Kapitel 15

1 e9783641061937_i0091.jpg Kaeleer

Der erste Teil unseres Plans ist wunderbar aufgegangen«, sagte Hekatah. »Kleinterreille ist endlich angemessen im Dunklen Rat vertreten.«

Lord Jorval lächelte mit verkniffenem Mund. Da mittlerweile mehr als die Hälfte der Ratsmitglieder aus Kleinterreille stammte, ließ sich nicht leugnen, dass dieses stets argwöhnische Territorium endlich ›angemessen‹ vertreten war. »Bei all den Verletzungen und Krankheiten, die Mitglieder in den letzten beiden Jahren zum Rücktritt bewogen haben, waren die Angehörigen des Blutes in Kleinterreille die Einzigen, die gewillt waren, dem Reich zu dienen und eine derart schwere Verantwortung auf sich zu nehmen.« Er stieß einen Seufzer aus, doch seine Augen funkelten voller beifälliger Heimtücke. »Uns wurde Günstlingswirtschaft vorgeworfen, weil so viele Stimmen aus demselben Territorium kommen, aber was sollten wir tun, da die anderen Männer und Frauen, die der Aufgabe für wert befunden wurden, abgelehnt haben? Die Sitze im Rat müssen besetzt werden.«

»Natürlich müssen sie das«, stimmte Hekatah ihm zu. »Und nun ist es an der Zeit, den zweiten Teil unseres Plans in die Tat umzusetzen. Denn es gibt etliche neue Ratsmitglieder, die ihre Ernennung deiner Unterstützung zu verdanken haben und die nicht in Schwierigkeiten geraten wollen, bloß weil sie bei einer Abstimmung nicht auf deinen weisen Rat hören.«

»Und der zweite Teil des Plans wäre?« Jorval wünschte, sie würde jenen Umhang mit der bis tief ins Gesicht gezogenen Kapuze ablegen. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er sie zu Gesicht bekam. Und warum hatte sie es vorgezogen, sich mit ihm in einer schäbigen kleinen Spelunke im Elendsviertel von Goth zu treffen?

»Kleinterreilles Einfluss im Schattenreich auszuweiten. Du musst den Rat davon überzeugen, dass er bei den Anforderungen, was die Einwanderung betrifft, weniger streng vorgehen soll. Es gibt hier schon etliche adelige Angehörige des Blutes. Ihr müsst auch Blutleute von niedrigerem Stand einwandern lassen: Arbeiter, Handwerker, schlichtere Hexen, Dienstboten, Krieger mit helleren Juwelen. Hört auf, bei der Einreise danach zu fragen, wer es sich leisten kann, die Bestechungsgelder zu zahlen, und wer nicht.«

»Wenn die terreilleanischen Königinnen und männlichen Aristokraten Dienstboten möchten, sollen sie doch Landen einstellen«, meinte Jorval pikiert. Sie wusste ganz genau, dass die Bestechungsgelder für etliche Adelige des Blutes in Goth, der Hauptstadt von Kleinterreille, zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden waren.

»Landen sind nichts weiter als Dämonenfutter«, fuhr Hekatah ihn ungehalten an. »Landen verfügen über keinerlei Magie. Sie sind nicht in der Kunst bewandert. Insgesamt sind Landen ungefähr so nützlich wie Jhin-…« Sie brach ab und zog sich die Kapuze weiter ins Gesicht. »Erlaubt auch terreilleanischen Landen einzuwandern. Versprecht ihnen Privilegien und Grundbesitz, nachdem sie ihren Dienst abgeleistet haben. Aber holt vor allem auch die Angehörigen des Blutes von niedrigerem Stand aus Terreille.«

Jorval breitete die Hände aus. »Und was sollen wir mit all diesen Einwanderern anfangen? Bei den halbjährlichen Einwanderungsbasaren suchen sich die anderen Territorien zusammengerechnet höchstens ein paar Dutzend Leute aus, wenn überhaupt. Die Höfe in Kleinterreille quellen bereits über, und man beschwert sich über die terreilleanischen Adeligen, die permanent herumjammern, weil sie in den niedrigeren Kreisen dienen müssen und nicht wie erwartet über eigenes Land verfügen, das sie beherrschen können. Und keiner derjenigen, die schon hier sind, hat bisher seine Einwanderungsauflagen erfüllt.«

»Sie werden eigenes Land bekommen, denn sie werden im Namen der Königinnen, denen sie dienen, kleine neue Territorien schaffen. Das wird den Einfluss stärken, den die Königinnen aus Kleinterreille in Kaeleer haben, und ihnen außerdem zusätzliche Einnahmen verschaffen. Manche Landstriche verfügen über geradezu obszöne Vorräte an Bodenschätzen. In ein paar Jahren werden die Königinnen aus Kleinterreille die stärkste Kraft im ganzen Reich sein, und die übrigen Territorien werden sich ihrer Herrschaft unterwerfen müssen.«

»Von welchem Land sprichst du?« Es gelang Jorval nicht, seinen Zorn zu verhehlen.

»Das herrenlose Land, auf das noch kein Anspruch erhoben wurde«, versetzte Hekatah scharf. Sie rief eine Karte von Kaeleer herbei, entrollte sie und sorgte mithilfe der Kunst dafür, dass sie flach auf dem Tisch liegen blieb. Mit einem ihrer knochigen Finger fuhr sie über große Flächen der Landkarte.

»Das ist kein herrenloses Land, auf das bisher kein Anspruch erhoben wurde«, widersprach Jorval. »Das sind die nicht zugänglichen, gesperrten Territorien. Die so genannten verwandten Territorien.«

»Genau, Lord Jorval.« Hekatah tippte mit dem Finger auf die Landkarte. »Die so genannten verwandten Territorien.«

Jorval betrachtete die Karte und setzte sich aufrecht hin. »Aber die verwandten Wesen sollen doch Angehörige des Blutes sein!«

»Sollen sie das?«, entgegnete Hekatah mit giftiger Süße in der Stimme.

»Und was ist mit den Territorien der Menschen wie Dharo und Nharkhava und Scelt? Die dortigen Königinnen könnten im Namen der verwandten Wesen Einspruch erheben.«

»Das können sie nicht, da ihre Länder nicht betroffen sind. Laut Gesetz des Blutes dürfen sich Königinnen, die einem Territorium vorstehen, nicht in Angelegenheiten einmischen, die außerhalb ihrer Landesgrenzen liegen.«

»Der Höllenfürst …«

Hekatah machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er hat sich immer strikt an den Ehrenkodex gehalten. Sein eigenes Territorium würde er mit allen Mitteln verteidigen, aber er wird sich keinen Zentimeter über die Landesgrenzen hinauswagen. Wenn er sich überhaupt einmischt, dann nur, um die anderen Territorien zur Räson zu bringen, falls sie sich nicht nach dem Gesetz des Blutes richten sollten.«

Er fuhr sich mit dem Finger über die Unterlippe. »Also würden die Königinnen von Kleinterreille letzten Endes über ganz Kaeleer herrschen.«

»Und jene Königinnen wären unter einer weisen, erfahrenen Person vereint, die sie angemessen beraten und unterweisen könnte.«

Jorval wirkte sichtlich geschmeichelt.

»Nicht du, Narr!«, zischte Hekatah. »Ein Mann kann nicht über ein Territorium herrschen.«

»Der Höllenfürst tut es aber!«

Das Schweigen währte so lange, dass Jorval zu schwitzen begann.

»Vergiss nicht, wer und was er ist, Lord Jorval. Und denke an seinen Ehrenkodex. Du gehörst dem falschen Geschlecht an. Solltest du versuchen, dich ihm entgegenzustellen, würde er dich in der Luft zerreißen. Ich werde in Kaeleer herrschen.« Ihre Stimme nahm einen süßen Klang an. »Du wirst mein Haushofmeister sein. Und als meine rechte Hand und mein hoch geschätzter Berater wirst du so einflussreich sein, dass keine Frau im ganzen Reich es wagen wird, dich zurückzuweisen. «

Hitze schoss Jorval in die Lenden, als er an Jaenelle Angelline dachte.

Er zuckte zusammen, als sich die Karte geräuschvoll zusammenrollte.

»Ich denke, wir haben die Annehmlichkeiten lange genug aufgeschoben, findest du nicht?« Hekatah schob die Kapuze ihres Umhangs zurück.

Jorval stieß einen erstickten Schrei aus. Er sprang so schnell auf, dass er seinen Stuhl umstieß, und fiel darüber, als er die Flucht ergreifen wollte.

Während Hekatah langsam um den Tisch herumkam, rappelte Jorval sich wieder auf. Er wich vor ihr zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand.

»Nur ein Schlückchen«, sagte Hekatah und knöpfte ihm das Hemd auf. »Kaum der Rede wert. Vielleicht denkst du dann das nächste Mal daran, Erfrischungen zu servieren.«

Jorval konnte spüren, wie sich seine Eingeweide verkrampften.

In den letzten beiden Jahren hatte sie sich stark verändert. Früher hatte sie wie eine attraktive Frau ausgesehen, welche die Blüte ihrer Jahre eben erst überschritten hatte. Mittlerweile wirkte sie, als habe ihr jemand jegliche Lebenskraft aus dem Körper gepresst. Und das großzügig aufgetragene Parfum reichte nicht aus, um den Verwesungsgeruch zu überdecken.

»Es gibt einen weiteren wichtigen Grund, warum ich in Kaeleer herrschen werde«, murmelte Hekatah, wobei ihre Lippen seine Kehle berührten. »Etwas, das du auf keinen Fall vergessen solltest.«

»Ja, P-Priesterin?« Jorval ballte die Hände zu Fäusten.

»Mit mir als Herrscherin werden wir auch Terreille auf unserer Seite haben und von dort Unterstützung erhalten.«

»Tatsächlich?«, stieß Jorval matt hervor. Er versuchte verzweifelt, flach einzuatmen.

»Dafür kann ich garantieren«, antwortete Hekatah, kurz bevor sich ihre Zähne in seinen Hals gruben.

2 e9783641061937_i0092.jpg Kaeleer

Der neue, zweirädrige Einspänner fuhr in seiner ganzen Pracht in der Mitte der breiten unbefestigten Straße, die in nordöstlicher Richtung aus dem Dorf Maghre führte.

Saetan versuchte – zum wiederholten Mal – Narzissus dazu zu bringen, den Wagen auf der rechten Straßenseite zu halten. Woraufhin ihm Narzissus – zum wiederholten Mal – auseinander setzte, dass in dem Fall Sonnentänzer mit Yaslana auf dem Rücken nicht neben ihnen hertrotten könnte. Sobald ihnen ein anderes Gefährt entgegenkäme, würde er zur Seite weichen. Er wusste, wie man einen Wagen zog. Der Höllenfürst machte sich entschieden zu viele Sorgen.

Ein Seitenblick auf seine zu Fäusten geballten Hände entlockte Jaenelle, die neben ihm saß, ein halb mitleidiges, halb belustigtes Lächeln. »Man muss sich erst daran gewöhnen, Passagier zu sein, anstatt wie sonst das Pferd zu lenken und alles unter Kontrolle zu haben. Khary meint, von verwandten Wesen gezogene Gefährte sollten mit Zügeln ausgestattet sein, die vorne am Wagen befestigt sind, damit man sich wenigstens an etwas festhalten kann und sich auf diese Weise sicherer fühlt.«

»Beruhigungsmittel für die Mitfahrer wären noch besser«, knurrte Saetan. Er zwang sich dazu, die Hände zu öffnen, und presste sie fest auf die Oberschenkel. Außerdem gab er sich Mühe, Lucivars leises Gelächter zu ignorieren sowie die Tatsache, dass am Zaumzeug von Sonnentänzer durchaus Zügel angebracht waren!

Zum Verdruss der Menschen hatten die verwandten Wesen beim Reiten auf der Verwendung von Zügeln bestanden, da Menschen darauf angewiesen waren, wenn die Tiere galoppierten oder sprangen. Nach dem ersten Schock vor drei Jahren, als die Einwohner von Scelt erfahren hatten, wie viele Gattungen des Blutes auf ihrer Insel lebten, hatten die Menschen ihre verwandten Brüder und Schwestern glücklicherweise mit offenen Armen willkommen geheißen.

»Halten wir nicht vor dem Haus von Morghann und Khary?«, wollte Jaenelle wissen. Sie musste ihren breitkrempigen Strohhut mit der Hand festhalten, damit er ihr nicht vom Kopf geweht wurde.

»Sie wollten uns etwas zeigen und haben einen anderen Treffpunkt mit uns ausgemacht«, erklärte Lucivar. »Sonnentänzer und ich reiten schon einmal vor, um zu sehen, ob sie auf uns warten.« Der Eyrier und der Hengst, beides Kriegerprinzen, galoppierten querfeldein.

