Kapitel 5

1 e9783641061937_i0036.jpg Kaeleer

Luthvian betrachtete ihr Spiegelbild. Das neue Kleid umschmeichelte ihre schlanke Figur, ohne gewollt aufreizend zu wirken. Vielleicht sah es zu jugendlich aus, wenn sie ihr Haar offen in den Rücken fallen ließ. Oder hätte sie etwas gegen die weiße Strähne unternehmen sollen, die sie älter wirken ließ?

Nun, sie war jung, kaum mehr als 2200 Jahre. Und die weiße Strähne hatte sie schon als kleines Kind gehabt; ein Andenken an die Fäuste ihres Vaters. Außerdem würde es Saetan nicht entgehen, wenn sie versuchte, das weiße Haar zu kaschieren, und sie putzte sich gewiss nicht für ihn heraus. Sie wollte lediglich, dass seine Tochter sofort erkannte, dass sich eine Hexe von Format dazu bereit erklärt hatte, sie zu unterrichten.

Nach einem letzten nervösen Blick auf ihr Kleid ging Luthvian nach unten.



Wie immer war er pünktlich.

Roxie öffnete die Tür auf das erste Klopfen hin.

Luthvian war sich nicht sicher, ob Roxies Bereitwilligkeit mit ihrer Neugierde auf die Tochter des Höllenfürsten zu tun hatte oder dem Wunsch, den anderen Mädchen zu beweisen, dass sie in der Lage war, mit einem Kriegerprinzen zu flirten, der dunkle Juwelen trug. So oder so ersparte es Luthvian die Mühe, die Tür selbst zu öffnen.

Die Tochter war eine sehr angenehme Überraschung. Luthvian war sich nicht darüber im Klaren gewesen, dass Saetan seinen kleinen Schatz adoptiert hatte, doch in den Adern des Mädchens floss kein einziger Tropfen hayllischen Blutes – und ganz bestimmt nicht das seine. Die Kleine wirkte unreif und alles andere als kontaktfreudig oder geschickt im Umgang mit ihren Mitmenschen, entschied Luthvian, als sie die kurze Begrüßungsszene an der Eingangstür beobachtete. Was hatte Saetan also dazu veranlasst, das Mädchen in seine Obhut zu nehmen?

Dann wandte sich das Mädchen Luthvian zu und schenkte ihr ein schüchternes Lächeln, das ihre saphirblauen Augen jedoch nicht erreichte. In diesen Augen lag nicht die geringste Schüchternheit. Stattdessen spiegelten sich Vorsicht und unterdrückter Zorn darin wider.

»Lady Luthvian«, sagte Saetan, als er auf sie zuschritt. »Dies ist meine Tochter, Jaenelle Angelline.«

»Schwester.« Jaenelle streckte ihr beide Hände zur formellen Begrüßung entgegen.

Die mit dieser Geste einhergehende Annahme, ebenbürtig zu sein, gefiel Luthvian nicht, doch darum würde sie sich unter vier Augen kümmern, fern von Saetans schützender Gegenwart. Dieses Mal erwiderte sie den Gruß, bevor sie sich an Saetan wandte: »Mach es dir bequem, Höllenfürst.« Sie wies mit dem Kinn in Richtung des Salons.

»Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee, Höllenfürst?«, meinte Roxie, die Saetan im Vorübergehen berührte.

Es war nicht der rechte Zeitpunkt, die Vorstellungen dieser dummen Gans zurechtzurücken, was Hüter – insbesondere diesen speziellen Hüter – betraf, doch es überraschte Luthvian, als Saetan Roxie für das Angebot dankte und sich in den Salon zurückzog.

»Weißt du«, meinte Roxie und schenkte Jaenelle ein allzu strahlendes Lächeln, »niemand würde je auf den Gedanken kommen, dass du die Tochter des Höllenfürsten bist.«

»Hol den Tee, Roxie«, fuhr Luthvian sie an.

Das Mädchen stürmte den Korridor entlang auf die Küche zu.

Jaenelle starrte in die leere Diele. »Schau unter die Haut«, flüsterte sie dem Mädchen mit Mitternachtsstimme hinterher.

Luthvian lief ein Schauder über den Rücken. Dennoch hätte sie die plötzliche Veränderung in Jaenelles Stimme vielleicht als Jungmädchentheatralik abgetan, wäre Saetan nicht an der Salontür erschienen. Er wirkte angespannt und warf seiner Tochter einen fragenden Blick zu.

Schulterzuckend lächelte Jaenelle ihn an.

Luthvian führte ihre neue Schülerin in ihren eigenen Arbeitsraum, da Saetan auf Privatstunden bestanden hatte. Vielleicht konnte Jaenelle später zumindest in einigen Fächern mit den übrigen Schülerinnen zusammen unterrichtet werden, wenn es ihr gelang, den Vorsprung der anderen aufzuholen.

»Wie ich gehört habe, sollen wir mit den Grundlagen anfangen«, sagte Luthvian, während sie die Tür geräuschvoll hinter sich schloss.

»Ja«, erwiderte Jaenelle wehmütig und strich sich durch das schulterlange Haar. Lächelnd rümpfte sie die Nase. »Papa hat mir ein paar Dinge beigebracht, aber ich habe immer noch Schwierigkeiten mit den Grundlagen der Kunst.«

Hatte das Mädchen ein schlichtes Gemüt oder war einfach nicht genug Talent vorhanden?

Luthvian warf einen Blick auf Jaenelles Nacken und versuchte eine frisch verheilte Wunde oder den schwachen Schatten eines Blutergusses zu entdecken. Wenn die Kleine lediglich frisches Futter für ihn war, warum machte er sich dann überhaupt die Mühe, sie ausbilden zu lassen? Nein, das ergab keinen Sinn, nicht wenn er persönlich Jaenelle in der Stundenglaskunst unterwies. Ein Puzzleteil fehlte, etwas entzog sich ihrem Verständnis noch.

»Lass uns mit der Bewegung eines Gegenstands beginnen.« Luthvian legte eine rote Holzkugel auf ihre leere Werkbank. »Deute mit dem Finger auf die Kugel.«

Jaenelle stöhnte auf, gehorchte aber.

Luthvian ging nicht auf das Stöhnen ein. Offenbar war Jaenelle ein genauso großer Dummkopf wie ihre übrigen Schülerinnen. »Stell dir vor, dass aus deiner Fingerspitze ein steifer, dünner Faden hervorschießt und an der Kugel haften bleibt.« Luthvian wartete einen Augenblick lang. »Nun stell dir vor, wie deine Kraft den Faden entlang läuft, bis sie an die Kugel stößt. Jetzt stell dir vor, dass du den Faden wieder einziehst, sodass die Kugel zu dir zurückkehrt.«

Die Kugel rührte sich nicht von der Stelle. Der Arbeitstisch hingegen schon, und die an den Wänden befestigten Schränke an der Rückseite des Zimmers versuchten es ebenso.

»Hör auf!«, rief Luthvian.

Jaenelle hielt seufzend inne.

Entgeistert starrte Luthvian vor sich hin. Wenn es sich lediglich um den Tisch gehandelt hätte, hätte sie das Ganze als Versuch des Mädchens abtun können, Eindruck zu schinden. Aber die Schränke?

Luthvian rief vier Holzklötze und vier weitere Holzkugeln herbei und legte sie auf die Werkbank. »Warum versuchst du es nicht kurz allein? Konzentriere dich darauf, eine leichte Verbindung zwischen dir und dem Gegenstand herzustellen, den du bewegen möchtest. Ich muss nach den anderen Schülerinnen sehen. Danach komme ich gleich wieder.«

Gehorsam richtete Jaenelle ihre Aufmerksamkeit auf die Klötze und Kugeln.

Eilig verließ Luthvian den Arbeitsraum mit zusammengebissenen Zähnen und zu Fäusten geballten Händen. Es gab nur eine einzige Person, nach der sie sehen wollte, und von der sie verdammt noch mal einige Antworten zu erhalten gedachte.

Sie konnte die Kälte in der Diele spüren, bevor sie das Kichern vernahm.

»Roxie!«, zischte sie wütend, als sie sich am Türrahmen festhielt, um nicht in den Salon zu stürzen. »Du sollst deine Zauber üben.«

Roxie winkte unbeeindruckt ab. »Ach, ich habe nur noch ein oder zwei Aufgaben zu erledigen.«

»Dann erledige sie.«

Mit einem Schmollmund blickte Roxie zu Saetan, von dem sie sich Unterstützung zu erhoffen schien.

Sein Gesicht war ausdruckslos. Schlimmer noch: In seinen Augen lag ebenfalls keinerlei Ausdruck. Beim Feuer der Hölle! Er stand kurz davor, dieser dumm mit den Wimpern klimpernden Göre den Hals umzudrehen, und sie hatte nicht einmal die leiseste Ahnung!

