Kapitel 16
1
Kaeleer
Banard saß in dem privaten Ausstellungsraum an der Rückseite seines Ladens und trank Tee, während er auf die Lady wartete.
Er war ein begabter Handwerker, ein Künstler, der mit Edelmetallen, wertvollen Steinen und den Blutjuwelen arbeitete. Obgleich er ein Mann des Blutes war, der selbst keine Juwelen trug, ging er so behutsam und respektvoll mit ihnen um, dass er sich unter den Juwelen tragenden Angehörigen des Blutes in Amdarh überaus großer Beliebtheit erfreute. Er sagte immer: »Ich behandle ein Juwel, als hielte ich jemandes Herz in Händen.« Und er meinte es so.
Zu seinem Kundenstamm gehörten die Königin von Amdarh sowie ihr Gefährte, Prinz Mephis SaDiablo, Prinz Lucivar Yaslana, der Höllenfürst und Banards Lieblingskundin, Lady Jaenelle Angelline.
So kam es auch, dass er lange nach Geschäftsschluss noch hier saß. Wie er seiner Frau erklärt hatte: Wenn die Lady jemanden um einen Gefallen bat, na, das war doch beinahe so, als würde man ihr dienen, nicht wahr?
Um ein Haar hätte er seinen Tee verschüttet, als er aufblickte und die schattenhafte Gestalt im Türrahmen seines privaten Ausstellungsraums stehen sah. Sein Geschäft verfügte über starke Schutzzauber – Geschenke seiner Kunden, die dunkle Juwelen trugen. Niemand sollte in der Lage sein, so weit vorzudringen, ohne den Alarm auszulösen.
»Entschuldige vielmals, Barnard«, ertönte die weibliche Mitternachtsstimme. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Das hast du nicht, Lady«, log Banard, während er das Kerzenlicht über dem mit samt überzogenen Verkaufstisch verstärkte. »Ich war mit meinen Gedanken woanders.« Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, doch als er gewahrte, was sie in den Händen hielt, brach ihm der kalte Schweiß aus.
»Ich möchte, dass du etwas für mich anfertigst, wenn es geht.« Jaenelle betrat das Zimmer.
Banard schluckte. Sie hatte sich verändert, seitdem er sie vor ein paar Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Es lag nicht nur an der Witwenkleidung, die sie trug. Es war, als sei das Feuer, das schon immer in ihrem Innern gelodert hatte, nun näher an der Oberfläche, wo es ihr neuen Glanz verlieh, aber gleichzeitig auch tiefe Schatten warf. Er konnte die dunkle Macht spüren, die sie umgab – brutale Stärke, die von einer beunruhigenden Verletzlichkeit aufgewogen wurde.
»Das hier hätte ich gerne angefertigt.«
Auf dem Verkaufstisch erschien ein Zettel.
Etliche Minuten betrachtete Banard die Skizze, wobei er sich fragte, was er sagen sollte, wie er den Auftrag am höflichsten ablehnen könnte. Warum hatte ausgerechnet sie dieses Ding, das sie in Händen hielt?
Als verstünde sie den Grund für sein widerwilliges Schweigen, strich Jaenelle zärtlich über das spiralförmig gewundene Horn. »Er war der Kriegerprinz der Einhörner. Vor ein paar Tagen wurde er zusammen mit hunderten seiner Artgenossen niedergemetzelt, als Menschen nach Sceval kamen, um es zu ihrem Territorium zu machen.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich lernte ihn kennen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Er war der erste Freund, den ich in Kaeleer fand, und einer der besten. Das Horn hat er mir vermacht. Zum Andenken. Als eine Mahnung.«
Banard blickte erneut auf die Skizze. »Wenn ich vielleicht ein oder zwei Vorschläge machen dürfte, Lady?«
»Deshalb bin ich zu dir gekommen«, erwiderte Jaenelle, ein zitterndes Lächeln auf den Lippen.
Mit einem dünnen Kohlestift machte Banard Veränderungen an der Skizze. Nach einer Stunde, während der sie an den Feinheiten arbeiteten, waren schließlich beide mit dem Ergebnis zufrieden.
Als Banard wieder allein war, machte er sich noch eine Tasse Tee und saß eine Zeit lang da, betrachtete die Skizze und starrte auf das Horn, das zu berühren er sich noch nicht überwinden konnte.
Was sie angefertigt haben wollte, stellte eine passende Huldigung an einen geliebten Freund dar. Und es würde ein angemessenes Instrument für eine solche Königin sein.
2
Kaeleer
Saetan ging in dem Salon auf und ab, den Draca ihnen im Bergfried zur Verfügung gestellt hatte. Zur Verfügung gestellt? In den Draca sie eingesperrt hatte, kam der Wahrheit näher!
Lucivar erhob sich aus seinem Sessel und streckte Rücken und Schultern. »Wie kommt es, dass ich mich nicht ärgern soll, wenn du auf und ab gehst, aber sobald ich damit anfange, wirfst du mich in den Garten hinaus?«, erkundigte er sich trocken.
»Weil ich älter bin als du und einer höheren Kaste angehöre«, gab Saetan knurrend zur Antwort. Er machte eine Kehrtwendung und wanderte zur anderen Seite des Zimmers.
Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. So lange dauerte es, sein Opfer der Dunkelheit darzubringen. Es war egal, ob jemand anschließend Weiß oder Schwarz trug, so lange dauerte es. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.
Jaenelle war nun schon seit drei ganzen Tagen fort.
Er war ruhig geblieben, als der erste Morgen dämmerte, und nichts geschah, weil er sich gut daran erinnern konnte, wie zittrig er sich nach dem Opfer gefühlt hatte. Damals hatte er stundenlang in dem Altarraum der heiligen Stätte ausgeharrt, um sich an das Gefühl der schwarzen Juwelen zu gewöhnen.
Doch als die Sonne erneut unterging, war er zu dem Dunklen Altar im Bergfried gegangen, um herauszufinden, was mit Jaenelle geschehen war. Draca hatte ihm den Zutritt verwehrt und ihm streng ins Gedächtnis gerufen, welche Folgen es mit sich brachte, ein Opfer zu unterbrechen. Also war er in den Salon zurückgekehrt, um weiter abzuwarten.
Als dann aber auch die Mitternacht verstrich, hatte er zum zweiten Mal versucht, zum Dunklen Altar vorzudringen; doch sämtliche Gänge wurden von einem Schild blockiert, den nicht einmal Schwarz durchdringen konnte. In seiner Verzweiflung hatte er eine dringende Nachricht an Cassandra geschickt, da er hoffte, ihr würde es gelingen, Dracas Widerstand zu brechen. Cassandra hatte jedoch nicht geantwortet, und er hatte über dieses Zeichen geflucht, dass sie sich noch weiter von ihm zurückgezogen hatte.
Sie war müde, das konnte er verstehen. Er kam aus einem langlebigen Volk und hatte etliche Lebensspannen mehr hinter sich, als es die Norm war. Cassandra hingegen hatte hunderte von Jahren gelebt und mit ansehen müssen, wie das Volk, von dem sie abstammte, dem Niedergang anheim gefallen und letzten Endes von jüngeren Völkern abgelöst worden war. Als sie geherrscht hatte, war sie respektiert und verehrt worden.
Doch Jaenelle wurde geliebt.
Cassandra hatte also nicht auf seine Botschaft reagiert. Tersa hingegen schon.
»Etwas stimmt nicht«, fauchte Saetan, als er an dem niedrigen Couchtisch vorüberging, über den Tersa sich beugte und Puzzleteile zu Formen legte, die nur sie verstand. »So lange dauert es nicht.«
Tersa schob ein Puzzleteil an die richtige Stelle und strich sich das widerspenstige schwarze Haar aus dem Gesicht. »Es dauert so lange, wie es dauert.«
»Ein Opfer findet zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang statt.«
Nachdenklich legte Tersa den Kopf schief. »Das mag beim Prinzen der Dunkelheit so gewesen sein. Aber bei der Königin? « Sie zuckte mit den Schultern.
Saetan lief ein eiskalter Schauder über den Rücken. Wie würde Jaenelle sein, wenn sie erst einmal die Königin der Dunkelheit war?
Er ging Tersa gegenüber in die Hocke. Der Tisch stand zwischen ihnen. Sie beachtete den Höllenfürsten genauso wenig, wie sie Lucivar registrierte, der sich ihr auf leisen Sohlen näherte.
»Tersa.« Saetan versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Weißt du etwas, kannst du etwas sehen?«
Ihr Blick wurde glasig. »Eine Stimme in der Dunkelheit. Ein Heulen voll Freude und Schmerz, Wut und Triumph. Die Zeit naht, wenn alte Rechnungen beglichen werden.« Ihre Augen wurden wieder klarer. »Zügele deine Angst, Höllenfürst«, sagte sie streng. »Zu diesem Zeitpunkt wird sie ihr mehr schaden als alles andere. Zügele die Angst, oder du wirst sie verlieren. «
Saetan griff nach ihrem Handgelenk. »Ich habe keine Angst vor ihr, ich habe Angst um sie.«
Tersa schüttelte den Kopf. »Sie wird zu erschöpft sein, um den Unterschied zu bemerken. Alles, was sie spüren wird, wird Angst sein. Triff deine Wahl, Höllenfürst, und lebe damit. « Sie warf der geschlossenen Tür einen Blick zu. »Sie kommt.«
Als Saetan versuchte, sich schnell zu erheben, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Wieder einmal hatte er sein schwaches Bein überstrapaziert. Er zog rasch die Ärmel seiner Tunika glatt und strich sich das Haar zurück. Warum hatte er nicht gebadet und sich frische Kleidung angezogen? Ebenso vergeblich wünschte er sich, sein Herz möge aufhören, derart heftig zu schlagen.