Narzissus gab ein wehmütiges Geräusch von sich, trabte jedoch weiter die Straße entlang. Ein paar Minuten später bog er anmutig in eine lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt ein.

Jaenelles Augen leuchteten auf. »Wir fahren zu Duanas Landhaus? Oh, das ist solch ein zauberhaftes Anwesen! Khary erwähnte, jemand habe es gepachtet und würde es wohl wieder instand setzen.«

Saetan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Khary wusste schon, wie man Jaenelles Neugier weckte, ohne zu viel zu verraten.

Sechs Monate hatte sie gebraucht, um zu genesen, nachdem sie Daemon vor zwei Jahren aus dem Verzerrten Reich zu retten versucht hatte. Die ersten beiden Monate hatte sie im Bergfried verbracht, da sie zu schwach gewesen war, um an einen anderen Ort gebracht zu werden. Nachdem Lucivar und er sie zurück auf die Burg geholt hatten, hatte es vier Monate gedauert, bis sie wieder zu Kräften gekommen war. In dieser Zeit waren ihre Freunde ein weiteres Mal auf die Burg gezogen, nachdem sie den Dienst an ihren Höfen bis auf weiteres niedergelegt hatten, um ganz bei ihr sein zu können. Jaenelle hatte die Gegenwart des Hexensabbats begrüßt, hatte sich jedoch davor gescheut, den Jungen unter die Augen zu treten – das erste Anzeichen weiblicher Eitelkeit, das sie je an den Tag gelegt hatte.

Ihre Weigerung, sie zu sehen, hatte die Jungen verwirrt, doch sie hatten schon bald begonnen, sich aus der Ferne nützlich zu machen, indem sie ihre Energien darauf verwandten, sich um den Hexensabbat zu kümmern. Während jener Zeit war unter den wachsamen, aber gut verborgenen Blicken des Höllenfürsten aus einigen Freundschaften Liebe geworden: Morghann und Khardeen, Gabrielle und Chaosti, Grezande und Elan, Kalush und Aaron. Er hatte die Mädchen beobachtet und sich insgeheim gefragt, ob Jaenelles Augen jemals derart wegen eines Mannes glänzen würden. Selbst wenn es sich bei diesem Mann um Daemon Sadi handelte.

Als Daemon und Surreal nicht im Bergfried von Terreille eingetroffen waren, hatte er versucht, sie ausfindig zu machen. Allerdings hatte er seine Bemühungen nach ein paar Wochen wieder eingestellt, da es Anzeichen gab, dass er nicht der Einzige war, der nach den beiden suchte. Er hatte entschieden, dass es besser sei, die eigene Suche erfolglos abzubrechen, als womöglich einen Feind zum Versteck seines schutzbedürftigen Sohnes zu führen. Abgesehen davon war Surreal Titians Tochter. Auf welchen Unterschlupf ihre Wahl auch immer gefallen sein mochte, sie hatte ihre Spuren gut verwischt.

Es gab noch einen anderen Grund, weshalb er kein Aufhebens machen wollte: Hekatah hatte sich bislang nicht wieder im Dunklen Reich blicken lassen. Er vermutete, dass sie sich irgendwo in Hayll verborgen hielt. Solange sie dort blieb, konnten sie und Dorothea von ihm aus verrotten; doch es würde ihr auffallen, wenn er sich erneut für Terreille interessierte, und sie würde mit allen Mitteln herauszufinden suchen, worin sein Interesse begründet lag.

»Lucivar und Sonnentänzer waren um einiges schneller als wir«, stellte Jaenelle fest, als sie vor dem herrschaftlichen Sandsteingebäude vorfuhren.

Narzissus stieß ein verächtliches Schnauben aus.

»Unsinn«, erwiderte Saetan finster, während er Jaenelle aus dem Einspänner half. »Mit Wagen kann man eben nicht über Zäune setzen.«

»Jedenfalls dann nicht, wenn der Passagier nicht weiß, dass er beim Springen für seinen Teil verantwortlich ist«, murmelte Jaenelle. Sie schüttelte die Falten ihres blauen Rocks aus und strich die dazu passende Jacke glatt. Insgesamt schien sie zu beschäftigt, um seinen Blick zu erwidern.

Vielleicht war das auch ganz gut so.

Jaenelle betrachtete das Herrenhaus und seufzte. »Ich hoffe nur, die neuen Pächter behandeln dieses Haus mit der Liebe, die es verdient. Oh, ich weiß, dass Duana viel zu tun hat und lieber auf ihrem Landsitz in der Nähe von Tuathal wohnt, aber das Land hier muss mit neuem Leben erfüllt werden. Die Gärten könnten einfach wunderschön sein!«

Saetan registrierte Lucivars zufriedenes Lächeln und zog eine flache, rechteckige Schachtel aus der Tasche, um sie Jaenelle zu überreichen. »Alles Gute zum Geburtstag, Hexenkind! Von der ganzen Familie.«

Jaenelle nahm die Schachtel entgegen, öffnete sie jedoch nicht. »Wenn es von der ganzen Familie ist, sollte ich mit dem Öffnen wohl besser warten, bis wir wieder zu Hause sind.«

Saetan schüttelte den Kopf. »Wir haben uns darauf geeinigt, dass du dein Geschenk hier auspackst.«

Sie öffnete die Schachtel und betrachtete stirnrunzelnd den Messingschlüssel, der sich darin befand.

Mit einem belustigten Seufzen packte Lucivar Jaenelle an den Schultern und drehte sie um, sodass sie die Vorderseite des Hauses vor sich hatte. »Er passt in das Schloss in der Eingangstür. «

Jaenelle riss die Augen auf. »Für mich?« Ihr Blick wanderte von der Eingangstür zu dem Schlüssel und wieder zurück. »Für mich?«

»Nun, die Familie hat Haus und Land für zehn Jahre gepachtet«, erwiderte Saetan mit einem Grinsen. »Duana lässt dir ausrichten, du könntest mit dem Haus anstellen, was du möchtest, solange du es nicht dem Erdboden gleichmachst.«

Nachdem Jaenelle die beiden Männer stürmisch umarmt hatte, stürmte sie auf das Haus zu. Die Tür flog auf, bevor sie bei ihr angekommen war.

»Überraschung!«

Lächelnd schubste Saetan sie im selben Moment von hinten, in dem Khary und Morghann sie in die Menschenmenge im Innern des Gebäudes zogen.

Rührung schnürte ihm die Kehle zu, als er mit ansah, wie das Geburtstagskind von einem Freund nach dem anderen umarmt wurde: Astar und Sceron aus Centauran. Zylona und Jonah aus Pandar. Grezande und Elan aus Tigerlan. Die kleine Katrine von der Insel Philan. Gabrielle und Chaosti von den Dea al Mon. Karla und Morton aus Glacia. Morghann und Khary von der Insel Scelt. Sabrina und Aaron aus Dharo. Kalush aus Nharkhava. Ladvarian und Kaelas. Hatte es je zuvor eine derart bunte Versammlung im Schattenreich gegeben?

Die Jahre, in denen der Hexensabbat und der Kreis der Männer sich auf der Burg versammelt hatten, waren so schnell vergangen. Die jungen Menschen hier vor ihm waren nicht länger Kinder, sondern Erwachsene, die er wie seinesgleichen zu behandeln hatte. Sämtliche Jungen hatten der Dunkelheit ihr Opfer dargebracht und alle trugen dunkle Juwelen. Sollte die Freundschaft von Khary, Aaron und Chaosti die Anforderungen ihres jungen Erwachsenenlebens überstehen, würden sie in Zukunft ein wahrlich einflussreiches Dreieck der Macht darstellen. Und die Mädchen waren auch fast so weit, ihr Opfer darzubringen. Wenn sie es taten … ach, diese Macht!

Und dann war da noch Jaenelle. Was würde aus der zauberhaften, begabten Tochter seiner Seele werden, wenn sie erst einmal ihr Opfer dargebracht hatte?

Er versuchte, seine melancholische Stimmung abzuschütteln, bevor Jaenelle sie spürte. Der heutige Tag war für ihn bittersüß; was auch der Grund war, weshalb die Familie den Geburtstag bereits vor ein paar Tagen unter sich gefeiert hatte.

Ein Donnergrollen brachte das allgemeine Geplauder zum Verstummen.

»Na also«, meinte Karla mit einem schelmischen Grinsen. »Onkel Lucivar soll Jaenelle im Haus herumführen, während wir die letzten Vorbereitungen für das Essen treffen. Dies ist vielleicht die letzte Gelegenheit, in der Küche zu spielen!«

Die Mädchen machten sich vergnügt in Richtung des hinteren Teils des Gebäudes davon.

»Ich glaube, wir gehen ihnen besser zur Hand«, sagte Khary, der die jungen Männer anführte, um das Haus und die Speisen vor allzu großem Schaden zu bewahren.

Lucivar versprach, gleich wieder zurückzukehren, und murmelte etwas davon, dass er besser Narzissus abzäumte, bevor das Pferd es selbst versuchte.

»Duana sagte, sämtliche Möbelstücke, die du nicht möchtest, könnten im Speicher verstaut werden«, erklärte Saetan, nachdem er zusammen mit Jaenelle das Erdgeschoss durchwandert hatte.

Sie nickte geistesabwesend, während sie die Treppe emporstiegen. »Ich habe ein paar großartige Stücke gesehen, die einfach fabelhaft hierher passen würden. Da war ein …« Mit offenem Mund stand sie im Türrahmen des Schlafgemachs und starrte auf das Himmelbett, die Frisierkommode, die Tischchen und Truhen.

»Die Horde da unten hat das alles für dich gekauft. Anscheinend hast du derartiges Zeug oft genug bewundert, sodass sie davon ausgehen konnten, dass es dir gefallen würde.«

Jaenelle betrat das Zimmer und ließ eine Hand über die Frisierkommode aus seidig glänzendem Ahorn gleiten. »Es ist wunderschön. Alles ist wunderschön. Aber wieso?«

Saetan musste hart schlucken. »Heute bist du zwanzig Jahre alt geworden.«

»Das weiß ich.« Jaenelle strich sich mit der rechten Hand durchs Haar.

»Meine gesetzliche Vormundschaft endet mit dem heutigen Tag.«

Lange Zeit starrten die beiden einander wortlos an.

»Was soll das bedeuten?«, erkundigte sie sich leise.

»Genau das. Meine gesetzliche Vormundschaft endet heute. « Sie entspannte sich sichtlich, als sie die unterschiedliche Betonung wahrnahm. »Du bist jetzt eine junge Frau, Hexenkind, und solltest dein eigenes Haus haben. Scelt hast du schon immer geliebt, und wir dachten uns, dass es dir nicht schaden könnte, auch auf dieser Seite des Reiches ein Heim zu haben.« Als sie noch immer nichts erwiderte, begann sein Herz wild zu schlagen. »Die Burg wird immer dein Zuhause sein. Wir werden immer deine Familie sein – solange du uns willst.«

»Solange ich euch will.« Ihre Augen veränderten sich.

Es kostete ihn unendliche Überwindung, nicht auf die Knie zu sinken und Hexe um Vergebung zu bitten.

Jaenelle wandte sich von ihm ab, die Arme um den Oberkörper geschlungen, als fröstele es sie. »An jenem Tag habe ich ein paar grausame Dinge gesagt.«

Der Höllenfürst atmete tief ein. »Ich habe ihn benutzt. Er war mein Instrument. Und selbst mit dem Wissen, das ich jetzt habe, würde ich mich noch einmal genauso entscheiden. Ein Kriegerprinz ist entbehrlich, eine gute Königin ist es nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass Daemon überlebt hätte, wenn du gestorben wärst. Ich jedenfalls wäre daran zugrunde gegangen.«

Jaenelle breitete die Arme aus.

