Kapitel 12
1
Kaeleer
Tersa trug eine Glaskugel und eine gläserne Schüssel, die beide kobaltblau waren. Sie betrat den Garten hinter ihrem Haus, und ihre bloßen Füße versanken in dem knöcheltiefen Schnee. Der Vollmond versteckte sich in den Wolken, ähnlich wie sich ihr die Vision den ganzen Tag über entzogen hatte. Da Tersa schon so viele Jahrhunderte lang inmitten von Visionen lebte, hatte sie eingesehen, dass diese eine nach einer physischen Gestalt verlangte, bevor sie sich offenbaren würde.
Deshalb ließ Tersa ihren Körper das Instrument der Traumlandschaft sein und bediente sich der Kunst, um die Kugel und die Schüssel durch die Luft gleiten zu lassen. Als die beiden Gegenstände die Mitte des Rasens erreicht hatten, sanken sie geräuschlos in den Schnee nieder.
Sie machte einen Schritt darauf zu und blickte dann zu Boden. Der Saum ihres Nachthemds strich über die Schneedecke und brachte sie durcheinander. Das durfte nicht sein. Sie zog es aus und schleuderte es vor die Hintertür, bevor sie auf die Kugel und die Schüssel zuging. Sie hielt inne. Ja. Dies war der richtige Ort, um zu beginnen.
Ein großer Schritt, um den Schnee zwischen ihren bisherigen nachlässigen Fußabdrücken und denjenigen, die von der Vision geführt würden, unberührt zu lassen. Dann setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, die Ferse des einen dicht an die Zehen des anderen gedrückt, und wartete. Da war noch etwas, etwas anderes, das sie tun musste.
Mithilfe der Kunst schliff sie einen Fingernagel und schnitt sich tief genug in den Spann eines jeden Fußes, dass das Blut frei hervorquoll. Dann ging sie das Muster der Vision nach. Sobald die Vision sie zurück zu ihrem ersten Fußabdruck geführt hatte, sprang sie zurück in Richtung der Hintertür, wo ihre schlurfenden Schritte im Schnee vorhin Abdrücke hinterlassen hatten.
Als sie sich umdrehte, um das Muster zu betrachten, rief die noch nicht voll ausgebildete Schwarze Witwe, die ein paar Wochen bei ihr wohnte: »Tersa? Was treibst du zu dieser Nachtzeit da draußen?«
Mit einem Knurren wirbelte Tersa herum und stellte sich der jungen Hexe entgegen.
Einen Augenblick lang sah die Gesellin ihr ins Gesicht. Anschließend holte die Hexe das hingeworfene Nachthemd und riss es in Streifen, die sie Tersa um die Füße wickelte, um das Blut aufzusaugen. Dann trat sie zur Seite.
Hastig lief Tersa die Treppe zu ihrem Schlafzimmer empor. Sie öffnete die Vorhänge und blickte auf den Garten und die Spuren hinab, die sie mit ihrem Blut im Schnee hinterlassen hatte.
Zwei Seiten eines Dreiecks, stark und miteinander verbunden. Der Vater und der Bruder. Die dritte Seite, der Spiegel des Vaters, war von den anderen beiden getrennt und in der Mitte nur noch ganz dünn. Sollte diese Seite völlig zerbrechen, würde sie nie wieder stark genug sein, um das Dreieck zu vervollständigen.
Mondlicht und Schatten füllten den Garten. Die kobaltblaue Kugel und die Schüssel, die in der Mitte des Dreiecks lagen, wurden zu saphirblauen Augen.
»Ja«, flüsterte Tersa. »Die Fäden sind nun an ihrem Platz. Es ist an der Zeit.«
Nachdem Saetan Jaenelles stillschweigende Erlaubnis erhalten hatte,
betrat er ihr Wohnzimmer. Er warf einen Blick in Richtung des
dunklen Schlafzimmers, in dem Kaelas und Ladvarian wach und
ängstlich abwarteten. Bestimmt würde Lucivar bald auf der
Bildfläche erscheinen. In den fünf Monaten, die Lucivar ihr nun
gedient hatte, war er sehr sensibel geworden, was Jaenelles
Stimmungen betraf.
Saetan ließ sich auf dem Kniekissen vor dem gepolsterten Sessel nieder, in dem Jaenelle eingerollt saß. »Schlecht geträumt? «, erkundigte er sich. Im Laufe der letzten paar Wochen hatte es etliche ruhelose Nächte und Alpträume gegeben.
»Ein Traum«, pflichtete sie ihm bei. Dann zögerte sie einen Augenblick lang. »Ich stand vor einer trüben Kristalltür. Was dahinter war, konnte ich nicht erkennen, und ich wusste auch nicht, ob ich es überhaupt sehen wollte. Doch jemand versuchte ständig, mir einen goldenen Schlüssel zu geben, und ich wusste, dass sich die Tür öffnen würde, sobald ich nach dem Schlüssel griff. Dann würde ich erfahren müssen, was dahinter verborgen lag.«
»Hast du den Schlüssel genommen?« Er gab sich Mühe, ruhig und besänftigend zu klingen, obgleich ihm das Herz bis in den Hals schlug.
»Ich bin aufgewacht, bevor ich ihn berühren konnte.« Sie lächelte müde.
Es war das erste Mal, dass sie sich nach dem Erwachen an einen jener Träume erinnern konnte. Er war sich darüber im Klaren, welche Erinnerungen sich hinter jener Kristalltür verbargen; was wiederum bedeutete, dass sie bald über Jaenelles Vergangenheit sprechen mussten. Doch nicht in dieser Nacht. »Möchtest du einen Trank, um besser einschlafen zu können?«
»Nein danke. Es wird schon gehen.«
Er küsste sie auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Im Gang wartete Lucivar auf ihn. »Gibt es ein Problem?«, wollte der Eyrier wissen.
»Eventuell.« Saetan holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Gehen wir hinunter in mein Arbeitszimmer. Es gibt da etwas, worüber wir uns unterhalten sollten.«
2
Kaeleer
Katze!« Lucivar stürzte in die Eingangshalle. Zwar wusste er nicht, weshalb sie es so eilig hatte, doch nach seinem Gespräch mit Saetan letzte Nacht war er nicht gewillt, sie alleine irgendwohin gehen zu lassen.
Glücklicherweise war Beale ebenfalls dagegen, dass die Lady aus der Burg stürmte, ohne jemandem ihr Ziel genannt zu haben.
