Kapitel 13
1
Kaeleer
Der Frühling ist die Zeit der Liebenden.« Hekatah beobachtete ihren Begleiter. »Und sie ist mittlerweile achtzehn. Alt genug, um zu heiraten.«
»In der Tat.« Lord Jorval fuhr kleine Kreise auf dem zerkratzen Tisch nach. »Doch es ist wichtig, den richtigen Mann auszusuchen.«
»Er muss lediglich jung, gut aussehend und zeugungsfähig sein – und in der Lage, Befehlen zu gehorchen«, fuhr Hekatah ihn an. »Der betreffende Mann wird lediglich der sexuelle Köder sein, mit dessen Hilfe wir sie von diesem Ungeheuer fortlocken. Oder möchtest du unter der Fuchtel des Höllenfürsten leben, sobald seine so genannte Tochter ihren Hof errichtet und ihre Herrschaft antritt?«
Jorval zeigte sich unbeeindruckt. »Ein Ehemann könnte viel mehr sein als nur ein sexueller Köder. Ein reifer Mann könnte seine Königin und Frau leiten, ihr helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und schlechte Einflüsse von ihr fern halten.«
Innerlich vor Wut kochend lehnte Hekatah sich zurück und krallte sich mit den Händen an den hölzernen Armlehnen ihres Stuhls fest, um nicht über den Tisch zu springen und diesem Narren das Gesicht zu zerkratzen.
Beim Feuer der Hölle, sie vermisste Greer! Er hatte ihren Scharfsinn zu schätzen gewusst und begriffen, dass es ratsam war, sich so oft wie möglich eines Mittelsmanns zu bedienen, um sich letzten Endes nicht selbst in Gefahr zu bringen. Als Mitglied des Dunklen Rates war Jorval äußerst nützlich, um die Abneigung und das Misstrauen des Rates gegenüber der Familie SaDiablo weiter zu schüren. Doch Jorval lechzte nach Jaenelle Angelline und hegte dunkle Phantasien, in denen er sich das blasse Miststück gefügig machte, bis sie sich jeder seiner Launen unterwarf – sei es im Bett oder außerhalb davon. Im Grunde hatte Hekatah nichts dagegen, doch der Tor war nicht in der Lage, über die schweißdurchtränkten Laken hinauszublicken und sich zu überlegen, wer danach vor der Schlafzimmertür auf ihn warten könnte, um ein wenig mit ihm zu plaudern.
Sie war sich relativ sicher, dass Saetan die Zähne zusammenbeißen und einen unerwünschten Mann dulden würde, solange seine Königin in diesen Kerl vernarrt war. Der Höllenfürst war zu gut ausgebildet und den alten Traditionen des Blutes zu sehr verbunden, um anders handeln zu können. Doch der eyrische Mischling … Er würde nicht lange zögern, seine Lady aus den Armen ihres Geliebten zu reißen – oder, noch einfacher, ihrem Geliebten die Arme auszureißen – und sie abzuschirmen, bis sie wieder zu Verstand gekommen war.
Und keiner von beiden würde sich davon überzeugen lassen, dass Jaenelle sich sehnsuchtsvoll stöhnend nach jemandem verzehrte, der wie Lord Jorval aussah.
»Er muss jung sein«, beharrte Hekatah. »Ein hübscher Knabe, der ausreichend Erfahrung zwischen den Laken gesammelt hat, der jedoch charmant genug ist, um ihre Familie trotz mancher Zweifel davon zu überzeugen, dass sie bis über beide Ohren in ihn verliebt ist.«
Jorval ließ sich seine Enttäuschung deutlich anmerken.
Hekatah zügelte ihren Zorn so weit, dass es ihr gelang, unschlüssig zu klingen. »Ich rate doch nicht grundlos zur Vorsicht, Jorval. Vielleicht erinnerst du dich noch an einen meiner Bekannten.« Sie krümmte ihre Hände, bis sie wie verformte Klauen aussahen.
Ihr Gegenüber stellte das Schmollen augenblicklich ein. »Ich kann mich noch gut an ihn erinnern, schließlich war er eine große Hilfe. Leider hat er sich nie wieder blicken lassen.« Als Hekatah nichts erwiderte, holte Jorval unsicher Atem. »Was ist ihm zugestoßen?«
»Der Höllenfürst ist ihm zugestoßen«, entgegnete Hekatah. »Er hat den Fehler begangen, Saetans Aufmerksamkeit zu erregen. Seitdem hat ihn kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen. «
»Ich verstehe.«
Ja, endlich schien er wirklich zu begreifen!
Hekatah beugte sich vor, um Jorvals Hand zu streicheln. »Manchmal verlangen die Pflichten und Verantwortlichkeiten der Macht Opfer von uns, Lord Jorval.« Als er nicht widersprach, musste sie sich ein triumphierendes Lächeln verkneifen. »Wenn du also eine Heirat zwischen Jaenelle Angelline und dem Sohn eines Mannes arrangieren würdest, mit dem du gerne zusammenarbeitest – einem attraktiven, lenkbaren Sohn wohlgemerkt …«
»Inwiefern würde mir das helfen?«, wollte Jorval wissen.
Hekatah unterdrückte den Ärger, der erneut in ihr aufstieg. »Der Vater würde den Sohn bezüglich politischer Entscheidungen und Veränderungen beraten, die in Kaeleer vonnöten sind – und die durchgesetzt würden, sofern Jaenelle darauf bestünde. Sehr viele Entscheidungen werden im Schlafzimmer gefällt, wie du mit Sicherheit weißt.«
»Und inwiefern würde mir das helfen?«, fragte Jorval zum zweiten Mal.
»So wie der Sohn dem Rat des Vaters folgt, folgt der Vater dem Rat seines Freundes, der – wie es der Zufall will als Einziger über das Tonikum verfügt, das die Lady so gierig nach den Aufmerksamkeiten des Sohnes macht, dass sie sich zu allem bereit erklärt.«
»Ah.« Jorval strich sich nachdenklich über das Kinn. »Ach so.«
»Und sollte der Höllenfürst oder ein anderes Familienmitglied aus irgendeinem Grund« – das ängstliche Flackern in Jorvals Augen zeigte ihr, dass er Lucivar Yaslanas Zorn bereits zu spüren bekommen hatte – »unwillig reagieren … tja, einen anderen heißblütigen, gut aussehenden Jungen zu finden, ist eine Kleinigkeit, doch starke, intelligente Männer, die in der Lage sind, das Reich zu lenken …« Hekatah breitete die Arme aus und zuckte mit den Schultern.
Etliche Minuten grübelte Jorval über das Gesagte nach. Hekatah wartete geduldig. So sehr er auch seinen eigenen Phantasien nachhing, lechzte er doch vor allem nach Macht – beziehungsweise dem Anschein davon.
»In zwei Wochen wird Lady Angelline nach Kleinterreille kommen. Und ich habe einen … Freund … mit passendem Nachwuchs. Lady Angelline dazu zu bringen, in eine Heirat einzuwilligen, dürfte allerdings …«
Hekatah rief eine kleine Flasche herbei und stellte sie auf den Tisch. »Lady Angelline ist bekannt für ihr Mitgefühl und ihre Fähigkeiten als Heilerin. Wenn ein Kind verletzt würde, sagen wir bei einem schrecklichen Unfall, ließe sie sich bestimmt dazu bewegen, es zu heilen. Der Heilprozess bei lebensgefährlichen Verletzungen würde ihr so viel Kraft abverlangen, dass sie letzten Endes körperlich und geistig völlig erschöpft wäre. Wenn ihr dann jemand, dem sie vertraut, zur Entspannung ein Glas Wein anböte, wäre sie wahrscheinlich zu müde, um es vor dem Trinken zu überprüfen. Die Hochzeit müsste kurz danach und bedauerlicherweise in kleinem Rahmen stattfinden. Müdigkeit, Wein und dieses Gebräu werden dafür sorgen, dass sie sich fügen und alles, was man von ihr verlangt, sagen und unterzeichnen wird. Das junge Paar würde kurz den Hochzeitsfeierlichkeiten beiwohnen und sich dann auf sein Zimmer zurückziehen, um die Ehe zu vollziehen.«
»Ich verstehe«, meinte Jorval atemlos.
Hekatah rief eine zweite Flasche herbei. »Die richtige Dosis dieses Aphrodisiakums, heimlich während des Hochzeitsfestes ihrem Wein beigemischt, wird sie in Leidenschaft zu ihrem Ehemann entbrennen lassen.«
Jorval leckte sich die Lippen.
»Die zweite Dosis muss am nächsten Morgen verabreicht werden. Das ist äußerst wichtig, da ihr Begehren so stark sein muss, dass sie ihren Mann nicht aus dem Schlafzimmer lässt, selbst wenn der Höllenfürst ihn zu einem Gespräch bittet. Wenn sie dann schließlich bereit ist, den Jungen von seinen ehelichen Pflichten zu entbinden, kann der Höllenfürst nicht mehr intervenieren, ohne wie ein Tyrann oder ein eifersüchtiger alter Narr auszusehen.« Hekatah hielt inne, da ihr die Art nicht gefiel, wie Jorval die Flaschen beäugte. »Und der weise Mann, der das alles eingefädelt hat, wird nie in Verdacht geraten – solange er die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenkt.«
Es kostete Jorval sichtlich Mühe, sich von seinen Wunschträumen loszureißen. Behutsam ließ er die Flaschen verschwinden. »Ich melde mich.«
»Nicht nötig«, versicherte Hekatah eine Spur zu schnell. »Ich helfe dir gerne. Du hörst von mir, wo und wann die nächste Lieferung des Aphrodisiakums bereitsteht.«
Jorval verbeugte sich und ging.
Erschöpft lehnte Hekatah sich zurück. Jorval hatte entweder keine Ahnung von höflichen Umgangsformen oder richtete sich absichtlich nicht danach. Er hatte keinerlei Erfrischung mitgebracht und ihr angeboten. Wahrscheinlich hielt er sich für zu wichtig. Und das war er auch, verflucht noch mal! Im Moment war er zu bedeutsam für das Gelingen ihrer Pläne, als dass sie es sich hätte leisten können, auf der Etikette zu bestehen. Sobald das kleine Miststück Jaenelle aber erst einmal von Saetan getrennt war, konnte sie Jorval gefahrlos beseitigen.
Zwei Wochen. Genug Zeit, um den Rest ihres Plans in die Tat umzusetzen und die Falle zu stellen, die mit etwas Glück einen eyrischen Mischling und Kriegerprinzen aus dem Weg räumen würde.
2
Kaeleer
Etwas stimmte nicht.
Lucivar legte die Holzscheite in die Kiste neben der Feuerstelle in Luthvians Küche.
Ganz und gar nicht.
Er richtete sich auf und tastete die Umgebung mental ab.
Nichts. Doch seine Unruhe blieb.
Als Roxie die Küche betrat, war er immer noch mit jenem inneren Unbehagen beschäftigt, und so verließ er den Raum nicht und achtete auch nicht auf das Glitzern in ihren Augen oder die Art, wie sie die Hüften schwang, während sie auf ihn zukam.
Die letzten beiden Tage hatte er damit verbracht, Luthvian im Haus zu helfen und gleichzeitig Roxies Annäherungsversuchen zu entgehen. Viel länger als zwei Tage hielten er und Luthvian es ohnehin nicht miteinander aus; und auch das nur, weil sie fast den ganzen Tag über mit ihren Schülerinnen beschäftigt war und er das Haus gleich nach dem Abendessen verließ, um die Nacht auf einer Lichtung in den Bergen zu verbringen.
»Du bist so stark«, meinte Roxie, während sie die Hände über seine Brust gleiten ließ.
Nicht schon wieder. Nicht schon wieder.
Normalerweise hätte er keiner Frau erlaubt, ihn auf diese Weise anzufassen, sondern hätte diesen Tonfall als den dringenden Wunsch interpretiert, Bekanntschaft mit seiner Faust zu machen.
Doch weshalb verspürte er Angst? Warum waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt?
Löse diesmal die Verbindung. Brich sie für immer ab. Nein, das geht nicht. Ich werde ihn nicht erreichen können, wenn …
Roxie schlang die Arme um Lucivars Hals, rieb ihre Brüste an seinem Oberkörper. »Ich hatte bisher noch keinen Kriegerprinzen. «
Woher kam die Angst?
Du kannst diesen Körper nicht haben. Dieser Körper ist ihm versprochen.
Spielerisch knabberte Roxie an seinem Hals, während sie sich an seinen Körper schmiegte. Er legte ihr die Hände auf die Hüften und hielt sie fest, sodass sie sich nicht bewegen konnte, während er sich konzentrierte, um die Quelle seines Unbehagens aufzuspüren.
Nein. Nicht schon wieder!
Es kam von dem Ring der Ehre, den Jaenelle ihm gegeben hatte. Die Anspannung, die Angst und die kalte Wut, die unter der Angst loderte. Es waren nicht seine Gefühle, die da über ihn hinwegfegten, sondern ihre.
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben! Ihre!
»Wie ich sehe, hast du deine Meinung geändert«, sagte Luthvian scharf, als sie die Küche betrat.
Kalte, kalte Wut. Wenn sie nicht bald eingedämmt wurde …
»Ich muss weg«, sagte Lucivar. Er spürte, wie Arme, die um seinen Hals lagen, an ihm zerrten, und stieß den Körper geistesabwesend von sich.
Luthvian stieß einen heftigen Fluch aus.
Ohne weiter auf sie zu achten, wandte er sich der Tür zu, wobei er sich kurzzeitig fragte, weshalb Roxie zusammengekrümmt auf dem Küchenboden lag.
»Du musst mich befriedigen!«, rief Roxie und stemmte sich in eine sitzende Haltung. »Du hast mich erregt und nun musst du mich befriedigen.«
Lucivar wirbelte herum, brach ein Bein von einem Küchenstuhl ab und warf es ihr in den Schoß. »Versuch es damit. « Er eilte zur Tür hinaus.
Ich werde es nicht zulassen. Ich werde mich dem nicht fügen.
»Lucivar!«
Mit einem Knurren versuchte er, Luthvians Hand abzuschütteln. »Ich muss gehen. Katze steckt in Schwierigkeiten.«
Luthvians Griff wurde noch fester. »Du bist dir sicher, nicht wahr? Du kannst sie gut genug spüren, um dir deiner Sache sicher zu sein?«
»Ja!« Er wollte sie nicht schlagen, wollte ihr nicht wehtun. Doch wenn sie ihn nicht losließ …
Die Hand an seinem Arm zitterte. »Du lässt es mich wissen, falls … falls sie Hilfe benötigt?«
Er sah ihr prüfend ins Gesicht. Sie mochte eifersüchtig darauf sein, wie sehr sich die männlichen Familienangehörigen zu Jaenelle hingezogen fühlten, doch sie empfand wirklich etwas für das Mädchen. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich werde dir eine Nachricht schicken.«
Luthvian trat zurück. »Du hast so viele Jahre damit verbracht, dich zum Krieger ausbilden zu lassen. Nun geh schon und mach dich nützlich!«
Nein!
So schnell wie möglich raste Lucivar das schwarzgraue Netz entlang, obgleich er wusste, dass er zu spät kam.
Ich werde es nicht zulassen.
Was immer passierte, er würde sich danach um sie kümmern. Süße Dunkelheit, bitte lass es ein Danach geben! Er wurde noch schneller.
Von dem Ring gingen keinerlei Gefühle mehr aus. Das wütende Vibrieren hatte aufgehört. Da war überhaupt nichts außer …
Neiiiiin!
… Wut. Mutter der Nacht, diese Wut!
Lucivar drängte sich durch die Menschenmenge, aus der ihm bleiche,
angewiderte Gesichter entgegenblickten. Er steuerte auf den Punkt
zu, an dem sich Jaenelles entfesselte Kraft konzentrierte. Ein
Krieger mittleren Alters stand an einer Seite des Korridors und
redete stammelnd auf Mephis ein, der düster dreinblickte. Der
Nachgeschmack von Macht wirbelte hinter einer Tür auf der
gegenüberliegenden Seite des Gangs.
Lucivar ging auf die Tür zu.
»Nein, Lucivar, nicht!«
Ohne Mephis’ Befehl Beachtung zu schenken, öffnete Lucivar das graue Schloss, mit dem sein dämonentoter älterer Bruder die Tür versehen hatte.
»Lucivar, geh da nicht rein!«
Vor ihm auf dem Teppich lag ein Finger mit einem goldenen Ring, der teilweise mit dem Fleisch verschmolzen war. Das Juwel war zu feinem Staub zerfallen.
Der Finger war das größte – und das einzige identifizierbare – Stück, das von dem Menschen übrig war, bei dem es sich um einen erwachsenen Mann gehandelt haben musste. Der Rest des Mannes war in Form blutiger Spritzer im gesamten Zimmer verteilt.
In Lucivars Kopf dröhnte es, und er wusste, dass er bald tief durchatmen musste, um nicht in Ohnmacht zu fallen; aber wenn er in diesem Zimmer Luft holte, würde er mindestens eine Woche lang würgen müssen.
Etwas stimmte jedoch mit dem Zimmer nicht, und er hatte nicht vor zu gehen, bevor er der Sache auf den Grund gekommen war.
Als es ihm schließlich gelang, packte ihn eine mörderische Wut.
Eine männliche Leiche. Ein zerstörtes Bett. Die übrigen Möbelstücke waren zwar mit Knochenstückchen und Blut bespritzt, ansonsten aber unberührt.
Lucivar verließ das Zimmer und wandte sich an den Mann, der eben noch Mephis etwas vorgestammelt hatte: »Was habt ihr Jaenelle angetan?«, wollte er eine Spur zu gelassen wissen.
»Ihr angetan?« Der Krieger wies mit zitterndem Finger auf das Zimmer. »Sieh dir nur an, was das Luder mit meinem Sohn angestellt hat! Sie ist wahnsinnig. Wahnsinnig! Sie …«
Lucivar stieß einen eyrischen Schlachtruf aus und schleuderte den Mann gegen die Wand. »Was habt ihr Jaenelle angetan? «
Der Krieger schrie auf, ohne dass ihm jemand zu Hilfe gekommen wäre.
»Lucivar.« Mephis hielt eine Hand voll Papiere in die Höhe. »Allem Anschein nach hat Jaenelle heute Nachmittag geheiratet und zwar Lord …«
Lucivar stieß ein wütendes Knurren aus. »Sie würde nicht freiwillig heiraten, ohne dass ihre Familie anwesend ist.« Mit gefletschten Zähnen starrte er den Krieger an. »Oder?«
»S-sie waren ineinander ver-verliebt«, stammelte der Krieger. »Eine stürmische Ro-Romanze. Sie wollte nicht, dass ihr davon erfahrt, bevor es besiegelt war.«
»Jemand wollte es tatsächlich nicht«, stimmte Lucivar ihm zu. Lächelnd rief er ein eyrisches Kampfschwert herbei und hielt es dem Krieger vor das Gesicht, sodass dieser direkt auf die Klinge blickte. »Legst du Wert auf dein Aussehen?«, erkundigte er sich freundlich.
»Lucivar«, erklang Mephis’ mahnende Stimme.