Er trat auf seine Tochter zu und drückte sie fest an sich. »Ich glaube, du hast nie ganz begriffen, wie stark und wie notwendig die Verbindung zwischen Kriegerprinzen und Königinnen ist. Wir brauchen euch, um selbst unversehrt zu bleiben. Deshalb dienen wir. Alle anderen Männer des Blutes dienen ebenfalls aus diesem einen Grund.«

»Aber es ist so ungerecht, dass eine Königin einen Mann für sich beanspruchen und jede Facette seines Lebens kontrollieren kann, wenn sie es möchte, ohne dass er das geringste Mitspracherecht hat.«

Er lachte. »Wer sagt denn, dass ein Mann nicht die Wahl hat? Ist dir nie aufgefallen, wie viele Männer, die dazu eingeladen werden, an einem Hof zu dienen, das Privileg höflich ablehnen? Nein, vielleicht ist es dir nie aufgefallen. Du warst viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, und diese Dinge laufen für gewöhnlich still und heimlich ab.« Er hielt inne und schüttelte lächelnd den Kopf. »Lass mich dir ein offenes Geheimnis verraten, Hexenkind: Ihr wählt nicht uns aus, sondern wir euch

Nachdem Jaenelle eine Weile über seine Worte nachgedacht hatte, murmelte sie grollend: »Lucivar wird mir diesen vermaledeiten Ring niemals zurückgeben, nicht wahr?«

Saetan lachte leise in sich hinein. »Du kannst versuchen, ihn zurückzubekommen, aber ich möchte bezweifeln, dass es dir gelingen wird.« Er strich mit der Wange über ihr Haar. »Ich glaube, er wird dir für den Rest seines Lebens dienen, ganz egal, ob er tatsächlich bei dir ist oder nicht.«

»Wie du und Onkel Andulvar Cassandra gedient habt.«

»Nein, nicht wie ich und Andulvar«, widersprach er mit geschlossenen Augen.

Sie lehnte sich ein Stück zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Aha, dann also eine Verbindung, die so stark wie Familienbande ist.«

»Stärker.«

Seufzend umarmte sie ihn. »Vielleicht sollten wir eine Frau für Lucivar finden. Dann gäbe es da noch jemanden außer mir, dem er auf die Nerven fallen könnte.«

Vor Lachen musste Saetan husten. »Wie grausam von dir, Lucivar einer armen Schwester an den Hals zu wünschen! «

»Aber es würde ihn ablenken.«

»Denke nur mal einen Augenblick über die möglichen Konsequenzen dieser Ablenkung nach.«

Das tat sie. »Ein Haus voller kleiner Lucivars«, meinte sie mit vor Lachen erstickter Stimme.

Beide stöhnten gequält auf.

»Na gut«, knurrte Jaenelle. »Ich werde mir etwas anderes überlegen.«

»Habt ihr beiden euch hier oben verlaufen?«

Sie zuckten zusammen. Lucivar stand im Türrahmen und lächelte ihnen zu.

»Papa hat mir nur eben erklärt, dass ich dich für immer am Hals haben werde.«

»Und es hat bloß drei Jahre gedauert, bis du es endlich gemerkt hast!« Lucivars arrogantes Grinsen wurde breiter. »Eigentlich hast du es nicht verdient, vorgewarnt zu werden, aber während ihr hier oben – vergeblich – damit beschäftigt wart, mein Leben neu zu ordnen, hat Ladvarian unten dasselbe mit eurem Leben getan. Ich zitiere: ›Wir können die Welpen hier großziehen und ausbilden.‹«

»Wer ist wir?«, wollte Jaenelle aufgeregt wissen. »Welche Welpen? Welche Welpen?«

Lucivar wich hastig zur Seite, als Jaenelle aus dem Zimmer stürmte.

Saetan hingegen wurde von einem starken, muskulösen Arm am Verlassen des Zimmer gehindert.

»Du hättest ihr niemals bei einer derartigen Torheit geholfen, oder?«, wollte Lucivar wissen.

Der Höllenfürst lehnte sich an den Türrahmen und schüttelte den Kopf. »Wenn die richtige Frau in dein Leben tritt, wirst du sie nicht einfach wieder ziehen lassen. Ich wäre der Letzte, der dir vorschreiben würde, einen Kompromiss einzugehen. Heirate eine Frau, die du lieben und so akzeptieren kannst, wie sie ist, Lucivar. Heirate jemanden, die dich liebt und akzeptiert. Darunter lass dich auf nichts ein.«

Lucivar gab den Weg frei, indem er den Arm sinken ließ. »Meinst du, in das Leben von Katze wird je der richtige Mann treten?«

»Er wird kommen. Wenn die Dunkelheit gnädig ist, wird er kommen.«

3e9783641061937_i0093.jpg Das Verzerrte Reich

Lange Zeit stand er am Rand des Ruheplatzes und betrachtete die Einzelheiten, nahm die Botschaft und die Warnung in sich auf. Im Gegensatz zu den übrigen Ruheplätzen, die sie ihm bereitgestellt hatte, fand er diesen hier beunruhigend.

Es handelte sich um einen Altar, eine schwarze Steinplatte, die auf zwei anderen Steinen lag. In der Mitte des Altars befand sich ein Kristallkelch, der einst zerbrochen gewesen war. Selbst aus dieser Entfernung konnte Daemon sämtliche Bruchstellen sehen und nachvollziehen, wo die einzelnen Stücke wieder sorgsam zusammengefügt worden waren. Am oberen Rand des Kelches befanden sich scharfe Kanten, weil kleine Stückchen verloren gegangen waren; Kanten, an denen man sich leicht verletzen konnte. Im Innern des Kelches vollführte ein blitzdurchzuckter schwarzer Nebel einen langsamen, kreisenden Tanz. Um den Stiel des Kelches lag ein goldener Ring mit einem geschliffenen Rubin. Der Ring, den der Gefährte einer Königin trug.

Der Ring der Hingabe.

Endlich trat er näher.

Wenn er die Botschaft richtig interpretierte, war Jaenelle geheilt, hatte jedoch Narben zurückbehalten und war nicht wieder völlig ganz. Wenn er den Ring der Hingabe für sich in Anspruch nahm, stünde ihm zwar das Privileg zu, von dem Inhalt des Kelches zu kosten, doch die scharfen Kanten würden jeden Mann verletzen, der dies versuchte.

Ein vorsichtiger Mann allerdings …

Ja, entschied er, während er die scharfen Splitter betrachtete, ein vorsichtiger Mann, der von der Existenz dieser Kanten wusste und gewillt war, die Wunden zu riskieren, würde von dem Kelch trinken können.

Zufrieden kehrte er zu dem Pfad mit ihrer Glitzerspur zurück und kletterte weiter.

4 e9783641061937_i0094.jpg Kaeleer

In seiner Eile fiel Saetan beinahe aus dem Bett, als er herausfinden wollte, weshalb Lucivar so früh am Morgen brüllte.

Eine Stimme in seinem Kopf ermahnte ihn, dass er nicht splitternackt aus seinem Zimmer stürmen konnte, also griff er nach der Hose, die er in der Nacht über einen Stuhl geworfen hatte, als sich die Geburtstagfeier endlich ihrem Ende zugeneigt hatte. Allerdings blieb er nicht stehen, um sich die Hose anzuziehen. Er zerrte sich den Arm bei dem Versuch, die Tür zu öffnen, deren Holz sich aufgrund des nächtlichen Regens ausgedehnt hatte. Fluchend packte er den Knauf und hob mithilfe der Kunst die Tür aus den Angeln.

Die Eingangshalle war bereits mit mehr oder weniger bekleideten Leuten voll. Als er versuchte, sich an Karla vorbeizuschieben, bekam er einen Ellbogen in den Magen.

»Was im Namen der Hölle geht hier vor sich?«, schrie er.

Niemand kam auf den Gedanken, ihm zu antworten, denn in diesem Augenblick trat Lucivar aus Jaenelles Schlafzimmer und brüllte: »Katze!«

Anscheinend hatte Lucivar keinerlei Hemmungen, nackt vor einer Gruppe junger Menschen zu stehen. Wobei es ein Mann in der Blüte seiner Jahre mit diesem Körperbau auch nicht nötig hatte, Hemmungen an den Tag zu legen.

Und niemand, der nicht völlig den Verstand verloren hatte, würde einen Mann aufziehen, der derart wütend war.

»Wo stecken Ladvarian und Kaelas?«, wollte Lucivar wissen.

»Viel wichtiger«, meinte Saetan, während er sich die Hose anzog, »wo steckt Jaenelle?« Er warf einen viel sagenden Blick auf den Ring der Ehre, der Lucivars Geschlecht umschlossen hielt. »Du kannst sie spüren, nicht wahr?«

Lucivar zitterte vor Anstrengung, während er versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich kann sie spüren, aber ich kann sie nicht finden.« Er ließ die Faust auf ein kleines Tischchen niedersausen, das auf der Stelle zerbrach. »Verflucht noch mal, dafür werde ich ihr den Hintern versohlen! «

»Wer bist du, dass du es wagst, so etwas zu sagen?«, stieß Chaosti wütend hervor. Sein graues Juwel glühte vor jugendlicher Stärke, als er nach vorne trat.

Lucivar fletschte die Zähne. »Ich bin der Kriegerprinz, der ihr dient, der Mann, der geschworen hat, sie zu beschützen. Aber ich kann sie nicht beschützen, wenn ich nicht weiß, wo sie ist! Heute Nacht hat ihre Mondblutung eingesetzt. Muss ich dich erst daran erinnern, wie schutzbedürftig eine Hexe während dieser Tage ist? Im Moment hat sie völlig die Fassung verloren – so viel kann ich fühlen –, und ihr einziger Beistand sind zwei halb ausgebildete Tiere, weil sie mir nicht gesagt hat, wohin sie gehen wollte.«

»Das reicht«, fuhr Saetan scharf dazwischen. »Bändige deine Wut. Sofort!« Während der Höllenfürst darauf wartete, dass Lucivar seinem Befehl Folge leistete, rief er seine Schuhe herbei und schlüpfte hinein. Dann ließ er Chaosti und Lucivar mithilfe eines Blickes erstarren.

Als sich niemand mehr rührte, trat er von der Gruppe weg und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er atmete tief durch, um sich selbst zu beruhigen, schloss die Augen und stieg zu Schwarz hinab.

Zwar waren Hexen während ihrer Mondzeit nicht in der Lage, ihre Juwelenkraft ohne Schmerzen zu nutzen, doch Jaenelle würde das nicht davon abhalten.

Sich selbst als Mittelpunkt nutzend, stieß er die Kraft seiner schwarzen Juwelen behutsam in immer größer werdenden Kreisen nach außen; er suchte nach der geringsten Spur von ihr, die ihm zumindest eine Vorstellung davon geben konnte, wo Jaenelle sich befand. Die Kreise wurden weiter und weiter, dehnten sich über das Dorf Maghre hinaus aus, über die Insel Scelt hinaus, bis …

Kaetien!

Er konnte spüren, wie sich Angst und Entsetzen mit stetig wachsender Wut verbanden.

Schwarze Wut. Spiralförmige Wut. Kalte Wut.

Vorsichtig fing er an, sich zurückzuziehen, um dem mentalen Gewitter zu entkommen, das sich jeden Moment über Sceval entladen würde. Obwohl er wusste, dass es ihm nicht viel helfen würde, verstärkte er seine inneren Barrieren. Ihr Zorn würde seine Barrieren unterspülen, und er würde ihm schutzlos ausgeliefert sein. Er konnte nur hoffen, dass ihm genug Zeit blieb, um die anderen zu warnen.

Kaetien!

Als Jaenelle die Kraft ihrer schwarzen Juwelen freisetzte, hallte ihr gequälter Schrei in seinem Kopf wider und lähmte ihn völlig. Eine Flutwelle dunkler Macht brach über ihn herein und schleuderte ihn wie ein Stück Treibholz vor sich her. Gleichzeitig legte sich ein Schutzschild über Sceval.

Dann wurde alles von Dunkelheit umhüllt.

Er schwamm knapp außerhalb des Schilds, angsterfüllt, aber auch eigenartig beruhigt – als befände er sich in der Sicherheit eines Hauses, während draußen ein heftiges Gewitter tobte.

Wahrscheinlich war er zwischen die kollidierenden schwarzen Kräfte geraten, als Jaenelle den Schild aufgebaut hatte, um den Sturm einzudämmen. Kluge Hexe. Und all dieses mentale Wetterleuchten besaß eine furchteinflößende, erhabene Schönheit. Es würde ihm nicht das Geringste ausmachen, hier noch eine Zeit lang zu treiben, doch er hatte das dumpfe Gefühl, dass es da noch etwas gab, das er tun sollte.

*Höllenfürst.*

Verfluchte lästige Stimme! Wie sollte er einen klaren Gedanken fassen, wenn …

*Vater!*

Vater. Vater. Beim Feuer der Hölle, es war Lucivar!

Nach oben. Er musste nach oben, heraus aus Schwarz. Musste seine Gedanken so weit ordnen, dass er Lucivar sagen konnte … Aber wo war oben?

Jemand griff nach ihm und zerrte ihn unsanft aus dem Abgrund. Er zischte und fauchte. Das half ihm ungefähr so viel wie einem kleinen Welpen, der knurrte, weil man ihn im Genick gepackt hielt.

Im nächsten Augenblick wurde ihm etwas gegen die Lippen gepresst und sein Mund füllte sich mit Blut.