Als Jaenelle sah, dass die Männer ihr den Weg abschnitten, ließ sie ihrem Ärger so weit freien Lauf, dass die Fenster klirrten. »Bleibt fort von mir! Ich muss gehen.«
»Gut.« Mit beschwichtigend erhobenen Händen näherte Lucivar sich ihr langsam. »Ich begleite dich. Wohin gehen wir?«
Jaenelle fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Nach Halaway. Eben kam eine Nachricht von Sylvia. Etwas stimmt mit Tersa nicht.«
Lucivar und Beale tauschten Blicke aus. Der Butler nickte. Jeden Moment würden Saetan und Mephis von ihrem Treffen mit Lady Zhara, der Königin von Amdarh – Dhemlans Hauptstadt – zurück sein; und Beale würde bis zu ihrer Ankunft in der großen Eingangshalle bleiben.
»Lasst mich gehen!«, jammerte Jaenelle.
Ihr fiel nicht ein, mit Gewalt gegen sie vorzugehen. Der Dunkelheit sei Dank! Es wäre ihr nicht schwer gefallen, den Widerstand der Männer zu brechen; zumal die beiden ohnehin nicht viel Widerstand geleistet hätten.
»Eine Minute noch.« Lucivar musste hart schlucken, als ihre Augen sich verdüsterten. »Du kannst nicht in deinen Strümpfen nach draußen. Es liegt Schnee.«
Jaenelle stieß einen Fluch aus. Lucivar rief ihre Stiefel herbei und reichte sie ihr, während ein atemloser Lakai ihren Wintermantel brachte sowie den wollenen Umhang mit Gürtel und Flügelschlitzen, den Lucivar im Winter anstelle eines Mantels trug.
Eine Minute später flogen sie auf Tersas Haus zu.
Die junge Hexe, die bei Tersa wohnte, riss die Haustür auf, sobald sie gelandet waren. »Im Schlafzimmer«, meinte sie mit besorgter Stimme. »Lady Sylvia ist bei ihr.«
Jaenelle rannte zum Schlafzimmer hinauf, dicht gefolgt von Lucivar.
Bei Jaenelles Anblick sank Sylvia erleichtert gegen die Frisierkommode, doch ihre Züge waren auch weiterhin von großer Sorge geprägt. Lucivar legte den Arm um sie, obgleich ihm die Art, wie sie sich an ihn klammerte, Unbehagen bereitete.
Währenddessen ging Jaenelle um das Bett herum auf Tersa zu, die fieberhaft dabei war, einen kleinen Koffer zu packen. Inmitten der auf dem Bett verstreuten Kleidungsstücke lagen Bücher, Kerzen und ein paar Dinge, von denen Lucivar wusste, dass es sich um Werkzeuge handelte, die nur eine Schwarze Witwe besaß.
»Tersa«, sagte Jaenelle mit ruhiger, gebieterischer Stimme.
Tersa schüttelte den Kopf. »Ich muss ihn finden. Es ist an der Zeit.«
»Wen musst du finden?«
»Den Jungen. Meinen Sohn. Daemon.«
Lucivar blieb das Herz stehen, als er sah, wie Jaenelle erbleichte.
»Daemon.« Ein Schauder durchlief Jaenelle. »Der goldene Schlüssel.«
»Ich muss ihn finden.« In Tersas Stimme schwangen Angst und Wut mit. »Wenn der Schmerz nicht bald aufhört, wird die Qual ihn zerstören.«
Jaenelle zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie Tersas Worte gehört oder verstanden hatte. »Daemon«, flüsterte sie. »Wie konnte ich nur Daemon vergessen?«
»Ich muss zurück nach Terreille. Ich muss ihn finden.«
»Nein«, sagte Jaenelle mit ihrer Mitternachtsstimme. »Ich werde ihn finden.«
Da hielt Tersa in ihren ruhelosen Bewegungen inne. »Ja«, meinte sie langsam, als gäbe sie sich äußerste Mühe, sich etwas ins Gedächtnis zurückzurufen. »Dir würde er vertrauen. Er würde dir aus dem Verzerrten Reich folgen.«
Jaenelle schloss die Augen.
Lucivar lehnte sich gegen die Wand, wobei er immer noch Sylvia hielt. Beim Feuer der Hölle, warum drehte sich das Zimmer um ihn?
Als Jaenelle die Augen wieder aufschlug, gelang es Lucivar nicht, den Blick abzuwenden. So hatte er ihre Augen noch nie gesehen und er hoffte, sie nie wieder so sehen zu müssen. Jaenelle stürmte aus dem Zimmer.
Er überließ Sylvia sich selbst und jagte Jaenelle hinterher, die mit großen Schritten auf das Landenetz am Rand des Dorfes zueilte.
»Katze, die Burg liegt in der entgegengesetzten Richtung.«
Als sie ihm nicht antwortete, versuchte er, sie am Arm zu packen. Der Schild, der sie umgab, war so kalt, dass er sich die Hand daran verbrannte.
Sie ließ das Landenetz hinter sich und ging weiter. Er holte sie ein und hielt sich neben ihr, ohne zu wissen, was er sagen sollte – was er zu sagen wagte.
»Sturer Kerl«, murmelte sie mit Tränen in den Augen. »Ich habe doch gesagt, dass der Kelch Zeit bräuchte um zu heilen. Ich habe dir gesagt, dass du dich an einen sicheren Ort begeben solltest. Warum hast du nicht auf mich gehört? Konntest du nicht dieses eine Mal gehorchen?« Sie blieb stehen.
Lucivar beobachtete, wie sich ihr Kummer langsam in Zorn verwandelte, während sie sich in Richtung der Burg umdrehte.
»Saetan«, zischte sie unheilvoll. »Er war in jener Nacht dort. Er …«
Der Eyrier versuchte nicht, mit ihr Schritt zu halten, als sie zur Burg zurücklief. Stattdessen sandte er Beale eine Warnung auf einem roten Speerfaden. Beale informierte ihn, dass der Höllenfürst soeben eingetroffen sei.
Lucivar konnte nur hoffen, dass sein Vater auf diese Auseinandersetzung vorbereitet war.
3
Kaeleer
Er spürte, wie sie immer näher kam.
Da Saetan zu nervös war, um ruhig zu sitzen, lehnte er sich an die Vorderseite seines Ebenholzschreibtisches, wobei seine Hände die Tischplatte wie Schraubstöcke umklammert hielten.