Luthvian zerrte Roxie aus dem Salon und den Flut entlang. Dann stieß sie das Mädchen in Richtung des Schularbeitsraums.

Roxie stampfte mit dem Fuß auf. »So lasse ich mich nicht von dir behandeln! Mein Vater ist ein wichtiger Krieger in Doun, und meine Mutter …«

Erneut packte Luthvian Roxie unsanft am Arm und zischte: »Hör zu, du kleine Närrin. Du hast keine Vorstellung davon, mit wem du da spielst, und du wirst seine Macht niemals begreifen.«

»Er mag mich.«

»Am liebsten würde er dich umbringen.«

Einen Moment lang sah Roxie verblüfft aus. Dann schlich sich ein berechnender Blick in ihre Augen. »Du bist ja nur eifersüchtig.«

Luthvian musste sich zusammenreißen, um der dummen Gans keine schallende Ohrfeige zu versetzen. »Geh in den Arbeitsraum und bleib dort!« Sie wartete, bis Roxie die Tür hinter sich zugeworfen hatte, bevor sie selbst in den Salon zurückkehrte.

Saetan ging unruhig fluchend auf und ab, wobei er sich mit den Fingern durch das Haar fuhr. Sein Zorn überraschte sie nicht, seine Anstrengungen, ihn nicht außerhalb dieses Zimmers spürbar werden zu lassen, dafür umso mehr.

»Es wundert mich, dass du Roxie nicht von deiner Wut hast kosten lassen«, sagte Luthvian, die in der Nähe der Tür blieb. »Warum nicht?«

»Ich habe meine Gründe«, knurrte er unwillig.

»Gründe, Höllenfürst? Oder einen einzigen Grund?«

Saetan blieb abrupt stehen und blickte an ihr vorbei. »Ist die Unterrichtsstunde schon vorüber?«, erkundigte er sich unbehaglich.

»Sie übt allein.« Luthvian hasste es, mit ihm zu reden, wenn er wütend war. Folglich entschied sie sich, keine Umschweife zu machen. »Weshalb machst du dir die Mühe, sie in die Kunst des Stundenglases einzuweisen, wenn sie noch keinerlei Ausbildung genossen hat?«

»Ich habe nie behauptet, dass sie noch keinerlei Ausbildung genossen hat.« Saetan fing wieder an, auf und ab zu gehen. »Ich sagte, sie benötige Hilfe in den Grundlagen der Kunst.«

»Ohne die Grundlagen zu beherrschen, ist eine Hexe zu nicht viel anderem in der Lage.«

»Sei dir da mal nicht zu sicher.«

Er ging weiter im Zimmer umher, doch nicht aus Wut. Luthvian beobachtete ihn und kam zu dem Schluss, dass sie den Höllenfürsten nicht gerne nervös sah. Gar nicht gerne. »Was hast du mir verschwiegen?«

»Alles. Ich wollte, dass du sie zuerst persönlich kennen lernst.«

»Sie hat viel rohe Kraft für jemanden, der keine Juwelen trägt.«

»Sie trägt Juwelen. Glaub mir, Luthvian, Jaenelle trägt Juwelen.«

»Aber was …«

Ein lauter Freudenschrei veranlasste die beiden, zu Luthvians Arbeitsraum zu eilen.

Nachdem Saetan die Tür aufgestoßen hatte, erstarrte er. Luthvian wollte sich an ihm vorbeidrängen, musste sich jedoch im nächsten Moment an seinen Arm klammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Der Tisch bewegte sich langsam im Uhrzeigersinn. Außerdem drehte er sich um seine Längsachse, als befände er sich auf einem unsichtbaren Spieß. Es gab nun ein Dutzend sich langsam drehender Holzklötze, von denen sich manche auf der Höhe des Tisches befanden, während andere über ihm schwebten. Sieben Holzkugeln in grellen Farben vollführten einen verschlungenen Tanz um die Klötze. Und jeder einzelne Gegenstand blieb immer in gleicher Entfernung von dem sich permanent um zwei Achsen drehenden Tisch.

Mit viel Mühe würde es Luthvian gelingen, ein solch kompliziertes Gebilde zu kontrollieren, doch es hätte Jahre dauern müssen, bis das Mädchen zu etwas Derartigem in der Lage war. Man begann nicht einfach mit einer Kugel und erreichte im Laufe weniger Minuten so etwas.

Saetan stieß ein Lachen aus, das halb nach einem Aufstöhnen klang.

»Ich glaube, so langsam habe ich die Sache mit dem Faden und dem Gegenstand begriffen«, verkündete Jaenelle, als sie ihnen über die Schulter hinweg einen Blick zuwarf und dabei grinste. Einen Moment später heulte sie auf, als sämtliche Gegenstände erst aus der Bahn gerieten und dann zu Boden fielen.

Luthvian und Saetan streckten gleichzeitig die Hand aus. Sie ließ die kleinen Gegenstände mitten im Fall gefrieren, während er den Tisch auffing.

»Verflixt noch mal!« Jaenelle ließ Kopf und Arme wie eine Marionette hängen, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Sie warf dem Tisch, den Klötzen und Kugeln einen zornigen Blick zu.

Lachend rückte Saetan den Tisch an seinen angestammten Platz. »Ärgere dich nicht, Hexenkind. Wenn du es schon beim ersten Versuch perfekt hinbekommen würdest, würde das Üben nicht sehr viel Spaß machen, meinst du nicht?«

»Das stimmt!« In Jaenelles Stimme schwang bereits wieder jugendlicher Enthusiasmus mit.

Luthvian ließ die Klötze und Kugeln verschwinden, wobei sie sich bemühte, nicht über das Entsetzen zu lachen, das Saetan an den Tag legte, als er mit seiner Tochter diskutierte, welches Zimmer sie zum Üben benutzen könne. Was glaubte er, was das Mädchen als Nächstes tun würde? Versuchen, sämtliche Möbel in einem Raum zu bewegen?

»Auf keinen Fall die Empfangsräume«, meinte Saetan. Er klang wie ein Mann, der sich verzweifelt einzureden versuchte, bei dem Sumpf zu seinen Füßen handele es sich um festen Boden. »In der Burg gibt es genug leere Zimmer, und auf dem Speicher stehen unzählige alte Möbelstücke herum. Fang damit an. Bitte, ja?«

Saetan bat um etwas?

Jaenelle warf ihm einen halb entnervten, halb belustigten Blick zu. »Na gut. Aber nur, weil ich nicht möchte, dass du Ärger mit Beale und Helene bekommst.«

Der Höllenfürst stieß einen tief empfundenen Seufzer aus.

Lachend wandte Jaenelle sich an Luthvian. »Vielen Dank, Luthvian.«

»Gern geschehen«, entgegnete Luthvian matt. Würden sämtliche Unterrichtsstunden auf diese Weise ablaufen? Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. »Die nächste Stunde halten wir übermorgen ab«, fügte sie hinzu, als sie den Arbeitsraum verließen.

Als Jaenelle den Korridor entlangging, betrachtete sie die Gemälde an den Wänden. Interessierte sie sich tatsächlich für die Kunstwerke oder begriff sie einfach, dass die beiden Erwachsenen sich noch ein wenig unter vier Augen unterhalten wollten, nachdem sie sich mit ihr auseinander gesetzt hatten?

»Wirst du es überleben?«, fragte Saetan leise.

Luthvian beugte sich zu ihm. »Ist es immer so?«

»Oh nein«, versetzte Saetan trocken. »Heute hat sie sich besonders gut benommen. Normalerweise ist es viel schlimmer. «

Sie musste sich ein Lachen verbeißen. Es tat gut, ihn derart aus dem Konzept gebracht zu erleben. Auf diese Weise wirkte er so zugänglich, so …

Das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Er war nicht zugänglich. Er war der Höllenfürst, der Prinz der Dunkelheit. Und er besaß kein Herz.

Roxie kam aus dem Schularbeitsraum. Luthvian war sich nicht sicher, was das Mädchen mit seinem Kleid angestellt hatte, doch es war definitiv um einiges weiter ausgeschnitten als zuvor.

Roxie warf Saetan einen Blick zu und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.

Obwohl er seine Abscheu und die aufkeimende Wut zu verbergen suchte, konnte Luthvian sie deutlich spüren. Im nächsten Moment wurden diese Gefühle von einer Kälte verdrängt, die ihr durch Mark und Bein ging und unmöglich von einem Mann ausgehen konnte.

Nicht einmal von ihm.

»Lass ihn in Ruhe«, sagte Jaenelle und starrte Roxie unverwandt an.