»Halt dich da raus, Mephis«, fuhr Lucivar ihn an, während seine kaum gezähmte Wut alle gefrieren ließ, die sich in dem Korridor befanden.
Denk nach! Sie hatte Angst gehabt, und es gab kaum etwas, das Jaenelle Angst einjagte. Sie hatte Angst gehabt, doch sie war außerdem wütend genug gewesen, um mit dem Gedanken zu spielen, die Verbindung zwischen Geist und Körper abzubrechen. Ihr Entschluss hatte festgestanden, lieber die Hülle zu verlassen, als sich zu fügen. Denk nach! Wenn dies hier Terreille wäre …
»Was habt ihr Jaenelle verabreicht?« Als der Krieger nichts erwiderte, setzte Lucivar ihm die Klinge an die Wange. Sie ritzte die Haut des Mannes auf. Blut quoll hervor.
»Einen sch-schwachen Trank. Zur Beruhigung. Sie hatte Angst. Sie fürchtete euch alle – vor allem dich.«
Es war töricht, so etwas einem Mann zu sagen, der eine Waffe in Händen hielt, die groß und scharf genug war, um mühelos durch Knochen zu schneiden.
Sie hatten Jaenelle unter Drogen gesetzt, hatten ihr etwas gegeben, das stark genug war, ihren Verstand zu betäuben, ohne sie daran zu hindern, den Ehevertrag zu unterschreiben. Das erklärte allerdings noch immer nicht das Zimmer.
»Danach«, lockte Lucivar leise. »Womit habt ihr sie auf das Ehebett vorbereitet?« Als der Krieger ihn sprachlos anstarrte, schnitt er ihm mit dem Kampfschwert ein wenig tiefer ins Fleisch. »Wo sind die Flaschen?«
Keuchend wies der Krieger mit der Hand auf eine Tür in der Nähe.
Mephis ging in das Zimmer und kehrte kurz darauf mit zwei kleinen Fläschchen zurück.
Lucivar ließ das Schwert verschwinden, griff nach einer der Flaschen und öffnete den Verschluss. Er prüfte die Tropfen, die sich noch am Flaschenboden befanden. Wenn ihm ein Getränk mit einer solchen Beimischung angeboten worden wäre, hätte er es nicht angerührt. Jaenelle normalerweise auch nicht.
Er ließ die Flasche verschwinden und wandte sich der anderen zu, die immer noch zur Hälfte mit einem dunklen Pulver gefüllt war. Im nächsten Augenblick stieß er einen erbitterten Fluch aus. Er wusste – nur zu gut! –, was eine große Dosis Safframate einem Mann von seiner Statur und seinem Gewicht antun konnte. Von daher konnte er sich lebhaft die unerträglichen Qualen vorstellen, die das Mittel Jaenelle verursacht haben musste.
Er hielt das Fläschchen empor. »Hast du ihr das hier verabreicht? Dann bist du für das verantwortlich, was in jenem Zimmer passiert ist.«
Der Krieger schüttelte heftig den Kopf. »Es ist harmlos. Harmlos! Es ist nur eine Spielart des Nachtfeuertranks und wird einem Glas Wein beigemischt. Nachtfeuertrank wird in jeder Hochzeitsnacht benutzt.«
Lucivar entblößte die Zähne zu einem grimmigen Lächeln. »Da es harmlos ist, wirst du nichts dagegen haben, die andere Hälfte zu trinken. Mephis, hol ihm ein Glas Wein.«
Eine Minute später kehrte Mephis mit dem Wein zurück.
Nachdem Lucivar beinahe das gesamte Pulver in das Glas geschüttet hatte, reichte er Mephis das Fläschchen und griff nach dem Weinglas. Die andere Hand legte er dem Krieger um den Hals. »Entweder trinkst du das hier auf der Stelle, oder ich reiße dir die Gurgel raus. Du hast die Wahl.«
»I-ich will eine Anhörung vor dem Dunklen Rat«, jammerte der Krieger.
»Das ist dein gutes Recht«, pflichtete Mephis ihm leise bei. Er blickte Lucivar an. »Reißt du ihm die Gurgel raus, oder soll ich es tun?«
Lucivar stieß ein boshaftes Lachen aus. »Eine Anhörung beim Rat würde ihm in dem Fall nicht viel nützen, wie?« Seine Finger gruben sich in die Kehle des Mannes.
»T-trinken.«
»Na also. Ich wusste doch, dass du Vernunft annehmen würdest«, meinte Lucivar einschmeichelnd. Er lockerte seinen Griff so weit, dass der Krieger den Wein schlucken konnte.
»So.« Er schleuderte den Mann in das Zimmer, in dem Mephis die Flaschen gefunden hatte. »Um dem Dunklen Rat akkurat Bericht erstatten zu können, solltest du meiner Meinung nach in den Genuss derselben Erfahrung kommen, die du so gütig für Lady Angelline vorgesehen hattest.« Er versiegelte das Zimmer mithilfe eines schwarzgrauen Schutzschilds, den er mit einem Zeitzauber versehen hatte, und wandte sich an einen Mann, der in der Nähe herumstand. »Der Schild wird sich in vierundzwanzig Stunden auflösen.«
Diesmal musste er sich nicht erst einen Weg durch die Menschenmenge bahnen. Die Leute drückten sich gegen die Wände, um ihn ungehindert passieren zu lassen.
Mephis holte ihn ein, bevor er das Herrenhaus verlassen konnte, und zog ihn – nachdem er die Umgebung mental abgetastet hatte – in den nächstbesten leeren Raum: ein Arbeitszimmer. Lucivar fand die Wahl auf ironische Weise passend, auch wenn es sich nicht um Saetans Arbeitszimmer handelte.
»Das war eine beachtliche Vorstellung, die du eben geliefert hast«, sagte Mephis, nachdem er die Tür abgeschlossen hatte.
»Die Vorstellung hat gerade erst begonnen.« Lucivar ging unruhig in dem Zimmer auf und ab. »Abgesehen davon kam es mir nicht so vor, als hättest du versucht, mich aufzuhalten. «
»Wir können es uns nicht leisten, in der Öffentlichkeit so zu wirken, als ob wir uneins seien. Außerdem hätte es überhaupt keinen Sinn gehabt, es auch nur zu versuchen. Du hast einen höheren Rang als ich, und ich möchte bezweifeln, dass du dich in diesem Fall von deinen Brudergefühlen mir gegenüber hättest hindern lassen.«
»Da hast du völlig Recht.«
Mephis fluchte. »Hast du eine Ahnung, welchen Ärger wir deswegen mit dem Dunklen Rat bekommen werden? Wir stehen nicht über dem Gesetz, Lucivar!«
Lucivar blieb vor Mephis stehen. »Du spielst nach deinen Regeln, und ich nach den meinen.«
»Sie hat einen Ehevertrag unterschrieben.«
»Nicht freiwillig.«
»Das weißt du nicht. Und zwanzig Augenzeugen beschwören das Gegenteil.«
»Ich trage ihren Ring. Ich kann sie spüren, Mephis.« Lucivars Stimme zitterte. »Sie war bereit, lieber die Verbindung zu ihrem Körper zu lösen, als sich besteigen zu lassen.«
Eine ganze Minute lang gab Mephis kein Wort von sich. »Jaenelle fällt es schwer, mit körperlicher Nähe umzugehen. Das weißt du.«
Lucivar schlug mit der Faust gegen die Tür. »Zur Hölle mit dir! Bist du so blind oder derart rückgratlos, dass du lieber alles hinnimmst, als dass euch jemand vorwerfen könnte, die Familie SaDiablo habe ihre Macht missbraucht? Ich jedenfalls bin weder blind noch habe ich mein Rückgrat verloren. Sie ist meine Königin – meine! – und Regeln hin oder her: Es ist mir ganz egal, wie die Gesetzeslage ist, oder was der Dunkle Rat dazu zu sagen hat; wenn jemand ihr etwas antut, werde ich es ihm in gleicher Münze heimzahlen.«
Während sie einander anstarrten, atmete Lucivar schwer, wohingegen Mephis sich nicht rührte.
Schließlich ließ sich Mephis gegen die Tür sinken. »Wir können das nicht schon wieder durchmachen. Wir können nicht schon wieder in der Angst leben, sie zu verlieren.«
»Wo ist sie?«
»Vater hat sie zum Bergfried gebracht – mit der strikten Anordnung, dass sich der Rest der Familie von ihr fern zu halten habe.«
Lucivar stieß Mephis beiseite. »Nun, wir alle wissen ja, wie gut ich darin bin, Anordnungen zu befolgen, nicht wahr?«
3
Kaeleer
Saetan wirkte wie ein Mann, der mit knapper Not eine blutige Schlacht überlebt hatte.
Was in gewissem Sinne sogar der Wahrheit entsprach, dachte Lucivar, als er die Tür zu Jaenelles Wohnzimmer im Bergfried geräuschlos hinter sich schloss.
»Meine Anordnung war mehr als deutlich, Lucivar.«
In der Stimme des Höllenfürsten lag keinerlei Kraft. Sein Gesicht sah grau und abgespannt aus.
Gelassen deutete Lucivar auf das rote Geburtsjuwel, das Saetan trug. »Damit wirst du kaum in der Lage sein, mich hinauszuwerfen.«
Saetan rief nicht Schwarz herbei.
Lucivar erriet, dass Schwarz bis auf den letzten Tropfen erschöpft sein musste. Jaenelle in ihrem derzeitigen körperlichen und emotionalen Zustand in den Bergfried zu bringen, hatte immense Kraft gekostet.
Unter leisem Fluchen hinkte Saetan auf einen Sessel zu. Er griff nach einer Karaffe mit Yarbarah, die auf einem Beistelltisch stand. Seine Hand zitterte heftig.
Rasch durchquerte Lucivar das Zimmer, griff nach der Karaffe mit dem Blutwein und schenkte ein Glas ein, um es anschließend zu erwärmen. »Brauchst du frisches Blut?«, erkundigte er sich leise.
Selbst nach all den Jahrhunderten waren die tiefen Wunden, die Luthvians Anschuldigungen dem Höllenfürsten geschlagen hatten, immer noch nicht verheilt. Hüter benötigten von Zeit zu Zeit frisches Blut, um bei Kräften zu bleiben. Anfangs hatte Lucivar sich bemüht, Saetans ärgerliche Weigerung zu verstehen, wenn er ihm Blut frisch von der Ader anbot. Er hatte versucht, nicht verletzt zu reagieren, wenn der Höllenfürst dieses Geschenk von jedem außer ihm annahm. Doch jetzt erzürnte es ihn, dass die Worte einer anderen immer noch zwischen ihnen standen. Er war kein Kind mehr. Wenn der Sohn die Gabe bereitwillig darbot, warum konnte der Vater sie dann nicht wohlwollend akzeptieren?
Saetan wich seinem Blick aus. »Nein danke.«
»Trink das.« Lucivar drückte ihm das Weinglas in die Hand.
»Ich will, dass du von hier verschwindest, Lucivar.«
Nachdem Lucivar sich selbst ein Glas Brandy eingeschenkt hatte, schob er einen Fußschemel vor Saetans Sessel und ließ sich darauf nieder. »Wenn ich von hier verschwinde, nehme ich sie mit.«
»Das kannst du nicht«, fuhr Saetan ihn an. »Sie ist …« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich fürchte, sie ist nicht ganz bei Verstand.«
»Kaum verwunderlich, da man ihr Safframate verabreicht hat.«
Saetan warf ihm einen zornigen Blick zu. »Red keinen Blödsinn! Solch eine Wirkung hat Safframate nicht.«
»Wie willst du das wissen? Dir hat man es niemals eingeflößt. « Lucivar gab sich Mühe, nicht verbittert zu klingen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von der Vergangenheit einholen zu lassen.
»Ich habe Safframate selbst genommen.«
Mit zusammengekniffenen Augen musterte Lucivar seinen Vater. »Was meinst du damit?«
Saetan leerte sein Glas. »Safframate ist ein Aphrodisiakum, das benutzt wird, um die eigene Ausdauer zu steigern und der Partnerin länger lustvolles Vergnügen bereiten zu können. Die Samen sind so groß wie die des Löwenmauls. Man zerstößt ein oder zwei und fügt sie einem Glas Wein bei.«
»Ein oder zwei Samen«, schnaubte Lucivar verächtlich. »Höllenfürst, in Terreille stellen sie ein Pulver daraus her und geben es dir löffelweise zu schlucken.«
»Aber das ist Wahnsinn! Würde man jemandem so viel verabreichen …« Entgeistert starrte Saetan die geschlossene Tür an, die in Jaenelles Schlafzimmer führte.
»Genau«, meinte Lucivar sachte. »Lust mündet sehr schnell in Qual. Der Körper ist rasch so erregt und empfindlich, dass die geringste Berührung schmerzt. Der Sexualtrieb löscht alles andere aus, doch eine derart hohe Dosis Safframate sorgt gleichzeitig dafür, dass man den Orgasmus nicht erreichen kann. Es gibt keinerlei sexuelle Erleichterung, sondern nur permanentes Begehren und stetig wachsende Empfindlichkeit. «
»Mutter der Nacht«, flüsterte Saetan und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen.
»Doch wenn jemand sich weigert, sich sexuell hinzugeben, während sie noch unter dem Einfluss des Mittels steht … tja, dann kann die traute Zweisamkeit schnell gewalttätig enden.«
Saetan musste die Tränen zurückblinzeln. »Man hat dir das angetan, nicht wahr?«
»Ja, aber nicht oft. Die meisten Hexen waren nicht der Meinung, dass eine Nacht mit mir es wert war, sich außerdem meine Wutausbrüche ins Schlafzimmer zu holen. Und die meisten, die es dennoch versuchten, haben das Bett nicht heil verlassen; sofern sie überhaupt in der Lage waren, es zu verlassen. Ich habe meine eigenen Vorstellungen von wilder Leidenschaft.«
»Und Daemon?«
»Er hatte seine eigene Art, damit umzugehen.« Lucivar erschauderte. »Sie nannten ihn nicht umsonst den Sadisten.«
Als Saetan nach dem Yarbarah griff, zitterte seine Hand zwar immer noch, doch nicht mehr so stark wie zuvor. »Was können wir deiner Ansicht nach für Jaenelle tun?«
»Sie hat es nicht verdient, dies alleine ertragen zu müssen. Und da sie sich niemals auf Sex einlassen würde, selbst wenn es ihr eine gewisse Erleichterung verschaffen könnte, gibt es nur eine andere Methode, wie sie sich abreagieren kann: Gewalt. « Lucivar trank seinen Brandy aus. »Ich bringe sie nach Askavi und sorge dafür, dass wir einen weiten Bogen um die Dörfer machen. Auf diese Weise kommt niemand zu schaden, wenn mein Plan misslingt.«
Saetan senkte sein Glas. »Und was ist mit dir?«
»Ich habe geschworen, mich um sie zu kümmern, und das werde ich auch tun.«
Lucivar gewährte sich nicht noch mehr Zeit, darüber nachzudenken, sondern stellte sein Glas ab und durchmaß das Zimmer. Vor der Tür hielt er inne, da er nicht wusste, wie er sich am besten einer Hexe nähern sollte, die in der Lage war, seinen Geist mit einem einzigen Gedanken in Stücke zu reißen. Dann öffnete er die Tür und vertraute schulterzuckend seinen Instinkten.
Der sich zusammenbrauende mentale Sturm lastete schwer über dem Schlafzimmer. Lucivar betrat den Raum und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Jaenelle ging fieberhaft im Zimmer auf und ab, die Hände so fest in die Unterarme verkrallt, dass sie sich selbst Blutergüsse verursachte. Sie warf ihm einen raschen Blick zu und fletschte die Zähne. Ihre Augen waren voller Abscheu, ohne den geringsten Funken des Wiedererkennens. »Verschwinde!«
Er empfand eine Woge der Erleichterung. Jede Sekunde, die sie dem Verlangen widerstand, einen Mann anzugreifen, vergrößerte seine Aussichten, die nächsten paar Tage zu überleben.
»Pack eine Tasche«, sagte Lucivar. »Robuste Kleidung. Eine warme Jacke für abends. Feste Stiefel.«
»Ich gehe nirgendwohin«, fauchte Jaenelle.
»Wir gehen auf die Jagd.«
»Nein. Verschwinde!«
Lucivar stemmte die Hände in die Hüften. »Du kannst eine Tasche packen oder nicht, aber wir werden jagen gehen. Und zwar jetzt.«
»Ich will nirgends mit dir hingehen.«
Er konnte die Angst und Verzweiflung in ihrer Stimme hören. Verzweiflung, weil sie auf keinen Fall den Schutz dieses Zimmers verlassen wollte; und Angst, weil er sie bedrängte, und sie sich vielleicht wehren und ihm wehtun könnte, wenn er sie weiter in die Enge trieb.
Das ließ ihn Hoffnung schöpfen.
»Du kannst dieses Zimmer auf deinen eigenen zwei Füßen verlassen oder quer über meine Schulter gelegt. Du hast die Wahl, Katze.«
Sie griff nach einem Kissen und zerfetzte es, wobei sie in mehreren Sprachen vor sich hin fluchte. Als er daraufhin nicht zurückwich, sondern einen Schritt auf sie zumachte, floh sie hinter das Bett.
Er fragte sich, ob sie die Ironie sah, die darin lag.
»Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, Katze«, meinte er sanft.
Sie packte ein anderes Kissen und warf es nach ihm. »Bastard! «
»Mistkerl«, verbesserte er sie. Er begann, um das Bett herum auf sie zuzugehen.
Sie lief auf die Tür des Ankleidezimmers zu.
Er erreichte die Tür vor ihr. Seine ausgebreiteten Flügel ließen ihn beängstigend groß wirken.
Sie wich vor ihm zurück.
Da betrat Saetan das Zimmer. »Geh mit ihm, Hexenkind.«
Zitternd stand sie da, zwischen Vater und Bruder gefangen.
»Wir lassen alles andere zurück«, versuchte Lucivar sie zu locken. »Nur wir beide. Viel frische Luft und freie Natur.«
Er konnte ihre Gedanken an ihren Augen ablesen: Freie Natur. Raum, um sich zu bewegen. Raum, um zu laufen. Freie Natur, wo sie nicht in einem Zimmer mit all dieser Männlichkeit gefangen wäre, die an ihr zerrte und ihr das Atmen schwer machte.
»Du wirst mich nicht anfassen.« Es war keine Frage, kein Befehl, sondern ein flehendes Bitten.
»Ich werde dich nicht anfassen«, versprach Lucivar.
Jaenelle ließ die Schultern sinken. »Na gut. Ich werde packen.«
Er legte die Flügel an und trat beiseite, damit sie an ihm vorbei in das Ankleidezimmer schlüpfen konnte. Der klägliche Unterton in ihrer Stimme traf ihn mitten ins Herz. Am liebsten hätte er geweint.
Saetan trat auf ihn zu. »Sei vorsichtig, Lucivar«, flüsterte er.
Lucivar nickte. Er fühlte sich jetzt schon müde. »Draußen in der Natur wird es besser werden.«
»Du sprichst aus Erfahrung?«
»Genau. Wir werden zuerst in ihrem Haus vorbeischauen, um die Schlafsäcke und die übrige Ausrüstung zu holen und Rauch zu bitten, uns zu begleiten. Ich denke, dass sie seine Gegenwart ertragen können wird. Und wenn mir etwas zustoßen sollte, kann er euch benachrichtigen.«
Saetan musste nicht erst fragen, was Lucivar zustoßen sollte. Sie beide wussten, was eine Schwarze Witwe und Königin mit schwarzem Juwel einem Mann antun konnte.