Er hatte zwei Jahre Zeit gehabt, sich hierauf vorzubereiten, hatte unzählige Stunden damit verbracht, die richtigen Worte zu finden, um den brutalen Akt zu erklären, der sie beinahe das Leben gekostet hätte. Aber irgendwie hatte er nie den richtigen Zeitpunkt erwischt, um es ihr zu sagen. Selbst nach der gestrigen Nacht, als ihm klar geworden war, dass ihre Erinnerungen an die Oberfläche drängten, hatte er das klärende Gespräch aufgeschoben.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Und er war noch immer nicht darauf vorbereitet.
Als er nach Hause zurückgekehrt war, hatte er einen besorgten Beale in der Eingangshalle vorgefunden, der ihm Lucivars Warnung ausgerichtet hatte: »Sie kann sich an Daemon erinnern – und sie ist wütend.«
Er spürte, wie sie die Burg betrat, und hoffte, ihr helfen zu können, sich jenen Erinnerungen bei Tageslicht anstatt, wie bisher, in ihren Träumen zu stellen.
Die Tür seines Arbeitszimmers wurde aus den Angeln gerissen und zersplitterte, als sie an die gegenüberliegende Wand geschleudert wurde. Dunkle Macht ergoss sich in den Raum, ließ Tische zerbersten und riss das Sofa und die Sessel in winzige Stücke.
Angst breitete sich in ihm aus. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass sie die unersetzlichen Gemälde und Skulpturen verschonte.
Doch nichts hätte ihn auf die kalte Wut vorbereiten können, die ihn traf, als Jaenelle schließlich eintrat.
»Verdammt sollst du sein.« Ihre Mitternachtsstimme klang ruhig. Tödlich.
Sie meinte, was sie sagte. Der Böswilligkeit und dem Hass nach zu schließen, die sich in ihren Augen widerspiegelten, verdammte sie ihn wirklich.
»Du herzloser Bastard.«
Sein Geist zog sich bebend zusammen. Es gelang Saetan nicht, auch nur das geringste Geräusch von sich zu geben. Verzweifelt hoffte er, dass ihre Gefühle für ihn ein ausreichendes Gegengewicht zu ihrem Zorn darstellten – doch er wusste, dass dem nicht so war; nicht wenn man Daemon in die Waagschale warf.
Sie kam auf ihn zu und bewegte spielerisch ihre Finger, was seine Aufmerksamkeit auf die messerscharfen Nägel lenkte, die zu fürchten er nun allen Grund hatte.
»Du hast ihn benutzt. Er war ein Freund, und du hast ihn benutzt.«
Saetan knirschte mit den Zähnen. »Es gab keine andere Wahl.«
»Es gab eine Wahl.« Sie schlitzte den Bezug des Sessels vor seinem Schreibtisch auf. »Es gab eine Wahl!«
Der Zorn, der in ihm aufstieg, verdrängte die Furcht. »Dich zu verlieren«, meinte er barsch. »Daneben zu stehen, während dein Körper starb, und dich zu verlieren. Das war keine Alternative für mich, Lady. Für Daemon ebenso wenig.«
»Ihr hättet mich nicht verloren, wenn mein Körper gestorben wäre. Letzten Endes wäre es mir gelungen, den Kristallkelch wieder zusammenzusetzen und …«
»Du bist Hexe und Hexe wird kein kindelîn tôt. Wir hätten dich verloren. Jeden Teil von dir. Er wusste das.«
Das ließ sie einen Moment lang innehalten.
»Ich gab ihm jegliche Kraft, die ich besaß. Er wagte sich zu weit in den Abgrund vor, um dich zu erreichen. Als ich versuchte, ihn zurück nach oben zu ziehen, wehrte er sich, und die Verbindung zwischen uns ist abgerissen.«
»Er hat seinen Kristallkelch zerstört«, sagte Jaenelle mit dumpfer Stimme. »Er hat seinen Geist zerstört. Ich habe ihn wieder zusammengesetzt, doch es war ein solch furchtbar zerbrechliches Gebilde. Als er aus dem Abgrund auftauchte, kann alles Mögliche passiert sein. Zu dem Zeitpunkt hätte schon ein harsches Wort ausgereicht, um den Kelch zu beschädigen. «
»Ich weiß«, erwiderte Saetan gedämpft. »Ich habe Daemon gespürt.«
Erneut füllten sich ihre Augen mit kalter Wut. »Aber du hast ihn dort gelassen, nicht wahr, Saetan?«, sagte sie eine Spur zu sanft. »Die Onkel von Briarwood hatten den Altar erreicht, und du hast einen wehrlosen Mann zurückgelassen, damit er ihnen entgegentritt.«
»Er sollte durch das Tor gehen«, entgegnete Saetan aufgebracht. »Ich weiß nicht, warum er es nicht tat.«
»Natürlich weißt du es.« Ihre Stimme wurde zu einem düsteren Singsang. »Wir beide wissen es. Da man die Kerzen nicht mit einem Zeitzauber belegt hat, um sie zu löschen, musste jemand zurückbleiben. Selbstverständlich fiel diese Pflicht dem Kriegerprinzen zu.«
»Vielleicht hatte er andere Gründe, weswegen er zurückblieb«, erwiderte Saetan bedächtig.
»Vielleicht«, meinte sie ebenso besonnen. »Aber das erklärt nicht, wieso er sich im Verzerrten Reich befindet, oder, Höllenfürst?« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Es erklärt nicht, weshalb du ihn dort gelassen hast.«
»Ich wusste nicht, dass er im Verzerrten Reich ist, bis …« Saetan biss die Zähne zusammen, um die Worte zurückzuhalten.