»Schluck runter, oder ich schlage dir deine verfluchten Zähne ein!«

Ach, ja. Lucivar. Und sogar zweimal!

Als Saetan wieder klar sehen konnte, stieß er Lucivars Hand von seinem Mund weg. »Genug.« Er versuchte aufzustehen, was gar nicht so leicht war, da Lucivar ihn an einer Seite festhielt und Chaosti an der anderen. »Ist alles in Ordnung? «

Karla beugte sich über ihn. »Uns geht es gut. Du bist derjenige, der in Ohnmacht gefallen ist.«

»Ich bin nicht in Ohnmacht gefallen. Ich wurde …« Er fing an, sich gegen die Hände zu wehren, die ihn gepackt hielten. »Lasst mich aufstehen. Sobald der Sturm vorüber ist, müssen wir nach Sceval.«

»Katze ist dort?«, wollte Lucivar wissen, während er Saetan auf die Beine zog.

»Ja.« Saetan lief ein Schauder über den Rücken, als er sich Jaenelles gequälten Schrei ins Gedächtnis rief. »Wir beide müssen so bald wie möglich dorthin.«

Karla tippte ihm mit einem Finger, an dem sich ein überaus scharfer Fingernagel befand, gegen die bloße Brust. »Wir alle müssen so schnell wie möglich dorthin.«

Bevor er Einwände erheben konnte, waren die anderen in ihren Zimmern verschwunden.

»Wenn wir uns beeilen, können wir vor den Übrigen dort ankommen«, sagte Lucivar auf dem Weg in Saetans Schlafzimmer. Der Eyrier rief seine eigene Kleidung herbei und zog sich hastig an. »Fühlst du dich stark genug?«

Saetan warf sich ein Hemd über. »Ich bin bereit. Gehen wir.«

»Bist du stark genug hierfür?«

Ohne zu antworten schob sich der Höllenfürst an Lucivar vorbei. Wie konnte ein Mann diese Frage beantworten, wenn er nicht die leiseste Ahnung hatte, was ihn erwartete?



»Mutter der Nacht«, flüsterte Saetan. »Mutter der Nacht.«

Er und Lucivar standen auf einem abgeflachten Hügel, der einen von Scevals offiziellen Landeplätzen darstellte. Zu ihren Füßen erstreckte sich die leicht hügelige Landschaft. Große Wiesen boten gutes Weideland, das von Baumgruppen unterbrochen wurde, die an Sommernachmittagen Schatten boten. Ein Netz aus Bächen versorgten das Land mit klarem Wasser.

In den letzten fünf Jahren hatte er einige Male auf diesem Hügel gestanden und auf die Einhörner hinabgeschaut, während die Hengste über die grasenden Stuten und die spielenden Fohlen wachten.

Jetzt blickte er auf ein Schlachtfeld.

Leise fluchend wandte sich Lucivar nach Norden. »Das waren nicht ein paar Mistkerle, die hier waren, um sich ein Horn als Jagdtrophäe mit nach Hause zu nehmen. Hier hat ein Krieg stattgefunden.«

Saetan musste die Tränen zurückblinzeln. Von allen Angehörigen des Blutes, allen Gattungen der verwandten Wesen waren ihm die Einhörner immer am liebsten gewesen. Sie waren die Sterne in der Dunkelheit, die lebenden Muster von Macht und gütiger Schönheit. »Sobald die anderen eintreffen, teilen wir uns auf, um nach Überlebenden zu suchen.«

Die Einhörner griffen genau in dem Moment an, als der Hexensabbat und der Kreis der Männer auf dem Hügel ankamen.

»Schilde!«, riefen Saetan und Lucivar gleichzeitig. Sie warfen einen schwarzen und einen schwarzgrauen Schutzschild über die ganze Gruppe, während die anderen Männer einen beschützenden Kreis um den Sabbat bildeten.

Die acht Einhornhengste drehten ab, bevor sie frontal mit den Schilden zusammenstoßen konnten, doch die Kraft, die sie durch ihre Hörner und Hufe leiteten, ließ blendend grelle Funken aufstieben, als sie an den unsichtbaren Hindernissen entlangschrammten.

»Wartet!«, rief Saetan. Das Donnern in seiner Stimme übertönte kaum die Schreie und lautstarken Drohungen der Hengste. »Wir sind eure Freunde! Wir sind hier, um euch zu helfen!«

*Ihr seid nicht unsere Freunde*, sagte ein älterer Hengst, dessen Horn abgebrochen war. *Ihr seid Menschen!*

»Wir sind eure Freunde*, beharrte Saetan.

*Ihr seid nicht unsere Freunde!*, riefen die Einhörner. *Ihr seid Menschen!*

Sceron trat einen Schritt vor. »Unser Volk hat noch nie gegen unsere Brüder und Schwestern, die Einhörner, gekämpft. Wir wollen auch jetzt nicht kämpfen.«

*Ihr seid gekommen, um uns zu töten. Erst nennt ihr uns Brüder und Schwestern und dann kommt ihr her, um uns zu töten. Nie wieder. Nie wieder! Diesmal töten wir euch!«

Karla reckte den Kopf über Saetans Schulter. »Zur Hölle mit euren Hufen und Hörnern, wir sind Heilerinnen. Lasst uns zu euren Verwundeten, damit wir uns um sie kümmern können! «

Die Einhörner zögerten kurz, schüttelten dann jedoch die Köpfe und gingen erneut zum Angriff auf die Schilde über.

»Ich erkenne keinen von ihnen wieder«, meinte Lucivar. »Und sie sind zu sehr auf Blut aus, um uns zuzuhören.«

Saetan sah zu, wie die Hengste wieder und wieder gegen die Schutzschilde anrannten. Er verstand ihre Wut und ihren Hass, doch er hatte vor zu bleiben, bis sie sich ausreichend beruhigt hatten, um ihm Gehör zu schenken. Ansonsten würden noch mehr aus ihren Reihen sterben, wenn sich nicht bald jemand um die Verletzten kümmerte.

Und er musste bleiben, weil Jaenelle inmitten jener Leichen steckte. Irgendwo da draußen.

Dann stellten die Einhörner ihre Angriffe ein. Sie umkreisten jedoch schnaubend und mit den Hufen scharrend die Gruppe, und hielten die Hörner kampfbereit gesenkt.

»Der Dunkelheit sei Dank«, murmelte Khary, als ein junger Hengst, dessen linker Vorderlauf lahm zu sein schien, langsam den Hügel erklomm.

Erleichtert berieten die Mädchen sich leise untereinander und bildeten einzelne Gruppen, die sich an verschiedenen Orten um das Heilen kümmern würden.

Saetan wünschte, er könnte ihre Zuversicht teilen. Bei dem jungen Hengst, der sich ihnen näherte, handelte es sich um Mistral. Von allen Nachkommen Kaetiens war Mistral Menschen gegenüber am misstrauischsten gewesen – und er war am gefährlichsten. Charakterzüge, die jemand aufweisen musste, von dem allgemein angenommen wurde, dass er der nächste Kriegerprinz von Sceval werden würde. In diesem Augenblick fand Saetan die herausragenden Eigenschaften des Hengstes jedoch alles andere als vielversprechend.

»Mistral.« Saetan trat vor und hob seine leeren Hände. »Du kennst uns alle, seitdem du ein Fohlen warst. Lass uns euch helfen.«

*Ich kenne euch*, entgegnete Mistral widerwillig.

*Das lässt nichts Gutes ahnen*, sagte Lucivar auf einem schwarzgrauen Speerfaden.

*Wenn das hier misslingt, dann bring alle anderen fort*, erwiderte Saetan. *Ich werde den Schild aufrechterhalten.*

*Wir müssen immer noch Katze finden.*

*Bring die anderen fort, Yaslana.*

*Ja, Höllenfürst.*

Saetan trat einen weiteren Schritt vor. »Mistral, ich schwöre dir bei den Juwelen, die ich trage, und bei meiner Liebe für die Lady, dass wir euch nichts Böses wollen.«

Was immer Mistral davon hielt, dass ein anderer Mann Anspruch auf die Lady erhob, ging unter, als Ladvarians heller Tenor in ihren Köpfen widerhallte.

*Höllenfürst? Höllenfürst! Wir haben ein paar Junge abgeschirmt, aber sie sind verängstigt und hören nicht auf uns. Die ganze Zeit rennen sie gegen den Schild an, und Jaenelle weint und hört auch nicht auf uns. Höllenfürst?*

Saetan hielt den Atem an. Was würde sich als stärker erweisen: Mistrals Treue seinem eigenen Volk gegenüber oder sein Vertrauen in Jaenelle und die Liebe, die er für sie hegte?

Mistral blickte gen Norden. Einige Zeit später schnaubte er. *Der kleine Bruder glaubt euch. Wir werden euch vertrauen. Im Moment jedenfalls.*

Am liebsten hätte Saetan sich zu Boden fallen lassen, doch er wagte nicht, auch nur das geringste Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Behutsam ließ er den schwarzen Schild sinken.

Einen Augenblick später tat Lucivar dasselbe mit dem schwarzgrauen Schutz.

Sie teilten sich in Gruppen auf. Khary und Morghann zogen los, um Ladvarian und Kaelas mit den Fohlen zu helfen. Lucivar und Karla wandten sich nach Norden; Karla als die Hauptheilerin, Lucivar als ihr Helfer. Der Rest der Gruppe suchte die Gegend nach Verwundeten ab, um sich auf diese Weise nützlich zu machen. Saetan und Gabrielle brachen gen Süden auf.

Es schmerzte, die verstümmelten Leichen der Stuten zu sehen. Es tat sogar noch mehr weh, ein Füllen zu sehen, das tot über seiner Mutter lag, die Vorderläufe aufgeschlitzt. Saetan war in der Lage, ein paar Tiere zu retten. Doch den meisten von ihnen konnte er lediglich die Reise zurück in die Dunkelheit erleichtern, indem er ihnen die Schmerzen nahm.

Stundenlang suchte er nach Fohlen, die eventuell unter ihren Muttertieren verborgen lagen. Er fand einjährige Tiere in flachen Mulden versteckt. In diesen Vertiefungen herrschte eine Macht, wie sie ihm noch nie zuvor begegnet war. Zu jenen Orten verschaffte er sich keinen Zutritt. Die jungen Einhörner beobachteten mit verängstigten Blicken, wie er vorsichtig um sie herumging, um nach Verletzungen zu suchen. Während er über in Stücke gerissene menschliche Leichen stieg, dämmerte es ihm langsam, dass sämtliche Einhörner, die diese Orte erreicht hatten, im schlimmsten Fall kleine Schnittwunden oder Kratzer davongetragen hatten, ansonsten aber vor den Angreifern geschützt gewesen waren.

Er arbeitete weiter, ohne sich um den Kopfschmerz zu kümmern, den ihm das Sonnenlicht verursachte. Ebenso wenig achtete er auf seine überanstrengten Muskeln oder die ständig zunehmende Müdigkeit.

Zum Schutz gegen den Anblick des schrecklichen Gemetzels waren seine Gefühle wie abgestumpft.

Doch er musste feststellen, dass sie nicht abgestumpft genug waren, als er auf Jaenelle und Kaetien stieß.



»So, meine gute Lady. Ein paar Tage wird es wehtun, aber es wird verheilen.« Lucivar strich mit der Hand über den Hals der Stute.

Das Füllen der Stute schnaubte wütend und stampfte mit den Hufen auf, bis Lucivar ihm ein paar Mohrrüben und ein Stück Zucker gab.

Als die Stute mit ihrem Nachwuchs lostrabte, trank der Eyrier einen großen Schluck Wasser und verspeiste ein halbes Käsebrot, während er auf das nächste Einhorn wartete, das den Mut aufbrächte, sich von einem Menschen berühren zu lassen.

Die Dunkelheit segne Khary und seine Liebe zu den Pferden! Nachdem Khary einen kurzen Blick auf das Unheil geworfen hatte, war er zusammen mit Aaron nach Maghre zurückgekehrt. Sie waren mit Narzissus und Sonnentänzer wiedergekommen, die je einen Karren voll beladen mit Vorräten, Nahrungsmitteln für die Menschen, Kleidung zum Wechseln, Decken und Kharys ›Bestechungen‹ – Mohrrüben und Zucker – gezogen hatten.

Narzissus und Sonnentänzer vertrauensvoll mit den Menschen zusammenarbeiten zu sehen, hatte die Ängste der Einhörner ein wenig besänftigt. Die Worte »Ich diene der Lady« hatten eine noch größere Wirkung gezeitigt. Dank dieser Worte hatten die meisten Einhörner es zugelassen, dass Lucivar sie berührte und so weit wie möglich heilte.