Als Jaenelle sich Roxie näherte, lag etwas erschreckend Wildes, ja Raubtierhaftes in ihren Bewegungen. Und jene Kälte stieg aus einer Tiefe zu ihnen empor, die Luthvian sich lieber erst gar nicht vorzustellen versuchte.

»Wir müssen gehen«, meinte Saetan rasch und packte Jaenelle am Arm, als sie gerade an ihm vorbeigleiten wollte.

Jaenelle entblößte die Zähne und knurrte ihn an. Es war ein Geräusch, das unmöglich einer menschlichen Kehle entstammen konnte.

Saetan erstarrte.

Zu verängstigt, um sich bewegen oder etwas sagen zu können, beobachtete Luthvian die beiden. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sich zwischen ihnen abspielte, und konnte nur hoffen, dass er stark genug war, um Jaenelles Wut im Zaum zu halten – obgleich sie insgeheim mit schrecklicher Gewissheit wusste, dass es nicht so war. Selbst mit seinen schwarzen Juwelen stand er nicht über seiner Tochter. Möge die Dunkelheit Erbarmen haben!

Die Kälte verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Saetan ließ Jaenelles Arm los und folgte ihr mit dem Blick, bis die Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel. Dann sackte er gegen die Wand.

Als Heilerin war sich Luthvian darüber im Klaren, dass sie ihm helfen sollte, doch sie war nicht in der Lage, ihre Beine zu bewegen. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass Roxie und die übrigen Mädchen, die aus dem Arbeitsraum hervorlugten, nicht auf die Kälte oder die Gefahr reagiert hatten, sondern laut schnatternd Vermutungen über die eben erlebte Szene anstellten, ohne auch nur das Geringste begriffen zu haben.

»Sie ist ziemlich verzogen«, stellte Roxie fest und warf ihre Lippen zu einem Schmollmund auf, während sie Saetan fixierte.

Er bedachte sie mit einem so wütenden, boshaften Blick, dass sie ängstlich in den Arbeitsraum zurückwich und den Mädchen, die direkt an der Tür standen, auf die Füße trat.

»Beendet die Aufgaben, die ich euch gestellt habe«, befahl Luthvian. »In einer Minute sehe ich mir die Ergebnisse an.« Nachdem sie die Tür des Arbeitsraums geschlossen hatte, lehnte sie den Kopf dagegen.

»Es tut mir Leid«, murmelte Saetan. Er klang erschöpft.

»Du hast die Mädchen abgeschirmt, nicht wahr?«

Saetan schenkte ihr ein mattes Lächeln. »Dich wollte ich ebenfalls schützen, aber sie war zu schnell.«

»Vielleicht war es besser so.« Luthvian stieß sich von der Tür ab und strich eine Falte aus ihrem Kleid. »Aber du hattest Recht: Es war gut, ihr die erste Stunde zu geben und zu wissen, wie es sein wird, sie zu unterrichten, bevor ich versuche, damit zurechtzukommen, was sie ist.«

Sie sah, wie sich seine goldenen Augen veränderten.

»Und was meinst du, ist sie, Luthvian?«, wollte er mit trügerisch sanfter Stimme wissen.

Schau unter die Haut.

Sie sah ihm in die Augen. »Deine Tochter.«



Saetan schlenderte gemächlich am Rand der breiten, unbefestigten Straße entlang. Da es Jaenelle, die sich ein Stück vor ihm befand, nicht eilig zu haben schien, verspürte er nicht den Drang, sie unbedingt einholen zu müssen. Abgesehen davon war es besser, ihr Gelegenheit zu geben sich zu beruhigen, bevor er sie fragte, was er wissen musste. Weil sie eine Königin war, würde das Land sie ohnehin viel schneller besänftigen, als er es könnte.

Darin war sie wie jede andere Königin, die er je gekannt hatte. Ganz egal, worin ihre sonstigen Fähigkeiten bestanden, es waren sie, die sich am meisten vom Land angezogen fühlten und den engen Kontakt zur Erde brauchten. Selbst Königinnen, die zumeist in großen Städten residierten, hatten einen Garten, in dem ihre Füße die lebende Erde berühren konnten, und wo sie in aller Ruhe dem lauschten, was das Land ihnen zu sagen hatte.

Also spazierte er ohne Hast und genoss es, endlich wieder in der Lage zu sein, eine Straße an einem Sommermorgen entlangzugehen und das sonnenüberflutete Land zu betrachten. Zu seiner Rechten befand sich das eingezäunte Gemeindeweideland von Doun, auf dem das Vieh und die Pferde sämtlicher Dorfbewohner grasten. Zu seiner Linken, gleich hinter der Steinmauer, die Luthvians Garten umgab, erstreckten sich Wiesen mit unzähligen Feldblumen. In der Ferne erhoben sich Fichten und Kiefern. Dahinter waren die Berge auszumachen, die Ebon Rih umgaben.

Jaenelle verließ die Straße und blieb stehen. Sie hatte allem, das mit Zivilisation zu tun hatte, den Rücken zugewandt, und ihre Saphiraugen waren unverwandt auf die Wildnis gerichtet. Er näherte sich ihr nur langsam, da er sie nicht in ihren Betrachtungen stören wollte.

In Luthvians Haus war nichts geschehen, womit sich das Ausmaß von Jaenelles Wut erklären ließe. Nichts hatte ihn auf jene Konfrontation vorbereitet, als sich ein Teil ihres Zorns gegen ihn wandte. Er wusste noch immer nicht, was er getan hatte, um ihn heraufzubeschwören.

Sie drehte sich zu ihm um. Äußerlich wirkte sie ruhig, was jedoch nichts daran änderte, dass sie immer noch kampfbereit war.

Kämpfe nur mit einer Königin, wenn du keine andere Wahl hast. Ein guter, brauchbarer Rat des Haushofmeisters an dem ersten Hof, an dem Saetan je gedient hatte.

»Was hältst du von Luthvian?«, fragte Saetan, indem er Jaenelle den rechten Arm anbot.

Jaenelle musterte ihn eine Weile, bevor sie sich bei ihm unterhakte. »In der Kunst kennt sie sich jedenfalls aus.« Sie rümpfte die Nase und lächelte. »Ich mag sie, auch wenn sie heute ein wenig reizbar zu sein schien.«

»Hexenkind, Luthvian ist immer ein wenig reizbar«, erwiderte Saetan trocken.

»Ach was. Besonders dir gegenüber?«

»Es gibt da etwas in unserer Vergangenheit.« Er wartete auf die unvermeidbaren Fragen und spürte ein gewisses Unbehagen in sich aufsteigen, als Jaenelle nichts sagte. Vielleicht interessierten vergangene Beziehungen sie nicht. Oder sie befand sich längst im Besitz sämtlicher Antworten, die sie benötigte. »Warum warst du so wütend auf Roxie?«

»Du bist keine Hure«, entgegnete Jaenelle unwirsch und entzog sich ihm.

Auf einmal schien es viel dunkler um ihn her zu sein, doch als er aufblickte, war der Himmel genauso blau wie gerade eben, und die Wolken bauschten sich unverändert weiß am Horizont. Nein, das Gewitter, das sich zusammenbraute, stand ein paar Schritte vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt, die Beine in Kampfhaltung – und Tränen in den gehetzten Augen.

»Niemand hat behauptet, ich sei eine Hure«, meinte Saetan leise.

Tränen rannen Jaenelles Wangen hinab. »Wie konntest du es dann zulassen, dass dieses Miststück dich derart behandelt? «, fauchte sie ihn an.

»Mich wie behandelt?«, entgegnete er aufgebracht, da es ihm nicht länger gelang, seinen Ärger zu unterdrücken.

»Wie konntest du zulassen, dass sie dich so ansieht … und dich zwingt …«

»Mich zwingt? Wie im Namen der Hölle, glaubst du, könnte mich dieses Kind zu irgendetwas zwingen?«

»Es gibt Wege!«

»Welche Wege? Noch bevor ich mein Opfer dargebracht hatte, war niemand je dumm genug, mich zu etwas zwingen zu wollen, geschweige denn seitdem ich anfing, Schwarz zu tragen.«

Jaenelle geriet ins Stocken.