»Bis Lucivar nach Kaeleer kam«, beendete Jaenelle seinen Satz. Sie machte eine abwehrende Handbewegung, bevor er etwas sagen konnte. »Lucivar war in den Salzminen von Pruul. Ich weiß, dass er nichts hätte tun können. Du allerdings schon.«
Saetan sprach langsam und überdeutlich: »Es war am wichtigsten, dich zurückzuholen. Dieser Aufgabe widmete ich meine gesamten Kräfte. Daemon hätte es verstanden, ja hätte es von mir verlangt.«
»Es ist nun zwei Jahre her, dass ich zurückgekommen bin, und es gibt nichts, das noch an deinen Kräften zehren würde. « Das schmerzliche Gefühl, verraten worden zu sein, blickte ihm aus ihren Augen entgegen. »Aber du hast nicht einmal den Versuch unternommen, ihn zu erreichen, nicht wahr?«
»Doch, ich habe es versucht! Verdammt noch mal, ich habe es versucht!« Er sank matt gegen den Schreibtisch. »Hör auf, dich wie ein borniertes kleines Miststück aufzuführen! Er mag einer deiner Freunde sein, aber abgesehen davon ist er immer noch mein Sohn. Meinst du wirklich, ich hätte nicht versucht, ihm zu helfen?« Erneut stieg das bittere Gefühl des Versagens in ihm hoch. »Ich war so nahe daran, Hexenkind, so nahe. Doch er befand sich ganz knapp außerhalb meiner Reichweite. Und er vertraute mir nicht. Wenn er sich ein wenig Mühe gegeben hätte, dann hätte ich ihm helfen können. Ich hätte ihm den Weg aus dem Verzerrten Reich weisen können; aber er vertraute mir nicht.«
Das Schweigen dehnte sich aus.
»Ich werde ihn zurückholen«, sagte Jaenelle leise.
Saetan richtete sich auf. »Du kannst nicht nach Terreille zurück.«
»Schreib mir nicht vor, was ich kann und was nicht«, fuhr Jaenelle ihn wütend an.
»Hör mir zu, Jaenelle«, meinte er eindringlich. »Du kannst nicht nach Terreille zurück. Sobald Dorothea von deiner Anwesenheit dort Wind bekommt, wird sie alles daran setzen, dich in ihre Gewalt zu bringen und zu zerstören. Außerdem bist du noch immer nicht volljährig. Deine Verwandten auf Chaillot könnten versuchen, das Sorgerecht für dich zurückzuerlangen. «
»Das Risiko gehe ich ein. Ich werde nicht zulassen, dass er weiter leidet.« Sie drehte sich um und marschierte auf die Tür zu.
Saetan holte tief Atem und ließ die Luft langsam wieder entweichen. »Da ich sein Vater bin, kann ich ihn ohne Körperkontakt erreichen.«
»Aber er vertraut dir nicht.«
»Ich kann dir helfen, Jaenelle.«
Als sie den Kopf wandte, um ihm einen Blick zuzuwerfen, sah er eine Fremde vor sich.
»Ich will deine Hilfe nicht, Höllenfürst.«
Dann ging sie von ihm fort, und ihm war bewusst, dass sie mehr tat, als lediglich ein Zimmer zu verlassen.
Alles hat seinen Preis.
Lucivar fand sie ein paar Stunden später im Garten vor, wo sie auf
einer steinernen Bank saß, die Hände so fest zwischen die Knie
geklemmt, dass es wehtun musste. Er ließ sich mit gespreizten
Beinen auf der Bank nieder und setzte sich so nah wie möglich neben
sie, ohne sie dabei zu berühren. »Katze? «, sagte er leise, da er
fürchtete, dass selbst das kleinste Geräusch sie zerbrechen könnte.
»Bitte sprich mit mir.«
»Ich …« Sie erschauderte.
»Du kannst dich erinnern.«
»Ich kann mich erinnern.« Sie stieß ein Lachen aus, das wie ein scharfer Dolch durch die Luft schnitt. »Ich kann mich an alles erinnern. Marjane, Dannie, Rose. Briarwood. Greer. An alles.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Du hast von Briarwood gewusst. Und von Greer.«
Lucivar strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Vielleicht sollte er sich die Haare kurz schneiden lassen, so wie eyrische Krieger sie normalerweise trugen. »Manchmal, wenn du schlecht träumst, sprichst du im Schlaf.«
»Also habt ihr beide davon gewusst. Und nichts gesagt.«
»Was hätten wir denn sagen sollen, Katze?«, fragte Lucivar bedächtig. »Wenn wir jemand anders gezwungen hätten, sich an etwas derart Schreckliches zu erinnern, hättest du uns gehörig den Kopf gewaschen – und mit ein paar Möbelstücken um dich geworfen.«
Der Hauch eines geisterhaften Lächelns huschte über Jaenelles Gesicht. »Stimmt.« Dann erlosch das Lächeln wieder. »Weißt du, was das Schlimmste daran ist? Ich habe ihn vergessen. Daemon war ein Freund, und ich habe ihn vergessen. An jenem Winsol, bevor ich … da hat er mir ein Silberarmband geschenkt. Ich weiß nicht, was damit passiert ist. Außerdem hatte ich ein Bild von ihm. Keine Ahnung, wo das stecken mag! Und dann tat er alles, was in seiner Macht stand, um mir zu helfen, und als es vorbei war, hat ihn jeder im Stich gelassen, als sei er völlig nebensächlich.«
»Wenn du dich an die Vergewaltigung erinnert hättest, als du zum ersten Mal zurückgekommen bist, wärst du dann geblieben? Oder wärst du wieder aus deinem Körper geflohen? «
»Ich weiß es nicht.«
»Wenn Daemon zu vergessen der Preis war, um jene Erinnerungen in Schach zu halten, bis du stark genug warst, dich ihnen zu stellen … Er würde sagen, dass es ein gerechter Preis war.«
»Es ist sehr leicht, Behauptungen darüber aufzustellen, was Daemon sagen würde, solange er nicht hier ist um zu widersprechen, nicht wahr?« Ihr stiegen Tränen in die Augen.
»Du vergisst da etwas, kleine Hexe«, meinte Lucivar scharf. »Er ist mein Bruder, und er ist ein Kriegerprinz. Ich kenne ihn um einiges besser als du.«
Jaenelle rutschte unbehaglich auf der Bank hin und her. »Ich gebe dir nicht die Schuld an dem, was passiert ist. Der Höllenfürst …«
»Bevor du dem Höllenfürsten die ganze Schuld dafür in die Schuhe schiebst, dass Daemon sich im Verzerrten Reich befindet, solltest du auch noch eine Portion für mich übrig behalten.«
Sie wandte sich zu ihm um und bedachte ihn mit einem eiskalten Blick.