Er aß den letzten Bissen des Sandwichs, während sich ihm ein Einjähriger misstrauisch näherte, dessen Haut zuckte, um Fliegen von einer Schulterwunde zu vertreiben, die von einem immer schwächer werdenden Schild geschützt wurde.

Lucivar breitete die Arme aus, um dem Einhorn seine leeren Hände zu zeigen. »Ich diene der …«

Das Einhorn scheute, als Scerons Schlachtruf den unsicheren Frieden zerriss, der über der Landschaft lag, und Kaelas herausfordernd brüllte.

Lucivar rief sein eyrisches Kampfschwert herbei und schwang sich in die Lüfte.

Während er auf einen Mann zustürzte, der auf den Landeplatz zulief, registrierte er aus den Augenwinkeln einzelne Szenen, die sich unter ihm ereigneten: Morghann, Kalush und Ladvarian trieben die Fohlen in den Schutz der Bäume; Kaelas fiel einen Mann an und zerfleischte ihn; Astar, die sich auf den Hinterläufen drehte, während sie die Sehne ihres Bogens spannte; Morton legte einen Schutzschild um Karla und das Einhorn, das sie gerade heilte; Khary, Aaron und Sceron, die sich gegenseitig den Rücken freihielten, während sie die Kraft ihrer Juwelen in kurzen, kontrollierten Stößen freisetzten und auf diese Weise die einfallenden Menschen in Stücke rissen.

Lucivar konzentrierte sich auf das Opfer, das er sich auserkoren hatte, und richtete einen Strahl schwarzgrauer Macht auf den Mann, als dieser den Fuß des Hügels erreichte.

Der Mann fiel zu Boden, beide Beine sauber gebrochen. Die Kraft in seinem gelben Juwel war erschöpft.

Der Hengst mit dem abgebrochenen Horn galoppierte auf den am Boden liegenden Mann zu. *Warte!*, schrie Lucivar, der landete und gleichzeitig einen festen roten Schild um den Mann aufbaute.

Der Hengst wieherte wutentbrannt und drehte sich in Lucivars Richtung.

*Warte*, wiederholte Lucivar. *Zuerst will ich ein paar Antworten. Danach kannst du ihn zertrampeln.*

Der Hengst schnaubte wütend, hörte allerdings auf, mit den Hufen zu scharren.

Ohne das Einhorn aus den Augen zu lassen, ließ Lucivar den Schild sinken. Mit dem Fuß rollte er den Mann auf den Rücken. »Dies ist ein gesperrtes Territorium«, sagte er barsch. »Warum seid ihr hier?«

»Jemandem wie dir bin ich keine Rechenschaft schuldig.«

Mutige Worte für jemanden mit zwei gebrochenen Beinen. Dumm, aber mutig.

Mit dem eyrischen Kampfschwert deutete Lucivar auf das rechte Knie des Mannes und warf dem Hengst einen Blick zu. »Ein Mal. Genau hier.«

Das Einhorn bäumte sich auf und kam der Bitte bereitwillig nach.

»Sollen wir es noch einmal versuchen?«, erkundigte Lucivar sich freundlich, sobald der Mann zu schreien aufgehört hatte. »Als Nächstes kommt das andere Knie dran. Oder lieber eine Hand? Du darfst es dir aussuchen.«

»Dazu hast du kein Recht. Wenn das hier gemeldet wird …«

Lucivar lachte. »Wem gemeldet? Und was genau willst du melden? Ihr seid Eindringlinge; ihr überfallt die rechtmäßigen Bewohner dieser Insel. Wer wird sich darum kümmern, was mit euch geschieht?«

»Der Dunkle Rat, wer sonst?« Schweißperlen traten dem Mann auf die Stirn, als Lucivar mit seinem Schwert herumspielte. »Ihr habt keinerlei Anspruch auf dieses Land.«

»Ihr auch nicht«, erwiderte Lucivar kalt.

»Wir haben einen Anspruch, du fledermausflügliger Bastard! Meine Königin und fünf weitere bekamen diese Insel als neues Territorium zugewiesen. Wir sind vorausgeschickt worden, um die Grenzen der einzelnen Territorien abzustecken und um etwaige Probleme zu beseitigen.«

»Wie zum Beispiel das Volk, das dieses Land seit tausenden von Jahren bewohnt hat? Ja, ich kann nachvollziehen, dass dies ein gewisses Problem für euch darstellen könnte.«

»Niemand herrscht hier. Dies ist herrenloses Land, auf das bisher keinerlei Anspruch erhoben wurde.«

»Dies ist das Territorium der Einhörner«, erwiderte Lucivar zornig.

»Ich habe Schmerzen«, jammerte der Mann plötzlich. »Ich brauche eine Heilerin.«

»Die sind alle beschäftigt. Wenden wir uns wieder einem interessanteren Thema zu: Der Dunkle Rat hat nicht das Recht, Land zu verteilen, und sie haben nicht das Recht, ein einheimisches Volk beseitigen zu lassen, das seit jeher über das Land herrscht.«

»Zeig mir die unterschriebene Urkunde, die besagt, dass ihnen das Land zugewiesen wurde. Meine Königin besitzt ein solches Dokument, offiziell unterzeichnet und mit einem Siegel versehen.«

Lucivar knirschte mit den Zähnen. »Das Land gehört den Einhörnern.«

Der Mann warf den Kopf von der einen Seite auf die andere. »Tiere haben keinen Anspruch auf das Land. Nur Menschen können rechtmäßige Herrschaftsansprüche erheben. Alles, was zu diesem Zeitpunkt hier lebt, tut dies unter der Duldung der betreffenden Königin.«

»Es sind verwandte Wesen!« Lucivars Stimme klang heiser vor Wut. »Angehörige des Blutes.«

»Tiere. Nichts als Tiere. Wir werden die bockenden Einhörner ausmerzen. Einige wenige könnten sich vielleicht noch als nützlich erweisen, wenn sie sich unterwerfen.« Der Mann wimmerte erneut. »Aua! Ich … brauche …eine … Heilerin. «

Lucivar trat einen Schritt zurück. Noch einen. Oh, ja. Die terreilleanischen Königinnen, diese verfluchten Luder, würden es lieben, auf Einhörnern umherzureiten, nicht wahr? Es würde ihnen nicht das Geringste ausmachen, dass man die Tiere brechen müsste, damit ihre Besitzerinnen sie als Reittiere benutzen konnten. Überhaupt nichts.

Drei wunderbare Jahre in Kaeleer konnten die siebzehnhundert Jahre nicht ungeschehen machen, die er in Terreille gelebt hatte. Er gab sich alle Mühe, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, aber es gab Nächte, in denen er am ganzen Leib zitternd aufwachte. Seinen Geist hatte er meist unter Kontrolle, doch sein Körper konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie es sich anfühlte, einen Ring des Gehorsams zu tragen, und was er einem antun konnte.

Er schluckte hart und fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Dann blickte er zu dem alten Hengst auf. »Fang mit den Armen und Beinen an. Auf die Weise dauert es länger, bis er stirbt.«

Nachdem er sein Kampfschwert hatte verschwinden lassen, wandte er sich um und ging fort, ohne auf die leiser werdenden Schmerzensschreie zu achten.



Als Saetan über einen abgetrennten Arm stolperte, musste er endlich einräumen, dass er einfach nicht weitermachen konnte. Jaenelles Bluttrank erlaubte es ihm, das Tageslicht zu ertragen, ja, zu genießen; doch er musste sich immer noch während der Stunden ausruhen, in denen die Sonne am stärksten schien. Seit Anbruch des Nachmittags hatte er so viel wie möglich im Schatten gearbeitet, doch das hatte nicht ausgereicht, um der Belastung entgegenzuwirken, die starkes Sonnenlicht für den Körper eines Hüters darstellte. Er war nicht in der Lage, über so viele Stunden hinweg zu heilen.

Er musste aufhören.

Allerdings konnte er das nicht, bevor er nicht endlich Jaenelle gefunden hatte.

Trotz aller Bemühungen war es ihm nicht gelungen, sie ausfindig zu machen. Ladvarian hatte ihm lediglich sagen können, dass sie sich hier befand und dass sie weinte. Doch weder Ladvarian noch Kaelas konnten ihm auch nur die ungefähre Richtung angeben, in der er nach ihr suchen sollte. Als Mistral endlich begriffen hatte, weshalb er sich Sorgen machte, hatte der Hengst gesagt: *Ihr Kummer macht es uns unmöglich, sie zu finden.*

Saetan rieb sich die Augen und hoffte inständig, dass sein völlig ausgelaugter Geist noch lange genug funktionieren würde, um ihm den Weg in das Lager zu weisen, das Chaosti und Elan errichtet hatten. Er war zu müde. Sein erschöpfter Geist gaukelte ihm bereits Trugbilder vor.

So glaubte er doch tatsächlich, eine Einhornkönigin vor sich zu sehen, die aussah, als bestehe sie aus Mondlicht und Nebel und habe Augen, die so alt wie das Land waren.

Es dauerte eine Minute, bis er merkte, dass er durch sie hindurchsehen konnte.

»Du bist …«

*Gestorben*, sagte die sanfte Frauenstimme. *Vor langer, langer Zeit. Und doch niemals tot. Komm, Höllenfürst. Meine Schwester braucht jetzt ihren Vater.*

Saetan folgte ihr zu einem Kreis aus niedrigen Felsen, die immer im gleichen Abstand voneinander standen. In der Mitte erhob sich ein gigantisches Steinhorn aus dem Erdboden. Eine alte, tiefe Macht erfüllte den Ort.

»Dorthin kann ich nicht gehen«, meinte Saetan. »Es ist ein heiliger Ort.«

*Ein ehrwürdiger Ort*, entgegnete sie. *Sie ist ganz in der Nähe. Sie trauert um das, was sie nicht bewahren konnte. Du musst ihr all das zeigen, was sie gerettet hat.*

Die Stute betrat den Kreis. Als sie sich dem steinernen Horn näherte, verblasste sie, bis nichts mehr von ihr zu sehen war, doch er hatte immer noch das Gefühl, von uralten Augen beobachtet zu werden.

In der Luft zu seiner Rechten flimmerte es. Ein Schleier hob sich, von dessen Existenz er bis eben nichts geahnt hatte. Saetan ging auf die Stelle zu. Und er fand sie.

Die Bastarde hatten Kaetien abgeschlachtet. Sie hatten ihm die Beine, den Schweif und die Genitalien abgehackt. Sie hatten ihm den Bauch aufgeschlitzt.

Sie hatten ihm das Horn abgehackt.

Sie hatten ihm den Kopf abgeschlagen.

Doch in Kaetiens dunklen Augen funkelte immer noch ein feuriger Verstand.

Saetan wurde übel.

Kaetien war dämonentot – in diesem verstümmelten Körper.

Jaenelle saß neben dem Hengst, an den geöffneten Leib gelehnt. Tränen rannen ihr über das Gesicht, während sie ins Leere starrte. Sie hielt Kaetiens Horn so fest umklammert, dass die Knöchel an ihren Händen weiß hervortraten.

Saetan ließ sich neben ihr in die Knie sinken. »Hexenkind? «, flüsterte er.

Es dauerte, bis sie ihn wiedererkannte. »Papa? P-Papa?« Sie warf sich in seine Arme. Aus den leisen Tränen wurde ein hysterisches Schluchzen. Sie schrammte ihm mit Kaetiens Horn beinahe den Rücken auf, als sie sich an ihn klammerte.

»Oh, Hexenkind!« Während er und die Übrigen nach Überlebenden gesucht hatten, hatte sie den ganzen Tag hier gesessen, eingeschlossen in ihren Kummer.

»Möge die Dunkelheit Erbarmen haben«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Saetan blickte über die Schulter, wobei sich jeder einzelne Muskel bemerkbar machte, als er mühsam den Kopf drehte. Lucivar. Lebendige Kraft, die zu tun vermochte, wozu er nicht in der Lage war.

Lucivar starrte Kaetiens Kopf an und schüttelte sich.

Saetan lauschte den kurzen Unterhaltungen um ihn her, die über Speerfäden geführt wurden, aber er war zu erschöpft, um zu begreifen, was genau gesprochen wurde.

Da ließ sich Lucivar auf ein Knie sinken, griff Jaenelle in das blutverkrustete Haar und zog ihren Kopf von Saetans Schulter. »Komm schon, Katze. Es wird dir besser gehen, wenn du hiervon getrunken hast.« Er presste ihr eine große silberne Taschenflasche an den Mund.

Sie würgte und spuckte, als die Flüssigkeit ihr die Kehle hinablief.

»Versuch, etwas davon zu schlucken«, sagte Lucivar. »Das hier schadet deinem Magen weitaus weniger als deinen Lungen. «

»Dieses Zeug schmilzt einem die Zähne weg«, stieß Jaenelle keuchend hervor.