»Hör zu, Hexenkind. Roxie ist eine junge Frau, die kürzlich ihre Jungfrauennacht erlebt hat. Im Moment denkt sie, ihr gehöre die Welt, und jeder Mann, der einen Blick auf sie wirft, wolle ihr Geliebter werden. Als ich noch jünger war, war ich an einigen Höfen Gefährte. Ich kenne die Spielregeln, nach denen sich ältere, erfahrenere Männer zu richten haben. Wir sollen Mädchen ihre Verführungskünste an uns üben lassen, weil wir kein Interesse daran haben, ihr Bett zu wärmen. Durch unsere Anerkennung oder unsere Missbilligung helfen wir ihnen zu begreifen, wie ein Mann denkt und fühlt.« Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Auch wenn ich dir insofern Recht geben muss, dass Roxie ein kleines Miststück ist.«

Jaenelle wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Dann hat es dir nichts ausgemacht?«

Saetan stieß ein Seufzen aus. »Willst du die Wahrheit wissen? Während ich ihren albernen, plumpen Annäherungsversuchen lauschte, habe ich mir die Zeit damit vertrieben, mir vorzustellen, wie es wäre, ihre Knochen brechen zu hören.«

»Oh.«

»Komm her, Hexenkind.« Er schlang die Arme um sie und hielt sie fest, die Wange an ihren Kopf gelehnt. »Weshalb warst du in Wirklichkeit so zornig? Wen hast du zu schützen versucht?«

»Ich weiß es nicht. Ganz dumpf meine ich mich an jemanden zu erinnern, der sich Frauen wie Roxie hingeben musste. Es hat ihm wehgetan, und er hat es gehasst. Im Grunde ist es nicht einmal eine Erinnerung; eher ein Gefühl, denn ich kann mich nicht entsinnen, wer oder wo es war, oder warum ich so jemanden gekannt haben sollte.«

Das erklärte, weshalb sie nie nach Daemon gefragt hatte. Er war zu eng mit dem traumatischen Erlebnis verknüpft, das sie zwei Jahre ihres Lebens gekostet hatte, und das sie irgendwo in ihrem Innern unter Verschluss hielt. Und sämtliche Erinnerungen an Daemon waren zusammen damit weggesperrt.

Wieder einmal fragte Saetan sich, ob er ihr erzählen sollte, was vorgefallen war. Doch er kannte nur einen kleinen Teil der Geschichte. Er konnte ihr nicht sagen, wer sich an ihr vergangen hatte, weil er selbst es noch immer nicht herausgefunden hatte. Außerdem wusste er auch nicht, was zwischen ihr und Daemon vorgefallen war, während sie sich im Abgrund befunden hatten.

Und wenn er ehrlich war, hatte er Angst, ihr überhaupt irgendetwas zu erzählen.

»Lass uns nach Hause gehen, Hexenkind«, flüsterte er ihr ins Haar. »Lass uns nach Hause gehen und den Speicher durchsuchen.«

Sie lachte zittrig. »Wie sollen wir es Helene erklären?«

Saetan stieß ein übertriebenes Seufzen aus. »Eigentlich gehört die Burg ja mir, musst du wissen. Außerdem ist sie sehr groß und hat viele Zimmer. Wenn wir Glück haben, dauert es eine Weile, bevor sie uns auf die Schliche kommt.«

Jaenelle trat einen Schritt zurück. »Wer zuerst da ist!«, rief sie und verschwand.

Der Höllenfürst zögerte. Lange Zeit blickte er auf die Wiese mit den wild wachsenden Blumen und die Berge, die sich in der Ferne erhoben.

Er würde noch eine Weile warten, bevor er sich auf die Suche nach Daemon Sadi begab.

2 e9783641061937_i0037.jpg Kaeleer

Greer kroch hinter den Wacholderbüschen entlang, die eine Seite des Rasens hinter Burg SaDiablo flankierten. Die Sonne war beinahe aufgegangen. Wenn er den Südturm nicht erreichte, bevor die Gärtner auf der Bildfläche erschienen, würde er sich wieder im Wald verstecken müssen. Er hatte sein Leben in der Stadt verbracht, und dass er nun dämonentot war, änderte nichts an der Tatsache, dass er sich in der freien Natur nicht heimisch fühlte. Die gespenstische, nur ab und an von einem Rascheln unterbrochene Stille und die pechschwarze Finsternis der ländlichen Nacht ließen ihn leicht die Nerven verlieren. Und obgleich er niemand sonst um sich wittern konnte, wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden; und dann war da noch dieses verfluchte Geheul, das die Nacht wachzurufen schien.

Er konnte es einfach nicht glauben, dass der Höllenfürst keinerlei Überwachungszauber um die Burg gelegt hatte. Wie sonst ließ sich ein Ort wie dieser adäquat beschützen? Doch die Dunkle Priesterin hatte ihm versichert, dass Saetan von jeher zu nachlässig und arrogant gewesen sei, um derartige Schritte in Betracht zu ziehen. Abgesehen davon war der Südturm immer Hekatahs Reich gewesen, und sie hatte bei jedem ihrer zahlreichen Renovierungsprojekte geheime Treppenaufgänge und falsche Mauern errichten lassen, sodass es ganze Zimmer gab, die niemand kannte, und die immer noch durch ihre Zauber im Verborgenen lagen. In einem dieser Räume würde er Zuflucht finden.

Jedenfalls, wenn er dorthin gelangen konnte.

Greer ließ die Hände in die Manteltaschen gleiten, als er den Schutz des Wacholdergebüsches hinter sich ließ und zielstrebig auf den Südturm zuging. Das war eine der Regeln eines guten Attentäters: Verhalte dich so, als ob du an den betreffenden Ort gehörst. Sollte ihn jemand sehen, hoffte er, für einen Händler oder besser noch einen Gast gehalten zu werden.

Als er endlich die Tür des Südturms erreichte, wandte er sich langsam nach links, wobei er mit der Hand die Steine nach dem Riegel abtastete, mit dem sich der geheime Eingang öffnen ließ. Leider konnte Hekatah sich nicht mehr genau erinnern, wie weit der Eingang von der Tür entfernt lag, weil es schon so lange her war, und sie noch dazu dafür gesorgt hatte, dass die Veränderungen, die sie an der Burg in Kaeleer vorgenommen hatte, auf keinen Fall mit denjenigen in Terreille übereinstimmten.

Als er schon glaubte, zur Tür zurückkehren und seine Suche von vorne beginnen zu müssen, fand er den abgebröckelten Mauerstein mit dem versteckten Schnappriegel. Einen Augenblick später befand er sich bereits im Innern des Turms und stieg eine schmale steinerne Treppe empor.

Kurze Zeit später musste er feststellen, wie sehr die Dunkle Priesterin ihn getäuscht – oder sich selbst geirrt hatte.

Im Südturm gab es keinerlei luxuriös eingerichtete Zimmerfluchten, keine verzierten Betten, eleganten Sofas, Läufer, Vorhänge, Tische oder Sessel. Jedes einzelne Zimmer war leer und säuberlich gefegt.

Greer fasste sich mit der Hand an das schwarze Seidentuch an seinem Hals und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.

Ausgekehrt und leer. Genau wie die geheime Treppe, die eigentlich voller Staub und Spinnweben hätte sein müssen; was nur eines bedeuten konnte: Sie war bei weitem nicht so geheim, wie Hekatah annahm.

Er versuchte Trost in dem Gedanken zu finden, dass es ohnehin bedeutungslos sei, da er ja bereits tot war. Doch er hatte sich mittlerweile lange genug im Dunklen Reich aufgehalten, um Geschichten darüber aufzuschnappen, was mit Dämonen passiert war, die dem Höllenfürsten in die Quere gekommen waren; und er hatte nicht die geringste Lust, am eigenen Leib zu erfahren, inwieweit diese Geschichten der Wahrheit entsprachen.

Er kehrte in das Gemach zurück, das einst Hekatah gehört hatte, und begann eine systematische Suche nach den verborgenen Räumlichkeiten.

Auch diese Zimmer waren sauber und leer. Entweder hatten ihre Zauber mit der Zeit nachgelassen, oder jemand anderer hatte sie gebrochen.

Es musste aber doch einen Ort geben, an dem er sich verstecken konnte! Die Sonne stand bereits zu hoch, und das Sonnenlicht schwächte ihn und zehrte ihn aus – trotz des vielen frischen Blutes, das er zuvor getrunken hatte. Wenn sämtliche Räume entdeckt worden waren …

Endlich stieß er auf einen weiteren versteckten Raum innerhalb eines versteckten Raumes. Im Grunde handelte es sich eher um eine Abstellkammer, und Greer hatte nicht die leiseste Ahnung, wozu dieses Kabuff gedient haben mochte. Es war jedoch ekelerregend schmutzig, voller Spinnweben und von daher sicher.

Den Rücken an eine Wand gelehnt, schlang Greer sich die Arme um die Knie und wartete.

3 e9783641061937_i0038.jpg Kaeleer

Andulvar klopfte energisch an die Tür des Arbeitszimmers und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Als er in den hinteren Teil des Zimmers einbog, blieb er jäh stehen, da Saetan hastig – und ziemlich schuldbewusst – ein Buch versteckte, in dem er soeben noch gelesen hatte.