Lucivar holte tief Luft. »Er kam, um mich aus Pruul herauszuholen. Ich sollte mit ihm gehen. Doch ich weigerte mich, weil ich dachte, er habe dich umgebracht, er sei derjenige gewesen, der dich vergewaltigt hat.«
»Daemon?«
Lucivar fluchte heftig. »Manchmal ist man einfach unglaublich leichtgläubig und naiv. Du hast ja keine Ahnung, zu was Daemon fähig ist, wenn ihn die kalte Wut erfüllt.«
»Das hast du wirklich geglaubt?«
Er stützte den Kopf in die Hände. »Da war so viel Blut, so viel Schmerz. Es gelang mir nicht, über meine Trauer hinauszublicken und klar genug zu denken, um zu hinterfragen, was man mir erzählt hatte. Und als ich ihn beschuldigte, hat er es nicht abgestritten.«
Jaenelle blickte nachdenklich drein. »Er versuchte mich zu verführen. Genauer gesagt verführte er Hexe. Als wir im Abgrund waren.«
»Er hat was getan?«, wollte Lucivar mit tödlicher Gelassenheit wissen.
»Nun werd nicht gleich böse«, fuhr Jaenelle ihn an. »Es war nur ein Trick, um mich dazu zu bringen, meinen Körper zu heilen. Er wollte mich nicht wirklich. Sie. Er wollte nicht…« Ihre Stimme verlor sich. Jaenelle ließ eine Minute verstreichen, bevor sie fortfuhr: »Er sagte, er habe sein ganzes Leben lang auf Hexe gewartet. Er glaubte, dass er dazu geboren sei, ihr Geliebter zu werden. Doch dann wollte er nicht ihr Geliebter werden.«
»Beim Feuer der Hölle, Katze«, brach es aus Lucivar hervor. »Du warst ein zwölfjähriges Mädchen. Was hast du denn von ihm erwartet?«
»Im Abgrund war ich nicht zwölf.«
Lucivar sah sie mit zusammengekniffenen Augen an und fragte sich, was sie damit meinte.
»Er hat mich angelogen«, flüsterte sie.
»Nein, das hat er nicht. Er meinte alles, was er sagte. Wenn du achtzehn gewesen wärst, ihm den Ring der Hingabe dargeboten und ihn damit zu deinem Gefährten gemacht hättest, hättest du das schnell genug herausgefunden.« Lucivar starrte auf den Garten, den er nur schemenhaft wahrnahm. Er räusperte sich. »Saetan liebt dich, Katze. Und du liebst ihn. Der Höllenfürst tat, was er tun musste, um seine Königin zu retten. Er tat, was jeder andere Kriegerprinz auch getan hätte. Wenn du ihm nicht vergeben kannst, wie sollte es dir dann je gelingen, mir zu verzeihen?«
»Oh, Lucivar!« Schluchzend schlang Jaenelle die Arme um seinen Hals.
Lucivar hielt sie, streichelte sie und fand Trost in der Art und Weise, wie sie ihn fest umklammert hielt. Seine stummen Tränen benetzten ihr Haar. Er weinte um sie, weil die Wunden ihrer Seele frisch geöffnet worden waren; um sich selbst, weil er vielleicht etwas unendlich Wertvolles schon so bald wieder verlor, nachdem er es endlich wiedergefunden hatte; um Saetan, der vielleicht noch mehr verloren hatte. Vor allem aber um Daemon. Um Daemon am allermeisten.
Es dämmerte beinahe, als Jaenelle sich sanft seinen Armen entzog. »Ich muss mit jemandem sprechen. Ich komme später wieder zurück.«
Besorgt musterte Lucivar ihre herabhängenden Schultern und ihr blasses Gesicht. »Wohin …« Vorsicht kämpfte mit seinen Instinkten. Er zauderte.
Um Jaenelles Lippen zuckte ein verständnisvolles Lächeln. »Ich begebe mich nicht in Gefahr, sondern bleibe hier in Kaeleer. Und, nein, Prinz Yaslana, es ist nicht riskant. Ich werde lediglich einen Freund besuchen.«
Er ließ sie ziehen, da ihm nichts anderes übrig blieb.
Saetan starrte ins Leere und versuchte den Schmerz und die
Erinnerungen in Schach zu halten. Wenn er alles über sich
hereinbrechen ließe … konnte er sich nicht sicher sein, ob er es
überleben, ja ob er es überhaupt versuchen würde.
»Saetan?« Jaenelle befand sich nahe der offenen Tür seines Arbeitszimmers.
»Lady.« Protokoll. Der Höflichkeitstitel, der zu benutzen war, wenn sich ein Kriegerprinz an eine Königin gleichen oder dunkleren Ranges wandte. Er hatte das Privileg eingebüßt, sie auf irgendeine andere Art anzusprechen.
Als sie das Zimmer betrat, kam er hinter dem Schreibtisch hervor. Er konnte nicht sitzen, während sie stand, und es war ihm unmöglich, ihr einen Platz anzubieten, da die übrigen Möbelstücke in seinem Arbeitszimmer zerstört worden waren, und er Beale nicht gestattet hatte, sie wegzuräumen.
Zögernd ging Jaenelle mit nervös ineinander verschlungenen Händen auf ihn zu, die Unterlippe zwischen den Zähnen. Sie sah ihn nicht an.
»Ich habe mit Lorn gesprochen.« Ihre Stimme zitterte. Sie blinzelte ununterbrochen. »Er stimmt dir zu, dass ich mich nicht nach Terreille begeben sollte – mit Ausnahme des Bergfrieds. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich einen Schatten meiner selbst erschaffe, der mit den Leuten in Kontakt treten und auf diese Weise nach Daemon suchen kann, während mein Körper im Bergfried in Sicherheit bleibt. Ich werde jeden Monat nur drei Tage lang nach ihm suchen können, weil der Schatten mich körperlich sehr beanspruchen wird. Aber ich kenne jemanden, der mir bestimmt bei der Suche helfen wird.«
»Du musst tun, was du für richtig hältst«, sagte er möglichst neutral.
Sie blickte ihn an, die schönen, uralten, gehetzten Augen voller Tränen. »S-Saetan?«
Bei all ihrer Stärke und Weisheit war sie noch so jung.
Er breitete die Arme aus und öffnete ihr sein Herz.
Heftig zitternd hing sie an ihm.
Sie war der schmerzensreichste, wunderbarste Tanz seines Lebens.
»Saetan, ich …«
Er legte ihr einen Finger an die Lippen. »Nein, Hexenkind«, meinte er mit leisem Bedauern. »So funktioniert Vergebung nicht. Du magst mir vielleicht vergeben wollen, aber es wird dir noch nicht gelingen. Jemandem zu vergeben kann Wochen, Monate, gar Jahre dauern. Manchmal dauert es ein ganzes Leben lang. Bis Daemon wiederhergestellt ist, können wir nur versuchen, freundlich und verständnisvoll miteinander umzugehen und jeden Tag zu nehmen, wie er kommt.« Er genoss das Gefühl, sie fest an sich zu drücken, da er nicht wissen konnte, wann und ob er sie je wieder auf diese Weise in den Armen halten würde. »Komm schon, Hexenkind. Der Morgen ist beinahe schon angebrochen. Du musst dich jetzt hinlegen.«
Er führte sie zu ihrem Schlafzimmer, ohne einzutreten. Als er sicher in seinem Zimmer angelangt war, spürte er die ganze Schwere der Einsamkeit auf seinen Schultern lasten.