»Was hast du ihr gegeben?«, wollte Saetan wissen, als sie kurz darauf reglos in seinen Armen hing.

»Eine großzügige Dosis von Kharys selbst gebrautem Alkohol. Hoppla!«

Saetan stemmte sich gegen Lucivars Brust. Eine Minute lang konzentrierte er sich einzig und allein auf seine Atmung. »Lucivar. Du hast gefragt, ob ich hierfür stark genug bin. Ich bin es nicht.«

Eine starke, warme Hand strich ihm zärtlich über den Kopf. »Halt durch. Sonnentänzer ist auf dem Weg hierher. Wir bringen dich ins Lager. Die Mädchen werden sich um Katze kümmern. In ein paar Minuten kannst du dich ausruhen. «

Ausruhen. Ja, er musste sich ausruhen! Die Kopfschmerzen, die seinen Schädel zu zerreißen drohten, nahmen mit jedem weiteren Atemzug zu.

Jemand nahm ihm Jaenelle aus den Armen. Er wurde halb zu der Stelle getragen, an der Sonnentänzer wartete. Starke Arme hielten ihn auf dem Rücken des Pferdes fest.

Als er wieder zu sich kam, saß er in Decken gewickelt im Lager. Neben ihm kniete Karla und drängte ihn dazu, den Hexentrank zu sich zu nehmen, den sie für ihn gebraut hatte.

Nach der zweiten Tasse ließ er sich willig durch die Gegend manövrieren und in einen Schlafsack stecken. Danach erhob er jedoch mürrisch Einwände gegen den Wirbel, den man um ihn machte, bis Karla ihn spitz fragte, wie sie es seiner Meinung nach fertig bringen sollten, Jaenelle zu umsorgen, wenn er seiner Tochter ein solch schlechtes Vorbild war.

Da er keine Antwort auf diese Frage wusste, ließ er sich von dem Hexentrank betäuben und schlief ein.



Lucivar schlürfte seinen Kaffee, dem ein Schuss Whiskey beigemischt war, und sah zu, wie Gabrielle und Morghann Jaenelle zu einem Schlafsack führten. Sie blieb stehen, ohne auf die dringenden Bitten der anderen zu hören, sich hinzulegen und auszuruhen. Der dumpfe, halb verwirrte Blick verschwand aus ihren Augen, als sie ihre Aufmerksamkeit auf Mistral richtete, der sich am Rand des Lagers aufhielt und noch immer den verletzten linken Vorderlauf nachzog.

Lucivar war dankbar, dass der kalte, gefährliche Blick in ihren Augen nicht ihm galt.

»Warum hat sich niemand um sein Bein gekümmert?«, fragte Jaenelle mit ihrer Mitternachtsstimme, während sie den jungen Hengst durchdringend anstarrte.

Mistral schnaubte und tänzelte unruhig umher. Offensichtlich wollte er nicht zugeben, dass er niemandem gestattet hatte, ihn anzufassen.

Lucivar verübelte es ihm nicht.

»Du weißt doch, wie Männer sind«, meinte Gabrielle besänftigend. »›Mir geht es gut, mir geht es gut, kümmert euch erst um die anderen.‹ Wir wollten gerade nach ihm sehen, als du eingetroffen bist.«

»Aha«, gab Jaenelle leise von sich. Ihre Augen waren immer noch unverwandt auf Mistral gerichtet. »Und ich dachte, du hättest meine Schwestern beleidigt, indem du dich geweigert hast, dich heilen zu lassen, bloß weil sie Menschen sind.«

»Unsinn«, erklärte Morghann. »Aber jetzt komm schon und geh mit gutem Beispiel voran.«

Sobald die jungen Hexen Jaenelle warm eingepackt hatten, kümmerten sie sich um Mistral.

Es würde wieder gut werden, dachte Lucivar dumpf. So musste es sein. Die Einhörner und die anderen verwandten Wesen würden nicht all ihr Vertrauen in die Menschen verlieren und sich wieder hinter die Schleier der Macht zurückziehen, die sie früher vom Rest Kaeleers abgeschirmt hatten. Katze würde dafür Sorge tragen. Und Saetan …

Beim Feuer der Hölle. Bis zum heutigen Tag hatte er sich nie viele Gedanken über die Unterschiede zwischen einem Hüter und den Lebenden gemacht. Auf der Burg waren diese Unterschiede kaum wahrnehmbar.

Er hatte nicht geahnt, dass starkes Sonnenlicht derartige Schmerzen verursachen konnte, und er war sich auch nicht bewusst gewesen, wie viele Jahre der Höllenfürst schon in den Reichen verbracht hatte. Oh, er wusste, wie alt Saetan war, aber heute hatte sein Vater das erste Mal alt gewirkt.

Natürlich fühlten sich die anderen körperlich und geistig ebenfalls sehr erschöpft; doch daran konnte man es nicht messen.

Khary ging neben ihm in die Hocke und goss ein wenig Alkohol in Lucivars ohnehin schon hochprozentigen Kaffee. »Etwas beunruhigt unsere vierbeinigen Brüder«, flüsterte er. »Etwas anderes.« Er winkte mit der Hand in Richtung der reglosen weißen Leichen, die in Sichtweite lagen.

Den Einhörnern war es gleichgültig gewesen, was mit den Menschenleichen geschah – außer, dass sie darauf bestanden hatten, dass die Eindringlinge nicht in ihrem Land verblieben – , aber sie hatte sich leidenschaftlich dagegen ausgesprochen, die toten Einhörner fortzuschaffen. Die Lady würde sie ins Land singen, sagten sie.

Was immer das heißen mochte.

Doch während die verletzten Stuten und Fohlen auf diese Seite des Landehügels geführt worden waren, waren die überlebenden Hengste immer unruhiger geworden.

»Vielleicht weiß Ladvarian, was los ist«, antwortete Lucivar und nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Er rief still nach Ladvarian. Ein paar Minuten später trottete der Sceltie erschöpft in das Lager.

*Mondschatten ist verschwunden*, gab Ladvarian Auskunft, als Lucivar ihn nach den Einhörnern fragte. *Sternenwolke ist schon alt, und Mondschatten sollte die nächste Königin werden. Sie trägt einen Opal. Eine der Stuten hat beobachtet, wie Menschen Stricke und Netze um Mondschatten warfen, aber sie weiß nicht, wohin sie verschwunden sind.*

Lucivar schloss die Augen. Soviel er wusste, hatten sämtliche Männer des Blutes, die an dem Überfall auf Sceval beteiligt gewesen waren, hellere Juwelen getragen. Doch wenn sich genügend von ihnen zusammengetan und magische Netze und Stricke benutzt hatten, wäre es ihnen theoretisch möglich gewesen, eine Königin mit Opal zu überwältigen. Hielten die Fangnetze sie davon ab, nach den anderen zu rufen, oder hatte man sie ganz von der Insel gebracht?

»Ich bin vor der Dämmerung wieder zurück.« Er drückte Khary seine Tasse in die Hand.

»Pass auf dich auf«, meinte Khary leise. »Man kann nie wissen.«

Lucivar flog nach Norden. Währenddessen sandte er wieder und wieder dieselbe Botschaft aus: Er diente der Lady. Die Lady befand sich in einem Lager in der Nähe des Landehügels. Bei der Lady waren Heilerinnen.

Er entdeckte ein paar kleine Einhornherden, die so schnell wie möglich in den Schutz der Bäume liefen, als sie ihn witterten.

Er sah viele reglose weiße Körper.

Außerdem sah er noch mehr zerfetzte menschliche Körper und dankte der Dunkelheit, dass Jaenelle es auf irgendeine Art und Weise geschafft hatte, ihre Wut auf diese Insel zu beschränken.

Und er fragte sich, woher die Erdmulden voller Macht stammten, die er überall spüren konnte, während er über Wälder und Lichtungen flog. Manche waren schwach, andere viel stärker. Er ließ gerade eine Vertiefung voll außergewöhnlich starker Macht hinter sich, als ihn etwas packte. Etwas Wütendes und Verzweifeltes.

Mithilfe seines roten Geburtsjuwels machte Lucivar sich von der mentalen Berührung frei, doch es kostete ihn einige Anstrengung.

*Du dienst der Lady*, erklang eine barsche männliche Stimme.

Schwer atmend zog Lucivar seine Kreise. *Ich diene der Lady*, stimmte er vorsichtig zu. *Brauchst du Hilfe?*

*Sie braucht Hilfe.*

Er landete und ließ sich von der ausgesandten Macht durch die Bäume leiten, bis er sein Ziel erreicht hatte: In einer Mulde voller Macht lag eine Stute, die mit Netzen und Stricken gefesselt war. Sie atmete schwer und war schweißgebadet.

»Ach, meine Süße«, sagte Lucivar sanft.

Die meisten Einhörner waren weiß, doch es gab ein paar Ausnahmen, die grau gescheckt waren. Das Fell dieser Stute wies einen blassen blaugrauen Farbton auf, während Mähne und Schweif weiß waren. Von einem silbernen Ring an ihrem Horn hing ihr Juwel, ein Opal.

Sie war nicht nur eine Königin, sondern noch dazu eine Schwarze Witwe. Die einzige andere Kombination, die noch seltener war, war eine Königin, die zudem eine Schwarze Witwe und eine Heilerin war. In Terreille hatte er niemals von einer derartigen Hexe gehört. In Kaeleer gab es nur drei davon: Karla, Gabrielle und Jaenelle.

Lucivar stand ganz ruhig da und breitete langsam seine dunklen Flügel aus. Er hatte genug verächtliche Bemerkungen über ›menschliche Fledermäuse‹ gehört, um den Vorteil zu erkennen, den ihm seine Flügel in dieser Situation verschafften. Wie Hufe und Fell waren Flügel normalerweise Teil der Sphäre der verwandten Wesen.

»Lady Mondschatten.« Er achtete auf ein tiefes, besänftigendes Timbre in seiner Stimme. »Ich bin Prinz Lucivar Yaslana. Ich diene der Lady und würde dir gerne helfen.«

Sie erwiderte nichts, doch die panische Angst in ihren Augen legte sich allmählich.

Er ging auf sie zu und knirschte mit den Zähnen, bis die schützende männliche Macht, welche die Erdmulde umgab, schließlich verebbte.

»Ruhig, meine Süße«, sagte er, indem er sich neben ihr niederkauerte. »Ruhig.«

Ihr Entsetzen flackerte erneut auf, als er sie mit der Hand berührte.

Während Lucivar die Stricke zerschnitt, fluchte er in Gedanken. Sie hatten versucht, sie zu brechen und ihr inneres Netz zu zerstören. Der einzige Unterschied zu dem, was diese terreilleanischen Bastarde normalerweise menschlichen Hexen antaten, war, dass es in diesem Fall keine körperliche Vergewaltigung gegeben hatte. Vielleicht waren ihre Versuche, den Geist des Einhorns zu brechen, deshalb nicht geglückt, bevor Jaenelle die Macht von Schwarz auf die Insel losgelassen hatte. Es war ihnen nicht möglich gewesen, ihre wirksamste Waffe einzusetzen.

»Gut so«, sagte Lucivar, indem er den letzten Strick fortschleuderte. »Komm schon, Süße. Auf die Beine. Nur ruhig.«

Schritt für Schritt lockte er sie auf die nächste Lichtung. Ihre Angst wuchs mit jedem Meter, den sie sich von der Vertiefung im Erdboden entfernte. Er musste sie unbedingt ins Lager bringen, bevor ihre Furcht zu Ende führte, was jene Schurken begonnen hatten. Eine Horizontlinie des rosafarbenen Windes war nahe genug, um aufzuspringen, und er würde die Stute diese kurze Strecke lang gewiss leiten und beschützen können. Doch wie sollte er sie dazu überreden, ihm so weit zu vertrauen?

»Mistral wird sehr froh sein, dich zu sehen«, meinte er beiläufig.

*Mistral?* Sie drehte den Kopf in seine Richtung, und er musste ihrem Horn ausweichen, um nicht aufgespießt zu werden. *Es geht ihm gut?*

»Er ist im Lager bei der Lady. Wenn wir den Rosenwind nehmen, stoßen wir vor der Dämmerung zu ihnen.«

Schmerz und Trauer beherrschten ihre Gedanken. *Die Verstorbenen müssen ins Land gesungen werden, sobald der Abend dämmert.*

Lucivar unterdrückte ein Zittern. Auf einmal wollte er unbedingt zurück. »Sollen wir gehen, Lady?«



Alle waren körperlich erschöpft und tief betrübt ins Lager zurückgekehrt.

Alle außer Lucivar.