Dann ging die Tür auf, und Jaenelle stand auf der Schwelle.
In den Sekunden, bevor seine rationale Vernunft sich verabschiedete, bemerkte er ihr Zögern und ihre Unsicherheit. Gleichzeitig fiel ihm auf, wie viel Schmuck sie trug.
Lorn hatte ihr einst dreizehn schwarze Juwelen geschenkt. Ein ungeschliffenes Juwel war groß genug, um daraus einen Anhänger und einen Ring herzustellen, wobei kleinere Splitter übrig blieben, die man zu unterschiedlichen Zwecken benutzen konnte. Sie hatte insgesamt die Entsprechung von sechs ihrer dreizehn Juwelen mitgenommen, als sie aufbrach, um ihr Opfer darzubringen. Sechs schwarze Juwelen, die auf irgendeine Weise in etwas Dunkleres als Schwarz verwandelt worden waren.
Mitternachtsschwarz.
Kein Wunder, dass sie so lange gebraucht hatte, um bis zu ihrer vollen Kraft hinabzusteigen. Er war nicht einmal annähernd in der Lage, das Ausmaß an Macht abzuschätzen, das ihr nun zur Verfügung stand. Seit dem Tag, an dem er ihr begegnet war, hatte er gewusst, dass dies passieren würde. Sie reiste nun auf Straßen, von denen sie alle nicht einmal die leiseste Vorstellung hatten.
Was würde aus ihr werden?
Triff deine Wahl, Höllenfürst, und lebe damit.
Der Gedanke erschreckte ihn in seiner ganzen Klarheit, doch mit einem Mal fühlte er sich frei zu handeln.
Der Höllenfürst trat vor und bot ihr seine rechte Hand an.
Gleichzeitig wild und scheu schlüpfte Jaenelle in das Zimmer, zögerte einen Augenblick und legte dann ihre Hand in die seine.
Er zog sie in seine Arme und vergrub das Gesicht in ihrem Nacken. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, sagte er mit einem leisen Grollen in der Stimme.
Jaenelle strich ihm über den Rücken. »Warum?« Sie klang ernstlich verblüfft. »Du hast das Opfer ebenfalls dargebracht und weißt …«
»Normalerweise dauert es nicht drei Tage!«
»Drei Tage!« Sie wich erschrocken zurück, wobei sie gegen Lucivar stolperte, der hinter sie getreten war. »Drei Tage?«
»Müssen wir von nun an das Protokoll befolgen?«, wollte Lucivar wissen.
»Red keinen Unsinn«, versetzte Jaenelle ärgerlich.
Mit einem Grinsen legte Lucivar den linken Arm um sie, sodass sie ihre Arme nicht mehr bewegen konnte, und hielt Jaenelle fest an seine Brust gedrückt. »In dem Fall schlage ich vor, dass wir sie zwecks einer kleinen Erfrischung in den nächsten Brunnen tauchen.«
»Das könnt ihr nicht tun!«, stieß Jaenelle hervor und wand sich in seinen Armen.
»Warum nicht?« Lucivar klang neugierig.
Der Grund, den sie ihm nannte, war einfallsreich, aber anatomisch gesehen unmöglich.
Da Saetan Gelächter nicht diplomatisch genug erschien – selbst wenn es von dem Umstand ausgelöst wurde, dass die mitternachtsschwarzen Juwelen Jaenelle nicht verändert hatten – , biss er die Zähne zusammen und schwieg.
Da rührte Tersa sich endlich und trat auf sie zu. Kopfschüttelnd versetzte sie Jaenelle einen leichten Klaps. »Jammern hilft da nicht. Du hast nun die Verantwortung einer Königin auf dich genommen, und Teil deiner Pflichten ist es, dich um die Männer zu kümmern, die zu dir gehören.«
»Wunderbar«, erwiderte Jaenelle bissig. »Wann darf ich sie also verprügeln?«
»Ts, ts, ts«, machte Tersa. »Es sind Männer. Sie dürfen Aufhebens um dich machen und dich umsorgen.« Dann tätschelte sie lächelnd Jaenelles Wange. »Insbesondere Kriegerprinzen sind auf den Kontakt mit ihrer Königin angewiesen. «
»Oh«, sagte Jaenelle säuerlich. »Na gut.«
Tersa legte sich auf das Sofa.
»Also gut, mürrische kleine Katze, du hast die Wahl«, erklärte Lucivar.
»Nicht schon wieder eine deiner Wahlen! Deine Alternativen sind immer grässlich«, stöhnte Jaenelle und ließ sich theatralisch gegen ihn sinken.
»Beinhaltet eine der Alternativen Nahrung und Schlaf?«, erkundigte sich Saetan.
»Und ein Bad?«, fügte Jaenelle mit gerümpfter Nase hinzu.
»Die eine schon«, erwiderte Lucivar. Er ließ Jaenelle los.
»Dann möchte ich gar nicht erst wissen, was die andere ist.« Jaenelle rieb sich den Rücken. »Deine Gürtelschnalle kratzt ziemlich unangenehm.«
»Deine Krallen auch.«
Saetan massierte sich die Schläfen. »Genug, Kinder!«
Erstaunlicherweise hörten die beiden tatsächlich auf. Ein goldenes und ein saphirblaues Augenpaar ruhten einen Moment lang auf ihm, bevor Jaenelle und Lucivar Arm in Arm das Zimmer verließen.
»Du hast dich gut geschlagen, Saetan«, meinte Tersa leise.
Saetan griff nach einer Decke, die über einem Sessel hing, und breitete sie über Tersa aus. Dann strich er ihr das Haar zurück. »Ich hatte ja auch Hilfe«, entgegnete er. Er lachte sanft, als sie nach seiner Hand schlug. »Männer dürfen Aufhebens um dich machen und dich umsorgen. Schon vergessen? «
»Ich bin keine Königin.«
Er wachte über sie, bis sie eingeschlafen war. »Nein, aber du bist eine hoch begabte, ganz außergewöhnliche Lady.«
3
Kaeleer
Saetan versuchte sich trotz des wild schlagenden Herzens und der verschwitzten Handflächen einzureden, er sei nicht nervös, als er den großen steinernen Raum betrat. Draca hatte ihm erklärt, dass hier die geladenen Gäste warteten, bis sie zum Dunklen Thron gerufen wurden. Außer den mannshohen Kerzenständern aus Ebenholz und ein paar langen Tischen an den Wänden, auf denen verschiedene Getränke standen, gab es in dem Zimmer keinerlei Einrichtungsgegenstände.
Das war auch gut so, denn es hätte die verwandten Wesen nur unnötig angespannt, sich an Stühlen vorbeizuschlängeln, die für Menschen geschaffen waren. Außerdem benötigten einige Arten, wie zum Beispiel die kleinen Drachen von den Fyreborn-Inseln, viel Platz. Mit wachsendem Unbehagen stellte Saetan fest, dass sich sämtliche verwandte Wesen von den menschlichen Angehörigen des Blutes fern hielten; nicht nur diejenigen Tiere, die schon immer zurückgezogen oder ganz ohne Kontakt zur Außenwelt gelebt hatten. Dabei handelte es sich bei den anwesenden Menschen um solche, mit denen die verwandten Wesen befreundet waren – oder es zumindest bis zu den Gewaltakten gewesen waren. Es sagte viel über die Hingabe der Tiere an Jaenelle, dass die Tiere sich überhaupt in diesem geschlossenen, beengten Raum mit den Menschen aufhielten.
Das war die eine Sorge. Ebon Rih war das Territorium des Bergfrieds in Kaeleer – und somit von jetzt an Jaenelles Territorium. Dass sie über Ebon Rih herrschte, würde den verwandten Wesen nicht helfen oder ihre Territorien vor menschlichen Eindringlingen schützen. Traditionellerweise hatte die Königin des Schwarzen Askavi großen Einfluss in allen Reichen, doch würden dieser Einfluss sowie die angeborene Vorsicht der Angehörigen des Blutes, keine reife dunkle Macht gegen sich aufzubringen, tatsächlich ausreichen? Würden sich die Narren in Kaeleers Dunklem Rat überhaupt bewusst sein, mit wem sie es zu tun hatten?
Eine weitere Sorge bestand in der Frage, wer zu Jaenelles Hof gehören würde. Er hatte immer angenommen, dass der Hexensabbat und Jaenelles männliche Freunde den Ersten Kreis bilden würden. Es war durchaus schon vorgekommen, dass Königinnen am Hof einer stärkeren Königin dienten, da Bezirksköniginnen Provinzköniginnen dienten, die wiederum Territoriumsköniginnen gehorchten. Dies war das Machtnetz, das die Einheit der Territorien gewährte.
Doch Königinnen, die selbst ein Territorium regierten, dienten nicht an anderen Höfen. Sie waren das endgültige Gesetz ihres Landes und unterwarfen sich niemandem.
Während Jaenelle sich in der vergangenen Woche von ihrem Opfer erholt hatte, hatten die Königinnen ihres Hexensabbats ebenfalls der Dunkelheit ihr Opfer dargebracht. Und jede Einzelne war zur neuen Königin ihres jeweiligen Territoriums erwählt worden. Die ehemaligen Königinnen hatten abgedankt und Stellungen an den neu gegründeten Höfen angenommen.