Der Höllenfürst ließ seine Hände über Lucivars Schultern gleiten und küsste seinen Sohn auf die Wange. »Möge die Dunkelheit dich umarmen«, sagte er heiser, bevor er sich rasch abwandte. Lucivar zog ihn an sich und umarmte ihn fest.
»Sei vorsichtig, Lucivar. Ich möchte nicht, dass dir jetzt, da du endlich hier bist, etwas zustößt. Und ich will dich auf keinen Fall bei mir in der Hölle.«
Lucivar lehnte sich zurück und schenkte ihm sein träges, arrogantes Lächeln. »Ich verspreche dir aufzupassen, nicht in Schwierigkeiten zu geraten, Vater.«
Saetan schnaubte verächtlich. »Du meinst das ungefähr so ernst wie damals, als du noch ein kleines Kind warst«, stellte er trocken fest.
»Vielleicht sogar noch weniger ernst.«
Während Lucivar alleine darauf wartete, dass Jaenelle mit dem Packen fertig wurde, fragte er sich, ob er das Richtige tat. Er bedauerte jetzt schon das Wild, das sie jagen würden, die Tiere, die auf so grausame Weise den Tod fänden. Wenn das Blutvergießen unter den Vierbeinern nicht ausreichte, würde sie sich gegen ihn wenden. Darüber war er sich im Klaren. Wenn sie es tat, würde Saetan seinen Sohn nicht im Dunklen Reich wiederfinden. Von ihm wäre dann nichts mehr übrig, das wiedergefunden werden könnte.
4
Kaeleer
Der Dunkle Rat findet die ganze Angelegenheit höchst beunruhigend. « Lord Magstrom rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her.
Es kostete Saetan große Mühe, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. Doch der Mann, der ihm an seinem Ebenholzschreibtisch gegenübersaß, hatte seinen Zorn nicht verdient. »Da geht es nicht nur dem Rat so.«
»Ja, natürlich. Aber da Lady Angelline …« Magstrom stockte.
»Unter den Angehörigen des Blutes wird Vergewaltigung mit dem Tod bestraft. Zumindest ist das im Rest von Kaeleer so«, meinte Saetan mit trügerisch sanfter Stimme.
»In Kleinterreille steht ebenfalls die Todesstrafe darauf«, entgegnete Magstrom steif.
»Dann hat der kleine Bastard bekommen, was er verdiente. «
»Aber … sie waren frisch verheiratet«, warf Magstrom ein.
»Selbst wenn dem so wäre, was ich trotz der verfluchten Unterschriften bezweifeln möchte, ist ein Ehevertrag keine Entschuldigung für eine Vergewaltigung. Eine Frau mithilfe von Drogen so weit zu bringen, dass sie sich nicht weigern kann, heißt nicht, dass sie zu irgendetwas ihre Einwilligung gegeben hätte. Ich würde sagen, dass Jaenelle ihre Weigerung letzten Endes sehr klar ausgedrückt hat, meinst du nicht?« Saetan legte die Finger aneinander und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. »Ich habe die beiden angeblich harmlosen Substanzen untersucht, die Jaenelle verabreicht wurden. Dank meiner Ausbildung als Schwarze Witwe bin ich in der Lage, sie wieder herzustellen. Wenn ihr darauf beharrt, sie hätten nichts mit Jaenelles Verhalten zu tun gehabt, dann lasst mich doch eine weitere Dosis anfertigen. Wir können sie an deiner Enkelin ausprobieren. Sie ist in Jaenelles Alter.«
Lord Magstrom umklammerte wortlos die Armlehnen seines Sessels.
Saetan kam um den Schreibtisch herum und schenkte zwei Gläser Brandy ein. Eines reichte er Lord Magstrom, wobei er sich mit der Hüfte gegen die Ecke seines Schreibtisches lehnte. »Beruhige dich. Ich würde einem Kind niemals so etwas antun. Außerdem«, fügte er leise hinzu, »verliere ich vielleicht zwei meiner eigenen Kinder in den nächsten Tagen. Das wünsche ich wirklich niemandem.«
»Zwei?«
Der Höllenfürst wandte den Blick ab, um die Sorge und das Mitleid in Magstroms Augen nicht sehen zu müssen. »Das erste Mittel, das sie Jaenelle einflößten, hemmt die Willenskraft. Sie wird gesagt und getan haben, was immer man von ihr verlangte. Unglücklicherweise ist eine Nebenwirkung dieses speziellen Mittels, dass es emotionale Qualen noch verstärkt. Eine große Dosis Safframate und eine unfreiwillige sexuelle Erfahrung haben Jaenelle eventuell in einen Blutrausch versetzt. Und darin wird sie gefangen bleiben, bis die Drogen völlig ihre Wirkung verlieren.«
Magstrom nippte an dem Brandy. »Wird sie sich wieder ganz davon erholen?«
»Ich weiß es nicht. Wenn die Dunkelheit Erbarmen hat, ja.« Saetan biss die Zähne zusammen. »Lucivar brachte sie nach Askavi, damit sie etwas Zeit in der Natur, fernab von den Menschen verbringen kann.«
»Weiß er um diese gewalttätigen Neigungen?«
»Ja.«
Magstrom zögerte. »Du erwartest nicht, dass er zurückkehrt, nicht wahr?«
»Nein. Und er erwartet es ebenso wenig. Und ich weiß nicht, welche Auswirkungen das auf Jaenelle haben wird.«
»Ich mag ihn«, meinte Magstrom. »Er hat einen gewissen rauen Charme.«
»Ja, das hat er.« Rasch leerte Saetan sein Glas. Er gab sich Mühe, nicht dem Kummer nachzugeben, bevor er tatsächlich trauern musste. Der Höllenfürst zwang sich zur Selbstbeherrschung. »Egal, wie die Sache ausgehen mag, wird Jaenelle Kleinterreille in Zukunft nur noch unter Geleitschutz meiner Wahl aufsuchen.«
Magstrom stand mühsam auf und stellte behutsam das Glas auf den Schreibtisch. »Ich denke, das wird am besten sein, und ich hoffe sehr, dass Prinz Yaslana sie begleiten wird.«
Saetan beherrschte sich, bis Lord Magstrom die Burg verlassen hatte. Dann schleuderte er die Brandygläser gegen die Wand, ohne sich anschließend besser zu fühlen. Die Glasscherben erinnerten ihn zu sehr an einen zerborstenen Kristallkelch und an zwei Söhne, die einen viel zu hohen Preis hatten zahlen müssen, weil er ihr Vater war.
Er sank in die Knie. Um einen Sohn hatte er bereits geweint. Um den anderen würde er nicht trauern. Noch nicht. Er würde nicht um diesen törichten, arroganten eyrischen Mistkerl trauern, diesen charmanten, temperamentvollen Störenfried.
Ach, Lucivar!
5
Kaeleer
Verflucht, Katze, ich habe dir gesagt, dass du warten sollst!« Lucivar warf einen schwarzgrauen Schild über den Wildwechsel. Er zuckte innerlich zusammen, denn sie musste jeden Augenblick damit zusammenprallen.
Ein paar Zentimeter vor dem Schild blieb sie stehen und wirbelte herum. Mit glasigem Blick suchte sie nach einer Stelle, an der sie sich einen Weg durch das dichte Unterholz bahnen konnte.
»Bleib weg von mir«, stieß sie keuchend hervor.
Lucivar hielt den Wasserschlauch in die Höhe. »Du hast dir den Arm an den Dornen dort hinten aufgerissen. Lass mich ein wenig Wasser über die Wunden gießen, um sie zu reinigen. «
Als sie den Blick auf ihren bloßen Arm senkte, schien sie das Blut zu überraschen, das aus einem halben Dutzend tiefer Kratzer floss.
Lucivar wartete mit zusammengebissenen Zähnen. Sie hatte sich bis auf ein ärmelloses Unterhemd ausgezogen, das der Haut in der rauen Umgebung keinerlei Schutz bot. Doch im Moment tat ihr jeglicher stechender Schmerz nicht so weh wie das dauernde Reiben von Stoff auf überempfindlicher Haut.
»Komm schon, Katze«, versuchte er sie zu überreden. »Streck einfach deinen Arm aus, damit ich etwas Wasser darüber gießen kann.«
Vorsichtig hielt sie ihm den Arm entgegen, den Körper möglichst weit von ihm weggebogen. Er trat nur so nahe heran, wie nötig, um Wasser über ihre Kratzwunden gießen zu können. Das Wasser wusch das Blut und, wie er hoffte, den Großteil des Schmutzes fort.
»Trink einen Schluck Wasser.« Er bot ihr den Wasserschlauch an. Wenn er sie dazu bringen konnte, etwas zu trinken, würde er sie vielleicht überreden können, fünf Minuten stillzustehen, was sie nicht mehr getan hatte, seitdem er sie in diesen Teil von Ebon Rih gebracht hatte.
»Bleib weg von mir.« Ihre Stimme klang tief und schroff. Verzweifelt.
Er bewegte sich leicht, wobei er ihr immer noch das Wasser entgegenhielt.
»Bleib weg von mir!« Sie wirbelte herum und rannte durch den schwarzgrauen Schild, als gäbe es ihn nicht.
Er nahm einen großen Schluck und seufzte. Irgendwie würde er ihr helfen, die Sache zu überstehen. Doch nachdem sie nun schon zwei Tage ohne die kleinste Rast unterwegs waren, war er sich nicht sicher, wie viel sie beide noch aushielten.
Lucivar lehnte an einem Baum und fand einen gewissen Trost in den
rhythmischen Schlägen, die von der Lichtung zu ihm herdrangen. Die
verlassene Hütte mit einem Vorschlaghammer zu zerstören, gewährte
Jaenelle zumindest ein Ventil für die in ihrem Innern lodernden
Energien. Vor allem aber stellte es eine Beschäftigung dar, die sie
eine gewisse Zeit lang an einem Ort bleiben ließ.
Beim Feuer der Hölle, er war müde. Die Vorsteher der eyrischen Jagdlager hatten weit weniger Talent als Jaenelle an den Tag gelegt, ein mörderisches Tempo vorzugeben. Selbst Rauch in seinem unermüdlichen, schnellen Trab hatte Mühe mitzuhalten. Im Gegensatz zu einer bestimmten unter Drogen gesetzten Hexe schätzten Wölfe allerdings Nahrung und Schlaf; zwei Dinge, die auch ganz oben auf Lucivars Liste der Dinge standen, denen er sich so bald wie möglich widmen wollte.
Er rief seinen Schlafsack herbei, breitete ihn aus und befestigte ihn mithilfe der Kunst so hoch in der Luft, dass seine Flügel nicht den Boden berühren würden. Dann schob er die Kopfseite des Schlafsacks an den Baumstamm und setzte sich, ohne sich die Mühe zu machen, ein lautes Stöhnen zu unterdrücken.
*Lucivar?*
Lucivar blickte sich um, bis er Rauch entdeckte, der hinter einem Baum hervorlugte. »Es ist schon gut. Die Lady ist dabei, eine Hütte zu zerstören.«
Rauch versteckte sich winselnd hinter dem Baum.
Erst verblüffte Lucivar die Sorge des Tiers, dann schickte er ihm rasch das mentale Bild einer zertrümmerten Hütte.
*Haus von dummen Menschen*, meinte Rauch schließlich verächtlich.
Der Eyrier musste sich ein Lachen verbeißen. Die Schlussfolgerung des Wolfes war nur zu verständlich, denn eine ›Menschenhöhle‹ hatte sich ihm bisher in Gestalt der Burg, der Häuser in Hallaway, der Landsitze der Familie und Jaenelles Hauses dargeboten. So war es nur logisch, dass Rauch eine Hütte als eine Höhle betrachtete, die von einem unfähigen Menschen errichtet worden sein musste.
Seit sich die Kunde vom Wiederauftauchen der verwandten Wesen verbreitet hatte, waren die Angehörigen des Blutes in zwei Lager gespalten, was die Intelligenz der nichtmenschlichen Wesen des Blutes und deren Fähigkeiten in der Kunst betraf. Die wenigen Menschen, die Gelegenheit hatten, den verwandten Wesen direkt zu begegnen, hatten zu ihrer Belustigung festgestellt, dass die Tiere den Menschen gegenüber ähnliche Vorurteile hegten. Die Menschen wurden in zwei Gruppen unterteilt: ihre Menschen und andere Menschen . Ihre Menschen waren die Menschen der Lady: intelligent, gut an ihren Lebensraum angepasst und gewillt, sich auf die Lebensart anderer einzulassen, ohne die eigene als die beste zu erachten. Die anderen Menschen waren gefährlich, dumm, grausam und – sofern es nach den Raubkatzen ging – Beute. Sowohl arcerianische Katzen als auch verwandte Tiger hatten einen Ausdruck für Menschen, der sich grob mit den Worten ›dummes Fleisch‹ übersetzen ließ.
Einmal hatte Lucivar eingewandt, dass man Menschen nicht als dumm einstufen sollte, da sie gefährlich waren und nicht nur mithilfe der Kunst, sondern auch mithilfe von Waffen auf die Jagd gehen konnten. Rauch hatte ihn darauf hingewiesen, dass Wildschweine Hauer besaßen und gefährlich waren. Dennoch galten sie gemeinhin als dumm.
Beruhigt ob der Tatsache, dass seine Lady nichts mit vier Beinen angriff, verschwand Rauch im Wald, um kurz darauf mit einem toten Hasen zurückzukehren. *Iss.*
»Hast du gegessen?« Als Rauch nichts erwiderte, rief Lucivar den Proviantbeutel und die große Reiseflasche herbei, die Draca ihm gegeben hatte, bevor er den Bergfried mit Jaenelle verließ. Beinahe hätte er die Nahrung abgelehnt, da er davon ausgegangen war, dass es viel frisches Fleisch geben würde sowie ausreichend Gelegenheit, ein Feuer zu machen und zu braten. »Behalte du den Hasen.« Er kramte in dem Beutel herum. »Ich mag kein rohes Fleisch.«
Rauch legte den Kopf schief. *Feuer?*
Lucivar schüttelte den Kopf und gab sich Mühe, nicht über eine wärmende Feuerstelle oder Schlaf nachzudenken. Er zog ein Sandwich aus dem Beutel und hielt es in die Höhe.
*Lucivar essen.* Rauch machte sich über den Hasen her, während Lucivar Whiskey aus der Flasche trank und langsam sein Brot verspeiste. Ein Teil seiner Aufmerksamkeit galt jedoch dem Geräusch zersplitternden Holzes.
Diese Reise war nicht so verlaufen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Er hatte Jaenelle hierher gebracht, damit sie ihre wilden, von den Tränken verursachten Bedürfnisse an nichtmenschlicher Beute ausleben konnte. Begleitet hatte er sie, damit sie eine Zielscheibe bei sich hatte, die sie ganz besonders reizen und ihre Blutlust am gründlichsten stillen würde – einen Mann.
Sie hatte sich geweigert, auf die Jagd zu gehen und sich ein wenig Erleichterung zu erkaufen, indem ein anderes Lebewesen dafür mit dem Leben bezahlte. Ihn eingeschlossen.
Doch sie hatte keinerlei Mitleid mit ihrem eigenen Körper gezeigt. Stattdessen hatte sie ihn wie einen Feind behandelt, dem nichts als ihre tiefste Verachtung gebührte; ein Feind, der sie verraten hatte, indem er sie den sadistischen Spielchen eines anderen ausgeliefert hatte.
*Lucivar?*
Er schüttelte den Kopf und tastete die Umgebung automatisch nach der Quelle für Rauchs Unbehagen ab. Vogelgezwitscher. Ein Eichhörnchen, das durch die Äste über ihren Köpfen kletterte. Die gewohnten Waldgeräusche. Nur die gewohnten Geräusche.
Sein Herz hämmerte wild, als er und Rauch auf die kleine Lichtung zuliefen.
Die Hütte war nur mehr ein Haufen Sägespäne. Ein paar Meter davon entfernt saß Jaenelle mit gesenktem Kopf auf dem Boden. In den Händen hielt sie immer noch den Vorschlaghammer.
Behutsam näherte sich Lucivar und ging neben ihr in die Hocke. »Katze?«
Tränen rannen ihr das Gesicht hinab. Blut tropfte aus einer Wunde über ihr Kinn. Sie musste sich in die Unterlippe gebissen haben. Sie japste nach Atem und erschauderte. »Ich bin so müde, Lucivar. Aber es packt mich und …«
Ihre Muskeln verkrampften sich, bis sie vor Anspannung am ganzen Leib zitterte. Sie bog den Rücken, und die Sehnen an ihrem Hals traten hervor. Durch zusammengebissene Zähne sog sie die Luft ein. Der Griff des Hammers brach zwischen ihren Händen entzwei.
Lucivar wartete ab, da er es nicht wagte, sie zu berühren, während ihre Muskeln zum Zerreißen angespannt waren. Es dauerte höchstens ein paar Minuten. Allerdings fühlte es sich wie Stunden an. Als es endlich vorüber war, sackte sie zusammen und fing so heftig zu weinen an, dass er das Gefühl hatte, als ob sein Herz zerreißen würde.
Sie wehrte sich nicht, als er sie in den Arm nahm. Also hielt er sie, wiegte sie und ließ sie sich ausweinen.
Er konnte spüren, wie die sexuelle Anspannung zunahm, sobald sie zu weinen aufgehört hatte, doch er hielt Jaenelle weiter fest. Wenn er sich nicht täuschte, hatte sie nun das Schlimmste überstanden.
Nach etlichen Minuten wich der Druck so weit von ihr, dass sie ihren Kopf an seine Schulter lehnen konnte. »Lucivar? «
»Hmm?«
»Ich habe Hunger.«
Sein Herz jubilierte. »Dann werde ich dir etwas zu essen besorgen.«
*Feuer?*
Jaenelles Kopf fuhr in die Höhe. Sie starrte den Wolf an, der am Rand der Lichtung stand. »Warum will er ein Feuer machen?«
»Woher im Namen der Dunkelheit soll ich wissen, warum er eines will? Aber wenn wir eines hätten, könnte ich uns einen Kaffee mit einem Schuss Whiskey machen.«
Jaenelle dachte eine Weile über seine Worte nach. »Du machst guten Kaffee.«
Da Lucivar davon ausging, dass es sich bei ihrer Bemerkung um eine Zustimmung handelte, führte er Jaenelle auf die andere Seite der Lichtung. Unterdessen machte sich Rauch daran, die Trümmer nach Holzstücken abzusuchen, die groß genug waren, um als Brennholz zu dienen.
Lucivar rief den Proviantbeutel, die Reiseflasche und den Schlafsack herbei, die er an einem Bach in der Nähe zurückgelassen hatte. Jaenelle wanderte von einem Ende der Lichtung zum anderen, wobei sie an dem belegten Brot knabberte, das er ihr gegeben hatte. Er behielt sie wachsam im Auge, während er sich um die Feuerstelle kümmerte, den Rest der Ausrüstung herbeirief und ein Lager aufschlug. Sie wirkte ruhelos, aber nicht getrieben, was gut war, da das Licht und die Wärme des Tages rasch im Schwinden begriffen waren.