Beim Feuer der Hölle, dachte Andulvar, während er sich in einen Sessel sinken ließ, der dem Schreibtisch gegenüberstand. Wann hatte Saetan das letzte Mal derart entspannt ausgesehen? Dort saß er, der Höllenfürst, in Hausschuhe und einen schwarzen Pullover gekleidet. Die Füße hatte er lässig auf den Tisch gelegt. Als er ihn so sah, bedauerte Andulvar es, dass die Tage längst vorbei waren, als sie in eine Schenke hätten gehen und sich über ein paar Bierkrügen hitzige Wortgefechte hätten liefern können.

Saetans offensichtliches Unbehagen amüsierte Andulvar. »Beale sagte mir, dass du hier bist – um deine Korrespondenz zu erledigen, wie er, glaube ich, meinte.«

»Ach ja, der wackere Beale.«

»Nicht viele Häuser haben einen Butler vorzuweisen, der Krieger ist und ein rotes Juwel trägt.«

»Nicht viele würden das wollen«, murmelte Saetan und ließ die Füße auf den Boden sinken. »Yarbarah?«

»Bitte.« Andulvar wartete, bis Saetan den Blutwein eingeschenkt hatte und erwärmte. »Da du dich offensichtlich nicht mit deiner Korrespondenz beschäftigst, darf ich fragen, was du gerade machst? Abgesehen davon, dich vor deinem angsteinflößenden Personal zu verstecken?«

»Ich lese«, entgegnete Saetan steif. Andulvar, der schon immer ein geduldiger Jäger gewesen war, wartete. Und wartete. »Was liest du denn?«, erkundigte er sich schließlich. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Errötete Saetan etwa?

»Einen Roman.« Saetan räusperte sich. »Einen ziemlich … na ja, genauer gesagt einen sehr erotischen Roman.«

»Schwelgst du in Erinnerungen?«, erkundigte sich Andulvar belustigt.

Saetan stieß ein Knurren aus. »Ich handle eher in weiser Voraussicht. Heranwachsende Mädchen verstehen es, die furchterregendsten Fragen zu stellen.«

»Besser sie fragt dich als mich.«

»Feigling.«

»In dieser Beziehung zweifellos«, erwiderte Andulvar, der sich nicht provozieren lassen wollte. Dann hielt er kurz inne. »Wie läuft es sonst so?«

»Warum fragst du mich?« Saetan legte die Füße auf die Tischkante.

»Du bist der Höllenfürst.«

Mit einem theatralischen Seufzen legte sich Saetan eine Hand aufs Herz. »Ach, wenigstens einer, der sich dessen entsinnt. « Er nippte an dem Yarbarah. »Aber wenn du wirklich wissen möchtest, wie die Dinge hier so stehen, solltest du Beale, Helene oder Mrs. Beale fragen. Das ist das Triumvirat, das über die Burg herrscht.«

»Jedes Blutdreieck hat eine vierte Seite.«

»Ja, und wann immer etwas passiert, das nach ›Autorität‹ schreit, holen sie mich hervor, stauben mich ab und stellen mich im großen Saal auf, damit ich mich darum kümmere.« Das warme Lächeln brachte Saetans Augen zum Leuchten. »Meine Hauptfunktionen bestehen darin, als treuer Vormund der Lady zu agieren und – da Beale stets auf den makellosen Zustand seiner Kleidung bedacht ist – den Lehrkräften, die Jaenelle aus dem Konzept gebracht hat, meine Schulter anzubieten, damit sie sich daran ausweinen können; was durchschnittlich drei- bis viermal pro Woche vorkommt.«

»Dem Gör geht es also gut.«

Das Lächeln in Saetans Gesicht wurde von einem düsteren, gehetzten Ausdruck verjagt. »Nein, es geht ihr alles andere als gut. Verdammt, Andulvar, ich hatte gehofft … Sie gibt sich so unendlich viel Mühe. Sie ist immer noch Jaenelle, immer noch neugierig und sanft und gutherzig.« Er seufzte. »Aber es gelingt ihr nicht, auf die Freundschaftsangebote einzugehen, die von der Dienerschaft an sie herangetragen werden. Ja, ich weiß …« Er winkte ab und kam damit einem Einspruch seines Freundes zuvor. »Die Beziehung der Dienstboten zur Herrin des Hauses ist eben, wie sie ist. Aber es geht nicht nur um die Dienerschaft. Die Sache mit Menzar und die Spannungen, die zwischen ihr und Luthvians übrigen Schülerinnen bestehen, haben sie regelrecht eingeschüchtert. Sie meidet andere Leute, wann immer sie kann. Es ist Sylvia nicht gelungen, sie zu einem weiteren Einkaufsbummel zu überreden; und man kann dieser Lady nicht vorwerfen, dass sie es nicht versucht hätte. Erst vor ein paar Tagen war sie mit ihrem Sohn Beron zu Besuch hier. Jaenelle hat es geschafft, sich ganze fünf Minuten mit den beiden zu unterhalten, bevor sie aus dem Zimmer stürzte.« Saetan schüttelte traurig den Kopf. »Sie hat keine Freundinnen, Andulvar. Niemanden, mit dem sie lachen oder Dummheiten anstellen kann. Sie ist sich der Kluft zwischen ihr und den restlichen Angehörigen des Bluts geradezu schmerzhaft bewusst, dabei hat sie ihr Opfer noch gar nicht dargebracht.« Kraftlos ließ er sich in den Sessel zurücksinken. »Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, sie dazu zu bringen, ihr Leben wieder aufzunehmen. «

»Warum lädst du nicht diese kleine Eisharpyie aus Glacia ein?«, schlug Andulvar vor.

»Meinst du, sie wäre mutig genug, auf die Burg zu kommen? «

Andulvar schnaubte verächtlich. »Dem Brief nach zu urteilen, den sie dir damals geschrieben hat, würde sie dir vermutlich genüsslich auf die Zehen treten, sobald du ihr die Tür öffnest.«

Saetan lächelte versonnen. »Das hoffe ich, Andulvar. Das hoffe ich sogar sehr.«

Insgeheim bedauerte Andulvar, dass er die gerade eben wieder aufgelockerte Stimmung erneut dämpfen musste. Er leerte sein Glas und stellte es bedächtig auf dem Schreibtisch ab. »Es wird Zeit, dass du mir sagst, weshalb du mich auf die Burg zurückgerufen hast.«



»Tarl kam auf den Gedanken, dass du vielleicht helfen könntest«, erklärte Saetan, während er und Andulvar zu einem Garten gingen, der von einer Mauer umgeben war.

»Ich bin Jäger und Krieger, kein Gärtner, SaDiablo«, versetzte Andulvar schroff. »Wie sollte ausgerechnet ich ihm helfen können?«

»Ein gewaltiger Hund hat sein Jagdrevier in den nördlichen Wäldern abgesteckt. Zum ersten Mal habe ich ihn in jener Nacht gehört, als Sylvia mir erzählte, dass etwas in Halaway nicht stimmte. Er hat ein paar junge Hirsche getötet, abgesehen davon haben die Förster jedoch keine Spur von ihm entdecken können. Vor ein paar Nächten hat er sich an ein paar Hühnern gütlich getan.«

»Das ist Sache deiner Förster. Sie werden das schon in den Griff bekommen.«

Saetan öffnete das Holztor, das in den Garten mit der niedrigen Steinmauer führte. »Heute Morgen entdeckte Tarl noch etwas.« Er nickte dem Obergärtner zu, der neben dem Blumenbeet am hinteren Ende des Gartens stand.

Tarl tippte sich kurz mit den Fingern an die Hutkrempe, bevor er sich zurückzog.

Saetan deutete auf die weiche Erde zwischen zwei jungen Pflanzen. »Da.«

Andulvar starrte lange Zeit auf den deutlich erkennbaren, tiefen Pfotenabdruck, bevor er in die Knie ging und seine Hand danebenhielt. »Verflucht, der ist aber groß!«

Saetan kniete neben Andulvar nieder. »Das habe ich mir auch gedacht, aber du bist der Experte. Was mich viel mehr beschäftigt ist der Umstand, dass der Abdruck so wohl überlegt zu sein scheint, so sorgfältig platziert, als handele es sich um eine Art Botschaft oder ein Zeichen.«

»Und an wen sollte diese Botschaft gerichtet sein?«, meinte Andulvar mit einem tiefen Grollen in der Stimme. »Von wem lässt sich erwarten, dass er hierher kommt und den Pfotenabdruck sieht?«

»Seit Lord Menzar plötzlich verschieden ist, hat Mephis stillschweigend jeden überprüft, der auf der Burg arbeitet – in der Burg oder außerhalb. Er fand nichts, das mich zu dem Glauben veranlasst hätte, dass ich meiner Dienerschaft nicht vertrauen kann.«

Nachdenklich runzelte Andulvar die Stirn, während er den Abdruck weiterhin betrachtete. »Es könnte das verabredete Zeichen eines Liebhabers zu einem Stelldichein im Garten sein.«

»Glaub mir, Andulvar«, sagte Saetan trocken, »es gibt einfachere und effektivere Wege, um ein Liebesabenteuer in die Wege zu leiten.« Er wies auf den Pfotenabdruck. »Und wie sollte jemand, wenn er sich nicht gerade im Besitz der gesamten Hundepfote befindet, das Vieh finden und hierher schaffen, um es dann zu überreden, eine Spur an genau dieser Stelle zu hinterlassen?«

»Ich werde mich umsehen«, erklärte Andulvar und nickte bestätigend.

