mein Glück bedacht gewesen.
»Ich habe dich etwas gefragt«, wiederholte Vater, als befände ich mich in einem Verhör.
Mutter murmelte immerzu. »O Gott, o Gott, was hast du getan?«
Wenn sie mir nicht gerade offenbart hätte, dass sie todkrank war, hätte ich jetzt glatt behauptet, ich müsse Hauke heiraten. Doch was, wenn sie dann vor Aufregung tot umfiel? Das könnte ich mir im Leben nicht verzeihen.
Nein, ich liebte sie und wollte sie nicht verlieren. Deshalb sagte ich die Wahrheit.
»Es gibt einen jungen Mann, der mein Herz berührt, und ich habe vor ihm noch keinen kennengelernt, dessen Frau ich hätte werden wollen. Bei ihm kann ich es mir vorstellen. Er sieht sehr gut aus, sprüht vor Charme, ist ein Ehrenmann …«
»Sein Name?«, fragte Vater in strengem Ton.
Das machte mich wieder zornig. Anstatt sich anzuhören, was für einen guten Charakter mein Ausgewählter besaß, ging es ihm nur darum, ob er zu den Söhnen der feinen Gesellschaft der Stadt gehörte. Wenn er der Erbe eines der Gesamthandelshäuser war, würde er mir wohl zumindest sein Ohr leihen. Denn dann konnte Vater immerhin hoffen, dass ihm die Familie meines Zukünftigen aus der Klemme helfen und seine restlichen Schiffe übernehmen würde. Aber würde mich so ein reicher Erbe überhaupt noch wollen, wenn er erfuhr, dass die Reederei Asmussen dem Untergang geweiht war? Dieser Gedanke ließ mich wieder mutiger werden. Sollten die Eltern doch froh sein, dass mich überhaupt jemand zur Frau nehmen wollte! Außer dem alten reichen Mann von nebenan!
»Kind, bitte sprich, wer hat sich dir ohne unser Wissen genähert?« Mutter schluchzte auf. Ihren Kummer konnte ich nicht länger ertragen.
»Mutter, hör auf! Es ist nicht das, was du denkst. Wir haben einen Abend lang getanzt und einen Spaziergang gemacht. Er hat nicht mehr getan, als meine Hand genommen und sie an seine Lippen geführt.«
Mutter fasste sich ans Herz. »O Gott, bin ich erleichtert. Ich dachte …«
»Ich weiß, was du dachtest«, unterbrach ich sie hastig.
»Gut, dann stellt der junge Mann ja keine Gefahr dar! Außerdem war er noch nicht bei mir, um um deine Hand anzuhalten«, stellte Vater befriedigt fest, als würde es sich um ein Geschäft handeln.
Mir wurde zunehmend mulmig zumute. Was, wenn ich Haukes Verhalten missverstanden hatte und er mich gar nicht zu heiraten gedachte, nur weil er meine Hand genommen und mir tief in die Augen geblickt hatte? Was, wenn ich nichts weiter als ein verliebtes Gänschen war, das sich Liebe einbildete, wo nur eine gewisse Zuneigung bestand?
Das alles durfte ich nicht durchblicken lassen. Dann hatte ich verloren. Ich musste so tun, als stünde Hauke Jessen im Begriff, um meine Hand anzuhalten. Ich holte tief Luft. Und wenn sie nun in Ohnmacht fallen würden, ich musste endlich seine Identität offenbaren.
»Es ist Hauke Jessen.«
Vater zupfte sich nervös am Bart, Dann erhellte sich seine Miene. »Das ist der Älteste von Peter Jessen, der sein Handelshaus …«
»Nein, Vater«, schnitt ich ihm energisch das Wort ab. »Er gehört nicht zu den Söhnen der Flensburger feinen Gesellschaft. Hauke Jessen ist die rechte Hand vom Neffen jenes Mannes, mit dem ihr mich verkuppeln wollt …«
»Kind, wie kannst du so etwas sagen?«, schnaubte Mutter, und ich befürchtete bereits, sie würde einen Hustenanfall erleiden.