Er rollte sich auf dem Bett zusammen, und es gelang ihm nicht, die Tränen zurückzuhalten, die ihm schon die ganze lange, schreckliche Nacht hindurch in den Augen gebrannt hatten. Es würde dauern. Wochen, Monate, vielleicht gar Jahre. Er wusste, dass es Zeit brauchen würde.
Doch bitte, süße Dunkelheit, lass es nicht ein Leben lang dauern!
4
Terreille
Surreal ging die heruntergekommene Straße in Richtung des Marktplatzes entlang, wobei sie hoffte, ihre unnahbare Miene würde ihre verletzliche körperliche Verfassung wettmachen. Sie hätte jenes Hexengebräu nicht verwenden sollen, um letzten Monat ihre Mondzeit zu unterdrücken. Doch die hayllischen Wachen, die Kartane SaDiablo auf sie angesetzt hatte, waren ihr auf den Fersen gewesen, und sie hatte es nicht gewagt, tagelang wehrlos zu sein, während ihr Körper nur den Einsatz der einfachsten Kunst verkraftete.
Sämtliche Männer des Blutes sollten in der Hölle schmoren! Wenn der Körper einer Hexe sie ein paar Tage lang wehrlos machte, wurde jeder einzelne Mann des Blutes zu einem potenziellen Feind. Dabei hatte sie momentan ohnehin genug Feinde, die ihr Sorgen bereiteten.
Nun, sie würde ihre Einkäufe auf dem Markt erledigen und sich anschließend mit ein paar dicken Schmökern in ihre Bleibe zurückziehen, um das Ende ihrer Mondzeit abzuwarten.
Da drang gedämpftes, angstvolles Schreien aus der Gasse vor ihr.
Nachdem Surreal ein Messer mit einer langen Klinge herbeigerufen hatte, schlich sie zur nächsten Straßenecke und lugte in die Gasse.
Vier große, raue hayllische Männer. Und ein Mädchen, das im Grunde noch ein Kind war. Zwei der Männer standen abseits und sahen zu, wie einer ihrer Kameraden das Mädchen festhielt, während der andere sich daran machte, ihr die Kleider vom Leib zu reißen.
Verdammt, verdammt, verdammt! Eine Falle. Es gab keinen anderen Grund, weswegen Hayllier sich in diesem Teil des Reiches, insbesondere in diesem Viertel einer sterbenden Stadt aufhalten sollten. Sie sollte einfach zurück in ihre Räumlichkeiten schleichen. Wenn sie aufpasste, würde man sie vielleicht nicht finden. Gewiss lauerten andere Hayllier an den Orten, wo es Fahrkarten für Kutschen gab, die durch das Netz fuhren. Diese Möglichkeit war ihr also verbaut. Und in ihrer derzeitigen Verfassung ohne den Schutz einer Kutsche zu reisen, war zwar nicht unmöglich, hatte aber doch zu sehr einen selbstmörderischen Beigeschmack.
Doch da war dieses Mädchen. Wenn Surreal nicht einschritt, würde die Kleine unter jenen vier Untieren enden. Selbst wenn sie anschließend von jemandem ›gerettet‹ werden sollte, würde sie von Mann zu Mann weitergereicht werden, bis der permanente Missbrauch oder die Brutalität eines Einzelnen sie das Leben kosten würden.
Surreal holte tief Luft und stürzte sich in die Gasse.
Mit dem Messer fügte sie einem der Männer einen Schnitt von der Achselhöhle bis zum Schlüsselbein zu. Dank einer schnellen Handbewegung, die das Gesicht des Mädchens nur um Haaresbreite verfehlte, gelang es Surreal, dem zweiten Mann eine leichte Wunde an der Brust beizubringen, während sie versuchte, ihm das Mädchen zu entreißen.
Da kamen die anderen beiden Männer auf sie zu.
Geschickt wich Surreal einem Fausthieb aus, der ihren Kopf zerschmettert hätte. Sie rollte sich ab, sprang wieder auf die Beine und lief ein Stück tiefer in die Gasse hinein. Da zu ihrem Erstaunen niemand versuchte, sie aufzuhalten, wirbelte sie herum.
Es handelte sich um eine Sackgasse, und die Hayllier versperrten den einzigen Ausgang.
Surreal blickte das Mädchen voller Mitleid an.
Doch die Kleine richtete sich die Kleidung und eilte mit einem Grinsen aus der Gasse, nachdem ihr einer der unverletzten Männer einen kleinen Beutel mit Münzen überreicht hatte.
Käufliches kleines Luder!
Surreal setzte alles daran, sich der anderen Mädchen zu entsinnen, denen sie in den letzten fünf Jahren zu Hilfe gekommen war. Doch die Erinnerungen linderten das überwältigende Gefühl nicht, verraten worden zu sein. Tja, der Kreis hatte sich geschlossen. Ursprünglich kam sie aus einer dieser stinkenden Gassen und nun würde sie in einer sterben, denn sie hatte nicht vor, sich von Kartane SaDiablo zusammenschnüren und der Hohepriesterin der Hölle als kleine Aufmerksamkeit überreichen zu lassen.
Mit einem boshaften Grinsen kamen die Männer auf sie zu.
»Lasst sie gehen.«
Die ruhige, gespenstische Mitternachtsstimme kam aus ihrem Rücken.
Surreal beobachtete, wie sich Verblüffung, Unbehagen und Furcht in den Augen der Männer abwechselten und sich schließlich zu einem Blick vereinten, der nichts als Schmerz bedeutete.
»Lasst sie gehen«, erklang erneut die Stimme.
»Fahr zur Hölle«, sagte der größte Hayllier und trat einen Schritt vor.
Hinter den Männern erhob sich Nebel, der eine Wand quer durch die Gasse bildete.
»Schneid dem Luder die Kehle durch, damit wir endlich von hier verschwinden können«, riet der Mann mit der Schulterwunde.