Als der Kaffee fertig war, den er mit einem Schuss Whiskey angereichert hatte, lag Jaenelle bereits zitternd in ihrem Schlafsack und griff begierig nach der Tasse, die er ihr reichte. Er schlug ihr nicht vor, sich wärmer anzuziehen. Solange sie die Feuerstelle als einzige Wärmequelle ansah, würde sie sich bis zum Morgen nur ungern davon entfernen.
Während er den Proviantbeutel nach etwas anderem durchsuchte, das er ihr anbieten konnte, drang ein leises Schnarchen an seine Ohren.
Nach über zwei Tagen, in deren Verlauf sie unerbittlich unterwegs gewesen war, schlief Jaenelle endlich.
Lucivar schloss ihren Schlafsack und belegte ihn mit einem Wärmezauber, damit sie nicht fror, wenn die Temperaturen im Laufe der Nacht weiter absanken. Dann nahm er die Kaffeekanne vom Feuer und legte Holz nach. Nachdem er sich die Stiefel ausgezogen hatte, machte er es sich selbst in seinem Schlafsack gemütlich.
Er sollte einen Schutzschild um das Lager legen, obwohl er bezweifelte, dass die kargen Proviantreste ein Raubtier derart verlocken könnten, dass es Mensch und Wolf herausfordert. Doch sie befanden sich an der nördlichen Grenze von Ebon Rih in unbehaglicher Nähe zum Gebiet der Jhinka. Das Letzte, was Jaenelle in ihrer jetzigen Verfassung brauchte, war ein Überraschungsangriff von einer Bande Jhinkajäger.
6
Hölle
Saetan hatte sich mit der Störung abgefunden, ließ sich in einem der Sessel vor dem Kamin nieder und goss zwei Gläser Yarbarah ein. Er hatte sich entschlossen, etwas Zeit in seinem privaten Arbeitszimmer unter der Burg zu verbringen, da er sich nicht länger um verängstigte, lautstark protestierende Geister hatte kümmern wollen – nicht nach den vergangenen vierundzwanzig Stunden. Doch kein Mann, selbst wenn er ein Kriegerprinz mit schwarzen Juwelen und noch dazu der Höllenfürst war, verweigerte einer Königin der Dea al Mon eine Audienz – besonders dann nicht, wenn es sich obendrein um eine dämonentote Harpyie handelte.
»Was kann ich für dich tun, Titian?«, erkundigte sich Saetan höflich, indem er ihr ein Glas Blutwein reichte.
Titian nahm das Glas entgegen und nippte zierlich daran. Die ganze Zeit über hielten ihre blauen Augen dem unverwandten Blick seiner goldenen stand. »Du hast die Bewohner der Hölle sehr unruhig gemacht. Zum ersten Mal in all den Jahrhunderten, die du nun schon Höllenfürst bist, hast du das Dunkle Reich gereinigt.«
»Ich herrsche in der Hölle, also kann ich hier tun und lassen, was ich will«, entgegnete Saetan sanft. Selbst einem Narren wäre der warnende Unterton nicht entgangen.
Titian steckte sich das lange, silberne Haar hinter die spitzen Ohren und ignorierte die Warnung: »Was du willst oder was du musst? Wer darauf achtete, dem ist nicht entgangen, dass dieser Säuberungsaktion nur die Gefolgsleute der Dunklen Priesterin zum Opfer fielen.«
»Tatsächlich?« Er sprach mit höflichem Interesse. In Wirklichkeit empfand er Erleichterung, dass man die Verbindung gesehen hatte. Zum einen würden sich die übrigen Dämonentoten beruhigen, sobald sie erkannten, dass nur Hekatahs Anhänger vorzeitig ihrem endgültigen Tod entgegengetrieben wurden. Außerdem würde es sich jeder, der Hekatah in Zukunft die Treue schwören wollte, angesichts des hohen Preises zweimal überlegen. »Da dich die Angelegenheit nicht persönlich betrifft, begreife ich nicht ganz, weshalb du mich aufsuchst.«
»Ein paar sind dir entgangen. Ich dachte, das solltest du wissen.«
Rasch verbarg Saetan seine Bestürzung. Titian sah ohnehin immer zu viel. »Du wirst mir die Namen nennen.« Es war keine Frage.
Titian lächelte. »Das wird nicht nötig sein. Die Harpyien haben sich für dich um die Betreffenden gekümmert.« Sie zögerte einen Moment. »Was ist mit der Dunklen Priesterin?«
Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Saetan in die Flammen im Kamin. »Ich konnte sie nicht finden. Hekatah ist sehr gut im Versteckspielen.«
»Hättest du ihre Rückkehr in die Dunkelheit beschleunigt, wenn du sie gefunden hättest? Hättest du sie in den endgültigen Tod geschickt?«
Saetan schleuderte sein Glas in den Kamin, was er jedoch augenblicklich bereute, als das Feuer zischte und sich der Geruch heißen Blutes über das Zimmer legte.
Diese Frage hatte er sich gestellt, seitdem er die Entscheidung getroffen hatte, sämtliche Unterstützung auszuschalten, die Hekatah unter den Dämonentoten genoss. Hätte er sie ungerührt ausbluten lassen können, bis sie in die Dunkelheit einging, wenn er sie gefunden hätte? Oder hätte er gezögert, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte, weil Jahrhunderte der Abscheu und des Misstrauens nicht die einfache Tatsache aus der Welt schaffen konnten, dass sie ihm zwei seiner Söhne geschenkt hatte? Drei, wenn er sich eingestand … doch er zählte jenes Kind nicht mit, konnte es nicht mitzählen; ebenso wenig wie er sich je wirklich eingestanden hatte, wer damals das Messer geführt hatte.
Er zuckte zusammen, als Titian ihm über die Hand strich.
»Hier.« Sie reichte ihm ein neues Glas mit erwärmtem Yarbarah. Dann lehnte sie sich wieder in ihrem Sessel zurück und fuhr den Rand ihres eigenen Glases mit einem Finger nach. »Du bringst nicht gerne Frauen um, nicht wahr?«
Saetan trank den Blutwein in kräftigen Zügen. »Nein.«
»Das dachte ich mir. Du bist viel sauberer und sanfter mit ihnen verfahren als mit den Männern.«
»Vielleicht gemessen an deinen Maßstäben.« Gemessen an seinen eigenen war er brutal genug vorgegangen. Er zuckte die Schultern. »Wir sind die Söhne unserer Mütter.«
»Das lässt sich schwerlich leugnen.« Sie klang ernst, sah aber belustigt aus.
Saetan ließ unbehaglich die Schultern kreisen, wurde jedoch das unangenehme Gefühl nicht los, dass sie ihm eben eine Schlinge um den Hals gelegt hatte. »Es ist eine meiner Lieblingstheorien, was den Umstand betrifft, dass es keinen männlichen Rang gibt, der einer Königin gleichgestellt ist.«
»Weil Männer die Söhne ihrer Mütter sind?«
»Weil vor langer, langer Zeit nur Frauen Angehörige des Blutes waren.«
Titian machte es sich in ihrem Sessel bequem. »Faszinierend. «
Der Höllenfürst musterte sie misstrauisch. Titian sah ihn genauso an, wie Jaenelle es immer tat, wenn sie ihn in die Enge getrieben hatte und nur noch darauf warten musste, dass er aufhörte, sich vor ihr zu winden, und ihr erzählte, was sie wissen wollte.
»Es ist nur etwas, über das Andulvar und ich während langer Winternächte diskutiert haben«, meinte er mürrisch, während er ihnen beiden Wein nachschenkte.
»Es mag nicht Winter sein, aber in der Hölle sind die Nächte immer lang.«
»Kennst du die Geschichte von den Drachen, welche die Reiche vor ewigen Zeiten beherrschten?«
Titian zuckte mit den Schultern, um ihm zu zeigen, dass es keinen Unterschied machte, ob sie die Legenden kannte oder nicht. Sie hatte es sich gemütlich gemacht, um ihm von Anfang an zuzuhören.
Saetan hob grüßend sein Glas und lächelte widerwillig. Zwar waren Männer mit Juwelen dazu ausgebildet, ihre Territorien zu verteidigen, doch kein Mann war in der Lage, eine Königin zu schlagen, wenn es um Taktik und strategisches Kalkül ging.
»Vor langer Zeit«, setzte er an, »als die Reiche noch jung waren, lebte dort ein Drachenvolk. Es waren mächtige, weise Wesen voller Magie, die über alle Länder und sämtliche Menschen und Tiere darin herrschten. Doch nach hunderten von Generationen mussten sie einsehen, dass ihr Volk nicht weiterbestehen würde, und da sie nicht wollten, dass ihr Wissen und ihre Fähigkeiten mit ihnen starben, beschlossen sie, ihre Künste an die anderen Wesen weiterzugeben, sodass diese an ihrer Stelle die Kunst ausüben und für die Reiche sorgen könnten. Ein Drache nach dem anderen zog sich in seine Höhle zurück, um in die ewige Nacht einzugehen und ein Teil der Dunkelheit zu werden. Als nur die Königin und ihr Prinzgemahl, Lorn, übrig waren, verabschiedete die Königin sich von ihrem Gefährten. Sie flog durch die Reiche, und ihre Schuppen regneten herab, und jedes Wesen, das von einer ihrer Schuppen getroffen wurde – egal ob es sich auf zwei oder vier Beinen fortbewegte oder mithilfe von Flügeln durch die Lüfte tanzte – wurde Blut von ihrem Blut. Diese Wesen gehörten zwar immer noch dem Volk oder der Gattung an, denen sie entstammten, gleichzeitig wurden sie aber auch anders, neu erschaffen, um fürsorglich zu verwalten und zu herrschen. Nachdem die Königin ihre letzte Schuppe verloren hatte, verschwand sie. In manchen Geschichten heißt es, ihr Körper habe eine andere Gestalt angenommen, obgleich er auch weiterhin eine Drachenseele beherbergte. Andere sprechen davon, dass ihr Körper sich aufgelöst habe, und sie in die Dunkelheit eingegangen sei.«
Saetan ließ den Yarbarah in seinem Glas kreisen. »Ich habe all die alten Sagen gelesen – manche im Original. Ein Punkt hat mich immer fasziniert: Egal, von welchem Volk die jeweilige Geschichte stammt, die Königin besitzt nie einen Namen. In sämtlichen Geschichten wird Lorn bei Namen genannt, sogar mehrfach, sie hingegen nicht. Dieses Versäumnis scheint Absicht zu sein. Ich habe mich schon immer gefragt, warum dem so ist.«
»Und der Prinz der Drachen?«, wollte Titian wissen. »Was ist mit ihm geschehen?«
»Die Legenden besagen, dass Lorn immer noch existiert und dass er das gesamte Wissen des Blutes in sich vereint.«
Titian wirkte nachdenklich. »Als Jaenelle fünfzehn wurde, und Draca meinte, Lorn habe entschieden, dass sie bei dir auf der Burg leben sollte, dachte ich, sie sage das nur, um Cassandras Einwände hinwegzufegen.«
»Nein, sie meinte es ernst. Sie ist schon seit Jahren mit ihm befreundet. Er war es, der Jaenelle ihre Juwelen schenkte.«
Titian öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich darauf wieder, ohne einen Ton von sich gegeben zu haben.
Ihr verblüffter Gesichtsausdruck gefiel dem Höllenfürsten.
»Bist du ihm je begegnet?«
»Nein«, erwiderte Saetan säuerlich. »Mir ist keine Audienz gewährt worden.«
»Oh.« In Titians Stimme lag nicht die Spur von Mitgefühl. »Und was hat die Legende damit zu tun, dass die Angehörigen des Blutes einmal alle weiblich gewesen sein sollen? Und weshalb beließen wir es dann nicht dabei?«
»Das hätte dir gefallen, nicht wahr?«
Sie musste lächeln.
»Also gut, meine Theorie lautet folgendermaßen: Da es die Schuppen der Königin waren, über welche die Kunst an andere Völker weitergegeben wurde, und da Gleiches immer zu Gleichem spricht, scheint es mir wahrscheinlich, dass nur weibliche Wesen in der Lage waren, den Zauber in sich aufzunehmen. Von da an waren sie dem Land verbunden und fühlten sich aufgrund des Rhythmus ihres eigenen Körpers vom natürlichen Takt von Ebbe und Flut angezogen. Sie wurden Blut.«
»Was eine Generation lang angehalten hätte«, bemerkte Titian.
»Nicht alle Männer sind dumm.« Als sie ihm einen zweifelnden Blick zuwarf, stieß Saetan einen tiefen Seufzer aus. Mit einer Harpyie über den Wert der Männer zu diskutieren, war in etwa so aussichtsreich, als versuchte man, einem Felsen das Singen beizubringen. Bei Letzterem stünden die Aussichten sogar besser. »Lass uns um der Theorie willen einmal annehmen, wir sprechen von den Dea al Mon.«
»Ah!« Titian lehnte sich zufrieden in ihrem Sessel zurück. »Unsere Männer verfügen tatsächlich über Intelligenz.«
»Ich bin mir sicher, sie sind erleichtert, dass du dieser Ansicht bist«, lautete Saetans trockener Kommentar. »Nun, da die Männer feststellen mussten, dass ein paar der Frauen in ihrem Territorium auf einmal über magische Fähigkeiten verfügten …«
»… boten sich die besten jungen Krieger als Gefährten und Beschützer an.«
Saetan hob eine Braue. Da Landen – Angehörige eines Volkes, die nicht des Blutes waren – dazu neigten, den Blutleuten und deren Künsten mit Misstrauen zu begegnen, hatte er sich den Verlauf der Geschichte etwas anders vorgestellt. Doch er fand es äußerst interessant, dass eine Hexe der Dea al Mon auf diesen Gedanken kam. Er würde Chaosti und Gabrielle bei Gelegenheit nach deren Meinung fragen. »Und aus diesen Verbindungen entsprangen Kinder, wobei die Mädchen aufgrund ihres Geschlechts die volle Gabe erbten.«
»Doch ein Junge konnte nur ein Halbblut mit wenigen oder gar keinen magischen Fähigkeiten sein.« Titian hielt Saetan ihr Glas entgegen, woraufhin er es erneut füllte.
»Hexen können nicht viele Kinder bekommen«, fuhr Saetan fort, nachdem er sich selbst eingeschenkt hatte. »Je nach dem Geburtsverhältnis von Söhnen und Töchtern kann es etliche Generationen gedauert haben, bis es echte Männer des Blutes gab. Die ganze Zeit über wohnte die Macht dem weiblichen Geschlecht inne, jede Generation lernte von der vorherigen und wurde stärker. Die ersten Königinnen traten wahrscheinlich lange vor dem ersten Krieger auf, von Prinzen einmal ganz zu schweigen. Bis dahin wäre die Vorstellung, dass die Männer den Frauen zu dienen und sie zu beschützen hatten, allen in Fleisch und Blut übergegangen. Was letzten Endes dabei herauskommt, ist die uns bekannte Gesellschaft des Blutes, in der Krieger Hexen rangmäßig gleichgestellt sind, Prinzen hingegen Priesterinnen und Heilerinnen, und in der Schwarze Witwen sich nur Kriegerprinzen und Königinnen gegenüber unterzuordnen haben. Und Kriegerprinzen, die sich über jegliche Konvention hinwegsetzen, stehen eine Stufe über den anderen Kasten und eine Stufe – eine weite Stufe – unter den Königinnen.«
»Wenn man die jeweilige Kaste eines Einzelnen zusammen mit seinem sozialen Status und seinem Juwelenrang betrachtet, ergibt sich ein faszinierender Tanz.« Titian stellte ihr Glas auf den Tisch. »Eine interessante Theorie, Höllenfürst.«
»Eine interessante Zerstreuung, Lady Titian. Warum hast du es getan? Warum hast du mir heute Abend Gesellschaft geleistet? «
Titian strich ihre waldgrüne Tunika glatt. »Wir sind über Jaenelle miteinander verwandt. Es schien mir … angebracht … dir heute Abend Trost zu spenden, da Jaenelle es nicht kann. Gute Nacht, Höllenfürst.«
Noch lange, nachdem sie gegangen war, saß Saetan vor dem Kamin und beobachtete, wie die Holzscheite zerbarsten und zu Boden fielen. Schließlich raffte er sich auf und erwärmte sich ein letztes Glas Yarbarah. Die Einsamkeit und die Stille störten ihn nicht mehr.
Er hatte seine ganz eigene Theorie, weshalb Männer zu dienen begonnen hatten: Es war nicht nur die Magie, welche die Männer angezogen hatte, sondern der innere Glanz, der aus jenen weiblichen Körpern hervorstrahlte; ein Leuchten, nach dem sich manche Männer so gesehnt hatten, als sei es ein Licht, das sie in einem Fenster schimmern sahen, während sie draußen in der Kälte standen. Sie hatten sich ebenso danach gesehnt, wie sie es begehrt hatten, in die süße Dunkelheit des weiblichen Körpers einzutauchen – wenn nicht noch mehr.
Männer waren Angehörige des Blutes geworden, weil sie sich von beidem angezogen fühlten.
Und wie er selbst nur zu gut wusste, war dem immer noch so.
7
Kaeleer
Lucivar lag auf dem Rücken im jungen Gras, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Flügel ausgebreitet, damit sie nach seinem kurzen Bad in dem kleinen Teich trocknen konnten. Jaenelle planschte immer noch in dem kalten Wasser herum und wusch sich den Schweiß und den Dreck aus den langen Haaren.
Er schloss die Augen und stöhnte zufrieden, während die warmen Sonnenstrahlen allmählich seine verspannte Muskulatur lockerten.
Als er gestern kurz vor dem Morgengrauen erwacht war, hatte er Jaenelle gesehen, wie sie hektisch den Proviantvorrat durchwühlte. Es war ihnen gelungen, schnell etwas zu sich zu nehmen, bevor die körperliche Anspannung, die durch die Drogen hervorgerufen wurde, Jaenelle wieder gezwungen hatte, sich zu bewegen.
Es war jedoch nicht das gnadenlose Getriebensein der letzten Tage, und im Laufe des Vormittags war die körperliche Anspannung einer Reihe von Gefühlsstürmen gewichen. Auf einmal wurde sie von Wut gepackt, um kurz darauf in Tränen auszubrechen. Lucivar ließ ihr jeden Freiraum, während sie fluchend tobte, und hielt sie im Arm, wenn sie weinte. Sobald sich ein derartiger Sturm gelegt hatte, ging es ihr eine Zeit lang gut. Sie wanderten in viel zu schnellem Tempo weiter und hielten nur gelegentlich an, um Beeren zu pflücken oder an einem Bach zu rasten. Dann begann der Kreislauf von neuem, jedes Mal ein bisschen weniger heftig.
Heute Morgen hatten er und Rauch einen jungen Hirsch erlegt. Lucivar hatte ausreichend Fleisch zurückbehalten, um den kleinen, mit einem Kältezauber belegten Essensbehälter zu füllen, den er mitgebracht hatte, und hatte Rauch mit dem Rest zum Bergfried geschickt. Sollte Saetan sich nicht dort aufhalten, würde Rauch sich auf den Weg zur Burg machen, um dem Höllenfürsten auszurichten, dass sie das Schlimmste überstanden hatten und sie noch ein paar Tage in Askavi bleiben würden, bevor sie nach Hause kämen.