Auch die jungen Männer waren mittlerweile an die Macht gekommen. Chaosti war nun der Kriegerprinz der Dea al Mon und noch dazu Gabrielles Gefährte. Khardeen, Morghanns Gefährte, war der herrschende Krieger von Maghre, seinem Heimatdorf. Nachdem Aaron den Ring der Hingabe von Kalush entgegengenommen hatte, war er der Kriegerprinz von Tajrana, der Hauptstadt von Nharkhava geworden. Sceron und Elan waren die Kriegerprinzen von Centauran und Tigerlan und dienten im Ersten Kreis von Astars beziehungsweise Grezandes Höfen. Jonah diente als Erster Begleiter seiner Schwester Zylona, während Morton als Erster Begleiter seiner Cousine Karla diente.
Als im Korridor hinter dem Höllenfürsten Frauenstimmen erklangen, ging er rasch auf den Tisch zu, an dem sich Lucivar, Aaron, Khary und Chaosti versammelt hatten. Geoffrey und Andulvar nickten ihm zum Gruß zu, waren jedoch in ein Gespräch mit Mephis und Prothvar vertieft. Sceron, Elan, Morton und Jonah redeten mit einem winzigen Kriegerprinzen, den Saetan noch nie zuvor gesehen hatte. Der Erste Begleiter oder Gefährte der kleinen Katrine?
»Der Schneider hat hervorragende Arbeit geleistet«, wandte Saetan sich an Lucivar und nahm ein Glas erwärmten Yarbarah entgegen.
»Mhm.« Die Antwort klang wenig begeistert, doch einen Augenblick später schüttelte Lucivar lachend den Kopf. Er legte sich die Hand aufs Herz. »Ich habe den wackeren Lord Aldric vor eine ziemliche Herausforderung gestellt, der – wie er mir liebend gerne mitteilte, während er wild mit unzähligen Stecknadeln herumhantierte – noch nie zuvor beim Entwerfen formeller Kleidung Öffnungen für Flügel berücksichtigen musste.«
»Tja, aber nun, da er deine Maße hat …«, setzte Saetan an.
»Oh, nein!« Lucivar schüttelte den Kopf und setzte eine Miene auf, die der Höllenfürst nur zu gut von seinen eigenen Besuchen bei dem guten Lord Aldric kannte. »›Jeder Stoff hat seine ganz besonderen Eigenschaften, Prinz Yaslana‹«, sagte Lucivar, indem er die düstere Stimme des Schneiders nachahmte. »›Wir müssen herausfinden, wie jeder einzelne Stoff um diese wunderbaren Ergänzungen ihres Körperbaus fällt.‹«
Khary, Aaron und Chaosti husteten gleichzeitig.
»Vielleicht wollte er bloß deine Flügel streicheln«, meinte Karla, die sich zu ihnen gesellte. Sie ließ eine Hand über Saetans Schulter gleiten und lehnte sich gegen seinen Rücken, wobei sich ihm ihr spitzes Kinn in die andere Schulter bohrte. »Sie sind beeindruckend. Stimmt es übrigens, dass die Länge anderer Teile deiner Anatomie« – ihr eisblauer Blick streifte Lucivars Lendengegend – »in direktem Verhältnis zur Spannweite deiner Flügel steht?«
Lucivar machte eine obszöne Handbewegung.
»Ein wenig zart besaitet, wie? Und dennoch so überhaupt kein Sinn für Zärtlichkeiten. Ach, herrje. Küsschen!«
»Halt den Mund, Karla.« Lucivar entblößte die Zähne, als er sie angrinste.
Karla lachte. »Es tut so gut, wieder in Gesellschaft von euch Griesgramen zu sein. Vor ein paar Tagen sagte ich ›Küsschen‹, und alle versuchten, sich eins zu holen!« Sie erschauderte übertrieben, um dann Saetan das Haar zu zerzausen und sein wütendes Knurren gut gelaunt zu übergehen. »Weißt du was, Saetan?«
»Was?«, kam es argwöhnisch vom Höllenfürsten, der an seinem Yarbarah nippte.
Karla bedachte ihn mit einem strahlenden, schalkhaften Lächeln. »Da du der Kriegerprinz von Dhemlan bist und das Territorium regierst, und ich die Königin von Glacia und jenes Territorium regiere, wirst du von nun an immer mit mir zu verhandeln haben, wenn Dhemlan mit Glacia zu tun hat.«
Saetan verschluckte sich.
»Furchtbarer Gedanke, nicht wahr? Jetzt musst du mit allem umgehen, was du mir beigebracht hast!«
»Mutter der Nacht«, stieß Saetan keuchend hervor, während Karla ihm das Glas aus der Hand nahm und ihm auf den Rücken klopfte.
»Was hast du denn mit Onkel Saetan angestellt?«, erkundigte sich Morghann und griff nach dem Glas Wein, das Khary ihr reichte.
»Habe ihm bloß in Erinnerung gerufen, dass wir jetzt die Königinnen sind, mit denen er es künftig zu tun haben wird.«
»Wie ungerecht, Karla!«, rügte Kalush, die zu ihnen trat. »Du hättest ihn behutsam darauf vorbereiten sollen, anstatt ihn einfach so zu überfallen.«
»Wie denn?« Karla legte die Stirn in Falten. »Außerdem wusste er es bereits. Oder etwa nicht?«
Saetan nahm ihr sein Glas ab und leerte es in einem Zug, um nicht antworten zu müssen. In all den Stunden, in denen er sich mit Geoffrey, Andulvar und Mephis über die Folgen unterhalten hatte, die es nach sich ziehen würde, dass diese besondere Gruppe Königinnen zu diesem Zeitpunkt an die Macht gekommen war, hatte niemand an das Offensichtlichste gedacht: dass er mit ihnen als Königinnen ihrer Territorien Umgang pflegen würde.
Da ertönte ein Gong und hallte durch den ganzen Bergfried. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann, nach einer Pause, ein viertes Mal.
Vier Mal für die vier Seiten des Blutdreiecks, dessen vierte Seite sich im Innern der drei anderen Seiten befand. Wie die drei Männer – Haushofmeister, Hauptmann der Wache und Gefährte –, die ein starkes, vertrautes Dreieck um eine Königin bildeten.
An der Rückwand des Raums öffnete sich eine große Flügeltür nach außen und gab den Blick auf eine dunkle Leere frei.
Saetan achtete nicht auf die zögerliche Aufregung um ihn her, sondern stellte sein Glas beiseite, um sich in Ruhe das Haar glatt zu streichen und seine neue Kleidung zu richten. Da bei Umzügen laut Protokoll die helleren Juwelen in aufsteigender Rangfolge vor den dunkleren hergingen, erst alle Männer, dann die Frauen, würde er den Schluss der männlichen Reihe bilden.
Deshalb fiel ihm nicht auf, dass sich niemand in Bewegung gesetzt hatte, und alle Blicke auf ihn gerichtet waren, bis Lucivar ihn anstieß.
»Laut Protokoll …«
»Vergiss das Protokoll«, versetzte Karla lakonisch. »Du zuerst. «
Als alle nickten, um ihr Einverständnis zu zeigen, ging er langsam auf die Flügeltür zu. Lucivar und Andulvar schritten neben ihm her. Mephis, Geoffrey und Prothvar folgten.
»Was befindet sich da drin?«, wollte Lucivar leise wissen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Saetan. »In diesem Teil des Bergfrieds war ich noch nie zuvor.« Er warf Geoffrey einen Blick über die Schulter zu, doch der andere schüttelte den Kopf.
An der Türschwelle blieben sie stehen. Das Licht aus dem Raum hinter ihnen ließ die ersten breiten Treppenstufen erkennen, die in die Tiefe führten.
Wir werden uns alle zusammen das Genick brechen, wenn wir versuchen, diese Treppe im Dunkeln hinabzugehen.
Er hatte den Gedanken kaum beendet, als kleine, in den Stein eingebettete Funken zu glühen begannen und immer heller und heller wurden.
Wie Sternenwirbel, dachte Saetan, dem der Atem stockte. Und wie das Gedicht, das Geoffrey ihm vor Jahren zitiert hatte, und das von den gewaltigen Drachen handelte, die einst die Angehörigen des Blutes erschaffen hatten. In einer Spirale schrauben sie sich abwärts in die Dunkelheit und fangen die Sterne mit ihrem Schweif.
»Stimmt etwas nicht?«, flüsterte Lucivar.
Der Höllenfürst schüttelte den Kopf und ging langsam nach unten, dankbar für die massive eyrische Kraft, die ihn zu beiden Seiten begleitete.
Als er die unterste Stufe erreichte, schwang eine weitere Doppeltür nach innen auf. Der dahinter liegende, mitternachtsschwarze Saal wurde allmählich heller, Dunkelheit wich der Dämmerung. Das Licht breitete sich langsam von ihrem Ende des Raums zur gegenüberliegenden Seite aus. Doch als Saetan weiterging, fiel ihm auf, dass es die Decke nicht erreichte. In etwa sechs Metern Höhe wurde das Licht von Dämmerung abgelöst, die weiter oben wieder der Dunkelheit Platz machte.
Da erhellte sich nach und nach die Rückwand des Saals von beiden Seiten. So hoch das Licht reichte, wurde die Wand von einem Flachrelief eingenommen, das unendlich feine Details aufwies. Eine Traumlandschaft, eine Nachtlandschaft, Gestalten, die sich aus dem Dunkel erhoben und wieder darin verschwanden. Gestalten verwandter Wesen. Menschliche Gestalten. Sich vermischend. Ineinander verschlungen. Wild und schön. Hässlich und sanft.