»Wenn wir uns schon nicht mit dem Halbblut vergnügen dürfen, wird sich eben die andere Manieren beibringen lassen müssen«, erwiderte der Hüne.
Auf einmal breitete sich dichter Nebel in der ganzen Gasse aus. Augen erschienen, die wie brennende rote Edelsteine aussahen, und ein tiefes Knurren erklang.
Atemlos stieß Surreal einen Schrei aus, als eine Hand sie am linken Arm packte.
»Folge mir«, sagte jene Mitternachtsstimme, die ihr auf unheimliche Weise vertraut war.
Der Nebel wirbelte umher, war jedoch zu dicht, als dass sie die Gestalt hätte erkennen können, die sie mit einer Leichtigkeit durch die Schwaden hindurchlotste, als handele es sich um klares Wasser.
Weiteres Knurren. Dann aufgebrachte, verzweifelte Schreie.
»W-was …«, stammelte Surreal.
»Höllenhunde.«
Rechts von ihr fiel etwas zu Boden, gefolgt von einem schmatzenden Geräusch.
Surreal gab sich Mühe, nicht zu schlucken oder auch nur zu atmen.
Der nächste Schritt führte sie aus dem Nebel, und Surreal stellte erleichtert fest, dass sie sich wieder in der heruntergekommenen Straße befanden.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, wollte die Stimme wissen.
Endlich sah Surreal ihre Begleiterin an. Ihrer ersten Enttäuschung folgte ein Gefühl der Erleichterung. Die Frau war so groß wie sie, und der Körper, der in einem eng anliegenden Hosenanzug steckte, gehörte definitiv nicht dem Kind, an das sie sich erinnerte. Doch das lange Haar der Frau war golden, und die Augen verbarg sie hinter einer dunklen Brille.
Surreal versuchte, sich aus dem Griff der anderen zu lösen. »Ich bin dir dankbar dafür, dass du mir in der Gasse dort hinten aus der Klemme geholfen hast, aber meine Mutter hat mir beigebracht, Fremden nicht zu sagen, wo ich wohne.«
»Wir sind uns nicht fremd, und ich bin mir sicher, dass dies nicht alles ist, was Titian dir beigebracht hat.«
Überrascht wollte Surreal sich erneut losmachen. Die Hand an ihrem Arm packte fester zu. Als Surreal schließlich merkte, dass sie immer noch eine Waffe in der anderen Hand hielt, stach sie mit dem Messer zu und traf die andere Frau am Handgelenk.
Das Messer schnitt durch das Gelenk, als handele es sich lediglich um Luft, und verschwand.
»Was bist du?«, stieß Surreal keuchend hervor.
»Eine Illusion, die man Schatten nennt.«
»Wer bist du?«
»Briarwood ist ein süßes Gift, gegen das es kein Heilmittel gibt.« Die Frau lächelte kalt. »Beantwortet das deine Frage?«
Surreal musterte die Frau und versuchte, eine Spur des Kindes zu entdecken, das sie gekannt hatte. Nach einer Minute sagte sie: »Du bist wirklich Jaenelle, nicht wahr? Oder ein Teil von ihr?«
Jaenelle lächelte verbittert. »Ich bin es wirklich.« Es folgte eine kurze Pause. Dann: »Wir müssen miteinander reden, Surreal. Unter vier Augen.«
Und ob sie miteinander reden mussten! »Zuerst muss ich auf den Markt.«
Einen Augenblick lang drückte die Hand mit den messerscharfen, schwarz gefärbten Nägeln noch fester zu, bevor sie losließ. »Na gut.«
Surreal zögerte. Aus dem Nebel hinter ihnen drangen Knurren und Kaugeräusche. »Musst du das Töten nicht erst noch bis zu Ende durchführen?«
»Das wird nicht nötig sein«, meinte Jaenelle trocken. »Dieser Abschaum stellt keine ernsthafte Bedrohung für mich dar.«
Surreal erbleichte.
Jaenelle presste die Lippen zusammen. »Entschuldige bitte«, setzte sie nach einer Minute an. »Wir alle haben unterschiedliche Gesichter. Die Episode hier hat meine weniger schönen Charakterzüge zum Vorschein gebracht. Niemand wird die Gasse betreten, und niemand wird sie verlassen. Die Harpyien werden bald da sein und sich um den Rest kümmern. «
Kurz darauf kaufte Surreal auf dem Markt von einem Händler Teigtaschen mit Hühnchen und Gemüse, von einem anderen kleine Rinderpasteten, und frisches Obst von einem dritten.
»Ich werde dir einen Heiltrank brauen«, verkündete Jaenelle, nachdem sie in Surreals Bleibe angelangt waren.
Surreal nickte, ohne sich erklären zu können, weshalb Jaenelle sie überhaupt aufgesucht hatte. Dann zog sie sich ins Badezimmer zurück, um sich zu waschen. Als sie zurückkehrte, befanden sich ein zugedeckter Teller und eine Tasse mit einem dampfenden Hexengebräu auf dem Küchentisch.
Nachdem Surreal sich auf einem Stuhl niedergelassen hatte, schlürfte sie den Trank und spürte, wie die Schmerzen in ihrem Unterleib allmählich nachließen. »Wie hast du mich gefunden?«, erkundigte sie sich.
Zum ersten Mal lag so etwas wie Belustigung in Jaenelles Lächeln. »Tja, Süße, da du die Einzige mit grauem Juwel in ganz Terreille bist, bist du nicht allzu schwer zu finden.«
»Ich war mir nicht bewusst, dass man auf diese Weise aufgespürt werden kann.«
»Wer immer dich jagt, ist nicht in der Lage, sich dieser Methode zu bedienen. Dazu muss man ein Juwel tragen, das ebenso dunkel oder dunkler ist als deines.«
»Warum wolltest du mich finden?«, fragte Surreal leise.
»Ich benötige deine Hilfe. Ich bin auf der Suche nach Daemon.«
Surreal starrte ihre Tasse an. »Was er in jener Nacht an Cassandras Altar auch getan haben mag, es geschah, um dir zu helfen. Hat er nicht schon genug gelitten?«
»Zu viel.«
Kummer und Bedauern färbten Jaenelles Stimme. Ihre Augen hätten Surreal gewiss noch mehr verraten. »Musst du diese verfluchte Brille tragen?«, wollte sie unwirsch wissen.
Jaenelle zögerte. »Meine Augen könnten dich beunruhigen. «
»Darauf lasse ich es ankommen.«
Vorsichtig hob Jaenelle die Brille ein Stück.