»Er stammt wie Christian Hensen aus Saint Croix und arbeitet für Pit Hensen in dessen Kontorhaus.«
»Saint Croix? Aber das liegt auf den Westindischen Inseln! Dahin würde ich dich niemals gehen lassen!« Vater war aufgesprungen und starrte mich an wie einen Geist.
Ich lief rot an. Hauke hatte bislang kein Wort über eine gemeinsame Zukunft verloren. Was wusste ich schon? Vielleicht wollte er hierbleiben? Schließlich stammte sein Vater aus Kopenhagen.
»Er wird nicht dorthin zurückgehen. Er wird weiter für Pit Hensen arbeiten«, log ich.
»Aber, mein Mädchen, du kannst keinen seiner Angestellten heiraten«, rief Mutter entsetzt aus.
»Ich bin verloren«, jammerte Vater und ließ sich auf seinen Sessel fallen.
Mutter bekam nun den Hustenanfall, vor dem ich mich die ganze Zeit über gefürchtet hatte. Und ich wusste, dass ich ihr das nicht antun konnte. Ich fasste einen folgenschweren Entschluss. Ich wollte nicht schuld an Mutters Tod sein. Deshalb würde ich aber auch noch lange nicht Pit Hensen heiraten! So blieb mir nur, meinen Eltern etwas vorzuspielen. Etwas, das sie mir auch abnehmen würden.
Ich klopfte Mutter sanft auf den Rücken, bis der Anfall vorüber war. Ihr Gesicht glühte, als hätte sie hohes Fieber. Und ich befürchtete, dass das keine Einbildung war.
»Mutter, du gehörst ins Bett!«, befahl ich und reichte ihr meinen Arm, um sie in ihr Schlafzimmer zu begleiten.
»Aber nun sag schon, wirst du uns die Liebe tun und Pit Hensen heiraten?«, keuchte Mutter, kaum dass der letzte Husten verklungen war.
»Liebe Mutter, lieber Vater, verzeiht, aber ich kann mich im Augenblick nicht mit der Frage beschäftigen, ob ich Pit Hensen heiraten werde. Solange du krank bist, werde ich mich um dich kümmern und keine Ehe eingehen. Mit niemandem!«
Mutter sah mich aus großen Augen an. »Dann versprich mir, dass du Pit Hensen heiratest, sobald ich von euch gegangen bin.«
Mir war, als würde in meinem Bauch ein riesiger Stein wachsen. Ich wollte, dass Mutter ihren Frieden fand, doch nicht um den Preis meines Glücks.
»Gut«, raunte ich schwach.
»Schwöre es!«
»Ich schwöre es«, erwiderte ich kaum hörbar, während ich hinter meinem Rücken mit den Fingern ein Zeichen machte, das diesen Schwur auflöste. Dabei kamen mir die Tränen. Der Gedanke, dass Mutter bald von uns gehen würde, wollte mir das Herz brechen. Und doch musste ich alles vorbereiten, um meinem Schicksal an der Seite dieses Mannes zu entgehen.
»Dann bitte ich ihn, uns in den nächsten Tagen noch einmal seine Aufwartung zu machen, damit wir die Verlobung verkünden können«, sagte Vater, und zum ersten Mal seit Langem sah ich, wie ein Lächeln seinen Mund umspielte.
Freu dich nur nicht zu früh, ging es mir durch den Kopf, denn dass er bereit war, seinem Geschäft mein Glück zu opfern, würde ich ihm nie verzeihen!
»Nein, ich möchte Pit Hensen nicht sehen, solange ich mich um Mutters Wohl kümmere. Sie steht fortan im Mittelpunkt meines Trachtens«, erklärte ich entschlossen.
»Aber was ist, wenn der Arzt sich getäuscht hat und ich noch Jahre lebe?«
Nun war es meine Miene, über die ein Lächeln huschte. »Dann soll es so sein«, entgegnete ich in der stillen Hoffnung, dass Mutter, wenn sie schon kein langes Leben mehr vor sich hatte, zumindest noch ein paar Monate unter uns weilen würde, damit ich in Ruhe alles vorbereiten konnte für den Tag, an dem sie für immer gehen würde … Denn das würde auch der Tag sein, an dem ich mein Elternhaus für immer verlassen musste!