Nach Hause. Er lebte nun schon ein Jahr lang in Kaeleer, doch die Art, wie Hexen im Schattenreich Männer behandelten, verwirrte ihn gelegentlich immer noch.
Eines Tages war er zu Chaosti, Aaron und Khardeen gestoßen. Die Jünglinge diskutierten gerade die Unterschiede zwischen dem Ring der Ehre, den Männer im Ersten Kreis einer Königin trugen, und dem Kontrollring, den terreilleanische Männer in Kaeleer tragen mussten, bis sie sich als vertrauenswürdig erwiesen hatten. Lucivar erzählte ihnen vom Ring des Gehorsams, der in Terreille benützt wurde.
Sie glaubten ihm nicht. Vom Intellekt her begriffen sie zwar, was er sagte, doch sie hatten niemals die alles beherrschende, alltägliche Angst gekannt, in der terreilleanische Männer lebten. Von daher glaubten sie ihm nicht, ja, konnten ihm gar nicht glauben.
Er hatte sich gefragt, ob die Jungen einfach noch nicht alt genug waren, um schon am eigenen Leib erfahren zu haben, auf welche Weise eine Hexe ihre Männer bändigte. Also hatte er sich bei Sylvia, der Königin von Halaway, erkundigt, wie eine Königin mit einem Mann verfuhr, wenn er nicht an ihrem Hof dienen wollte.
Sie hatte ihn einen Augenblick lang mit offenem Mund angestarrt, bevor sie hervorstieß: »Wer würde einen solchen Mann denn haben wollen?«
Vor ein paar Monaten hatte er für den Höllenfürsten in Nharkhava zu tun gehabt und war von drei älteren Damen zum Tee eingeladen worden. Sie hatten seine Statur mit solch gut gemeintem Entzücken gepriesen, dass er sich nicht hatte beleidigt fühlen können. Da er sich in ihrer Runde wohl gefühlt hatte, hatte er die Damen gefragt, ob sie von dem Kriegerprinzen gehört hatten, der letztens eine Königin umgebracht hatte.
Unwillig gaben sie zu, dass die Geschichte sich tatsächlich zugetragen hatte. Eine Königin hatte aufgrund ihres grausamen Wesens Schwierigkeiten gehabt, einen Hof zu gründen, da es ihr nicht gelang, zwölf Männer dazu zu bringen, ihr freiwillig zu dienen. Also hatte sie sich entschlossen, Männer in ihren Dienst zu zwingen, indem sie den Ring des Gehorsams einsetzte. Sie hatte bereits elf Krieger mit helleren Juwelen um sich versammelt und hielt nach dem zwölften Ausschau, als jener Kriegerprinz sie zur Rede gestellt hatte. Er suchte nach einem jüngeren Cousin, der einen Monat zuvor verschwunden war. Als die Königin versuchte, sich den Kriegerprinzen mit Gewalt zu unterwerfen, brachte er sie um.
Was war mit dem Kriegerprinzen geschehen?
Es dauerte einen Moment, bis die drei Damen die Frage verstanden.
Nichts war mit dem Kriegerprinzen geschehen. Schließlich hatte er genau das getan, was man von ihm erwartete. Selbstverständlich wäre es allen lieber gewesen, er hätte jene schreckliche Person lediglich gefesselt und der Königin von Nharkhava zur Bestrafung übergeben; doch man konnte nichts anderes erwarten, wenn ein Kriegerprinz genug provoziert wurde, um in einen Blutrausch zu geraten.
Lucivar hatte den restlichen Tag in einer Schenke verbracht, ohne recht zu wissen, ob er die Haltung der Damen amüsant oder erschreckend finden sollte. Er musste an die vielen Male denken, als er verprügelt und ausgepeitscht worden war und an seine gequälten Schreie, wenn wieder einmal Schmerzen durch den Ring des Gehorsams gesandt worden waren. Außerdem musste er daran denken, was er jeweils getan hatte, um sich jene Schmerzen einzuhandeln. So saß er in der Schenke und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen, als er zu guter Letzt einsehen musste, dass er die Unterschiede zwischen Terreille und Kaeleer niemals in Einklang bringen können würde.
In Kaeleer war der Dienst an einer Hexe ein verschlungener Tanz, wobei es pausenlos wechselte, ob der Mann oder die Frau führte. Hexen nährten und schützten Kraft und Stolz der Männer, wohingegen die Männer die sanftere, aber auf wunderbare Weise tiefer gehende Kraft der Frauen schützten und respektierten.
Männer waren keine Sklaven oder Schoßhunde oder Werkzeuge, derer man sich bediente, ohne auf ihre Gefühle zu achten. Sie waren wertvolle, hoch geschätzte Partner.
An jenem Tag war Lucivar darauf gekommen, dass die Königinnen in Kaeleer ihre Männer auf diese Weise an sich banden – Kontrolle, die so sanft und süß war, dass ein Mann keinerlei Grund hatte, dagegen anzukämpfen, ja, dass er allen Grund hatte, dieses Band glühend zu verteidigen.
Loyalität auf beiden Seiten. Respekt auf beiden Seiten. Ehre auf beiden Seiten. Stolz auf beiden Seiten.
Dies war der Ort, den er stolz sein Zuhause nannte.
»Lucivar.«
Innerlich fluchend sprang Lucivar auf. In Anbetracht der Anspannung, die er in ihr spürte, konnte er von Glück sagen, dass sie nicht ohne ihn aufgebrochen war.
»Etwas stimmt nicht«, sagte sie mit ihrer Mitternachtsstimme.
Auf der Stelle suchte er mental die Umgebung ab. »Wo? Ich kann nichts entdecken.«
»Nicht hier. Weiter östlich.«
Im Osten lag lediglich ein Landendorf, das unter dem Schutz von Agio stand, einem Blutdorf am nördlichen Ende von Ebon Rih.
»Etwas stimmt dort nicht, aber es lässt sich nicht greifen«, meinte Jaenelle, die aus zusammengekniffenen Augen gen Osten starrte. »Und es fühlt sich irgendwie krank an, wie eine Falle mit einem vergifteten Köder darin. Aber es entzieht sich mir jedes Mal, wenn ich versuche, mich darauf zu konzentrieren. « Sie stieß ein enttäuschtes Knurren aus. »Vielleicht machen es mir die Drogen schwerer, Dinge zu spüren.«
Er musste an die Königin denken, die elf junge Männer gefangen hatte, bevor sie getötet worden war. »Oder vielleicht hast du das falsche Geschlecht für den Köder.« Während er seine inneren Barrieren fest verschlossen hielt, streckte er seine mentalen Sinne ostwärts aus. Eine Minute später unterbrach er heftig fluchend die Verbindung. Verzweifelt hielt er sich an Jaenelle fest und ließ sich von ihrer sauberen, dunklen Kraft reinwaschen.
Er legte die Stirn an die ihre. »Es ist schlimm, Katze. Viel Hoffnungslosigkeit und Schmerzen umgeben von…« Er suchte nach einem Wort, um zu beschreiben, was er gefühlt hatte.
Aas.
Mit einem Schaudern fragte er sich, weshalb ihm ausgerechnet dieser Ausdruck in den Sinn gekommen war.
Er könnte über das Dorf fliegen und rasch nachsehen. Wenn die Landen gegen ein Überfallkommando der Jhinka ankämpften, war er stark genug, ihnen die Hilfe zu gewähren, die sie benötigten. Wenn es sich um eine jener Frühjahrsepidemien handelte, die manchmal ein Dorf heimsuchten, wäre es besser, Bescheid zu wissen, bevor er Agio benachrichtigte, da in diesem Fall die Heilerinnen gebraucht würden.
Seine Hauptsorge galt jedoch einem sicheren …
»Denk erst gar nicht daran«, warnte Jaenelle sanft. »Ich komme mit dir.«
Lucivar beäugte sie und versuchte zu beurteilen, wie weit er diesmal gehen konnte. »Weißt du, mit dem Ring der Ehre, den du mir hast anfertigen lassen, werde ich mich nicht genauso zurückhalten lassen, wie es mit dem üblichen Kontrollring der Fall gewesen wäre.«
Sie stieß einen eyrischen Fluch aus, der ausgesprochen deutlich war.
Er lächelte grimmig. Das beantwortete relativ eindeutig, wie weit er gehen konnte. Er blickte gen Osten. »Na gut, du kommst mit mir. Aber wir machen es auf meine Art, Katze.«
Jaenelle nickte. »Du bist derjenige mit der Kampferfahrung. Aber…« Sie drückte die rechte Handfläche gegen das schwarzgraue Juwel, das an seiner Brust lag. »Breite deine Flügel aus.«
Sobald er seine Flügel ganz geöffnet hatte, konnte er ein heißkaltes Prickeln spüren, das von dem Ring der Ehre ausging.
Zufrieden trat sie zurück. »Dieser Schild ist mit dem Schutzschild verflochten, der bereits in dem Ring enthalten ist. Du könntest deine Juwelen gänzlich erschöpfen, und er würde dennoch um dich herum aufrecht erhalten bleiben. Er befindet sich etwa dreißig Zentimeter von deinem Körper entfernt und wird mit meinem verbunden sein, sodass wir eng beieinander bleiben können, ohne einander zu gefährden. Pass aber auf, dass du mit nichts sonst in Berührung kommst, das du nicht beschädigen möchtest.«
Da er regelmäßig Rundflüge zu sämtlichen Dörfern in Ebon Rih gemacht hatte, kannte Lucivar das Landendorf und dessen Umgebung relativ gut. Um das Dorf herum gab es zahlreiche niedrige Hügel und Wälder – ausgezeichnete Verstecke für einen Stoßtrupp der Jhinka.
Die Jhinka waren ein wildes, geflügeltes Volk, das sich locker aus patriarchalisch strukturierten Clans zusammensetzte, die lose einem Dutzend Stammesführern unterstanden. Wie die Eyrier gehörten die Jhinka zu den ursprünglichen Bewohnern von Askavi, doch sie waren kleiner und wurden bei weitem nicht so alt wie die langlebigen Eyrier. Die beiden Völker hassten einander von alters her.
Während die Eyrier über die magische Kunst verfügten, waren die Jhinka ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Sobald ein eyrischer Krieger die Energien in seinen Juwelen verbraucht hatte, war er genauso verletzlich wie jeder andere Mann, der gegen eine Übermacht ankämpfte. Die Jhinka hatten sich immer gerne auf die zahlreichen Opfer eingelassen, die es kostete, um einen Feind niederzustrecken, und hatten sich nie gescheut, einem Eyrier im Kampf gegenüberzutreten.
Mit Ausnahme von zwei Eyriern. Einer der beiden weilte unter den Lebenden, der andere im Reich der Toten. Beide trugen schwarzgraue Juwelen.
»Also gut«, sagte Lucivar. »Wir reisen auf dieser weißen Horizontlinie, bis wir das Dorf hinter uns gelassen haben. Dann lassen wir uns aus den Winden fallen und nähern uns rasch von der anderen Seite. Wenn es sich um einen Überfall der Jhinka handelt, kümmere ich mich darum. Sollte es etwas anderes sein …«
Sie sah ihn nur an.
Er räusperte sich. »Komm schon, Katze. Sorgen wir dafür, dass es diejenigen, die sich an unserem Tal vergriffen haben, bitter bereuen.«
8
Kaeleer
Nachdem Lucivar und Jaenelle den weißen Wind verlassen hatten, glitten sie auf das friedlich aussehende Dorf zu, das noch eine Meile entfernt war.
*Du meintest, wir sollten uns schnell nähern.* Jaenelles Stimme lief einen mentalen Faden entlang.
*Zudem meinte ich, wir machen es auf meine Art*, erwiderte Lucivar scharf.
*Dort unten gibt es Not und Schmerzen, Lucivar.*
Außerdem gab es den mentalen Aasgeruch, diese Atmosphäre von Verdorbenheit, die sich jetzt nicht mehr greifen ließ. Es verursachte ihm Unbehagen, dass er sie nicht länger spüren konnte und sie niemals erfasst hätte, wenn er einfach gekommen wäre, um nach dem Dorf zu sehen. Er wäre ohne Vorwarnung in die Falle getappt, woraus diese auch immer bestehen mochte.
In dem Moment, als Jaenelle wie ein Falke in voller Geschwindigkeit auf das Dorf zustürzte, konnte er fühlen, wie das Raubtier in ihrem Innern erwachte. Fluchend legte er die Flügel an und stürzte ihr hinterher. Da tauchten plötzlich hunderte Jhinka aus dem Nichts auf und versuchten unter kampfbereitem Gebrüll, ihn zu umzingeln und nach unten zu ziehen.
Lucivar beschleunigte mithilfe der Kunst und fuhr durch die Jhinkamenge. Er genoss die Schmerzensschreie, die sie ausstießen, sobald sie mit seinem Schutzschild in Berührung kamen. Mit einem eyrischen Schlachtruf ließ er die Kraft der schwarzgrauen Juwelen in kurzen, kontrollierten Stößen auf seine Feinde los.
Die Jhinkakörper zerbarsten in einem blutigen Nebel.
Er brach durch den unteren Teil der Meute und kam an der anderen Seite wieder hervor, eine Flügellänge vom Boden entfernt. *Katze!*
*Komm durch die Hauptstraße, aber beeil dich. Der Tunnel wird nicht lange halten. Meide die Seitenstraßen. Sie sind … verdorben. Am anderen Ende des Dorfes steht ein Gebäude, das von einem Schutzschild umgeben ist.*
Lucivar flog tief, als er an der Dorfgrenze mit voller Geschwindigkeit in die Hauptstraße einbog. Er stieß alle Flüche aus, die er kannte, während sein Schild an dem mentalen Hexensturm entlangstreifte, der in dem täuschend friedlich wirkenden Dorf tobte. Sein Schild zischte, als würde kaltes Wasser in eine siedend heiße Pfanne tropfen. Um ihn her tobte ein mentales Blitzgewitter.
So schnell wie möglich folgte er dem bereits wieder instabilen Tunnel, den Jaenelle geschaffen hatte, als sie durch den Hexensturm geflogen war. Auf der Straße vor dem geschützten Gebäude holte er sie endlich ein. Seine mentalen Sinne verrieten ihm die Ausmaße des kuppelförmigen, ovalen Schilds, der ein zweistöckiges Steingebäude und drei Meter seiner direkten Umgebung schützte.
Vier Männer kamen auf den Rand des Schilds zugelaufen. Sie winkten mit den Armen und riefen: »Kehrt um! Verschwindet von hier!«
Hinter den Männern auf den niedrigen Hügeln, die das Dorf umgaben, erhoben sich auf einmal tausende Jhinka, so weit das Auge reichte.
Jaenelle passierte den Schutzschild des Gebäudes, als handele es sich lediglich um eine dünne Wasserschicht. Lucivar, dessen Aufmerksamkeit teilweise von den Männern und den herannahenden Jhinka in Anspruch genommen wurde, hatte das Gefühl, eine Wand aus geschmolzenem Wachs zu durchqueren.
Sobald sie sich im Innern des Schilds befanden, landete Lucivar neben den vier Männern. Der Schutzschild, den Jaenelle für ihn erschaffen hatte, zog sich zu einer hautengen Hülle zusammen und rief ein sanftes Prickeln im Ring der Ehre hervor, bevor er sich völlig auflöste.
»Wie viele Verletzte?«, wollte Jaenelle ungeduldig wissen.
Lord Randahl, ein Krieger aus Agio, der Lady Erikas Wache als Hauptmann anführte, entgegnete widerstrebend: »Bei der letzten Zählung waren es dreihundert, Lady.«
»Wie viele Heilerinnen gibt es?«
»Das Dorf verfügte über zwei Ärzte und eine weise Frau, die etwas von Heilkräutern verstand. Alle tot.«
Lucivar unterbrach Jaenelle lieber nicht, während sie mit Fragen des Heilens beschäftigt war. Er wandte sich erst im Befehlston an die Männer, als sie auf das Gebäude zulief. »Wer hält den Schild aufrecht?«
»Adler«, meinte Randahl und wies mit dem Daumen auf einen abgehärmt aussehenden jungen Krieger.
Ein Blick in Richtung der Hügel zeigte Lucivar, dass die Jhinka jeden Moment angreifen würden. »Kannst du den Schild an allen Seiten um ein paar Zentimeter ausdehnen?«, fragte er Adler. »Ich werde dahinter einen schwarzgrauen Schild aufbauen, dann kannst du deinen Schild aufgeben und dich ausruhen.«
Der junge Krieger nickte matt und schloss die Augen.
Sekunden, nachdem Lucivar seinen Schild geschaffen hatte, griffen die Jhinka an. Sie stießen mit voller Wucht gegen das unsichtbare Hindernis, und zum Teil türmten sich fünf oder sechs ihrer Körper übereinander, während sie ihre Krallen in den Schild schlugen. Etliche der Jhinka, die zwischen dem Schild und der restlichen Meute eingeklemmt waren, erstickten oder wurden von den anstürmenden Massen erdrückt. Tote, hasserfüllte Augen starrten auf die fünf Männer herab.
»Beim Feuer der Hölle«, murmelte Randahl. »Selbst während der schlimmsten Angriffe waren es nie so viele.«
Lucivar musterte den erfahrenen Krieger einen Moment lang, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder den Jhinka widmete. Vielleicht hatten sie da noch nicht die Person gewittert, hinter der sie her waren.
Er konnte den Druck spüren, den die unzähligen Körper ausübten, die gegen den Schild drängten. Tropfen für Tropfen setzten die schwarzgrauen Juwelen seine Reserven frei. Sämtliche Juwelen boten ein Sammelbecken mentaler Kraft, doch je dunkler die Juwelen waren, desto tiefer das jeweilige Becken. Schwarzgrau als zweitdunkelste Juwelenfarbe barg ein so großes Kräftereservoir, dass Lucivar die Jhinka ohne größere Anstrengung eine Woche lang allein aufhalten konnte, wenn er seine Energien nur verwenden musste, um ihre Angriffe abzublocken. Bis dahin würde jemand nach ihnen suchen kommen. Er musste also nur abwarten.
Doch jener Hexensturm durfte nicht außer Acht gelassen werden. Lucivar war sich sicher, dass jemand diese Falle für ihn persönlich erschaffen hatte. Er würde Randahl danach fragen müssen, doch er vermutete, dass der erste Angriff der Jhinka ihnen nicht genug Zeit gelassen hatte, Vorräte in das Gebäude zu schaffen. Außerdem benötigte Jaenelle weitere Heilerinnen, um ihr bei den Verletzten zu helfen. Die Dunkelheit wusste, dass Jaenelle über die nötigen mentalen Reserven verfügte, um alle Verwundeten zu heilen, doch ihr Körper würde eine derartige Anstrengung nicht aushalten, besonders nicht nach den Drogen und den physischen Strapazen der letzten Tage.
Mal abgesehen davon war er nicht gerade für seinen passiven Widerstand bekannt.