Endlich erreichte das Licht die Mitte der Rückwand und den Dunklen Thron. An drei Seiten verliefen drei breite Stufen um das Podest, auf dem ein einfacher Ebenholzstuhl mit hoher, verzierter Lehne stand. Die Schlichtheit des Throns bewies, dass die hier herrschende Macht nicht auf prunkvollen Schmuck oder sonstige Pracht angewiesen war – zumal der Herrschersitz auf der rechten Seite von einem gewaltigen Drachenkopf beschützt wurde, der sich aus dem Stein zu erheben schien.
»Mutter der Nacht!«, entfuhr es Andulvar mit gedämpfter Stimme. »Sie hat eine Skulptur von Lorns Kopf erschaffen. «
»Beim Feuer der Hölle«, flüsterte Lucivar. »Woher hatte sie bloß all die ungeschliffenen Juwelen für die Schuppen?«
Zitternd schüttelte Saetan den Kopf. Er brachte kein Wort hervor. Vielleicht konnte Andulvar von seinem Platz aus die Dunkelheit hinter dem erhellten Flachrelief nicht sehen; eine Dunkelheit, die auf einen weiteren weitläufigen Saal hinter diesem verwies. Vielleicht war er nicht in der Lage, das schillernde Feuer in den Drachenschuppen zu erkennen. Hatte er am Ende den Klang jener uralten, machtvollen Stimme vergessen? Vielleicht …
Langsam öffneten sich die Augenlider. Der Blick aus den Mitternachtsaugen ließ sie erstarren.
Geoffrey klammerte sich an Saetans Arm fest, wobei seine Finger sich dem Höllenfürsten schmerzhaft ins Fleisch bohrten. »Mutter der Nacht, Saetan!« Geoffreys Atem ging stoßweise. »Der Bergfried ist seine Höhle. Er war die ganze Zeit über hier!«
Er hatte nicht erwartet, dass Lorn so groß war. Wenn der Körper in Proportion zu den Ausmaßen des Kopfes stand …
Drachenschuppen. Bei den Juwelen handelte es sich um Drachenschuppen, die zu harten, durchsichtigen Edelsteinen geworden waren. Hatte es Drachen in den jeweiligen Juwelenfarben gegeben oder waren sie alle von schillerndem Silbergold gewesen, das sich dann farblich der Stärke des jeweiligen Empfängers anpasste?
Behutsam berührte Saetan das schwarze Juwel an seinem Hals. Sein rotes Geburtsjuwel und das schwarze waren ungeschliffene Juwelen gewesen. Gab es irgendwo an dem gewaltigen Körper, der sich in der anschließenden Halle befand, zwei Stellen, an denen die entsprechenden Schuppen fehlten?
Auf einmal verstand er, warum den ungeschliffenen Juwelen, die Jaenelle geschenkt bekommen hatte, immer ein Hauch von Männlichkeit angehaftet hatte.
Lorn. Der große Prinz der Drachen. Der Hüter des Bergfrieds.
Da Saetan nicht weiter über die Macht nachdenken wollte, die jenem uralten Körper innewohnen musste, wandte er sich an Geoffrey: »Seine Königin, wie hieß seine Königin?«
»Draca«, erklang eine zischelnde Stimme in ihrem Rücken.
Als sie sich umdrehten, fiel ihr entgeisterter Blick auf die Seneschallin des Bergfrieds.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem matten Lächeln. »Sie hieß … sss … Draca.«
Während Saetan in ihre Augen starrte, fragte er sich, welch raffinierter Zauberschleier sich gehoben hatte, sodass es ihm jetzt gelang, etwas zu sehen, das er schon vor langer Zeit hätte erraten sollen. Ihr Alter, ihre Stärke, das Unbehagen, das so viele in ihrer Gegenwart verspürten. Da fiel ihm etwas anderes ein: »Weiß es Jaenelle?«
Draca stieß ein Geräusch aus, das man als Lachen hätte deuten können. »Sie hat es … sss … schon immer gewusst, Höllenfürst.«
Saetan verzog das Gesicht, räumte dann jedoch seine Niederlage so würdevoll wie möglich ein. Selbst wenn er darauf gekommen wäre, Jaenelle zu fragen, hätte er wahrscheinlich keine Antwort erhalten. Sie war sehr gut darin, Geheimnisse für sich zu behalten.
»Sind das Verwandte von euch?«, wollte Lucivar wissen, indem er auf die Fyreborn-Drachen wies, die Lorn ehrfürchtig anstarrten.
»Ihr alle … sss … seid Verwandte von uns«, erwiderte Draca und warf Lucivars schwarzgrauem Juwel einen bedeutsamen Blick zu. »Wir haben die Angehörigen des … sss … Blutes erschaffen. Sämtliche Angehörige des Blutes … sss … Deshalb seid ihr … sss … alle unter der Haut Drachen.«
Saetan sah zu den verwandten Wesen hinüber, die immer näher rückten. »Du hast das selbstverständlich gewusst.« Dracas Augen glitzerten ihn vergnügt an.
»Nicht ich … sss … sagte das, Höllenfürst, sondern … sss … Jaenelle.« Draca blickte an ihnen vorüber zu dem Dunklen Thron.
Alle drehten sich gleichzeitig um.
Gelassen saß Jaenelle auf dem Ebenholzstuhl. Sie trug ihr schwarzes Kleid aus Spinnenseide und ihre mitternachtsschwarzen Juwelen. Ihr langes goldenes Haar war nach hinten gekämmt und gab den Blick auf ihr Gesicht frei, welches endlich in seiner ganz einzigartigen Schönheit erstrahlte.
»Es ist an der Zeit, dass ich meinen Pflichten als Königin des Schwarzen Askavi nachkomme«, verkündete Jaenelle. Obgleich sie nicht laut sprach, war ihre Stimme bis in den letzten Winkel des Saals zu vernehmen. »Es ist an der Zeit, dass ich meinen Hofstaat erwähle.«
Atemlose Spannung legte sich über die Anwesenden.
Saetan gab sich Mühe, bedächtig und langsam zu atmen. Seit Tagen versuchte er sich selbst zu überzeugen, dass der Dienst bei Hofe nur etwas für die Jungen und Kräftigen war, dass er nie vorgehabt hatte, formell zu dienen. Er sagte sich, dass sein unausgesprochener Dienst an ihr ausreichte, und dass er bereits die Erfahrung gemacht hatte, im Dunklen Hof des Schwarzen Askavi zu dienen, als er Cassandras Gefährte gewesen war.
Doch in Wirklichkeit war dem nicht so, denn ohne, dass er es näher zu benennen wusste, war es damals nicht der Dunkle Hof gewesen. Jedenfalls nicht so, wie dieser hier sein würde.
Und mit einem Mal ging ihm auf, weshalb Cassandra sich von ihnen zurückgezogen hatte.
Dies war der Hof, auf den er gewartet hatte, um darin zu dienen. Dies war der Hof, nach dem er sich immer gesehnt hatte. Er wollte der Tochter seiner Seele dienen, die endlich in den Vollbesitz ihrer dunklen, glorreichen Macht gekommen war.
Hexe. Der lebende Mythos. Fleisch gewordene Träume.
Dies war sein Traum.
Und ebenso Lucivars, stellte er fest, als er das Feuer in den Augen seines Sohns erblickte. Ja, natürlich hatte Lucivar sich nach einer Königin verzehrt, die seiner Kraft etwas entgegenzusetzen hatte.
Jaenelles Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Prinz Chaosti, willst du in meinem Ersten Kreis dienen?«
Anmutig ließ sich Chaosti auf ein Knie sinken, eine Faust über dem Herzen. »Ja, ich will.«
Saetan runzelte die Stirn. Wie sollte Chaosti in Jaenelles Erstem Kreis dienen, wenn er bereits eine Stellung in Gabrielles Erstem Kreis angenommen hatte?
»Prinz Kaelas, willst du in meinem Ersten Kreis dienen?«
*Ja, ich will.*
Die Verwirrung des Höllenfürsten stieg, während Jaenelle einen Namen nach dem anderen aufrief: Mephis, Prothvar, Aaron, Khardeen, Sceron, Jonah, Morton, Elan. Ladvarian, Mistral, Rauch, Sonnentänzer.
Und dann waren Andulvar, Lucivar und er die einzigen Männer, die noch standen. Mit jeder Faser seines Körpers harrte er ihrer nächsten Worte.
»Lady Karla, willst du im Ersten Kreis dienen?«
»Ja, ich will.«
Saetan wurde von Entsetzen gepackt. Im nächsten Augenblick empfand er einen Schmerz, der so stark war, dass der Höllenfürst glaubte, vergehen zu müssen. Sie hatte ihm nicht verziehen. Jedenfalls nicht vollständig.
»Lady Mondschatten, willst du im Ersten Kreis dienen?«
*Ja, ich will.*
Er musste hart schlucken; er konnte, er durfte sich nicht anmerken lassen, wie verletzt er war! Doch wenn sie Mephis und Prothvar erlaubte zu dienen, warum dann nicht auch Andulvar? Warum nicht Lucivar, der ihr ohnehin schon diente?
Die übrigen Namen hörte er kaum noch: Gabrielle, Morghann, Kalush, Grezande, Sabrina, Zylona, Katrine, Astar und Ash. Weiter und weiter, bis sämtliche Hexen eine Stellung in ihrem Hofstaat angenommen hatten.
Draca und Geoffrey konnten ihr nicht formell dienen, weil sie dem Bergfried selbst dienten. Dieses Wissen war jedoch nur ein schwacher Trost.
Er konnte spüren, wie Lucivar neben ihm zitterte.