Während Andulvar die übrigen von Steinmauern umgebenen Gärten untersuchte, starrte Saetan unverwandt auf den Abdruck. Bis zu Andulvars Ankunft hatte er die ständig an ihm nagende Sorge verdrängen können, ja er hatte insgeheim gehofft, der Eyrier würde den Pfotenabdruck mit einem Schulterzucken abtun und eine ganz einfache Erklärung dafür finden. Nun sah es jedoch so aus, als sei Andulvar ebenfalls beunruhigt, und das gefiel Saetan ganz und gar nicht. Versuchte tatsächlich jemand, ein Treffen zu arrangieren? Oder sollte jemand von der Burg fortgelockt werden?

Mit grimmigem Gesicht bedeckte Saetan die Spur mit Erde, bis nichts mehr davon zu sehen war. Dann erhob er sich und streifte sich den Schmutz von den Knien ab. Als er erneut einen Blick auf das Blumenbeet warf, erstarrte er.

Der Pfotenabdruck war genauso tief und deutlich sichtbar wie noch vor einer Minute.

»Andulvar!« Saetan ging in die Knie und breitete ein zweites Mal Erde über den Abdruck.

Als Andulvar herbeigeeilt kam, bewegten sich die jungen Pflanzen im Wind seiner Flügel. Im nächsten Augenblick ließ er sich neben Saetan nieder.

Schweigend beobachteten sie, wie die Erdkrumen von dem Abdruck wegrollten.

Andulvar fluchte heftig. »Er ist mit einem Zauber belegt.«

»Ja«, pflichtete Saetan ihm bei, wobei seine Stimme leise und bedächtig klang. Er benutzte die Kraft, die einem weißen Juwel innewohnte, um den Abdruck zu verdecken. Als die Spur ebenso schnell wieder zum Vorschein kam, ging er zu Gelb über, der nächsttieferen Ebene. Dann versuchte er Tigerauge, Rose und Aquamarin. Als er schließlich bei Purpur angelangt war, war der Abdruck kaum mehr zu sehen.

Mit einer ärgerlichen Handbewegung bediente sich Saetan der Kraft seines roten Geburtsjuwels, um die Spur restlos verschwinden zu lassen.

Sie kehrte nicht zurück.

»Jemand wollte ganz sichergehen, dass dieser Abdruck nicht achtlos entfernt wird.« Saetan wischte sich die Hände am Gras ab.

Andulvar rieb sich mit der Faust übers Kinn. »Halte das Gör davon ab, allein draußen herumzuspazieren – selbst in den hiesigen Gärten. Prothvar und ich sind tagsüber nicht zu viel zu gebrauchen, aber wir werden nachts Wache schieben. «

»Glaubst du, jemand ist töricht genug, sich auf der Burg einzuschleichen?«

»Es sieht so aus, als wäre dies bereits geschehen. Aber das ist es nicht, was mir Sorgen bereitet.« Andulvar wies auf das nun glatte Fleckchen Erde zu ihren Füßen. »Das da ist kein Hund, SaDiablo, sondern ein Wolf. Es fällt mir schwer zu glauben, dass ein Wolf sich aus freiem Antrieb derart nahe an Menschen heranwagen würde, doch selbst wenn er von jemandem kontrolliert wird: Wozu einen Wolf hierher bringen? «

»Als Köder«, erwiderte Saetan, während er mental nach Jaenelle rief. Ihre zerstreute Antwort zeigte ihm, dass sie zu sehr mit ihren Übungen beschäftigt war, um auf den Gedanken zu verfallen, die Burg zu verlassen.

»Und was soll geködert werden?«

Anstatt auf Andulvars Frage einzugehen, streckte Saetan seine mentalen Fühler aus und durchsuchte die Burg und das umliegende Land. Den Südturm nahm er immer noch ein wenig unscharf und verschwommen wahr, was an der langsam nachlassenden Wirkung der Schutzzauber lag, die Helene und Beale gebrochen hatten, als sie beim Ausräumen des Turms auf Hekatahs Geheimzimmer gestoßen waren. Abgesehen davon stieß er erneut auf jenes eigenartige, unruhige Pulsieren in den nördlichen Wäldern.

Saetan tastete die Umgebung noch ein wenig länger ab, bevor er aufgab. Sich Zugang zur Burg zu verschaffen, war nie schwierig gewesen. Wieder herauszukommen war allerdings eine ganz andere Angelegenheit.

»Was soll geködert werden, SaDiablo?«, wollte Andulvar erneut wissen.

»Ein junges Mädchen, das einsam ist und Tiere liebt.«

4 e9783641061937_i0039.jpg Kaeleer

Greer kauerte sich wimmernd in einer Ecke des geheimen Kämmerchens zusammen, als eine dunkle Präsenz suchend und tastend durch das Gemäuer strich.

Er gab sich Mühe, seinen Geist leer zu halten, während die Woge aus dunkler Macht über ihn hinwegging. Vor Sonnenuntergang war es viel zu riskant, um die Flucht zu ergreifen, doch wie sollte er seine Anwesenheit erklären, wenn man ihn hier fand? Greer bezweifelte, dass sich der Höllenfürst mit einer wie auch immer gearteten Erklärung abspeisen lassen würde, nachdem er in der Vergangenheit bereits einmal seinen kleinen Schatz verloren hatte.

Als das mentale Tasten verschwand, streckte Greer seufzend die Beine aus. So sehr er den Höllenfürsten fürchtete, war er doch auch nicht gerade von der Aussicht begeistert, ohne jegliche Informationen zu Hekatah zurückzukehren. Sie würde darauf bestehen, dass er es noch einmal versuchte.

Es musste heute Nacht geschehen. Er würde das Zimmer des Mädchens finden, sich die Kleine ansehen und in die Hölle zurückkehren. Wenn Hekatah dann noch näher an das Mädchen herankommen und eine Konfrontation mit Saetan riskieren wollte, sollte sie das gefälligst selbst tun.

5 e9783641061937_i0040.jpg Kaeleer

Saetan machte sich auf den Weg zu seiner Zimmerflucht, in der Hoffnung, dass ihm etwas einfallen würde, sobald er sich ein wenig ausgeruht hatte. Am frühen Abend hatte er versucht Jaenelle zu überreden, mit einigen ihrer Freunde in Kontakt zu treten. Seine Bemühungen waren alles andere als erfolgreich gewesen, und er hatte im Laufe des Gesprächs viel über die gefühlsmäßige Unbeständigkeit einer heranwachsenden Hexe gelernt.

Da er in Gedanken mit der Frage beschäftigt war, ob er in zukünftigen Auseinandersetzungen auf Sylvia als Verbündete zählen könnte, spürte er die Warnsignale einen Augenblick zu spät.

Eine Flutwelle der Angst und Wut donnerte gegen seine inneren Barrieren und ließ ihn gegen die nächste Wand taumeln. Er hielt seinen Kopf umklammert. Seine Schläfen fühlten sich an, als würden Messer hineingestoßen, und er hatte den Geschmack von Blut im Mund, da er sich auf die Lippe gebissen hatte.

Der Schmerz in seinem Kopf pulsierte gnadenlos, und Saetan sank stöhnend zu Boden, wobei er seine inneren Barrieren instinktiv verstärkte, um sich vor dem nächsten erbarmungslosen Schlag zu schützen.

Als kein weiterer Angriff gegen seinen Geist erfolgte, hob Saetan den Kopf und tastete vorsichtig mental die Umgebung ab. Er starrte die Tür an, die sich gegenüber der Stelle in dem Korridor befand, an der er zusammengekauert saß. »Hexenkind? «

Aus Jaenelles Zimmer drang ein gequälter Schrei.

Saetan richtete sich mühsam auf, stolperte über den Korridor und stürzte in das Zimmer, in dem das gewalttätigste psychische Unwetter tobte, das er je erlebt hatte. Abgesehen von einem starken Wind, unter dem sich die Pflanzen bogen, und der die Vorhänge aufwirbelte, schien das Zimmer unberührt zu sein, doch es fühlte sich an, als sei es voller gewundener Glasstränge, die rissen, als er sich durch den Raum bewegte, und den Geist anstatt des Körpers verletzten.