Saetan trank von dem Stärkungsmittel, das Karla ihm gebraut hatte, und versuchte sich keine Sorgen zu machen. Lucivar konnte auf sich selbst aufpassen. Er war ein starker, gesunder, bestens ausgebildeter Krieger, der seine Grenzen kannte – besonders, nachdem er sich am heutigen Tag derart verausgabt hatte. Er würde nichts Törichtes tun; es zum Beispiel alleine mit einer Bande von Männern des Blutes mit Juwelen aufnehmen, nur weil er über den Tod der verwandten Wesen erbost war.

Und morgen würde im Westen die Sonne aufgehen.

»Es geht ihm gut«, sagte Jaenelle kaum hörbar, als sie sich neben ihm auf einem der Baumstämme niederließ, welche die jungen Männer herbeigeschleppt hatten, damit man bequem um das Feuer sitzen konnte. Sie wickelte sich fester in die mit einem Wärmezauber belegte Decke und lächelte wehmütig. »Der Ring ist eigentlich dazu da, dass ich seine Gefühlsausbrüche überwachen kann. Es war mir nicht aufgefallen, dass mir bei der Erschaffung ein Fehler unterlaufen sein muss, bis Karla, Morghann und Grezande sich beschwerten, ich würde mit schlechtem Beispiel vorangehen, weil alle Jungs nun einen Ring wollen, der auf diese Weise funktioniert.« Ihre Stimme bekam einen klagenden Unterton. »Ich dachte immer, es handele sich um außergewöhnliche Intuition, wenn er jedes Mal genau dann auftauchte, sobald ich schlecht gelaunt war. Er jedenfalls hat nie etwas darüber verlauten lassen, dass es dafür einen ganz anderen Grund gab.«

»Er ist kein Dummkopf, Hexenkind«, entgegnete Saetan und nippte an dem Getränk, um sein Lächeln vor ihr zu verbergen.

»Darüber lässt sich streiten. Aber warum musste er unbedingt den anderen davon erzählen?«

Er verstand, weshalb die Königinnen verärgert waren. Der Grundstock eines jeden offiziellen Hofs waren zwölf Männer und eine Königin. Mithilfe des Rings der Ehre war eine Königin in der Lage, das Leben eines Mannes zu überwachen. Doch da die Königinnen die Privatsphäre der Männer respektierten, die ihnen dienten, und da keine Frau, die noch ganz bei Verstand war, das Gefühlsleben von derart vielen Männern verfolgen wollte, stellten die Königinnen den Ring normalerweise so ein, dass nur Dinge wie Angst, Wut und Schmerz zu ihnen durchdrangen – die Art Gefühle, die anzeigten, dass der Ringträger Hilfe benötigte.

Jeder Mann hatte jedoch nur eine einzige Königin im Auge zu behalten!

Er musste unbedingt mit Lucivar über die selbst auferlegten Grenzen sprechen, was diese Art der Überwachung betraf. Es würde ihn interessieren, wo sein Sohn die Trennlinie zog.

»Wo wir gerade von dem Plagegeist sprechen, der angeblich kein Dummkopf ist«, sagte Jaenelle, indem sie auf zwei Gestalten deutete, die langsam auf das Lager zukamen.

Mistral wieherte laut. *Mondschatten! Mondschatten!*

Er galoppierte los. Zumindest versuchte er es.

Als Mistral einen Satz nach vorne machte, sprang Gabrielle von dem Baumstamm, auf dem sie gesessen hatte, und griff mit ihrer Hand in die Luft, als packe sie etwas. Dann zog sie ihren Arm ruckartig zurück.

Mistral hing mit rudernden Beinen in der Luft.

Obwohl sich Gabrielle der Kunst bediente, zitterte ihr Arm aufgrund des großen Gewichts, das sie schweben ließ. Bei ihrem Anblick kam Saetan zu dem Schluss, dass er sich möglichst bald mit Chaosti unterhalten sollte. Eine Hexe, die etwas Derartiges vollbringen konnte, nachdem sie einen anstrengenden Tag als Heilerin verbracht hatte, war mit äußerster Vorsicht zu genießen.

»Wenn du mit deinem verletzten Bein galoppierst, bekommst du es mit mir zu tun«, sagte Gabrielle.

*Es ist Mondschatten!*

»Von mir aus kann es sich um die Königin der Einhörner oder deine Gefährtin handeln«, antwortete Gabrielle aufgebracht. »Auf dem Bein wird nicht galoppiert!«

»Sie ist sogar beides«, meinte Jaenelle mit einem trockenen Lächeln.

»Beim Feuer der Hölle!« Gabrielle ließ Mistral zurück auf die Erde sinken, hielt ihn jedoch in ihrem Bann gefangen.

»Gabrielle«, sagte Chaosti in dem schmeichelnden Tonfall, den Saetan insgeheim die männliche Hexenbesänftigungsstimme zu nennen pflegte. »Sie ist seine Gefährtin. Er hat sich Sorgen um sie gemacht. Ich würde auch nicht warten wollen, wenn es um dich ginge. Lass ihn los.«

Gabrielle warf Chaosti einen zornigen Blick zu.

»Er wird nicht galoppieren«, meinte Chaosti. »Nicht wahr, Mistral?«

Das Einhorn hatte nicht vor, in diesem Moment auf Verbündete zu verzichten, selbst wenn sie nur zwei Beine hatten. *Ich werde nicht galoppieren.*

Widerwillig ließ Gabrielle ihn ziehen.

Mistral stapfte schwerfällig auf Mondschatten zu, wobei er den Kopf wie ein kleiner Junge sinken ließ, der noch nicht ganz außer Sichtweite der Person ist, die ihm soeben eine Strafpredigt gehalten hatte.

»Sieh nur, was du angerichtet hast!«, versetzte Khary. »Er trägt sein Horn gesenkt.«

»Ich wette, du trägst dein Horn auch gesenkt, wenn du so eine Ansprache bekommst«, sagte Karla mit einem anzüglichen Grinsen.

Bevor Khary etwas erwidern konnte, stellte Jaenelle ihre Tasse ab und meinte: »Es ist so weit.«

Alle wurden schweigsam, als sie inmitten der Bäume verschwand.

»Weißt du, was hier geschehen soll?«, wollte Lucivar von Saetan wissen, nachdem er das Lager erreicht und sich neben seinen Vater gesetzt hatte.

Saetan schüttelte den Kopf. Wie jeder andere im Lager war er nicht in der Lage, seinen Blick von der Stute zu wenden. »Mutter der Nacht, sie ist wunderschön!«

»Abgesehen davon ist sie eine Königin und eine Schwarze Witwe«, stellte Lucivar trocken fest und sah zu, wie Mistral seine Lady begleitete. »Na ja, wenn jemand die Leviten gelesen bekommt, dann besser er als ich.«

Der Höllenfürst lachte leise. »Übrigens hat deine kleine Schwester ein Hühnchen mit dir zu rupfen.« Als er keinerlei Antwort erhielt, sah er seinen Sohn an. »Lucivar?«

Lucivars Mund stand offen, sein Blick war unverwandt auf die Bäume links von Saetan gerichtet – die Bäume, auf die Jaenelle vor ein paar Minuten zugegangen war.

Er drehte sich um … und ihm stockte der Atem.

Sie trug ein langes Kleid aus zarter schwarzer Spinnenseide. Spinnwebbahnen hingen von den eng geschnittenen Ärmeln herab. Knapp über ihren Brüsten ging das Kleid in ein durchsichtiges Netz über, das ihren Brustansatz und die Schultern umschmeichelte. Am Ende jedes einzelnen Fadens glitzerten schwarze Juwelensplitter voll dunklen Feuers.

An beiden Händen prangten Ringe mit schwarzen Juwelen. Außerdem trug sie ein schwarzes Juwel um den Hals, das sich in der Mitte eines feinen Netzes aus goldenen und silbernen Fäden befand.

Es war ein Kleid, das für Hexe angefertigt worden war: gleichzeitig erotisch, verspielt und furchterregend. Er konnte die Macht spüren, die in jedem einzelnen Faden des Gewands verborgen lag. Mit einem Mal wusste er, wer es erschaffen hatte: die Arachnianen. Die Traumweberinnen.

Wortlos hob Jaenelle Kaetiens Horn empor und glitt damit auf freies Gelände zu. Die kurze Schleppe des Kleids zog sie wallend hinter sich her.

Am liebsten hätte Saetan sie daran erinnert, dass es ihre Mondzeit war, dass sie im Moment keine Macht durch ihren Körper leiten sollte. Doch ihm fiel wieder ein, dass sich hinter der menschlichen Maske von Hexe mitten auf ihrer Stirn ein winziges spiralförmiges Horn befand. Also sagte er nichts.

Mehrere Minuten lang ging sie die Umgebung ab, den Blick unverwandt auf den Boden gerichtet, als suche sie nach einer bestimmten Stelle.

Als sie endlich zufrieden war, wandte sie sich gen Norden. Sie erhob Kaetiens Horn gen Himmel und stimmte einen durchdringenden Ton an. Dann ließ sie die Hände sinken, deutete mit dem Horn auf den Erdboden und sang einen anderen Ton. Dann fuhren ihre Arme wieder in die Höhe, und sie begann ein Lied in der Alten Sprache zu singen.

Ein Hexenlied. Gesungen von Hexe.

Saetan konnte es in seinen Knochen spüren, in seinem Blut.

Zu ihren Füßen bildete sich ein gespenstisches Netz aus Macht, das sich über den Boden ausbreitete. Immer weiter und weiter.

Ihr Gesang änderte sich und wurde zu einem Klagelied, das voll Trauer und gleichzeitig eine Feier des Lebens war. Ihre Stimme wurde der Wind, das Wasser, das Gras, die Bäume.

Die reglosen weißen Körper der toten Einhörner fingen an zu leuchten. Gebannt fragte Saetan sich, ob die schimmernden Körper von oben wie Sterne aussahen, die sich zur ewigen Ruhe auf heiligem Boden niedergelassen hatten.

Vielleicht sahen sie so aus. Vielleicht war es auch tatsächlich so.

Wieder änderte sich der Gesang, bis er zu einer Mischung der ersten beiden Lieder geworden war. Ende und Anfang. Aus dem Land kommend und wieder zum Land zurückkehrend.

Die Einhornkörper verschmolzen mit dem Boden und verschwanden in der Erde.

Verwandte Wesen kamen niemals ins Dunkle Reich. Jetzt wusste er, wieso. Genauso, wie er endlich wusste, warum es Menschen nicht ohne weiteres gelang, sich in den Territorien der verwandten Wesen niederzulassen, wenn sie dort nicht willkommen waren; und was jene Mulden voll Macht geschaffen hatte, die er im Laufe des Tages so sorgfältig gemieden hatte.

Verwandte Wesen verließen nach ihrem Tod nicht ihr Territorium, sondern wurden ein Teil davon. Die Kraft, die noch in ihnen war, verband sich mit dem Land.

Das geisterhafte Netz der Macht verblasste.

Jaenelles Stimme wurde zusammen mit dem Tageslicht schwächer.

Niemand rührte sich. Keiner sprach.

Als Saetan wieder ganz zu sich gekommen war, stellte er fest, dass Lucivar ihm den Arm um die Schultern gelegt hatte.

»Verdammt noch mal«, flüsterte Lucivar, der sich Tränen aus den Augen wischte.

»Der lebende Mythos«, wisperte Saetan. »Fleisch gewordene Träume.« Seine Kehle schnürte sich zu. Er schloss die Augen.

Kurz darauf konnte er spüren, wie Lucivar aufstand.

Als der Höllenfürst wieder die Augen aufschlug, sah er, dass Lucivar Jaenelle stützte und zurück ins Lager geleitete. Ihr Gesicht war von Schmerzen und Erschöpfung gezeichnet, doch in ihrem saphirblauen Blick lag Frieden.

Der Hexensabbat versammelte sich um sie und führte sie in den Wald.

Die jungen Männer unterhielten sich mit gedämpften Stimmen untereinander, während sie die Töpfe umrührten, Brot und Käse schnitten, und Schüsseln und Teller für das Abendessen zusammentrugen.

Jenseits des Feuerscheins ließen sich die Einhörner zur Nachtruhe nieder.

Khary und Aaron brachten Ladvarian und Kaelas, die bei den Fohlen wachten, Schüsseln mit Eintopf und Wasser.

Als die Mädchen zurückkehrten, trug Jaenelle Hosen und einen langen, dicken Pullover. Sie knurrte Lucivar halbherzig an, als er sie in eine Decke wickelte und sie auf dem Baumstamm neben Saetan niedersetzte. Doch sie murrte nicht über das Essen, das er ihr brachte.