Lucivar ließ seinen schwarzgrauen Ring verschwinden und rief sein rotes Geburtsjuwel herbei. Das schwarzgraue Juwel an seinem Hals würde den Schild speisen. Das rote …
»Sag deinen Männern, sie sollen sich dicht an dem Gebäude halten«, flüsterte er Randahl zu. »Es ist Zeit, den zahlenmäßigen Vorteil unserer Feinde ein wenig auszugleichen. «
Mit seinem trägen, arroganten Lächeln auf den Lippen hob er die rechte Hand und löste den Zauber aus, den er über viele Jahre geübt hatte, bis er ihn beherrschte. Sieben dünne mentale ›Blitze‹ schossen aus dem roten Juwel. Den Arm stets ausgestreckt, bewegte er den Ring gemächlich vor und zurück, wobei er stets darauf achtete, dem Haus nicht zu nahe zu kommen. Vor und zurück; hoch und herunter.
Das Blut der Jhinka rann den Schild herab. Die Körper der Angreifer rutschten hin und her, als diejenigen, welche die Gefahr erkannten, aus dem Haufen zu entkommen suchten, bevor der Arm erneut über sie hinwegfegte.
Als Lucivar mit der panikartigen Unruhe auf dieser Seite des Schilds zufrieden war, ging er um das Gebäude, die Hand immer auf den Schild gerichtet.
Und die Jhinka starben.
Zu Beginn seines dritten Rundgangs hatten die Jhinka, die immer noch gegen den Schild anstürmten, allmählich die Panik derjenigen erfasst, die zu fliehen versuchten. Unter lautem Geschrei wandten sie sich von dem Schild ab und liefen auf die umliegenden Hügel zu.
Lucivar sog die mentalen ›Blitze‹ in seinen Ring zurück, beendete den Zauber und ließ langsam den Arm sinken.
Randahl, Adler und die beiden Krieger, die Lucivar noch nicht vorgestellt worden waren, starrten mit angeekelter Miene auf das viele Blut an der Außenhülle des Schutzschilds und die Leichenteile, die daran zu Boden glitten.
»Mutter der Nacht«, flüsterte Randahl. »Mutter der Nacht.«
Sie sahen ihn nicht direkt an. Allerdings konnte er an ihren besorgten Seitenblicken erkennen, dass sie befürchteten, hier innerhalb ihres Schutzschilds mit etwas viel Gefährlicherem als dem Feind eingeschlossen zu sein, der da draußen auf sie lauerte.
Sie hatten Recht.
»Ich sehe nach der Lady«, stieß Lucivar jäh hervor.
Als Hauptmann der Wache würde Randahl sich ihm gegenüber wieder normal verhalten, sobald er Gelegenheit gehabt hatte, sich ein paar Minuten lang zu beruhigen. Zumindest würde er auf das Protokoll zurückgreifen und sich so verhalten, wie es einem Kriegerprinzen gegenüber geziemend war. Doch die anderen …
Alles hat seinen Preis.
Lucivar ging auf die Vorderseite des Gebäudes zu und gewährte sich selbst einen Augenblick, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Wenn Angehörige des Blutes schon nicht mit einem Kriegerprinzen im Blutrausch umgehen konnten, würde es verwundeten Landen gewiss noch schwerer fallen. Und gerade jetzt konnte er eine Massenhysterie nicht gebrauchen. Ein Mann, der dabei war, den Blutrausch hinter sich zu lassen, benötigte jemanden, vorzugsweise eine Frau, die ihm half, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dies war einer der vielen zarten Fäden, welche die Angehörigen des Blutes untereinander verbanden. Hexen waren zu den Zeiten, wenn sie verletzlich waren, auf jene aggressive männliche Stärke angewiesen; und Männer brauchten – manchmal verzweifelt – Schutz und Trost, die sie in der sanften Stärke einer Frau fanden.
Er brauchte Jaenelle.
Mit einem bitteren Lächeln betrat Lucivar das Gebäude. In diesem Augenblick wurde Jaenelle von allen gebraucht. Er hoffte – süße Dunkelheit, wie sehr er es hoffte! –, dass es ausreichen würde, sich in ihrer Nähe aufzuhalten.
In dem Gemeindehaus befanden sich verschieden große Räumlichkeiten für Feiern oder öffentliche Sitzungen. Zumindest nahm Lucivar an, dass die Zimmer für derlei Anlässe da waren. Er war bisher nicht oft mit Landen in Berührung gekommen. Als er den Blick durch den größten Saal schweifen ließ und sich inständig nach Jaenelles vertrauter Gegenwart sehnte, konnte er die Schmerzen und die Angst der verwundeten Landen spüren, die an die Wände gelehnt saßen oder auf dem Boden lagen. Mit den Schmerzen konnte er umgehen. Doch die Furcht, die besonders in denjenigen aufloderte, die ihn bemerkten, untergrub seine ohnehin angeschlagene Selbstbeherrschung.
Lucivar wollte sich eben umwenden, als sein Blick auf einen jungen Mann fiel, der auf einer schmalen Matratze in der Nähe der Tür lag. Unter normalen Umständen hätte er angenommen, dass es sich bei dem Mann um einen der Landen handelte, doch er hatte schon zu viele Männer in einer ähnlichen Verfassung gesehen, als dass ihm die schwache mentale Signatur entgangen wäre.
Er ließ sich auf ein Knie sinken und hob behutsam das einfach gefaltete Laken, dass den Mann vom Hals bis zu den Füßen bedeckte. Lucivars Blick glitt von den Wunden hin zu dem schmerzverzerrten Gesicht und wieder zurück. Innerlich stieß er einen Fluch aus. Die Bauchverletzungen waren schlimm. Es waren schon Männer an weniger tiefen Wunden gestorben. Jaenelle würde ihm mit ihren Heilkräften gewiss helfen können, doch Lucivar fragte sich, ob sie die Teile wiederherstellen konnte, die nicht mehr vorhanden waren.
Rasch ließ Lucivar das Laken sinken und machte sich immer lauter fluchend auf die Suche nach einem leeren Raum, in dem er versuchen könnte, seine stetig ansteigende Wut zu bändigen.
Randahl hatte nichts davon gesagt, dass einer seiner Männer verwundet worden war. Und warum hatte man den Jungen – nein, Mann; jemand mit derartigen Verletzungen hatte es nicht verdient, bloß ein Junge genannt zu werden – von den anderen getrennt und in den Schatten einer Wand gelegt, wo er leicht übersehen werden konnte?
Sobald Lucivar die Wärme einer weiblichen Signatur spürte, riss er die betreffende Tür auf. Er war in die Küche des Gemeindehauses getreten, bevor er merkte, dass es sich bei der Frau, die versuchte, mit einer Hand Wasser zu pumpen, keineswegs um Jaenelle handelte.
Sie wirbelte herum, als die Tür gegen die Wand knallte, und hob abwehrend den linken Arm.
Lucivar hasste sie. Er hasste sie, weil sie nicht Jaenelle war; weil sich in ihren Augen Angst widerspiegelte, was blinde Wut in ihm aufsteigen ließ; weil sie jung und hübsch war; und vor allem hasste er sie, weil er wusste, dass sie jeden Augenblick davonlaufen würde, was ihn dazu veranlassen würde, sich auf sie zu stürzen und ihr wehzutun, ja, sie umzubringen, bevor er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden hätte.
Da schluckte sie hart und sagte mit leiser, zitternder Stimme: »Ich brauche Wasser für die Verwundeten, um Tee zu kochen, aber die Pumpe ist eingerostet, und ich kann sie mit einer Hand nicht bedienen. Würdest du mir behilflich sein?«
Ein Teil der Anspannung wich von ihm. Zumindest hatte er es mit einer Landenfrau zu tun, die wusste, wie man mit Männern des Blutes umzugehen hatte. Einen Mann des Blutes um Hilfe zu bitten war immer die einfachste Methode, ihn wieder zur Vernunft zu bringen.
Als Lucivar näher trat, wich sie zitternd zur Seite. Erneut stieg zügellose Wut in ihm hoch, bis er bemerkte, dass sie den rechten Arm verbunden über dem Bauch trug, die Hand zwischen Kleid und Schürze gesteckt.
Sie zitterte also nicht vor Angst, sondern weil sie erschöpft war und Blut verloren hatte.
Er holte einen Stuhl nahe genug heran, dass sie darauf sitzen und ihn währenddessen sehen konnte. Allerdings achtete er darauf, dass sich der Stuhl so weit von ihm entfernt befand, dass er sie beim Vorübergehen nicht ständig berühren würde. »Setz dich.«
Nachdem sie Platz genommen hatte, pumpte er Wasser und stellte die vollen Töpfe auf den Herd. Da bemerkte er die Beutel mit Kräutern, die auf dem Holztisch neben den beiden Waschbecken ausgebreitet lagen, und betrachtete die Frau neugierig. »Lord Randahl erwähnte, dass die Dorfweise zusammen mit euren beiden Ärzten ums Leben gekommen ist.«
Ihr stiegen Tränen in die Augen, während sie nickte. »Meine Großmutter. Sie sagte, ich hätte die Gabe, und wies mich in der Heilkunst ein.«
Verblüfft lehnte sich Lucivar an den Tisch. Die Geister von Landen waren zu schwach, um eine mentale Signatur zu verströmen, doch ihr Geist tat es. »Wo hast du gelernt, mit Männern des Blutes umzugehen?«
Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Ich habe nicht versucht, dich zu kontrollieren!«
»Ich sagte umgehen, nicht kontrollieren. Dazwischen liegen Welten.«
»Ich … ich habe nur getan, was mir die Lady zu tun auftrug. «
Die Anspannung in seinem Innern löste sich noch ein Stück. »Wie heißt du?«
»Mari.« Zögernd hielt sie inne. »Du bist Prinz Yaslana, nicht wahr?«
»Beunruhigt dich das?«, fragte Lucivar mit neutraler Stimme. Zu seiner Überraschung lächelte Mari schüchtern.
»Oh, nein! Die Lady sagte uns, dass wir dir vertrauen können. «
Ihre Worte wärmten ihn wie die zärtliche Umarmung einer Geliebten. Doch ihm war ihr eigenartiger Tonfall nicht entgangen, und er fragte sich insgeheim, wem die Landen des Dorfes nicht trauen konnten. Seine goldenen Augen verengten sich, als er Mari musterte. »Du stammst teilweise von Angehörigen des Blutes ab, nicht wahr?«
Sie erblasste ein wenig und wich seinem Blick aus. »Meine Großmutter war ein Halbblut. Manche Leuten behaupten, ich schlüge zu sehr nach ihr.«
»Meiner Meinung nach ist das nichts Schlechtes.« Ihre sichtbare Erleichterung war zu viel für ihn. Da er nicht wollte, dass sie seinen Ärger auf sich bezog, wandte er seine Aufmerksamkeit den Beuteln mit den Kräutern zu, bis er seine Gefühle wieder im Zaum hatte.
Soweit er wusste, wurden Kinder, die halb Blut waren, fast nie von einer der beiden Gesellschaften anerkannt. Die Angehörigen des Blutes wollten sie nicht, weil ihre Kräfte nicht ausreichten, um die grundlegenden Dinge zu tun, welche die Angehörigen des Blutes mithilfe der Kunst bewerkstelligten. Von daher taugte ein Halbblut höchstens zum niedrigen Dienstboten. Die Landen hingegen wollten sie nicht, weil sie über zu viel Kraft verfügten. Ihre besonderen Fähigkeiten hatten – ohne die richtige Ausbildung oder jeglichen moralischen Ehrenkodex – schon etliche kleine Tyrannen hervorgebracht, die mithilfe von Magie und der Angst, die sie verbreiteten, über ein Dorf herrschten, von dem sie ansonsten nicht anerkannt worden wären.
Das Wasser kochte.
»Bleib sitzen«, fuhr Lucivar Mari an, als sie Anstalten machte, sich von ihrem Platz zu erheben. »Du kannst mir von dort aus sagen, was ich miteinander mischen soll.« Um seinem unwirschen Befehl die Spitze zu nehmen, fügte er anschließend lächelnd hinzu: »Ich habe schon für eine strengere Auftraggeberin als dich einfache Heiltränke hergestellt.«
Mari bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick und pflichtete ihm leise bei, dass die Lady ein wenig unwirsch sein konnte, wenn es um das Mischen von Heiltränken ging. Anschließend wies sie auf die Kräuter, die sie zu benutzen gedachte, und erklärte ihm, in welchem Mischverhältnis zueinander er sie zermahlen sollte.
»Siehst du die Lady häufig?«, erkundigte sich Lucivar, während er die Töpfe vom Herd nahm und auf steinerne Untersetzer an einem Tischende stellte. Trotz Jaenelles strikter Weigerung, einen offiziellen Hof zu errichten, wurde ihren Meinungen so gut wie überall in Kaeleer Beachtung geschenkt.
»Sie kommt alle paar Wochen für einen Nachmittag zu uns. Sie spricht mit Großmutter und mir über die Heilkunst, während ihre Freunde Khevin unterweisen.«
»Wer ist …« Er verbiss sich den Rest der Frage. Vorhin hatte er geglaubt, die mentale Signatur des Jünglings sei aufgrund von dessen schweren Verletzungen derart schwach. Doch für ein Halbblut war sie sogar sehr stark. »Welche Freunde unterweisen ihn?«
»Lord Khardeen und Prinz Aaron.«
Khary und Aaron waren eine gute Wahl, wenn man einem jungen Halbblut die Grundlagen der Kunst beizubringen gedachte; was jedoch nicht erklärte, weshalb Jaenelle nicht auch ihn dazugebeten hatte! Lucivar ließ die mit Kräutern gefüllten Gazebeutelchen in die Wassertöpfe sinken. »Die beiden kennen sich gut in den Grundlagen der Kunst aus.« Dann fügte er boshaft hinzu: »Im Gegensatz zur Lady, die noch immer nicht in der Lage ist, ihre eigenen Schuhe herbeizurufen.«
Maris aufgebrachtes Schnauben überraschte ihn. »Ich verstehe nicht, weshalb ihr alle so viel Aufhebens darum macht. Wenn ich eine Freundin hätte, die so wunderbare Sachen zaubern könnte, würde ich ihr liebend gerne ab und an die Schuhe holen.«
Lucivar grummelte ärgerlich vor sich hin, während er auf der Suche nach Tassen einen Küchenschrank nach dem anderen aufriss. Diese verfluchte Frau musste in der Tat nach ihrer Großmutter schlagen. Zumindest hatte sie die Widerspenstigkeit einer echten Hexe!
Er hielt den Mund, sobald er sah, wie blass Mari geworden war. Leicht beschämt füllte er mit der Schöpfkelle eine Tasse für sie und stand neben ihr, während sie trank.
»Vorhin habe ich Khevin gesehen«, meinte Lucivar leise. »Ich habe seine Verletzungen gesehen. Warum haben Khary und Aaron ihm nicht beigebracht, einen Schild aufzubauen? «
Überrascht blickte Mari empor. »Das haben sie. Khevin war es, der die Dorfgemeinschaft im Gemeindehaus abschirmte, als die Jhinka anfingen, uns anzugreifen.«
»Das solltest du mir besser erklären«, sagte Lucivar langsam. Er fühlte sich, als hätte sie ihm eben einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ein starkes Halbblut mochte vielleicht genug Kraft besitzen, um ein paar Minuten lang einen Schild um sich selbst aufrechtzuerhalten, doch der Junge hätte nicht in der Lage sein sollen, einen Schild zu erschaffen, der groß genug war, um ein ganzes Gebäude abzuschirmen. Andererseits besaß Jaenelle die Gabe, mit nachtwandlerischer Sicherheit auf Kräfte zu stoßen, die bis zu ihrem Eingreifen geschlummert hatten.
Mari, die etwas verwirrt wirkte, bestätigte ihm dies: »Khevin begegnete der Lady eines Tages, als sie Großmutter und mich besuchen kam. Sie sah ihn nur eine Minute lang an und erklärte dann, er sei zu stark, um keine richtige Ausbildung in der Kunst zu genießen. Beim nächsten Mal brachte sie Lord Khardeen und Prinz Aaron mit. Einen Schutzschild zu erschaffen war das Erste, was sie ihm beibrachten.«
Ihre Hand begann zu zittern, und die Tasse neigte sich bedenklich.
Mithilfe der Kunst stützte Lucivar die Tasse, damit Mari nicht die heiße Flüssigkeit über sich vergoss.
»Die beiden waren die ersten Freunde, die Khevin je hatte.« Ihr flehender Blick warb um sein Verständnis. Schließlich errötete sie und sah zu Boden. »Männliche Freunde, meine ich. Sie lachten ihn nicht aus oder hänselten ihn, wie manche der jungen Krieger aus Agio es tun.«
»Was ist mit den älteren Kriegern?«, wollte Lucivar wissen, wobei er sich Mühe gab, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken.
Mari zuckte mit den Schultern. »Sie wirkten immer peinlich berührt, wenn sie ihn bei ihren Kontrollbesuchen sahen. Am liebsten wollten sie gar nichts von seiner Existenz wissen. Mich wollten sie auch nicht sehen«, fügte sie verbittert hinzu. »Aber Lord Khardeen und Prinz Aaron … Wenn der Unterricht vorüber war, blieben sie immer noch ein bisschen, um ein Glas Bier zu trinken und sich mit uns zu unterhalten. Sie erzählten Khevin vom Ehrenkodex des Blutes und den Regeln, nach denen Männer des Blutes sich zu richten haben. Manchmal frage ich mich, ob die Angehörigen des Blutes in Agio je von diesen Regeln gehört haben.«
Wenn nicht, würden sie es demnächst. »Der Schild«, erinnerte er sie.
»Auf einmal war der Himmel voll von kreischenden Jhinka. Khevin ließ mich ins Gemeindehaus kommen. Wir … die Lady meinte, dass manchmal eine mentale Verbindung entsteht, wenn Leute wie wir einander … nahe stehen.«
Lucivar warf einen raschen Blick auf ihre Hand. Kein Ehering. Sie waren also Geliebte. Zumindest hatte Khevin dieses Vergnügen gekannt – und bereitet.
»Ich war an diesem Ende des Dorfes und lieferte Heilkräuter meiner Großmutter aus. Die Erwachsenen wollten nicht auf mich hören, also schnappte ich mir ein kleines Mädchen, das draußen spielte, und schrie die anderen Kinder an, mir zu folgen. Ich … ich glaube, ich habe ein paar von ihnen gezwungen mitzukommen. Als wir das Gemeindehaus erreichten, war da der Schild, den Khevin um das Gebäude erschaffen hatte. Er schwitzte, und es sah aus, als bereite es ihm Schmerzen.«
Lucivar bezweifelte keine Sekunde, dass es das getan hatte.