Jene Augen gehörten einer Person, welche die verzerrtesten Alpträume der Seele am eigenen Leib erfahren und überlebt hatte.
Surreal musste hart schlucken. »Ich verstehe, was du meinst.«
Jaenelle setzte die Brille wieder auf. »Ich kann ihn aus dem Verzerrten Reich holen, aber ich muss die Verbindung durch seinen Körper herstellen.«
Wenn Jaenelle doch nur ein paar Monate früher gekommen wäre!
»Ich weiß nicht, wo er sich aufhält«, antwortete Surreal.
»Aber du kannst nach ihm suchen. Diese Gestalt kann ich nur drei Tage pro Monat annehmen. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, Surreal. Wenn er nicht bald den Weg zurückfindet, wird nichts mehr von ihm übrig sein.«
Verfluchter Mist. Surreal schloss die Augen.
Jaenelle goss den Rest des Heiltranks in Surreals Tasse. »Selbst die Mondzeit einer Hexe mit grauem Juwel sollte ihr nicht derart starke Schmerzen verursachen.«
Surreal rutschte auf dem Stuhl hin und her, wobei sie schmerzhaft zusammenzuckte. »Die letzte Mondzeit habe ich unterdrückt.« Sie legte die Hände um die Tasse. »Daemon hat kurzzeitig bei mir gewohnt. Bis vor ein paar Monaten.«
»Was ist passiert?«
»Kartane SaDiablo ist passiert«, zischte Surreal. Dann lächelte sie. »Dein Zauber oder Netz oder mit was immer du Briarwood belegt hast, hat bei ihm fabelhaft gewirkt. Den Bastard würdest du nicht wiedererkennen.« Sie hielt inne. »Robert Benedict ist übrigens verstorben.«
»Wie bedauerlich«, murmelte Jaenelle mit bissigem Unterton. »Und der werte Dr. Carvay?«
»Lebt noch, mehr oder weniger. Allerdings nicht mehr allzu lange, wie ich hörte.«
»Erzähl mir von Kartane … und Daemon.«
»Im letzten Frühjahr tauchte Daemon in meiner Wohnung auf. Unsere Wege haben sich einige Male gekreuzt seit …«
»Seit der Nacht an Cassandras Altar.«
»Ja. Er ist so, wie Tersa früher war: kommt, bleibt ein paar Tage und verschwindet wieder. Diesmal blieb er. Dann tauchte auf einmal Kartane auf.« Surreal leerte ihre Tasse. »Anscheinend ist er schon seit geraumer Zeit hinter Daemon her, aber im Gegensatz zu Dorothea hat er eine genauere Vorstellung davon, wo er nach ihm suchen muss. Er fing an von Daemon zu verlangen, er solle ihm helfen, etwas gegen den schrecklichen Bann zu unternehmen, mit dem er belegt worden sei. Als hätte er nichts getan, um dieses Schicksal zu verdienen! Sobald ihm klar wurde, dass Daemon sich im Verzerrten Reich verlaufen hatte und ihm folglich nichts nutzen würde, richtete Kartane seine Aufmerksamkeit auf mich – und bemerkte meine Ohren. In dem Augenblick, als ihm klar wurde, dass ich das Kind von Titian und ihm war, bekam Daemon einen Wutanfall und warf ihn hinaus. Wahrscheinlich war er der Meinung, dass sich nicht genug Hilfe damit erkaufen ließe, Sadi zu Dorothea zu bringen. Seine Verhandlungsbasis wäre jedoch um einiges besser, wenn er ihr seinen einzigen Nachwuchs bringen würde. Eine Nachkommin, welche die Blutlinie fortsetzen könnte, wäre ein starker Anreiz – selbst wenn es sich um einen Mischling handelt. Daemon bestand darauf, dass wir sofort verschwinden sollten, da Kartane nach Einbruch der Dunkelheit mit Bewaffneten zurückkehren würde. Dem war auch so. Bevor Daemon und ich auf die Winde aufsprangen und davoneilten, hatten wir uns auf eine Stadt in einem anderen Territorium geeinigt. Er war dicht hinter mir, doch auf einmal war er verschwunden. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Und du befindest dich seitdem auf der Flucht.«
»Genau.« Sie fühlte sich so müde, wollte sich am liebsten in einem Buch verlieren oder einfach nur schlafen. Doch das war jetzt zu riskant. Die übrigen hayllischen Wachen würden sich bald fragen, wo jene vier Männer steckten, und sich auf die Suche nach ihnen begeben.
»Iss, Surreal.«
Surreal biss in die Teigtasche und wunderte sich, dass sie den Heiltrank überhaupt nicht mental überprüft hatte, bevor sie ihn zu sich genommen hatte. Und warum war ihr dieser Umstand noch dazu so gleichgültig?
Jaenelle sah sich im Schlafzimmer um und musterte anschließend das abgewetzte Sofa im Wohnbereich. »Möchtest du dich ins Bett legen oder es dir hier gemütlich machen?«
»Geht nicht«, murmelte Surreal. Sie ärgerte sich darüber, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Doch, es geht.« Jaenelle holte Steppdecken und Kissen aus dem Schlafzimmer und verwandelte das Sofa in ein einladendes Nest. »Ich kann noch zwei Tage bleiben. Niemand wird dich stören, solange ich hier bin.«
»Ich werde dir helfen, ihn zu finden«, sagte Surreal, während sie sich in die Kissen kuschelte.
»Das weiß ich.« Jaenelle schenkte ihr ein trockenes Lächeln. »Du bist Titians Tochter. Ich hätte nichts anderes von dir erwartet.«
»Ich weiß nicht recht, ob es gut ist, derart vorhersehbar zu sein«, murrte Surreal.
Nachdem Jaenelle ihr eine weitere Tasse des Tranks zubereitet hatte, ließ sie Surreal einen von zwei Romanen aussuchen und machte es sich mit dem anderen in einem Sessel gemütlich.
Surreal trank das Gebräu und las die erste Seite des Romans zweimal, bevor sie aufgab. Immer, wenn sie Jaenelle ansah, schwirrten ihr unzählige Fragen durch den Kopf.
Doch im Grunde wollte sie zu keiner einzigen davon die Antwort hören.
In diesem Augenblick reichte es ihr, dass Jaenelle Daemon aus dem Verzerrten Reich holen würde, sobald sie ihn fanden.
In diesem Augenblick reichte es ihr, sich endlich einmal sicher zu fühlen.