Nach kurzem Schweigen erhob Jaenelle sich und kam die drei Treppenstufen herunter. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie ihn ansah. Er konnte ihren Zorn fühlen, als sie leicht seine inneren Barrieren berührte.
Sie schob sich den linken Ärmel empor und schnitt sich ins Handgelenk.
Aus der Wunde quoll Blut hervor.
»Prinz Lucivar Yaslana, willst du mir als Erster Begleiter und Kriegerprinz von Ebon Rih dienen?«
Einen Augenblick lang starrte Lucivar sie nur an, dann schritt er langsam auf sie zu. »Ja, ich will.« Er sank auf die Knie, griff mit der rechten Hand nach ihrer Linken und legte den Mund auf die Wunde.
Völlige Hingabe. Ein Leben lang. Indem Lucivar ihr Blut trank, gab er ihr jeden Teil seines Wesens, und dies für alle Zeit. Sie würde ihn beherrschen, seinen Körper, seine Seele, seinen Geist und seine Juwelen.
Es dauerte nicht lange – ein Leben lang –, da löste Lucivar den Mund wieder von der Wunde, erhob sich und trat benommen zur Seite.
Nicht verwunderlich, dachte Saetan. Selbst von dieser Entfernung aus konnte er die Hitze und Kraft spüren, die durch Jaenelles Venen flossen.
»Prinz Andulvar Yaslana, willst du mir als Hauptmann der Wache dienen?«
»Ich will«, sagte Andulvar, ging auf sie zu und sank auf die Knie, um ihr Lebensblut zu trinken.
Als Andulvar beiseite getreten war, fiel Jaenelles Blick auf Saetan. »Prinz Saetan Daemon SaDiablo, willst du mir als Haushofmeister des Dunklen Hofs dienen?«
Bedächtig näherte Saetan sich ihr. In ihren Augen suchte er nach einem Hinweis darauf, welche Antwort sie tief in ihrem Innern wirklich wünschte. Da er die Frage nicht laut aussprechen konnte, wandte er sich zögernd an ihren Geist: *Bist du dir sicher?*
*Natürlich bin ich mir sicher*, entgegnete sie schroff. *Manchmal bist du wirklich ein Dummkopf, Saetan! Ich habe euch drei nur deshalb nicht früher gefragt, damit ihr wisst, worauf ihr euch einlasst, bevor ihr Ja sagt.*
*In dem Fall …* Er sank auf die Knie. »Ja, ich will.«
Kurz bevor sein Mund sich über der Wunde schloss und seine Zunge zum ersten Mal ihr reifes Blut in all seiner Kraft schmeckte, fügte Jaenelle hinzu: *Abgesehen davon: wer sonst wäre gewillt, Schiedsrichter zu spielen, wenn es bei Hof Streit gibt?*
Er bedachte sie mit einem scharfen Blick und trank von ihrem Blut. Nachthimmel, tiefe Erde, der Gesang der Gezeiten, die sättigende Dunkelheit eines weiblichen Körpers. Und Feuer. Er schmeckte all das und genoss es, während ihr Blut durch ihn hindurchfloss, in ihm loderte und ihn Jaenelle zu Eigen machte.
Er hob die Lippen und strich mit einem Finger über die Wunde, um sie mithilfe der Heilkunst zu verschließen und die Blutung zu stillen. *Die Wunde muss vollständig geheilt werden.*
*Bald.* Sie entzog ihm die Hand und kehrte auf den Dunklen Thron zurück.
Nein, entschied er, als er sich erhob und hörte, wie die anderen es ihm gleichtaten, dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um männliche Sturheit an den Tag zu legen. Außerdem würde die Zeremonie ohnehin bald vorbei sein.
*Fällt dir irgendetwas Seltsames an diesem Hof auf?*, wollte Lucivar wissen, als sich erneut Anspannung über den Saal legte.
Überrascht ließ Saetan den Blick über all die ernsten, entschlossenen Gesichter schweifen. *Seltsam? Nein. Es sind dieselben …*
Da traf es ihn endlich. Er hatte bereits darüber nachgegrübelt, war dann jedoch so verletzt gewesen, von Jaenelle übergangen worden zu sein, dass er es ganz vergessen hatte: Der Hexensabbat hatte sich dem Ersten Kreis angeschlossen, dabei war dies unmöglich, weil es sich ausnahmslos um Territoriumsköniginnen handelte …
Karla trat nach vorne. »Meine Königin. Darf ich sprechen? «
»Du darfst sprechen, meine Schwester«, erwiderte Jaenelle feierlich.
… und Territoriumsköniginnen dienten niemandem.
Kaum gezügeltes Feuer glühte in Karlas eisblauen Augen, als sie triumphierend verkündete: »Glacia unterwirft sich dem Schwarzen Askavi!«
Saetans Herz setzte aus. Mutter der Nacht! Karla machte Jaenelle zur Herrscherin über das Territorium, das eigentlich sie selbst reagieren sollte!
Gabrielle trat vor. »Dea al Mon unterwirft sich dem Schwarzen Askavi!«
»Scelt unterwirft sich dem Schwarzen Askavi!«, rief Morghann.
»Nharkhava!« »Dharo!« »Tigerlan!« »Centauran!«
*Sceval!* *Arceria!* *Die Fyreborn-Inseln!*
Jemand stieß ihn von hinten an und brach auf diese Weise sein verblüfftes Schweigen. »Dhemlan unterwirft sich dem Schwarzen Askavi!«
Er zuckte zusammen, als Andulvar brüllte: »Askavi unterwirft sich dem Schwarzen Askavi!«
Schließlich verhallten die Namen der Territorien in dem Saal, die von nun an im Schatten des Schwarzen Askavi standen. Da drang eine leise Stimme in ihre Geister.
*Arachna unterwirft sich dem Schwarzen Berg.*
»Mutter der Nacht«, flüsterte Saetan. Er fragte sich, ob die Traumweberinnen ihre Verworrenen Netze an der Hallendecke spannen.
»Ich nehme an«, meinte Jaenelle leise.
In gespieltem Mitgefühl berührte Lucivar kurz Saetans Schulter. »Soll ich dem Haushofmeister meine Glückwünsche oder mein Beileid aussprechen?«, fragte er leise.
»Mutter der Nacht.« Saetan taumelte einen Schritt zurück. Von hinten packten ihn Hände und hielten ihn aufrecht.
Lucivar stieß ein kaum hörbares Lachen aus, als er um Saetan herumschlüpfte. Er erklomm die Stufen, die zum Thron führten, und streckte die rechte Hand aus. Jaenelle erhob sich, und legte ihre linke Hand auf seine Rechte. Die Menge teilte sich, und der neue Hof bildete einen Gang, durch den der Erste Begleiter seine Königin aus dem Saal führen konnte.
Saetan wollte ihnen folgen, wurde jedoch von etwas zurückgehalten. Er bedeutete Andulvar und den anderen mit einem Wink, ohne ihn vorzugehen. Zu sehen, wie die verwandten Wesen sich zaghaft unter die Menschen mischten und ihnen erneut ihr Vertrauen schenkten, schnürte ihm die Kehle zu.
Allmählich leerte sich der Saal. Draca und Geoffrey waren die Letzten, die den Raum verließen.
Als es keinerlei Ausflüchte mehr gab, wandte Saetan sich zu Lorn um. Während sie einander anstarrten, legte sich von außen eine sanfte Traurigkeit über Saetan, eine Traurigkeit, die umso schrecklicher war, weil sie von Verständnis umhüllt wurde. Da wusste er, weshalb Lorn sich nicht zu den anderen gesellt hatte. Jene Traurigkeit hatte er selbst verspürt, wenn Bittsteller vor ihm standen, die panische Angst vor dem Prinzen der Dunkelheit, dem Höllenfürsten hatten. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich nach Liebe und Freundschaft sehnte, und sie einem verweigert wurden, weil man war, was man war.
Er betastete sein schwarzes Juwel und sagte: »Danke.«
*Du hast … sss … guten Gebrauch von meinem Geschenk gemacht. Du hast … sss … gut gedient.*
Saetan dachte an all das, was er im Laufe seines Lebens getan hatte. All die Fehler, all die Dinge, die er bereute. All das Blut, das er vergossen hatte. »Habe ich das?«, wollte er leise wissen, wobei die Frage mehr an sich selbst als an Lorn gerichtet war.
*Du hast die Dunkelheit geehrt. Du hast … sss … die Lebensweise des Blutes respektiert. Du hast … sss … immer verstanden, was die Angehörigen des Blutes … sss … sein sollten: Verwalter und Hüter. Du hast Zähne und Klauen eingesetzt … sss … wenn Zähne und Klauen vonnöten waren. Du hast … sss … deine Jungen beschützt. Die Dunkelheit hat zu dir gesungen, und du bist … sss … auf Straßen gewandelt, die außer den Drachen nur wenige … sss … beschritten haben. Du hast das Herz … sss … des Blutes verstanden, die … sss … Seele des Blutes. Du hast … sss … gut gedient.*
Saetan holte tief Luft. Seine Kehle fühlte sich zu eingeschnürt an, als dass er hätte antworten können. »Danke«, stieß er nach einiger Zeit heiser hervor.
Lange herrschte Schweigen. *Da sie die Tochter deiner … sss … Seele ist, bist du der … sss … Sohn der meinen.*
Der Hollenfürst umklammerte das Juwel, das um seinen Hals hing. Hatte Lorn die leiseste Ahnung, wie viel ihm diese Worte bedeuteten?