Mit eingezogenem Kopf und vorgebeugten Schultern zwang sich Saetan, trotz der unerträglichen Schmerzen, die in seinem Schädel herrschten, einen Fuß vor den anderen zu setzen und auf das Bett zuzugehen, in dem Jaenelle sich schreiend hin und her warf.

Als er sie am Arm berührte, entzog sie sich ihm, indem sie sich blitzschnell zur Seite drehte.

Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, warf Saetan sich auf Jaenelle und schlang Arme und Beine um sie. Sie wälzten sich auf dem Bett hin und her, verfingen sich in den Laken, die Jaenelle mit den Fingernägeln zerfetzte, während sie sich in einem fort zur Wehr setzte und dabei gellend schrie. Als es ihr nicht gelang, Arme und Beine freizubekommen, wand sie sich in seinen Armen und verfehlte seine Kehle nur knapp mit den Zähnen.

»Jaenelle!«, brüllte Saetan ihr ins Ohr. »Jaenelle! Ich bin es, Saetan!«

»Neiiiiin!«

Indem Saetan auf die Kraftreserven seiner schwarzen Juwelen zurückgriff, wälzte er sich noch einmal herum, bis Jaenelle unter seinem Körper eingeklemmt war. Dann öffnete er seine inneren Barrieren und sandte ihr die Botschaft, dass sie sich in Sicherheit befand und er bei ihr war. Ihm war klar, dass sie ihn zerstören würde, sollte sie in diesem Augenblick zuschlagen.

Jaenelle strich an seinem verletzlichen Geist vorbei und lag plötzlich still.

Zitternd legte Saetan eine Wange an ihren Kopf. »Ich bin bei dir, Hexenkind. Es war nur ein böser Traum«, flüsterte er. »Du bist in Sicherheit.«

»Ich bin nicht in Sicherheit«, stieß sie stöhnend hervor. »Niemals.«

Er musste die Zähne zusammenbeißen, als auf einmal die ekelerregenden Bilder auf seinen Geist einströmten, von denen sie bis eben noch geträumt haben musste. Er konnte sie alle vor sich sehen, wie Jaenelle sie einst gesehen hatte: Marjane, die an dem Baum hing. Myrol und Rebecca ohne Hände. Dannie und Dannies Bein. Und Rose.

Tränen rannen ihm das Gesicht hinab, während er Jaenelle fest umschlungen hielt und jene schrecklichen Erinnerungen zu den seinen machte. Jetzt endlich begriff er, was sie als Kind hatte ertragen müssen, was man ihr angetan, und weswegen sie niemals Angst vor der Hölle oder den dortigen Bewohnern verspürt hatte. Als die Erinnerungen von ihrem Geist in den seinen übergingen, konnte er das Gebäude, die Zimmer, den Garten und den Baum sehen.

Und er entsann sich, wie der besorgte Char ihn einst wegen einer Brücke aufgesucht hatte, über die verstümmelte Kinder auf die Insel der kindelîn tôt gelangt waren. Eine Brücke, die Jaenelle einst zwischen der Hölle und … Briarwood errichtet hatte. In dem Moment, als er den Namen dachte, konnte er spüren, wie Jaenelle die Augen aufschlug.

Auf einmal war da ein undurchdringlicher Nebelwirbel, der sich jäh teilte und den Blick in den Abgrund freigab. Sämtliche Instinkte ermahnten Saetan zu fliehen und sich der kalten Wut und dem Wahnsinn zu entziehen, die spiralförmig aus der Tiefe emporstiegen.

Doch mit dem Wahnsinn und der Wut waren auch Güte und Magie verwoben. Also wartete er am Rand des Abgrunds auf das, was auch immer von dort emporsteigen würde. Vor seiner Königin würde er nicht davonlaufen.

Der Nebel schloss sich wieder. Saetan konnte Jaenelle nicht erkennen, aber er konnte spüren, wie sie aus dem Abgrund aufstieg; und er erschauderte, als ihr mitternächtliches Grabesflüstern in seinem Geist erklang.

*Briarwood ist ein süßes Gift, gegen das es kein Heilmittel gibt.*

Dann verschwand sie in spiralförmigen Bahnen in der Tiefe, und er war wieder Herr seines Geistes.

Jaenelle bewegte sich. »Saetan?« Sie klang so jung, so zerbrechlich und unsicher.

Er küsste sie auf die Wange. »Ich bin hier, Hexenkind«, stieß er heiser hervor und wiegte sie an seiner Brust. Behutsam streckte er seine mentalen Sinne nach ihr aus, musste jedoch einsehen, dass es unmöglich war, sich der Kunst zu bedienen, bevor der seelische Sturm nicht völlig abgeklungen war.

»Was …«, sagte Jaenelle benommen.

»Du hattest einen Alptraum. Erinnerst du dich nicht mehr?«

Langes Schweigen. »Nein. Um was ging es?«

Er zögerte … und sagte nichts.

Da erklang das Scharren eines Stiefels im Freien hinter der offen stehenden gläsernen Balkontür. Jemand eilte die Treppe hinab, die vom Balkon in den Garten darunter führte.

Saetans Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. Da es sinnlos war, die Identität des Eindringlings mental ertasten zu wollen, riss er hektisch an den Laken, die sich um seine Beine gewickelt hatten, und sprang auf die Balkontür zu. »Prothvar!« Er versuchte eine Kugel Hexenlicht zu erzeugen, um in den Garten hinabzuleuchten, doch Jaenelles mentaler Sturm verschluckte seine magischen Kräfte, und der Lichtblitz, den er zustande brachte, ließ ihn lediglich nachtblind werden.

Am anderen Ende des Gartens erklang ein bösartiges Knurren. Ein Mann schrie auf. Es folgte ein kurzer, heftiger Kampf, und ein blendendes, grelles Knistern, als die Kräfte zweier Juwelen aufeinander losgelassen wurden. Als Nächstes waren eigenartige, unbeholfene Schritte, ein weiteres Knurren und eine Tür zu hören, die zugeschlagen wurde.

Dann herrschte Stille.

Die Schlafzimmertür wurde aufgerissen. Mit entblößten Zähnen wirbelte Saetan herum, als Andulvar in den Raum gestürzt kam, ein eyrisches Kampfschwert in der Hand.

»Bleib bei ihr«, rief Saetan ihm zu. Er rannte die Balkontreppe hinab und griff innerlich nach den Schutzzaubern, welche die Burg versiegeln und jeden daran hindern würden, sie zu verlassen. Im nächsten Augenblick fluchte er. Jene mächtige Flutwelle hatte all seine Zauber zerstört – was hieß, dass der Eindringling einen Weg nach draußen finden konnte, bevor sie ihn gestellt hatten. Und sobald er weit genug vom Wirkungsbereich des Sturms entfernt war, konnte er auf die Winde aufspringen und einfach verschwinden.

»Aber wo hattest du dich versteckt, sodass ich deine Anwesenheit nicht schon früher bemerkt habe?«, knurrte Saetan und knirschte vor Zorn mit den Zähnen. Da landete Prothvar neben ihm im Garten.

Der eyrische Krieger hielt ihm ein zerrissenes schwarzes Seidentuch entgegen. »Das hier habe ich in der Nähe des Südturms gefunden.«

Saetan blickte gebannt auf das Tuch, das Greer getragen hatte, als er das erste Mal in der Burg erschienen war. Die goldenen Augen des Höllenfürsten glitzerten, als er sich dem Südturm zuwandte. »Ich war zu entgegenkommend, was Hekatahs Spielchen und ihre Speichellecker betrifft. Aber dieser Schoßhund von ihr hat einen Fehler zu viel begangen.«

»Hekatah!« Fluchend ließ Prothvar das Tuch zu Boden fallen und wischte sich die Hand an der Hose ab. Dann lächelte er. »Ich glaube nicht, dass ihr Schoßhündchen so heil davongekommen ist, wie es herkam. Beim Südturm wimmelt es nämlich von Wolfsspuren.«

Wolfsspuren. Saetan starrte in Richtung des Südturms. Ein Wolf und Greer. War das Tier der Köder für eine geplante Entführung? Aber es hatte einen Kampf zwischen ihnen gegeben …

Eine Bewegung auf dem Balkon erregte seine Aufmerksamkeit.

Jaenelle blickte auf sie herab. Andulvar hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt und hielt sie dicht an seine linke Seite gepresst. In seiner rechten Hand ruhte immer noch das gewaltige, gefährlich aussehende Kampfschwert.

»Papa, was ist los?«, rief Jaenelle.