»Er meinte, er habe versucht, eine Nachricht auf einem mentalen Faden nach Agio zu schicken, aber er war sich nicht sicher, ob ihn jemand hören würde. Dann erklärte er mir, dass jemand im Innern des Schilds bleiben müsse, um nach draußen zu greifen und eine andere Person hereinzuziehen. Er brachte mich in dem Augenblick hinein, in dem ein Jhinka auf uns zugeschossen kam. Der Jhinka flog mit solcher Gewalt gegen den Schild, dass er bewusstlos zusammenbrach und abstürzte. Khevin holte seine Axt; als der Angriff erfolgt war, hatte er gerade Holz gehackt. Er ging durch den Schild und tötete den Jhinka. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich sämtliche Männer des Dorfes auf den Straßen und kämpften. Khevin blieb außerhalb des Schilds, um die Kinder zu beschützen, während ich die Nachzügler hereinholte. Mittlerweile waren die Jhinka überall. Viele der Frauen, die versuchten, das Gebäude zu erreichen, schafften es nicht oder waren schwer verletzt, als es mir endlich gelang, sie ins Innere zu ziehen. Großmutter … sie war beinahe in Reichweite, als ein Jhinka sich auf sie stürzte und … Er lachte! Er sah mich an und lachte, während er sie umbrachte.«
Lucivar schenkte ihr erneut ein und belegte die Töpfe mit einem Wärmezauber, während Mari in der Tasche ihrer Schürze nach einem Taschentuch kramte.
Langsam trank sie von dem Kräutertee, bevor sie nach einer Minute fortfuhr: »Khevin konnte nicht kämpfen und weiterhin den Schild aufrechterhalten. Selbst ich konnte das sehen. In seinem Bein steckten Pfeile, und er konnte sich nicht sehr schnell bewegen. Sie holten ihn ein, bevor er durch den Schild kommen konnte, und fügten ihm diese schrecklichen Wunden zu. Dann tauchten Lord Randahl und die anderen auf. Zwei der Krieger beschützten die Verwundeten und führten sie hierher, während die anderen beiden töteten und töteten. Khevins Schild ließ nach, und ich hatte Angst, die Krieger könnten einen anderen erschaffen, der es mir unmöglich machte, Khevin hereinzuholen. Als ich nach draußen griff, um ihn zu packen, bemerkte ein Jhinka mich und verletzte mich am Arm. Ich zog Khevin ins Innere, bevor die Krieger aus Agio hereinschlüpften und einen anderen Schild aufbauten.«
Mari schlürfte ihren Tee. »Lord Adler fluchte, weil sie den Hexensturm, der um das Dorf tobte, nicht durchdringen konnten, um eine Nachricht nach Agio zu enden. Doch Lord Randahl sah immerzu nur Khevin an. Dann hoben er und Lord Adler Khevin empor, als sei er endlich etwas wert. Sie holten die Matratze und das Laken vom Bett des Hausmeisters und taten alles, um es Khevin so bequem wie möglich zu machen.« Mari starrte die Tasse an. Tränen rannen ihr das Gesicht hinab. »Das war’s.«
Lucivar nahm die leere Tasse entgegen. Am liebsten hätte er Mari Trost gespendet, war sich aber nicht sicher, ob sie sich von einem Kriegerprinzen trösten ließe. Vielleicht von jemandem wie Aaron, der zumindest in ihrem Alter war. Aber von ihm?
»Mari?«
Er war unendlich erleichtert, als Jaenelle die Küche betrat.
»Zeig mir deinen Arm.« Behutsam löste Jaenelle den Verband, wobei sie Maris stammelndes Flehen überhörte, sich um Khevin zu kümmern. »Zuerst dein Arm. Du musst gesund sein, damit du mir bei den anderen helfen kannst. Wir brauchen milden … Ach, du hast schon welchen zubereitet! «
Während Jaenelle die tiefe Wunde heilte, die vom Ellbogen bis zum Handgelenk reichte, füllte Lucivar Tassen mit dem Heiltee und belegte jede einzelne mit einem Wärmezauber. Nachdem er ein wenig in den Küchenschränken gesucht hatte, stieß er auf zwei große Tabletts aus Metall. Zusammen mit den Tassen waren sie zu schwer für Mari, zumal Jaenelle sie eben gewarnt hatte, dass der schnelle Heilprozess, den sie in ihrem Fall würde anwenden müssen, großer Belastung nicht standhalten würde. Doch die jungen Krieger draußen konnten die schweren Tabletts tragen, da Lucivar nun den Schild aufrechterhielt.
Jaenelle löste das Problem, indem sie beide Tabletts mit einem Schwebezauber belegte, sodass sie in Hüfthöhe in der Luft hingen. Auf diese Weise musste Mari sie nicht heben, sondern nur lenken.
Zu dritt machten sie sich in den großen Saal auf, wobei Lucivar und Mari die Tabletts steuerten. Jaenelle ignorierte das laute Geschrei, das sich erhob, sobald die Dorfbewohner sie gewahrten, und ging zu der Wand, in deren Schatten Khevin lag.
Mari zögerte und biss sich auf die Unterlippe. Offensichtlich war sie zwischen dem Verlangen, zu ihrem Liebsten zu eilen, und ihren Pflichten als angehender Heilerin hin- und hergerissen. Lucivar drückte aufmunternd ihre Schulter, bevor er sich zu Jaenelle gesellte. Er wusste nicht, inwiefern er ihr helfen konnte, doch er würde sie unterstützen, so gut es nur ging.
Als Jaenelle das Laken hob, schlug Khevin die Augen auf. Mühsam griff er nach ihrer Hand.
Mit leerem Blick starrte sie den Jüngling an. Es war, als habe sie sich so tief in sich selbst zurückgezogen, dass die Fenster ihrer Seele nicht länger die Person zeigen konnten, die im Innern wohnte.
»Hast du Angst vor mir?«, erklang ihre Mitternachtsstimme.
»Nein, Lady.« Khevin fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Doch es ist das Privileg eines jeden Kriegers, sein Volk zu beschützen. Heile zuerst die anderen.«
Lucivar versuchte, Jaenelle mithilfe eines mentalen Fadens zu erreichen, doch sie hatte sich vor ihm abgeschottet. Bitte, Katze. Lass ihm seinen Stolz.
Sie griff unter das Laken. Khevin stöhnte abwehrend, ohne etwas sagen zu können.
»Ich tue, worum du mich gebeten hast, weil du mich gebeten hast«, erklärte sie, »aber ich werde Fäden des heilenden Netzes, das ich erschaffen habe, jetzt befestigen, damit du bei mir bleibst.« Sie strich das Laken glatt und legte ihm einen Finger an den Hals. »Und ich warne dich, Khevin, bleib bloß bei mir!«
Khevin lächelte sie an und schloss die Augen.
Lucivar führte Jaenelle in den Korridor, die Hand an ihrem Ellbogen. »Da die jüngeren Krieger nicht benötigt werden, um den Schild aufrechtzuerhalten, werde ich sie ins Haus schicken, damit sie hier helfen können.«
»Adler, ja. Die anderen beiden nicht.«
Das Eis in ihrer Stimme jagte ihm einen Schauder über den Rücken. Noch nie zuvor hatte er gehört, wie eine Königin einen Mann derart heftig verurteilte.
»Also gut«, meinte er respektvoll. »Ich kann …«
»Beschütze diesen Ort, Yaslana.«
Er konnte das Beben spüren, das sich ihrem Geist kurzzeitig entrang. Auf der Stelle brachte er seine eigenen Gefühle unter Verschluss. Beim Feuer der Hölle, selbst wenn die Wirkung der Drogen so nachgelassen hatte, dass Jaenelle stark genug war, die Verwundeten zu heilen, hatte sie dennoch ihre Gefühle nicht unter Kontrolle. Und sie war sich darüber im Klaren.
»Katze …«
»Ich habe mich im Griff. Mach dir darum keine Sorgen.«
Er grinste. »Im Grunde fühle ich mich immer dann am sichersten, wenn du gerade kratzt und fauchst.«
Ihre Saphiraugen wurden eine Spur wärmer. »Daran werde ich dich noch erinnern.«
Lucivar ging auf die Eingangstür zu. Er würde darauf achten müssen, dass sie nicht vergaß, ab und an Wasser zu trinken und alle paar Stunden etwas zu essen. Am besten sprach er mit Mari. Es war leichter, Jaenelle dazu zu bewegen, Nahrung zu sich zu nehmen, wenn jemand ihr Gesellschaft leistete.
Als er sich umdrehte, konnte er spüren, wie erneut Körper gegen den Schild schlugen, und hörte die Warnschreie der Krieger draußen.
Sein Gespräch mit Mari würde er aufschieben müssen. Die Jhinka waren zurückgekehrt.
9
Kaeleer
Lucivar lehnte an dem abgedeckten Brunnen und nahm dankbar den Kaffee entgegen, den Randahl ihm reichte. Der Kaffee schmeckte bitter und trübe, aber das war ihm gleichgültig. Im Moment hätte er alles getrunken, solange es nur heiß war.
Die Jhinka hatten die ganze Nacht hindurch angegriffen – manchmal waren es kleine Trupps gewesen, die gegen den Schild ankämpften, um gleich darauf die Flucht zu ergreifen, dann wieder ein paar hundert, die auf den Schild einschlugen, während Lucivar sie der Reihe nach erschlug. Es hatte keinen Schlaf, keine Verschnaufpause gegeben; nur die ständig wachsende Müdigkeit und körperliche Erschöpfung, während er die Kräfte aus den Juwelen lenkte, und diese Kräfte gleichzeitig immer mehr schwanden – was sie schneller taten, als er erwartet hatte. Randahl und die anderen Krieger hatten ihre Kraftreserven bereits erschöpft, als Jaenelle und er gestern aufgetaucht waren. Folglich stellte Lucivar jetzt ihren einzigen Schutz und im Grunde auch ihre ganze Kampfkraft dar.
Der Schutzschild hatte nur bis ein paar Zentimeter unter die Erde gereicht, und er hatte beinahe zu spät gemerkt, dass die Jhinka in der Deckung ihrer Leichenberge angefangen hatten, sich unter dem Schild durchzugraben. Nun reichte der Schild anderthalb Meter tief unter die Erde, um dann nach innen abzuknicken und bis zu den Grundmauern des Gebäudes zu verlaufen.
Während sie gegen die Jhinka kämpften, die im Süden unter dem Schild hindurchgekommen waren, folgte Lucivar seinen Instinkten und lief auf die Nordseite des Hauses zu. Er erreichte die Ecke just in dem Augenblick, als ein Jhinka auf den Brunnen zustürmte. In dem Tontopf, den der Jhinka bei sich getragen hatte, hatte sich genug Gift befunden, um ihre einzige Wasserquelle zu verderben. Deshalb hatte der Brunnen nun einen eigenen Schild.
Sobald der Angriff auf den Brunnen vereitelt und der Schild ausgedehnt worden war, hatte sich erneut der Hexensturm über dem Gebäude zusammengebraut. Der Sturm war nicht länger über das gesamte Dorf verteilt, um die Zerstörung nach außen hin zu verbergen, sondern hatte sich in eine unsichtbare Wolke voller mentaler Blitze verwandelt, die jedes Mal knisterte, wenn sie gegen den Schild stieß.
Dass er den Schild hatte vergrößern müssen und ihn noch dazu pausenlos gegen das magische Gewitter verstärken musste, führte zu etwas, was die Angriffe der Jhinka allein nicht geschafft hätten: Seine Kräfte begannen zu versiegen. Es würde noch einen Tag dauern, vielleicht zwei. Danach würde der Schild Schwachstellen aufweisen, durch die der Hexensturm dringen konnte, um bereits erschöpfte Geister anzugreifen. Außerdem gäben die Löcher im Schild den Jhinka Gelegenheit, ins Innere zu gelangen und ein Blutbad anzurichten.
Kurzzeitig hatte er mit dem Gedanken gespielt, Jaenelle zum Bergfried zu schicken, um Hilfe zu holen. Doch er hatte den Gedanken ebenso schnell wieder fallen lassen. Bis sie die Heilungen abgeschlossen hatte, würde nichts und niemand sie dazu bewegen können, von hier fortzugehen. Wenn er zugab, dass der Schild schwächer werden könnte, würde sie das Gebäude höchstwahrscheinlich mit einem schwarzen Schild beschützen und sich noch mehr verausgaben, obgleich sie ihren Körper schon mit dem gewaltigen heilenden Netz überstrapazierte, das sie gewoben hatte, um die Verwundeten zu stärken, bis sie sich um sie kümmern konnte. Da sie sich einzig und allein darauf konzentrierte, würde sie keinen Gedanken daran verschwenden, was sie ihrem geschwächten Körper zumuten konnte und was nicht. Und er wusste bereits, was sie ihm antworten würde, wenn er sie auf den Schaden ansprach, den sie sich selbst auf diese Weise zufügte: Alles hat seinen Preis.
Also hatte er geschwiegen und seine Gefühle im Zaum gehalten. Er war fest entschlossen auszuharren, bis jemand aus Agio oder dem Bergfried kam, um nach ihnen zu suchen.
Doch jetzt, in der kalten Morgendämmerung, hatte er nicht ausreichend Kraft, um ausreichend Körperwärme zu produzieren; also legte er seine kalten Hände um die warme Tasse.
Randahl trank seinen Kaffee schweigend, den Rücken dem Dorf zugewandt. Er war ein hellhäutiger Rihlaner mit blassblauen Augen und schütterem, zimtfarbenem Haar. Sein Körper wies die Statur eines Mannes mittleren Alters auf, doch seine Muskeln waren immer noch hart, und er verfügte über mehr Ausdauer als die drei jüngeren Krieger zusammen.
»Die Frauen, die in der Lage dazu sind, helfen in der Küche aus«, sagte Randahl nach ein paar Minuten. »Sie waren froh über das Wildbret und die übrigen Vorräte, die du mitgebracht hast. Das meiste Fleisch verwenden sie, um Brühe für die Schwerverletzten zu kochen, aber sie meinten, mit dem Rest würden sie einen Eintopf machen. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als Mari darauf bestand, die ersten Portionen uns zu geben. Beim Feuer der Hölle, sie jammerten sogar, als sie uns von diesem Schlamm hier zu trinken geben sollten, dabei stand ich genau neben ihnen.« Angewidert schüttelte er den Kopf. »Verfluchte Landen. Es ist schon so weit gekommen, dass ihre Gören schreiend davonlaufen, wenn wir das Dorf betreten. Hinter unseren Rücken machen sie heimlich Zeichen, um das Böse abzuwehren, aber sie rufen laut genug nach uns, sobald sie Hilfe benötigen.«
Lucivar trank einen weiteren Schluck von dem Kaffee, der schnell abkühlte. »Warum seit ihr den Landen zu Hilfe gekommen, als die Jhinka angriffen, wenn ihr so über sie denkt?«
»Nicht wegen ihnen. Um das Land zu beschützen. Die Jhinka, dieser Abschaum, dürfen auf keinen Fall nach Ebon Rih kommen. Wir sind hier, um das Land zu schützen – und die zwei da herauszuholen.« Randahl ließ die Schultern hängen. »Beim Feuer der Hölle, Yaslana. Wer hätte schon gedacht, dass der Junge einen solchen Schild erschaffen könnte? «
»Offensichtlich niemand in Agio.« Bevor Randahl ihm aufgebracht ins Wort fallen konnte, fuhr Lucivar barsch fort: »Wenn euch an Mari und Khevin liegt, wieso habt ihr sie dann nicht zu euch geholt, anstatt sie hier zu lassen, wo sie dem Hohn und den Beleidigungen der anderen ausgesetzt waren?«
Zornesröte stieg Randahl ins Gesicht. »Was weiß ein schwarzgrauer Kriegerprinz schon davon, verhöhnt und beleidigt zu werden?«
Lucivar wusste selbst nicht, warum er zu erzählen begann. War es ihm mittlerweile egal, was die Leute von ihm dachten, oder war es, weil er nicht sicher war, ob Randahl und er überleben würden? »Ich bin in Terreille und nicht in Kaeleer aufgewachsen. Ich war zu jung, um mich an meinen Vater erinnern zu können, als man mich ihm wegnahm. Also wuchs ich in dem Glauben auf, dass ich ein Mischling und Bastard sei, den niemand gewollt hatte. Du weißt nicht, was es bedeutet, ein Bastard in einem eyrischen Jagdlager zu sein. Hohn?« Lucivar stieß ein verbittertes Lachen aus. »Die Lieblingsbeleidigung der anderen lautete: ›Dein Vater war ein Jhinka.‹ Hast du auch nur die geringste Vorstellung davon, was das für einen Eyrier bedeutet? Der Vorwurf, dass du von einem Mann aus einem verhassten Volk gezeugt worden bist, und dass deine Mutter die Sache bereitwillig über sich hat ergehen lassen, weil sie dich ja auch austrug und auf die Welt brachte? Oh, ich glaube, ich weiß ganz gut, wie sich jemand wie Khevin fühlen muss.«
Randahl räusperte sich. »Zu unserer Schande muss ich gestehen, dass er es in Agio kein bisschen leichter hatte. Lady Erika versuchte, eine Stelle für ihn bei Hof zu schaffen. Sie glaubte, ihm dies schuldig zu sein, weil ihr ehemaliger Gefährte den Jungen einst gezeugt hatte. Doch Khevin war nicht glücklich, außerdem waren Mari und ihre Großmutter hier. Also kehrte er zurück.«
Khevin hatte die Ächtung durch die Landen und den Spott der jungen Männer des Blutes erdulden müssen – was erklärte, weshalb man die beiden Krieger, die damit beschäftigt waren, die Jhinkaleichen mithilfe der Kunst von dem Schild fortzuschaffen, so weit wie möglich von Jaenelle fernhalten musste.
Schließlich beantwortete Lucivar die Frage, die ihm schon die ganze Zeit über aus Randahls Augen entgegengeblickt hatte: »Zwei Freunde von Lady Angelline haben sich um Khevins Ausbildung gekümmert.«
Randahl massierte sich das Genick. »Wir hätten selbst darauf kommen können, sie zu fragen. Sie weiß so einiges.«
Lucivar schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Das kannst du laut sagen.« Und vielleicht wusste sie auch schon, wohin das junge Paar umziehen sollte. Falls sie überlebten.
Einen Augenblick lang gönnte er sich den Glauben daran, dass sie überleben würden.
Dann kehrten die Jhinka zurück.
10
Kaeleer
Randahl schirmte seine Augen vor der späten Nachmittagssonne ab und ließ seinen Blick über die niedrigen Hügel schweifen, die vor abwartenden Jhinkas ganz schwarz waren. »Sie müssen alle Clans aus sämtlichen Stämmen zusammengetrommelt haben«, meinte er mit belegter Stimme. Dann ließ er sich kraftlos gegen die Rückwand des Gemeindehauses sinken. »Mutter der Nacht, Yaslana! Da draußen müssen mindestens fünftausend von ihnen lauern.«
»Eher sechstausend.« Lucivar stellte sich noch breitbeiniger auf. Nur so gelang es ihm, trotz seiner vor Erschöpfung zitternden Beine aufrecht zu stehen.
Sechstausend mehr, nachdem er in den letzten Tagen bereits hunderte getötet hatte; außerdem der Hexensturm, der immer noch um sie her tobte und dem Schutzschild zusetzte, sodass seine Kraftreserven immer weiter schwanden. Sechstausend mehr und keine Möglichkeit, auf die Winde aufzuspringen, da der Sturm jeglichen derartigen Versuch vereiteln würde.
Sie konnten zwar Schutzschilde aufbauen und kämpfen, aber sie konnten weder um Hilfe rufen noch entkommen. Die Essensvorräte hatten bis gestern gereicht, der Brunnen war heute Morgen vertrocknet. Und noch immer gab es sechstausend Jhinka, die mit ihrem Angriff warteten, bis die Sonne noch ein wenig tiefer hinter die Hügel im Westen gesunken war.