Während der Mahlzeit wurde nur leise gesprochen. Man tauschte Nebensächlichkeiten und sanfte Neckereien aus, ohne über das zu reden, was man tagsüber getan hatte, oder was am folgenden Tag vor ihnen lag. Trotz all ihrer Anstrengungen hatten sie nur einen winzigen Teil von Sceval gesehen, und nur Jaenelle konnte wissen, wie viele Einhörner es auf der Insel gab.

Nur Jaenelle konnte wissen, wie viele von ihnen ins Land zurückgesungen worden waren.

»Saetan?«, sagte Jaenelle und lehnte den Kopf an seine Schulter.

Er küsste sie auf die Stirn. »Hexenkind?« Sie reagierte so lange nicht, dass er schon glaubte, sie sei eingenickt.

»Wann tagt der Dunkle Rat das nächste Mal?«

5 e9783641061937_i0095.jpg Kaeleer

Lord Magstrom versuchte, sich auf die Frau im Bittstellerkreis zu konzentrieren, doch sie erhob die gleichen Beschwerden wie die sieben Bittstellerinnen vor ihr, und er bezweifelte, dass die zwanzig Bittstellerinnen nach ihr dem Dunklen Rat etwas anderes zu sagen haben würden.

Als er Dritter Tribun geworden war, hatte er erwartet, dass seine Meinung fortan mehr Gewicht haben würde. Außerdem hatte er gehofft, dass er dank seines Amtes die geflüsterten Gerüchte und versteckten Anspielungen bezüglich der Familie SaDiablo zum Schweigen bringen könnte.

Es hätte den Rat aufhorchen lassen müssen, dass keine einzige Territoriumskönigin außerhalb Kleinterreilles diesen Gerüchten Glauben schenkte. Noch mehr hätte dem Rat zu denken geben sollen, dass seine Entscheidungen von allen Völkern des Blutes respektiert worden waren, solange der Höllenfürst und Andulvar dem Rat gedient hatten – zumal den Ratsurteilen mittlerweile nicht mehr sonderlich viel Vertrauen entgegengebracht wurde.

Lord Jorval war jetzt Erster Tribun, und es war beängstigend, mit welcher Leichtigkeit er die Meinungen der Ratsmitglieder beeinflusste.

Und nun dies.

»Wie soll ich das Territorium besiedeln, das mir übertragen wurde, wenn meine Männer abgeschlachtet werden, noch bevor sie dort ihr Lager aufschlagen können?«, fragte die Königin im Bittstellerkreis. »Der Rat muss etwas unternehmen! «

»Die Wildnis steckt immer voller Gefahren, Lady«, meinte Lord Jorval mit sanfter Stimme. »Man hat euch gewarnt und dazu geraten, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.«

»Vorsichtsmaßnahmen!« Die Königin bebte vor Empörung. »Ihr habt gesagt, diese wilden Tiere, diese so genannten verwandten Wesen würden über ein wenig Magie verfügen.«

»Das tun sie auch.«

»Das war nicht bloß ein wenig Magie, was sie da an den Tag legten. Das war echte Kunstfertigkeit!«

»Nein, nein. Nur die Menschenvölker sind Angehörige des Blutes, und nur Angehörige des Blutes haben die Fähigkeit, sich der Kunst zu bedienen.« Lord Jorval ließ einen seelenvollen Blick durch die Sitzreihen der Ratsmitglieder zu beiden Seiten der Tribunenbank schweifen. »Doch da wir so wenig über diese Wesen wissen, waren wir uns eventuell nicht ganz über das Ausmaß dieser tierischen Magie im Klaren. Es mag sein, dass unsere terreilleanischen Brüder und Schwestern das ihnen zugewiesene Land nur sichern können, wenn die Königinnen von Kaeleer, denen sie dienen, ihre eigenen Krieger dorthin schicken, um diese Plagen zu beseitigen.«

Und jede Königin, die Hilfe schickte, würde einen größeren Gewinnanteil an dem eroberten Land für sich beanspruchen, dachte Magstrom erbittert. Er stand kurz davor, den Rat – wieder einmal – gegen sich aufzubringen, indem er den Mitgliedern ins Gedächtnis rief, dass der Dunkle Rat einst als Schlichtungsorgan geschaffen worden war, um Kriege zu verhindern, nicht, um sie heraufzubeschwören. Doch bevor er sprechen konnte, erfüllte eine Mitternachtsstimme die Ratskammer.

»Plagen?« Jaenelle Angelline schritt auf die Tribunenbank zu und hielt knapp vor dem Bittstellerkreis inne. Rechts und links von ihr standen der Höllenfürst und Lucivar Yaslana. »Jene Plagen, von denen du sprichst, Lord Jorval, sind verwandte Wesen. Sie sind Angehörige des Blutes und haben jedes Recht, sich und ihr Land gegen feindselige Eindringlinge zu verteidigen.«

»Wir sind keine Eindringlinge!«, fuhr die Königin im Bittstellerkreis sie an. »Wir haben uns lediglich dorthin begeben, um das herrenlose Land zu besiedeln, das der Dunkle Rat uns übertragen hat.«

»Es ist nicht herrenlos«, fauchte Jaenelle zurück. »Du sprichst von den Territorien der verwandten Wesen!«

»Ladys.« Lord Jorval musste seine Stimme erheben, um das allgemeine Gemurmel der Ratsmitglieder und Bittstellerinnen zu übertönen. »Ladys!« Als sich der Lärm legte, bedachte Lord Jorval Jaenelle mit einem Lächeln. »Lady Angelline, obgleich es immer ein Vergnügen ist, dich zu sehen, muss ich dich doch bitten, die Ratssitzung nicht zu unterbrechen. Solltest du ein Anliegen haben, das du dem Rat unterbreiten möchtest, musst du warten, bis diejenigen Bittstellerinnen an der Reihe waren, die bereits eine Anhörung beantragt haben.«

»Wenn sämtliche Bittstellerinnen sich über dasselbe Problem beklagen möchten, kann ich dem Rat viel Zeit ersparen«, antwortete Jaenelle kalt. »Verwandte Territorien sind kein herrenloses Land. Angehörige des Blutes haben dort seit Jahrtausenden geherrscht und tun es bis zum heutigen Tage.«

»Ich widerspreche dir zwar höchst ungern«, meinte Lord Jorval süßlich, »aber es gibt keine Angehörigen des Blutes in diesen so genannten verwandten Territorien. Der Rat hat diese Angelegenheit sorgfältig überprüft und ist zu dem Schluss gekommen, dass diese Tiere zwar gewissermaßen als ›magische Cousins‹ der Blutleute betrachtet werden können, dass es sich bei ihnen aber keinesfalls um Angehörige des Blutes handelt. Nur Menschen sind Angehörige des Blutes. Und dieser Rat ist gebildet worden, um sich um die Belange von Angehörigen des Blutes zu kümmern.«

»Und was sind dann Zentauren? Und Satyrn? Halbmenschen mit halben Rechten?«

Niemand antwortete.

»Ich verstehe«, sagte Jaenelle mit trügerischer Ruhe.

Lord Magstroms Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an. Erinnerte sich denn keiner der Anwesenden, was das letzte Mal passiert war, als Jaenelle Angelline vor dem Rat gestanden hatte?

»Sobald sich die Angehörigen des Blutes in den betreffenden Territorien niedergelassen haben, werden sie sich um die verwandten Wesen kümmern. Jegliche Streitigkeiten können dem Rat dann von menschlichen Stellvertretern jener Territorien vorgetragen werden.«

»Du willst damit sagen, dass verwandte Wesen einen menschlichen Stellvertreter benötigen, damit sie hier überhaupt berücksichtigt oder ihnen von Seiten des Dunklen Rates Rechte zugestanden werden?«

»Genau«, entgegnete Lord Jorval mit einem Lächeln.

»In dem Fall bin ich die menschliche Stellvertreterin der verwandten Wesen.«

Auf einmal beschlich Lord Magstrom das Gefühl, als sei eine Falle zugeschnappt. Lord Jorval lächelte immer noch gütig, doch Magstrom hatte nun schon lange genug mit ihm zusammengearbeitet, um die raffinierte, hinterhältige Grausamkeit dieses Mannes zu kennen.

»Bedauerlicherweise ist das nicht möglich«, erklärte Lord Jorval. »Der Anspruch dieser Lady mag umstritten sein« – er nickte in Richtung der Königin, die im Bittstellerkreis stand – »aber du hast überhaupt keinen Anspruch auf das Territorium. Du herrschst in keinem dieser Territorien. Folglich wird nicht in deine Rechte eingegriffen. Und da weder du noch die deinen betroffen seid, bist du nicht berechtigt, hier Klage zu führen. Ich muss dich also bitten, die Ratskammer zu verlassen. «

Die Leere in ihren Augen jagte Lord Magstrom einen Schauder über den Rücken. Er seufzte erleichtert auf, als Jaenelle tatsächlich aus dem Ratssaal schritt, gefolgt vom Höllenfürsten und Prinz Yaslana.

»Nun, Lady«, wandte sich Lord Jorval mit einem matten Lächeln an die Bittstellerin, »lass uns sehen, was sich bezüglich deines berechtigten Antrags machen lässt.«



»Bastarde!«, knurrte Lucivar wutentbrannt, als sie auf das Landenetz zugingen.

Saetan legte einen Arm um Jaenelles Schultern. Lucivars offen geäußerte Verärgerung beunruhigte ihn nicht. Jaenelles Stille dafür um so mehr.

»Mach dir keine Sorgen, Katze«, fuhr Lucivar fort. »Wir werden eine Möglichkeit finden, diese Bastarde zu umgehen und die verwandten Wesen zu beschützen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich eine rechtmäßige Möglichkeit gibt, den Ratsbeschluss zu umgehen«, warf Saetan vorsichtig ein.

»Und hast du das Gesetz immer befolgt? Du hast noch nie eine schlechte Entscheidung mittels deiner Stärke und deiner Wut umgangen?«

Der Höllenfürst biss die Zähne zusammen. Als jemand Lucivar erklärt hatte, weshalb die Familie auf schlechtem Fuß mit dem Dunklen Rat stand, musste man ihm auch erzählt haben, wie es dazu gekommen war, dass der Rat den Höllenfürsten zu Jaenelles Vormund ernannt hatte. »Das habe ich nie behauptet.«

»Willst du dann damit sagen, dass verwandte Wesen den Kampf nicht wert sind, weil es nur Tiere sind?«

Saetan blieb stehen. Jaenelle ging ein Stück weiter, bis sie sich ein paar Schritte von ihnen entfernt hatte.

»Nein, auch das möchte ich nicht sagen«, versetzte Saetan, den es Mühe kostete, nicht die Stimme zu erheben. »Wir müssen eine Lösung finden, die den neuen Regeln des Rats entspricht, oder diese Angelegenheit wird sich zu einem Krieg ausweiten, der das gesamte Reich entzweit.«

»Wir opfern also die nichtmenschlichen Angehörigen des Blutes, um Kaeleer zu retten?« Mit einem verbitterten Lächeln breitete Lucivar die Flügel aus. »Und was bin ich, Höllenfürst? In welche Kategorie falle ich laut Einteilung des Rats: menschlich oder nicht?«

Saetan wich einen Schritt zurück. Es hätte Andulvar sein können, der da vor ihm stand. Vor all jenen Jahren war es tatsächlich Andulvar gewesen, der so vor ihm gestanden hatte. Wenn Ehre und Gesetz nicht länger auf derselben Seite sind, wie entscheiden wir uns dann, SaDiablo?

Saetan fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Ach, Hekatah, du spinnst deine Intrigen raffiniert. Genau wie beim letzten Mal. »Wir werden eine rechtmäßige Möglichkeit finden, um die verwandten Wesen und ihr Land zu beschützen.«

»Du sagtest, es gäbe keine rechtmäßige Möglichkeit.«

»Doch, die gibt es«, sagte Jaenelle leise, als sie sich wieder zu ihnen gesellte. Sie lehnte sich an Saetan. »Die gibt es.«

Saetan war bestürzt darüber, wie blass sie aussah. Er hielt sie fest und strich ihr über das Haar, während er seine mentalen Sinne ausstreckte. Körperlich fehlte ihr nichts. Sie war lediglich übermüdet von den Strapazen der letzten Tage. »Hexenkind?«

Jaenelle schauderte. »Ich wollte es nie, aber es ist die einzige Möglichkeit, ihnen zu helfen.«

»Was ist die einzige Möglichkeit, Hexenkind?«, erklang Saetans fürsorgliche Stimme.

Zitternd trat sie einen Schritt von ihm fort. Den gehetzten Ausdruck in ihren Augen würde er niemals vergessen.

»Ich werde der Dunkelheit mein Opfer darbringen und einen eigenen Hof errichten.«