Prothvar nickte Saetan kurz zu, bevor er das Tuch verschwinden ließ und in die Schatten trat, um weiter Wache zu halten.

Langsam durchquerte Saetan den Garten und erklomm die Treppenstufen. Innerlich war er verbittert, dass die nachhallende Wirkung des Hexensturms es ihm unmöglich machte, mithilfe der Kunst dafür zu sorgen, dass sonst niemand in ihre Gemächer gelangen konnte.

Andulvar trat zurück, als sich Jaenelle in Saetans Arme warf. Er küsste sie auf den Kopf, und die drei kehrten in das Schlafzimmer zurück.

»Was ist passiert?«, meinte Jaenelle, die zitternd beobachtete, wie Andulvar die Balkontür hinter sich verschloss.

Dass sie fragen musste, verriet mehr als genug über ihren geistigen Zustand. Saetan zögerte. »Es war nichts, Hexenkind«, sagte er schließlich und hielt sie noch fester an sich gedrückt. »Ein unerklärliches Geräusch.« War es etwas gewesen, das sie gesehen oder gespürt hatte, das jene Erinnerungen im Schlaf in ihr auslöste?

Andulvar und Saetan sahen einander kurz an. Der eyrische Kriegerprinz warf einen vielsagenden Blick auf das Bett und anschließend auf die Balkontür.

Saetan nickte kaum merklich. »Hexenkind, dein Bett ist ein wenig in Unordnung. Zu so später Stunde möchte ich keines der Dienstmädchen wecken. Warum schläft du heute Nacht also nicht einfach in meinem Zimmer?«

Jaenelles Kopf fuhr in die Höhe. In ihren Augen lagen Schock und ängstliches Misstrauen. »Ich könnte das Bett doch selber machen.«

»Lieber nicht.«

Er konnte fühlen, wie sie nach seinem Geist griff, und wartete ab. Wenn sie nicht bewusst seine Gedanken durchwühlte, würde sie lediglich seine Besorgnis spüren, ohne den Grund zu erfahren.

Im nächsten Moment zog sie sich wieder zurück und nickte.

Während Saetan sie durch den Flur in seine Zimmerflucht führte und ins Bett steckte, empfand er Erleichterung darüber, dass sie ihm immer noch vertraute. Er erwärmte sich ein Glas Yarbarah, nachdem Andulvar zum Südturm aufgebrochen war, und ließ sich in einem Sessel in der Nähe des Bettes nieder. Erst viel später wurden Jaenelles Atemzüge gleichmäßiger, und er wusste, dass sie eingeschlafen war.

Ein Wolf, dachte er, während er über sie wachte. Freund oder Feind?

Mit geschlossenen Augen rieb Saetan sich die Schläfen. Seine Kopfschmerzen ließen allmählich nach, doch die vergangene Stunde hatte ihn völlig erschöpft. Immer noch sah er jenen Abdruck im Garten vor sich, eine magische Botschaft, die jemand entschlüsseln sollte.

Aber jenes Knurren, das Aufeinanderprallen der Juwelen.

Saetan fuhr kerzengerade in seinem Sessel auf und starrte Jaenelle entgeistert an.

Fleischgewordene Träume. Und nicht alle Träumer waren Menschen gewesen.

Es passte. Wenn es wahr war, passte alles zusammen.

Da Jaenelle keinerlei Anstalten machte, ihre alten Freunde zu besuchen, hatten sie vielleicht damit begonnen, zu ihr zu kommen.

6e9783641061937_i0041.jpg Hölle

Was soll das heißen, sie lebt?«, schrie Hekatah Greer an.

»Es bedeutet exakt das, was ich eben sagte«, erwiderte Greer, während er seinen zerfleischten Arm untersuchte. »Das Mädchen, das er sich auf der Burg hält, ist dieses blasse Miststück, die Enkelin von Alexandra Angelline.«

»Aber du hast sie getötet!«

»Anscheinend hat sie überlebt.«

Unruhig ging Hekatah in dem kleinen schmutzigen Zimmer auf und ab, in dem es kaum Mobiliar gab. Es konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht sein! Sie warf Greer, der in einem Sessel zusammengesunken dasaß, einen Blick zu. »Du hast gesagt, es sei dunkel gewesen, schlechte Sichtverhältnisse. Im Zimmer selbst bist du nie gewesen. Es kann nicht dasselbe Mädchen gewesen sein. Er selbst hat dir berichtet, dass sie eine der kindelîn tôt ist.«

»Er hat sie Jaenelle genannt.« Greer inspizierte seinen Fuß.

Sie riss die Augen auf. »Er hat gelogen.« Wut und Hass verzerrten Hekatahs Gesichtszüge zu einer hässlichen Fratze. »Dieser der Gosse entstiegene Hurensohn hat gelogen

Da entsann sie sich jener furchterregenden geisterhaften Anwesenheit auf der Insel der kindelîn tôt. Wenn die Kleine tatsächlich am Leben war, ließ sie sich immer noch zu der Marionettenkönigin machen, die Hekatah benötigte, um sich die Reiche zu unterwerfen.

Sie strich mit den Fingern über die Oberfläche des zerschrammten Tisches. »Selbst wenn ihr Körper noch lebt, wird sie mir nicht viel nutzen, falls sie keinerlei Macht mehr besitzt. «

Greer, der seinen zerfetzten Arm umschlungen hielt, schluckte den Köder. »Sie ist immer noch mächtig. In dem Zimmer tobte ein heftiger Hexensturm, der begann, bevor der Höllenfürst eintrat. Nur die Dunkelheit weiß, wie er ihn überlebt hat.«

Hekatah runzelte die Stirn. »Was hat er zu jener Stunde in ihrem Schlafgemach zu suchen gehabt?«

Greer zuckte mit den Achseln. »Es klang, als würden sie sich auf dem Bett wälzen, und es war ganz bestimmt kein spielerisches Gerangel.«

Sie starrte Greer an, ohne ihn wirklich zu sehen. Stattdessen sah sie Saetan vor sich, wie er seinen Hunger – jegliche Art von Hunger – heißblütig und gierig an dieser jungen, schwarzblütigen Hexe stillte, die eigentlich ihr hätte gehören sollen. Ein Hüter war immer noch in der Lage, sich diesem Vergnügen hinzugeben. Ein Hüter … dem die Ehre über alles ging. Oh, sollte er ruhig versuchen, den Skandal und die Missbilligung zu ignorieren! Wenn sie mit ihm fertig war, würde ein solcher Feuersturm über ihn hereinbrechen, dass selbst seine treuesten Diener ihn hassen würden.

Doch diese Sache musste sie behutsam angehen, damit Saetan sie nicht – wie jenen Narren Menzar – bis zu ihr zurückverfolgen konnte.

Hekatah betrachtete Greer. Der zerfetzte Unterarmmuskel ließ sich mithilfe eines Mantels verdecken, aber dieser Fuß … Ob man ihn entfernte und mit einer Prothese ersetzte oder das Bein in einem hohen Stiefel versteckte: Der hinkende Gang würde sofort ins Auge springen – wie seine deformierten Hände. Zu schade, dass ausgerechnet ein derart nützlicher Diener körperlich entstellt und von daher viel zu auffällig sein musste. Dennoch es war ihm gelungen, diesen letzten Auftrag zu erfüllen. Ja, seine Verstümmelungen würden sich letzten Endes vielleicht sogar zu ihren Gunsten auswirken.

Sie gestattete sich ein flüchtiges Lächeln, bevor sie ihre traurigste Miene aufsetzte und sich neben Greers Sessel zu Boden sinken ließ. »Mein armer Liebling«, gurrte sie und streichelte mit den Fingerspitzen über seine Wange. »Ich habe mich durch die Intrigen dieses Bastards von viel wichtigeren Sorgen ablenken lassen.«

»Von welchen Sorgen, Priesterin?«, fragte Greer misstrauisch.

»Von dir, Liebling und den grässlichen Wunden, die dir dieses Untier zugefügt hat.« Sie wischte sich über die Augen, als könnten sie immer noch Tränen hervorbringen. »Du weißt, dass es jetzt keine Möglichkeit gibt, diese Wunden zu heilen, nicht wahr, Liebling?«

Greer wandte den Blick ab.

Hekatah beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe einen Plan, um Saetan alles heimzuzahlen.«



»Du wolltest mich sprechen, Höllenfürst?«

In Saetans Augen lag ein Glitzern. Er lehnte an dem Ebenholzschreibtisch in seinem privaten Arbeitszimmer im Dunklen Reich und bedachte die Harpyie der Dea al Mon mit einem Lächeln. »Titian, meine Liebe.« Sein schmeichelnder Tonfall klang wie leises Donnern. »Ich habe einen Auftrag für dich, der, wie ich glaube, ganz nach deinem Geschmack sein wird.«