Es war gleichgültig. Was zählte, war die Tatsache, dass die Worte ein Band zwischen ihnen knüpften, eine Brücke, die er überqueren konnte. Endlich war er in der Lage, mit dem Hüter des Wissens sprechen zu können. Vielleicht würde er sogar herausfinden, wie Jae –
»Wenn ich die Tochter von Saetans Seele bin, und er der Sohn der deinigen, macht dich das dann zu meinem Großvater? «, wollte Jaenelle wissen, die sich zu ihnen gesellte.
*Nein*, kam Lorns prompte Antwort.
»Warum nicht?«
Heiße, staubtrockene Luft traf Jaenelle und Saetan mit solcher Gewalt, dass sie ein paar Schritte zurückweichen mussten.
»Ich schätze, das ist auch eine Antwort«, meinte Jaenelle verdrießlich. »Sie schüttelte die Arme, um die Spinnwebenlagen an ihren Ärmeln zu entwirren. »Auch wenn ich nicht einsehe, wieso du wegen einer einzigen kleinen Enkelin gleich so wütend schnauben musst.«
»Mal abgesehen von den zahlreichen Großnichten und -neffen, die sie mit sich bringt«, murmelte Saetan halblaut.
Jaenelle warf ihm einen strengen Blick zu, während sie ihre Handgelenke ein letztes Mal schüttelte. »Na ja, zumindest habt ihr beiden einander endlich kennen gelernt. Du hättest ihn wirklich früher einladen sollen«, wandte sie sich altklug an Lorn.
*Er war noch nicht … sss … so weit. Er war zu jung.*
Saetan wollte Einspruch erheben, doch Jaenelle kam ihm zuvor: »Ich war viel jünger, als du mich eingeladen hast.«
Verzweifelt presste Saetan sich einen Arm in den Magen und versuchte, nicht in Gelächter auszubrechen und keine Miene zu verziehen, doch der Geruch männlicher Verblüffung, der ihm aus Lorns Richtung entgegenströmte, machte es ihm nicht leicht.
*Ich habe dich … sss … nicht eingeladen, Jaenelle*, sagte Lorn langsam.
»Doch, hast du! Na ja, jedenfalls fast. Zwar nicht so offenkundig wie Saetan damals …«
Trotz zusammengebissener Zähne entrang sich Saetan ein Kichern.
»… aber ich habe dich gehört, also habe ich geantwortet.« Sie schenkte beiden ein breites Lächeln.
Auf diese Weise angelächelt zu werden, musste jeden Mann, der noch halbwegs bei Verstand war, in panischen Schrecken versetzen.
Doch im nächsten Moment hatte Jaenelle sich schon auf den Weg zur Treppe gemacht, wobei sie Saetan noch zurief, er solle gefälligst da sein, wenn sie gleich alle miteinander anstießen. Da legte ihm Lucivar eine starke Hand auf die Schulter.
»Wenn Urgroßpapa mit dir fertig ist«, sagte Lucivar mit einem verwegenen Lächeln, »würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn du nach oben kommen und Karla die Leviten lesen könntest. Königin von Glacia hin oder her, wenn sie noch eine einzige neunmalkluge Bemerkung über die Spannweite meiner Flügel macht, werfe ich sie in einen tiefen Bergsee.«
»Lucivar, das hier ist ein würdevoller Anlass«, entgegnete Saetan in dem Augenblick, in dem Lorn sagte: *Ich bin nicht dein Urgroßpapa.*
»Nein, das bist du nicht«, stimmte Lucivar dem Drachen zu. »Aber da sich niemand ganz sicher war, wie viele Generationen uns von dir trennen – und für jedes Volk und jede Gattung sieht die Sache ohnehin anders aus –, haben wir entschieden, sämtliche Generationen in einem einzigen ›Ur‹ zusammenzufassen. Was den würdevollen Anlass betrifft, das ist es natürlich. Doch die Feier, die Saetan nun oben erwartet, und zu deren Eröffnung er einen Toast sprechen soll, wird vermutlich vieles sein – nur nicht würdevoll.« Lucivar sah die beiden an und stieß ein mitleidiges Seufzen aus. »Ihr seid doch beide alt genug und habt Jaenelle lange genug gekannt, um es besser zu wissen!«
Ohne weitere Umschweife manövrierte Lucivar seinen Vater zur Tür am anderen Ende des Saals.
»Komm schon, sei ein braver Papa und lass Urgroßvater Drache ein wenig ausruhen, bevor die ganzen kleinen Babydrachen kommen und auf ihm herumtollen.«
Sobald sie die Treppe erreicht hatten, schloss sich die Tür hinter ihnen – ein wenig zu übereilt, wie Saetan fand.
*Wir werden miteinander reden*, meinte Lorn noch sanft. *Es … sss … gibt viele Dinge zu besprechen.*
Ja, die gab es, dachte Saetan, als er den oberen Raum betrat, ein Glas Yarbarah entgegennahm und in die Runde mit den lebhaften, lachenden Gesichtern blickte, die nun Kaeleer regierten.
Er fragte sich, was Lorn von dem komplizierten Netz halten mochte, das Jaenelle über Kaeleer gewoben hatte; das Netz, das so viele Völker aus dem Nebel gelockt hatte, in dem sie sich seit Jahrtausenden versteckt gehalten hatten.
Und er fragte sich, was der Dunkle Rat davon halten würde.
4
Kaeleer
Lord Magstrom massierte sich die Stirn und hoffte inständig, dass diese Sitzung des Dunklen Rates bald vorüber sein möge. Seitdem die erste Bittstellerin in den Kreis getreten war, hatte Lord Jorval besänftigende Geräusche von sich gegeben und es geschickt vermieden, feste Versprechungen zu machen. Alle Bittstellerinnen wollten dasselbe: die Zusicherung, dass die Männer, die sie in die Gebiete der verwandten Wesen entsandten, nicht von jenen ›Ausgeburten der Hölle‹ niedergemetzelt würden.
Der Rat konnte keine derartigen Zusicherungen geben.
Die Geschichten der wenigen Überlebenden, die von den ersten Versuchen zurückkehrten, die Ländereien zu sichern, hatten großen Zorn bei den Bewohnern von Kleinterreille hervorgerufen. Überall waren Rufe nach Vergeltung laut geworden. Die Berge verstümmelter Leichen – manche teilweise aufgefressen –, welche die Straßen von Goth ein paar Tage später blockierten, als sämtliche Männer, die in die Gebiete der verwandten Wesen aufgebrochen waren, auf geheimnisvolle Weise zurückgeschickt worden waren, hatten den Zorn zu einem Gefühl wütender Ohnmacht abkühlen lassen.
Alle wollten, dass etwas geschah, um diese Gebiete sicher zu machen, damit dort endlich Menschen siedeln konnten. Niemand wollte allerdings dem gegenübertreten, was bereits in diesen ›herrenlosen‹ Ländern lebte.
»Ich garantiere dir, Lady«, erklärte Lord Jorval der schrill protestierenden Bittstellerin, »wir tun alles in unserer Macht Stehende, um die Lage zu entspannen.«
»Als ich hierher kam, wurde mir Land versprochen und außerdem Männer, die wissen, was es heißt, einer Königin zu dienen«, erwiderte die terreilleanische Königin aufgebracht.
Lord Magstrom fragte sich, ob nur ihm aufgefallen war, dass die Mehrzahl der Männer aus Kaeleer schon nach wenigen Wochen entrüstet den Dienst am Hof einer jeden terreilleanischen Königin aufkündigten – selbst wenn sie mit einer Stellung im Ersten oder Zweiten Kreis gelockt wurden. Terreilleanische Männer flehten, Königinnen dienen zu dürfen, die ursprünglich aus Kaeleer stammten; selbst wenn an deren Hof nur eine niedere Stellung im Dreizehnten Kreis frei sein sollte. In den vergangenen drei Jahren hatten Magstrom ein paar Männer unter Tränen gebeten, in ihrem Namen an zweitrangige Königinnen außerhalb Kleinterreilles heranzutreten, um zu sehen, ob die Männer in einem Territorium wie Dharo oder Nharkhava dienen könnten. Sie würden alles tun, hatten sie ihm gesagt. Alles.
Für ein paar der Jüngeren hatte er respektvolle Empfehlungsschreiben an die Königinnen jener Territorien verfasst, in welchen er auf die Fähigkeiten der Männer hinwies und ihre hoch und heilig gelobte Bereitschaft, die Sitten und Gebräuche des Schattenreiches anzunehmen. Manche hatten eine Stellung bei Hofe gefunden. Regelmäßig erhielt Lord Magstrom kurze Briefe von diesen jungen Männern, in denen sie ihre Erleichterung und die große Freude an ihrem neuen Leben zum Ausdruck brachten.
Doch die Gesuche wurden immer verzweifelter, je mehr Terreilleaner nach Kleinterreille strömten. Und mit jedem Gesuch, mit jeder Geschichte, die er über Terreille hörte, wuchs seine Sorge um seine jüngste Enkeltochter. Selbst in seinem kleinen Dorf hatte es bereits Vorfälle gegeben, und es war nicht länger sicher für eine Frau, nach Einbruch der Dunkelheit ohne Geleitschutz unterwegs zu sein. Hatte es so in Terreille angefangen? Mit Angst und gegenseitigem Misstrauen, die sich in einem Strudel spiralförmig abwärts bewegten, bis keiner mehr etwas daran ändern konnte?
»Deine Bitte ist vermerkt worden.« Lord Jorval winkte die Königin mit einer Handbewegung aus dem Bittstellerkreis. »Die nächste …«
Die Doppeltür am Ende des Saals flog mit einem gewaltigen Krachen auf.