»Wir werden es nicht schaffen, oder?«, meinte Randahl.
»Nein«, erwiderte Lucivar leise. »Wir werden es nicht schaffen.«
In den letzten zwei Tagen hatte er beide schwarzgraue Juwelen sowie
den roten Ring erschöpft. Das rote Juwel, das er um den Hals trug,
stellte nun die einzige Kraftreserve dar, die sie noch hatten – und
es würde nicht viel mehr als die erste Angriffswelle überdauern.
Randahl und die anderen drei Krieger hatten die Kraft ihrer Juwelen
verbraucht, bevor Jaenelle und er eingetroffen waren. Sie hatten
nicht genug Essen und Ruhe gehabt, um sich ausreichend erholen zu
können.
Nein, die Männer würden es nicht schaffen. Doch Jaenelle musste davonkommen. Sie war eine zu wertvolle Königin, um in dieser Falle zu sterben, die seiner Meinung nach für ihn bestimmt war.
Da er sich mittlerweile jedes Argument zurechtgelegt hatte, das ihm das Protokoll für seine Forderung zugestand, meinte Lucivar: »Bitte die Lady, zu mir zu kommen.«
Randahl war kein Tor, sondern wusste ganz genau, weshalb die Bitte zu diesem Zeitpunkt erfolgte.
Als Lucivar einen Augenblick allein war, ließ er den Kopf kreisen und streckte die Schultern, um zu versuchen, seine verspannten, müden Muskeln zu lockern.
Töten ist leichter als Heilen. Vernichten ist leichter als Erschaffen. Niederreißen ist leichter als Erbauen. Diejenigen, die zerstörerische Gefühle und Ambitionen hegen und die Verantwortung scheuen, die das Ausüben von Macht mit sich bringt, können alles zu Fall bringen, was dir lieb ist und du beschützen möchtest. Sei auf der Hut. Immer.
Saetans Worte. Die Warnung des Höllenfürsten an die jungen Krieger und Kriegerprinzen, die auf die Burg gekommen waren.
Doch Saetan hatte nie den letzten Teil jener Warnung erwähnt: Manchmal war es gnädiger, den Tod zu geben.
Er war nicht stark genug, um Jaenelle schnell und sauber umzubringen. Doch selbst bei voller Kraft trugen Randahl und die anderen Krieger hellere Juwelen als er, und Landen verfügten über keinerlei innere Verteidigungsmechanismen gegen die Angehörigen des Blutes. Sobald Jaenelle und Mari von hier fort waren, und die Jhinka ihre letzte Offensive gestartet hatten, würde er rasch in die Tiefe seiner Juwelen hinabsteigen und noch den letzten Tropfen Stärke hervorholen, den er übrig hatte, um seine Energien dann mit aller Gewalt zu entfesseln. Die Landen würden auf der Stelle sterben, ihre Geister würden verbrennen. Randahl und die anderen mochten ein paar Sekunden länger überleben, doch nicht so lange, dass die Jhinka sie rechtzeitig erreichen könnten.
Und die Jhinka … sie würden auch umkommen. Manche von ihnen. Viele. Doch nicht alle. Er allein würde übrig sein, wenn die Überlebenden kamen, um ihn in Stücke zu reißen. Dafür würde er Sorge tragen. In Terreille hatte er gegen Jhinka gekämpft und gesehen, was sie mit Gefangenen machten. Was Grausamkeit betraf, waren sie ein überaus erfinderisches Volk. Andererseits konnte man das von vielen Angehörigen des Blutes ebenfalls sagen.
Lucivar drehte den Kopf, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.
Ein paar Meter entfernt stand Jaenelle, den Blick unverwandt auf die Jhinka gerichtet.
Sie trug nichts außer dem schwarzen Juwel um ihren Hals.
Er konnte verstehen, weshalb. Selbst ihre Unterwäsche passte ihr nicht mehr. Sämtliche Muskeln, all die weiblichen Rundungen, die sie im letzten Jahr entwickelt hatte, waren verschwunden. Da ihr Körper keine sonstige Nahrung erhalten hatte, war er daran gegangen, sich selbst zu verzehren, um weiterhin als Gefäß für ihr inneres Feuer dienen zu können. Die Knochen zeichneten sich unter der blassen, feuchten, blutverschmierten Haut ab. Er konnte ihre Rippen zählen, sah, wie sich ihre Hüftknochen bewegten, als sie das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. Ihre goldene Mähne war ganz dunkel und verkrustet von dem Blut, das an ihren Händen gewesen sein musste, als sie sich mit den Fingern durchs Haar fuhr.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war ihr Gesicht auf eigenartige Weise unwiderstehlich. Ihre Jugend war von dem inneren Feuer während des Heilens verzehrt worden, sodass sie nun eine alterslose Schönheit besaß, die zu ihren uralten, gehetzten Saphiraugen passte. Ihr Antlitz glich einer erlesenen Maske, die nie wieder von den Sorgen der Lebenden berührt werden würde.
Dann zerbarst die Maske. Jaenelles Kummer und ihre Wut durchfluteten ihn und ließen ihn rückwärts gegen das Gebäude taumeln.
Lucivar hielt sich verzweifelt an der Ecke fest, während nach und nach überwältigende Angst in ihm emporstieg.
Die Welt um ihn her drehte sich mit schwindelerregender Schnelligkeit, drehte sich in immer engeren Spiralen, zog seinen Geist mit sich und drohte, ihn von allem fortzureißen, was ihn in der Wirklichkeit verankerte. Schneller und schneller. Tiefer und tiefer.
Spiralen. Saetan hatte ihm etwas von Spiralen erzählt, aber er konnte nichts sehen, konnte nicht atmen, konnte nicht denken.
Sein Schild zerbrach, und sämtliche darin befindliche Energie wurde in die Spirale hinabgesogen. Als Nächstes wurde der Hexensturm hineingezogen, die mentalen Fäden rissen, als der Sturm versuchte, sich an dem Gebäude zu verankern.
Schneller und schneller, tiefer und tiefer. Dann erhob sich die dunkle Macht aus dem Abgrund und brauste dröhnend mit einer Geschwindigkeit an ihm vorbei, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Lucivar riss sich von der Mauer los und taumelte auf Jaenelle zu. Hinunter. Er musste sie auf den Boden hinunterziehen, musste sie …
Plop.
Plop. Plop.
Plop. Plop. Plop. Plop. Plop.
»Mutter der Nacht!«, schrie Adler und deutete auf die Hügel.
Lucivar zerrte sich einen Muskelstrang in seinem Genick, als er ruckartig den Kopf in Richtung der Geräusche wandte, welche die explodierenden Jhinkakörper von sich gaben.
Ein weiterer Stoß dunkler Energie fuhr durch die wenigen mentalen Fäden, die noch von dem Hexensturm übrig waren. Sie loderten jäh auf, bevor sie schwarz wurden und verschwanden.
Er glaubte, einen schwachen Schrei zu hören.
Plop. Plop. Plop.
Plop. Plop.
Plop.
Es dauerte eine halbe Minute, bis sie sechstausend Jhinka getötet hatte.
Anschließend sah sie niemanden an, sondern wandte sich nur um und begann langsam und steifbeinig auf das andere Ende des Dorfes zuzugehen.
Lucivar wollte sie bitten, auf ihn zu warten, doch seine Stimme versagte. Er wollte aufstehen, ohne recht zu wissen, wie es kam, dass er kniete. Doch seine Beine zitterten zu heftig.
Schließlich entsann Lucivar sich, was Saetan ihm über Spiralen gesagt hatte.
Er hatte keine Angst vor ihr, aber beim Feuer der Hölle, er wollte wissen, was der Auslöser hierfür gewesen war, um zumindest eine Ahnung zu haben, wie er mit ihr umgehen sollte.
Jemand zog ihn am Arm.
Randahl, der aschfahl aussah, half ihm auf die Beine.
Beide Männer keuchten vor Anstrengung, als sie endlich das Gebäude erreichten und sich gegen die Außenwand lehnten.
Randahl rieb sich die Augen. Seine Lippen bebten. »Der Junge ist gestorben«, sagte er heiser. »Sie war eben damit fertig geworden, den letzten verwundeten Landen zu heilen. Beim Feuer der Hölle, Yaslana, sie hat dreihundert von ihnen geheilt! Dreihundert in drei Tagen. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Mari riet ihr, sich hinzusetzen und sich ein wenig auszuruhen. Doch sie schüttelte den Kopf und stolperte zu Khevin hinüber, und … und er lächelte sie nur an und starb. Tot. Völlig tot. Nicht einmal das leiseste Flüstern ist noch von ihm übrig.«
Lucivar schloss die Augen. Über die Toten würde er sich später Gedanken machen. Im Moment gab es immer noch einiges für die Lebenden zu tun. »Bist du stark genug, um eine Botschaft nach Agio zu schicken?«
Randahl schüttelte den Kopf. »Keiner von uns ist derzeit stark genug, um mit den Winden zu reisen, aber wir hätten schon gestern wieder zurück sein sollen. Es sollte sich also bereits jemand auf die Suche nach uns gemacht haben.«
»Wenn eure Leute hier eintreffen, möchte ich, dass Mari Geleitschutz bekommt und zur Burg gebracht wird.«
»Wir können uns um sie kümmern«, erwiderte Randahl aufgebracht.
Doch würde Mari wollen, dass sich die Angehörigen des Blutes in Agio um sie kümmerten?
»Bringt sie zur Burg«, wiederholte Lucivar. »Sie braucht Zeit um zu trauern und einen Ort, an dem ihr Herz wieder genesen kann. Auf der Burg wird man ihr dabei helfen.«
Randahl sah niedergeschlagen aus. »Du meinst, die dhemlanischen Blutleute werden sie besser behandeln, als wir es getan haben?«
Lucivar zuckte mit den Schultern. »Ich dachte nicht an die Blutleute, sondern an die verwandten Wesen.«
Nachdem Randahl sein Einverständnis erklärt hatte, ging Lucivar in das Gemeindehaus, um Mari zu eröffnen, dass sie zur Burg reisen würde. Ein paar Minuten lang klammerte sie sich an ihn und weinte heftig.
Er hielt sie in den Armen und spendete ihr so viel Trost wie möglich.
Als zwei Landenfrauen anboten, sich um Mari zu kümmern, ließ er sie los. Insgeheim hoffte er inständig, nie wieder mit Landen zu tun zu haben.
Er fand Jaenelle ein paar Schritte jenseits der Dorfgrenze, wo sie sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte und ein verzweifeltes, leises Wimmern ausstieß.
Nachdem er sich auf die Knie hatte fallen lassen, wiegte er sie in seinen Armen.
»Ich wollte nicht töten«, klagte sie. »Dafür ist die Kunst nicht da. Dafür ist meine Kunst nicht da.«
»Ich weiß, Katze«, murmelte Lucivar. »Ich weiß.«
»Ich hätte einen Schild um sie legen und sie darin festhalten können, bis uns die Leute aus Agio zu Hilfe geeilt wären. Das hatte ich auch vor, aber meine Wut schäumte einfach über, als Khevin … Ich konnte ihre Gedanken spüren, konnte fühlen, dass sie uns Schmerzen zufügen wollten. Da konnte ich meinen Zorn nicht zügeln. Ich konnte ihn nicht zügeln!«
»Das liegt an den Drogen, Katze. Dieses verfluchte Zeug kann deine Gefühle eine ganze Zeit lang völlig durcheinander bringen, insbesondere in einer solchen Situation.«
»Ich töte nicht gerne. Lieber erleide ich selbst Schmerzen, als jemandem welche zuzufügen.«
Lucivar zog es vor, keinerlei Einwände zu machen. Er war zu erschöpft, und ihre Gefühle waren zu roh. Ebenso wenig wies er sie darauf hin, dass sie auf das Leiden und den Tod eines Freundes reagiert hatte. Was sie um ihrer selbst willen nicht tun konnte oder wollte, tat sie dennoch um einer Person willen, die ihr am Herzen lag.
»Lucivar?«, sagte Jaenelle wehmütig. »Ich will ein Bad nehmen. «
Das war nur eines der unzähligen Dinge, die er wollte. »Lass uns nach Hause gehen, Katze.«
11
Terreille
Dorothea SaDiablo ließ sich in einen Sessel sinken und starrte ihren unerwarteten Gast entgeistert an. »Hier? Du willst hier bleiben?« Hatte das Miststück in letzter Zeit einmal in den Spiegel gesehen? Wie sollte sie die Anwesenheit eines vertrockneten lebenden Leichnams erklären, der aussah, als sei er gerade aus einer vermoderten Gruft gekrochen?
»Nicht hier an deinem kostbaren Hof«, erwiderte Hekatah und verzog die Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »Und ich bitte dich nicht um Erlaubnis, sondern teile dir mit, dass ich in Hayll bleibe und deshalb eine Unterkunft benötige.«
Befehle. Immerzu Befehle. Ständig erinnerte Hekatah sie daran, dass sie niemals die Hohepriesterin von Hayll geworden wäre, wenn Hekatah sie nicht beraten und stillschweigend unterstützt hätte; sie nicht auf Rivalinnen aufmerksam gemacht hätte, die über zu viel Potenzial verfügten und ihren Traum durchkreuzen könnten, eine Hohepriesterin zu sein, die so stark war, dass sich ihr selbst die Königinnen unterwarfen.
Nun, sie war die Hohepriesterin von Hayll, und nachdem sie die Männer über Jahrhunderte gequält und brutal behandelt hatte, und diese im Gegenzug selbst brutal vorgegangen waren, waren in Terreille keine Königinnen mit dunklen Juwelen übrig. Es gab keine Königinnen, Schwarze Witwen oder andere Priesterinnen, die dem Rang ihres roten Juwels entsprachen. In einigen der widerspenstigeren Territorien gab es überhaupt keine Angehörigen des Blutes mit Juwelen mehr. Binnen fünf Jahren würde sie erreichen, was Hekatah nie geschafft hatte: Sie würde die Hohepriesterin von Terreille sein, im ganzen Reich gefürchtet und verehrt.
Und wenn jener Tag aufzog, hatte sie etwas ganz Besonderes für ihre Lehrerin und Beraterin geplant.
Dorothea ließ sich in den Sessel zurücksinken und unterdrückte ein Lächeln. Doch dieser Haufen Knochen, der ihr gegenübersaß, konnte ihr immer noch von Nutzen sein. Sadi trieb sich immer noch irgendwo da draußen herum und spielte seine schwer fassbaren, ärgerlichen Spielchen. Obgleich sie seine Gegenwart seit langem nicht mehr gespürt hatte, fürchtete sie jedes Mal, wenn sie eine Tür öffnete, ihn dort vorzufinden. Doch wenn eine Schwarze Witwe und Hohepriesterin mit rotem Juwel auf dem Landsitz wohnte, den sie sich für besonders ausgefallene Abendveranstaltungen vorbehielt, und wenn er zufällig erfuhr, dass eine Hexe dort heimlich residierte … Nun, ihre mentale Signatur hatte sich längst im ganzen Haus verbreitet, und er würde sich vielleicht nicht die Zeit nehmen, zwischen der Signatur des Ortes und der Bewohnerin zu unterscheiden. Es wäre schade, das Haus zu verlieren; allerdings glaubte sie wirklich nicht, dass noch etwas davon übrig wäre, wenn er erst einmal damit fertig war.
Natürlich wäre dann auch nichts von Hekatah übrig.
Dorothea steckte sich eine Strähne zurück in ihr locker aufgestecktes schwarzes Haar. »Mir ist klar, dass du mich nicht um meine Erlaubnis gebeten hast, Schwester«, säuselte sie. »Wann hättest du mich schon einmal um etwas gebeten?«
»Vergiss nicht, mit wem du sprichst«, zischte Hekatah.
»Das vergesse ich niemals«, entgegnete Dorothea süßlich. »Ich habe ein Landhaus, das etwa eine Stunde mit der Kutsche von Draega entfernt ist. Ich benütze es für verschwiegene Vergnügungen. Dort darfst du gerne so lange bleiben wie du möchtest. Die Dienstboten sind hervorragend geschult. Darf ich dir also dringend ans Herz legen, dich nicht an ihnen zu verköstigen? Ich werde dich mit ausreichend jungen Leckerbissen versorgen.« Mit einem Stirnrunzeln betrachtete sie einen ihrer Fingernägel und rief eine Feile herbei, um eine Kante zu glätten. Dann musterte sie den Nagel erneut und feilte ihn ein zweites Mal. Als sie endlich mit dem Ergebnis zufrieden war, ließ sie die Feile verschwinden und bedachte Hekatah mit einem Lächeln. »Sollte die Unterbringung dir allerdings nicht zusagen, kannst du selbstverständlich jederzeit gerne in die Hölle zurückkehren.«
Machtgieriges, undankbares Miststück.
Hekatah verdunkelte den nächsten Spiegel. Selbst das bisschen Kunst, das hierfür nötig war, ging beinahe über ihre Kräfte hinaus.
Auf diese Weise hatte sie nicht nach Hayll zurückkehren wollen: sorgsam versteckt wie eine zittrige, sabbernde Alte, die auf einen abgelegenen Landsitz abgeschoben wurde, wo ihr nur Bedienstete mit steinernen Mienen Gesellschaft leisteten.
Doch sobald sie wieder Kraft geschöpft hatte …
Hekatah schüttelte den Kopf. Die Vergnügungen würden später kommen müssen.
Sie überlegte, ob sie einem Diener läuten sollte, damit er einen weiteren Holzscheit ins Feuer warf, entschied sich jedoch dagegen und legte das Holz selbst nach. Sie schmiegte sich in einen alten, weichen Sessel und beobachtete mit starrem Blick, wie das Holz von den Flammen verzehrt wurde.
Verzehrt wie all ihre wunderbaren Pläne.
Erst das Fiasko mit dem Mädchen. Wenn dies das Beste war, was Jorval zustande brachte, würde sie seine Nützlichkeit noch einmal gründlich überdenken müssen.
Dann entging der Eyrier ihrer Falle und brachte all jene reizenden Jhinka um, die sie so mühevoll herangezogen hatte. Und die Energien, die ihr durch ihren Hexensturm entgegengeschlagen waren, hatten ihr dies hier angetan.
Und zu guter Letzt war da noch dieser der Gosse entstiegene Hurensohn, der das Dunkle Reich hatte säubern lassen. In der Hölle gab es derzeit keinen sicheren Hafen mehr und niemanden, absolut niemanden, der ihr diente!
Folglich blieb ihr im Moment nichts anderes übrig, als Dorotheas widerwillige Gastfreundschaft und ihren Spott hinzunehmen. Sie musste sich mit Almosen anstatt des Tributs begnügen, der ihr eigentlich zustand.
Egal. Im Gegensatz zu Dorothea, die zu sehr damit beschäftigt war, Macht zu erlangen und ein Territorium nach dem anderen zu verschlingen, hatte sie sich die beiden Reiche der Lebenden gut angesehen.
Sollte Dorothea ruhig die zerfallene Ruine von Terreille haben.
Sie hingegen würde sich Kaeleer untertan machen.