Jaenelle Angelline glitt in die Ratskammer. Auch diesmal blieb sie außerhalb des Bittstellerkreises stehen, und auch diesmal wurde sie vom Höllenfürsten und Prinz Lucivar Yaslana flankiert. Um den Ausschnitt ihres Kleides glitzerten Dutzende schwarzer Juwelsplitter voll dunklen Feuers. Um den Hals trug sie ein schwarzes – schwarzes? – Juwel, das in eine Kette eingefasst war, die wie ein Spinnennetz aus einem Geflecht zarter goldener und silberner Fäden aussah. In den Händen …
Lord Magstrom durchlief ein ängstliches Beben.
Sie hielt ein Zepter, dessen untere Hälfte aus Gold und Silber bestand und über dem Griff zwei Juwelen aufwies, die schwarz zu sein schienen. Die obere Hälfte des Herrscherstabs bildete ein spiralförmig gewundenes Horn.
Die Anwesenden starrten das Horn an. Im Saal erhob sich Gemurmel.
»Lady Angelline, ich muss gegen diese Störung Einspruch …«, setzte Jorval an.
»Ich habe dem Rat etwas zu sagen«, verkündete Jaenelle mit kalter Stimme, die den Lärm in der Ratskammer übertönte. »Es wird nicht lange dauern.«
Das Gemurmel wurde lauter und eindringlicher.
»Warum darf sie das Horn eines Einhorns tragen?«, rief die terreilleanische Königin, die eben noch im Bittstellerkreis gestanden hatte. »Mir wurde keines als Entschädigung für meine Männer gewährt, die umgebracht wurden!«
Das Gesicht des Höllenfürsten blieb ausdruckslos, als er die terreilleanische Königin ansah. Lucivar hingegen gab sich keinerlei Mühe, seine Abscheu zu verbergen.
»Ruhe.« Jaenelle hatte kaum ihre Stimme erhoben, aber der offene Zorn darin brachte alle zum Schweigen. Sie sah die terreilleanische Königin an und sagte fünf Worte.
Lord Magstrom wusste genug über die Alte Sprache, um sie wiederzuerkennen, doch nicht genug, um sie zu verstehen. Etwas von einem Andenken?
Jaenelle streichelte zärtlich das Horn. »Er hieß Kaetien«, sagte sie mit ihrer Mitternachtsstimme. »Sein Horn war ein Geschenk, das er mir freiwillig gab.«
»Lady Angelline«, meinte Jorval, der mit der Faust auf die Tribunenbank hämmerte, um wieder Ordnung in den Saal zu bringen.
Lord Magstrom konnte hören, wie sich in der Nähe seines Platzes ärgerliche Stimmen erhoben, die sich darüber beschwerten, dass gewisse Leute dachten, sie könnten die Autorität des Rates missachten.
Jaenelle beschrieb mit dem Zepter einen großen Bogen, hielt es einen Augenblick so, dass die Spitze auf den Boden wies, bevor sie es nach oben schwang, und das Horn auf die Decke der Kammer richtete. Ein kalter Wind peitschte durch den Saal. Das Gebäude wurde von lautem Donnergrollen in seinen Grundfesten erschüttert, und Blitze zuckten von der Decke herab auf die Spitze des Horns zu.
Dunkle Macht erfüllte die Ratskammer. Unbeugsame, unversöhnliche Macht.
Als das Donnern schließlich aufhörte und der Wind erstarb, kletterten die zitternden Ratsmitglieder auf ihre Sitze zurück. Gelassen und ruhig stand Jaenelle Angelline da, das Zepter in beiden Händen. Das Horn war von den Blitzeinschlägen unversehrt geblieben, aber Magstrom konnte sehen, dass jene schwarzen – und auch wieder nicht schwarzen – Juwelen nun die Blitze beherbergten. Er konnte die Macht spüren, die nur darauf wartete, freigesetzt zu werden.
»Hört mir gut zu«, setzte Jaenelle an. »Denn ich werde dies nur ein einziges Mal sagen. Ich habe der Dunkelheit mein Opfer dargebracht und bin jetzt die Königin des Schwarzen Askavi.« Sie deutete mit dem Zepter auf die Tribunenbank.
Lord Magstrom erbebte. Das Horn war genau auf ihn gerichtet. Er hielt den Atem an und wartete darauf, dass sie die geballte Kraft der Blitze auf ihn losließe. Stattdessen erschien eine Pergamentrolle vor ihm, die mit einem blutroten Band zusammengeschnürt war.
»Das ist eine Liste der Territorien, die sich dem Schwarzen Askavi unterworfen haben. Fortan stehen sie im Schatten des Bergfrieds. Sie gehören mir. Jeder, der versucht, sich in meinem Territorium niederzulassen, wird auf Widerstand stoßen. Jeder, der irgendjemandem aus meinem Volk Schaden zufügt, wird hingerichtet werden. Es wird keinerlei Entschuldigungen oder Ausnahmen geben. Ich formuliere es ganz einfach, damit die Mitglieder dieses Rates sowie die Eindringlinge, die Land erobern wollen, auf das sie keinen Anspruch haben, niemals behaupten können, sie hätten es nicht verstanden.« Jaenelles Lippen kräuselten sich zu einem boshaften Lächeln. »Haltet euch von meinem Territorium fern!«
Die Worte dröhnten durch den Saal und hallten lange Zeit von den Wänden wider.
Ihre Saphiraugen, die nicht ganz menschlich aussahen, hielten das Tribunal etliche Minuten in ihrem Bann. Dann drehte sie sich um und glitt aus der Ratskammer, gefolgt vom Höllenfürsten und Prinz Yaslana.
Magstroms Hände zitterten so heftig, dass es ihm erst nach dem dritten Versuch gelang, das blutrote Band aufzuknoten. Er strich die Pergamentrolle glatt, ohne sie, wie es sich eigentlich gehörte, an Jorval, den Ersten Tribun, weiterzureichen.
Name auf Name auf Name auf Name. Manche davon waren in Märchen aufgetaucht, die seine Großmutter ihm einst zu erzählen pflegte. Manche waren ihm als ›herrenloses Land‹ bekannt. Von manchen hatte er noch nie im Leben etwas gehört.
Name auf Name auf Name.
Am Schluss des Pergaments, über Jaenelles Unterschrift und ihrem schwarzen Wachssiegel, befand sich eine Landkarte von Kaeleer, bei der die Territorien, die nun im Schatten des Bergfrieds standen, schraffiert gekennzeichnet waren.
Abgesehen von Kleinterreille und der Insel, die dem Dunklen Rat vor Jahrhunderten übertragen worden war, gehörte das Schattenreich nun Jaenelle Angelline.
Magstrom betrachtete die elegante, kalligraphische Unterschrift. Zweimal hatte sie als Mädchen vor dem Rat gestanden, und beide Male hatten sie die Warnsignale missachtet, die besagt hatten, was sie werden würde. Jetzt hatten sie es mit einer Königin zu tun, die kein Fehlverhalten dulden würde.
Mit einem Schaudern musterte er das Siegel. In der Mitte war ein Berg zu sehen, über dem sich das Horn eines Einhorns befand. Um den Rand des Siegels standen fünf Worte in der Alten Sprache geschrieben.
Auf einmal erschien ein kleiner gefalteter Zettel über dem Siegel. Magstrom griff in dem Augenblick danach, als Jorval ihm das Pergament aus den Händen riss. Sogleich lasen Jorval und der Zweite Tribun dem restlichen Rat die Liste vor, wobei ihre Stimmen immer heftiger zitterten, als ihnen klar wurde, was das Schreiben bedeutete. Währenddessen öffnete Magstrom heimlich das Stück Papier.
In einer Männerhandschrift standen dort dieselben fünf Worte geschrieben wie auf dem Siegel. Darunter folgte die Übersetzung.
Zum Andenken. Als eine Mahnung.
Magstrom hob den Blick.
Der Höllenfürst stand draußen vor der offenen Tür der Ratskammer.
Magstrom nickte kaum merklich und ließ den Zettel verschwinden, erleichtert, dass niemand bemerkt hatte, wie Saetan zurückgeblieben war, um ihm diese Botschaft zukommen zu lassen.
Er würde sich die Warnung zu Herzen nehmen und noch heute Abend eine Nachricht nach Hause schicken. Seine beiden älteren Enkeltöchter waren glücklich außerhalb Kleinterreilles verheiratet. Er würde Arnora, seine jüngste Enkelin, auffordern, sofort zu einer ihrer Schwestern aufzubrechen. Wenn sie erst einmal dort war, würde es bestimmt eine Möglichkeit geben, die neue Königin von Dharo oder Nharkhava zu überreden, sie bleiben zu lassen.
Während Magstrom nur mit halbem Ohr dem entrüsteten, verängstigten Palaver des Rates zuhörte, spürte er einen Hoffnungsfunken in sich aufsteigen, was Arnoras Zukunft betraf. Zwar kannte er die neuen Königinnen nicht, aber er kannte jemanden, der mit ihnen vertraut war.
Nach all den Gerüchten und Geschichten über die Familie SaDiablo war es die Ironie des Schicksals, dass der eine Mensch, an den er sich wenden und der seine Sorgen verstehen und ihm helfen würde, ausgerechnet der Höllenfürst war.
5
Kaeleer
Ich wollte nie herrschen«, sagte Jaenelle, als sie und Saetan durch die vom Mondschein erhellten Gärten des Bergfrieds wanderten. »Niemals wollte ich Gewalt über das Leben anderer ausüben, nur mein eigenes Schicksal wollte ich beherrschen. «
Saetan legte ihr einen Arm um die Taille. »Ich weiß. Deshalb bist du die perfekte Königin für Kaeleer.« Als sie ihn verblüfft anblickte, musste er lachen. »Du bist die einzige Person, welche die getrennten Stränge zu einem einheitlichen Netz verweben kann, ohne den einzelnen Strängen ihre Eigenständigkeit zu rauben. Wenn du mir versprichst, mich nicht wütend anzufauchen, verrate ich dir ein Geheimnis.«
»Was? Ja, ja, ich verspreche, dich nicht wütend anzufauchen. «
»Inoffiziell hast du Kaeleer schon seit etlichen Jahren regiert. Im Grunde bist du wahrscheinlich die Einzige, der das noch nicht aufgefallen ist.«
Jaenelle fauchte ihn wütend an und murmelte dann: »Entschuldigung. «
Der Höllenfürst lachte. »Schon gut. Aber es sollte eigentlich ein Trost sein, das zu wissen. Ich möchte bezweifeln, dass es einen großen Unterschied geben wird zwischen dem offiziellen Dunklen Hof und dem inoffiziellen, der im ersten Sommer gegründet wurde, als der Hexensabbat und die Jungs auf der Burg einfielen und sie zu ihrem zweiten Zuhause machten.«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Na, also wenn das stimmt, warst du wirklich ein Dummkopf, wenn dir nicht klar war, dass du der Haushofmeister werden würdest, obwohl du doch mindestens schon so lange der inoffizielle Haushofmeister warst wie ich die inoffizielle Königin. «
Da ihm keine gute Erwiderung darauf einfiel, zog er es vor zu schweigen.
»Saetan …« Jaenelle nagte an ihrer Unterlippe. »Meinst du, dass sie sich von nun an anders verhalten werden? Bisher hat es nie einen Unterschied gemacht, aber … der Hexensabbat und die Jungs werden doch wohl nicht anfangen, sich mir gegenüber unterwürfig zu verhalten, oder?«
Saetan hob eine Braue. »Es überrascht mich, dass überhaupt jemand von euch dieses Wort kennt, geschweige denn weiß, was es bedeutet.« Er umarmte sie. »Ich würde mir keine Sorgen deswegen machen. Viel unterwürfiger bekommen wir Lucivar nicht hin, fürchte ich.«
Mit einem Stöhnen lehnte Jaenelle sich an ihn. Dann hob sie den Kopf wieder ein wenig. »Also das ist der eine Vorteil, den der neue Hofstaat gebracht hat: Zumindest habe ich ihm etwas zu tun gegeben, sodass er mir nicht ständig hinterherlaufen und auf die Nerven gehen kann.«
Saetan setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich dann aber anders. Ein paar Illusionen sollte er ihr belassen – zumal sie der Realität ohnehin nicht lange standhalten würden.
Jaenelle gähnte. »Ich gehe wieder hinein. Heute Abend bin ich dran, eine Gutenachtgeschichte zu erzählen.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Papa.«
»Gute Nacht, Hexenkind.« Er ging erst zur anderen Seite des Gartens, als sie in der Burg verschwunden war.
»Geht das Gör heute früh zu Bett?«, erkundigte sich Andulvar, als der Höllenfürst sich zu ihm gesellte.
»Sie ist mit der Gutenachtgeschichte und dem Wölfe-inden-Schlaf-Jaulen dran«, antwortete Saetan.
»Sie wird eine gute Königin sein, SaDiablo.«
»Die beste, die wir je hatten.« Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her. »Das Miststück ist wieder einmal untergetaucht?«
Andulvar nickte. »Es gibt etliche Anzeichen, dass sie ihre Finger beim Dunklen Rat im Spiel hat; von ihr selbst aber keine Spur. Hekatah war schon immer gut darin, sich aus dem Schlamassel herauszuhalten, das sie selbst geschaffen hat. Es überrascht mich immer noch, dass es ihr gelungen ist, sich während des letzten Krieges zwischen den Reichen umbringen zu lassen.«
Mit einem Seufzen massierte er sich das Genick. »Es muss Hekatah schier in den Wahnsinn treiben, dass Jaenelle nun genau die Macht über ein Reich besitzt, nach der es sie immer gelüstet hat.«
»Ja, das muss es. Pass also gut auf, ja?«
»Wir sollten alle warnen, bevor sie in ihre eigenen Territorien zurückkehren. Sie sollen wissen, wonach sie Ausschau halten müssen, falls Hekatah versucht, von einer anderen Richtung aus loszuschlagen.«
»Einverstanden. Aber wenn die Dunkelheit gnädig ist, haben diese jungen Leute noch etwas Zeit, um Erfahrungen zu sammeln, bevor wir es wieder mit einem von Hekatahs Intrigenspielen zu tun bekommen.«
»Wenn die Dunkelheit gnädig ist.« Andulvar räusperte sich. »Ich weiß, warum du noch warten wolltest, und ich weiß, auf wen du warten wolltest, Saetan, aber Jaenelle ist eine erwachsene Frau und jetzt ist sie die Königin. Das Dreieck sollte vollständig sein. Sie sollte einen Gefährten haben.«
Saetan legte die Arme auf die steinerne Gartenmauer. Ein sanfter Nachtwind rauschte in den Kieferbäumen jenseits des Gartens. »Sie hat bereits einen Gefährten«, erwiderte er leise, aber bestimmt. »Als Erster Begleiter kann Lucivar stellvertretend die meisten Pflichten eines Gefährten erfüllen und die dritte Seite des Dreiecks sein, bis …« Er brach ab.
»Falls das je eintreffen sollte, SaDiablo«, meinte Andulvar mit sanftem Nachdruck. »Solange niemand den Ring der Hingabe trägt, wird jeder ehrgeizige Draufgänger im ganzen Reich – und etliche davon direkt aus Terreille – versuchen, in ihr Bett zu schlüpfen, um die Macht und das Ansehen zu erlangen, die damit verbunden sind. Sie braucht einen guten Mann, Saetan, nicht eine bloße Erinnerung. Was sie benötigt, ist ein starker Mann aus Fleisch und Blut, der ihr des Nachts das Bett wärmt, weil er sie liebt und nicht ihre Macht.«
Der Höllenfürst starrte auf das Land hinaus, das sich jenseits des Gartens erstreckte. »Sie hat einen Gefährten.«
»Tatsächlich?« Als Saetan nichts erwiderte, klopfte Andulvar ihm auf die Schulter und ging.
Lange Zeit blieb Saetan dort stehen und lauschte dem Lied des Nachtwinds. »Sie hat einen Gefährten«, flüsterte er. »Oder etwa nicht?«
Der Nachtwind blieb ihm die Antwort schuldig.
6
Das Verzerrte
Reich
Er kletterte.
Die Landschaft war hier nicht mehr so verformt oder steil, aber die Nebelschwaden, die aus den Erdspalten hervorstiegen, bedeckten den Weg und gaben ihm das unbehagliche Gefühl, dass unterhalb seiner Knie nichts existierte.
Nach einiger Zeit bemerkte er, dass der Ort ihm bekannt vorkam, dass er diese Pfade bereits erkundet hatte, als er noch stark und vollständig gewesen war. Er hatte das Grenzland betreten, das die Wirklichkeit und das Verzerrte Reich voneinander trennte.
Die Luft hier war taufrisch und mild. Das Licht war zart wie am frühen Morgen. Irgendwo in der Nähe zwitscherten Vögel, um den anbrechenden Tag zu begrüßen, und in der Ferne konnte er das Geräusch von wogender Brandung hören.
Sein Kristallkelch war beinahe wieder zusammengefügt. Während des langen Anstiegs war ein Stück nach dem anderen wieder an seinen Platz zurückgekehrt. Es gab ein paar abgesplitterte Stellen, ein paar Erinnerungen, die verloren gegangen waren. Insbesondere eine: Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was in der Nacht geschehen war, in der man Jaenelle zu Cassandras Altar gebracht hatte.
Als er zwischen zwei großen Felsen hindurchging, die wie Wachtposten am Wegrand standen, verdichtete sich der Nebel hinter ihm.
Vor ihm lagen das Wasser, die Vögel, der Duft fruchtbarer Erde, die warmen Sonnenstrahlen – und ihr Versprechen, auf ihn zu warten.
Vor ihm lagen die Wirklichkeit und der gesunde Verstand.
Doch da waren auch Wissen und Leid. Er konnte es spüren.
Daemon.
Eine vertraute Stimme, aber nicht diejenige, nach der er sich sehnte. Er durchforstete sein Gedächtnis, bis er mit der Stimme einen Namen in Verbindung brachte.
Manny. Sie sprach mit jemandem über Brot und Butter. Daemon.
Jene Stimme kannte er ebenfalls: Surreal.
Ein Teil von ihm sehnte sich nach alltäglicher Unterhaltung, nach einfachen Dingen wie Brot und Butter. Ein anderer Teil von ihm hatte große Angst.
Er wich einen Schritt zurück … und konnte fühlen, wie sich leise eine Tür in seinem Rücken schloss. Die Felsen waren zu einer hohen, undurchdringlichen Mauer geworden.
Zitternd lehnte er sich dagegen.
Es gab keinen Weg zurück.
Daemon.
Er nahm seinen ganzen verbliebenen Mut zusammen und ging auf die Stimmen und das Versprechen zu.
Er verließ das Verzerrte Reich.
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Anne Bishop:
Schatten
Die Schwarzen Juwelen 3