Kapitel 14
1
Kaeleer
Saetan hielt sich an der Steinmauer fest, da ihn die doppelte Welle des Zorns, die den Bergfried erschütterte, beinahe das Gleichgewicht gekostet hätte.
»Mutter der Nacht«, murmelte er. »Weshalb streiten sie sich nun schon wieder?« Als er seine mentalen Fühler nach Lucivar ausstreckte, stieß er gegen eine Wand aus Wut.
Er lief los.
In der Nähe des Gangs, der zu Jaenelles Zimmerflucht führte, verlangsamte er seine Schritte und hielt sich mit einer Hand die Seite. Er fluchte leise vor sich hin, da er zu atemlos war, um zu brüllen. Seine Stimme hätte sowieso kaum einen Unterschied gemacht, dachte er verärgert. Was auch immer den Wutausbruch seiner Kinder hervorgerufen hatte, hatte definitiv keinerlei Auswirkungen auf ihre Lungen gehabt.
»Aus dem Weg, Lucivar!«
»Erst wenn die Sonne in der Hölle scheint!«
»Zur Hölle mit deinen Flügeln, du hast kein Recht, dich einzumischen.«
»Ich diene dir. Das gibt mir das Recht, alles und jeden in Frage zu stellen, der dein Wohlergehen bedroht. Einschließlich deiner Wenigkeit!«
»Wenn du mir dienst, dann gehorch mir gefälligst. Aus dem Weg!«
»Das erste Gesetz ist nicht Gehorsam …«
»Wage es ja nicht, mir die Gesetze des Blutes vorzubeten!«
»… und selbst wenn es das wäre, würde ich nicht ruhig mit ansehen, wie du das tust. Es ist der reinste Selbstmord!«
Saetan bog um die Ecke, stürmte die kleine Treppe empor und strauchelte auf der obersten Stufe.
In dem schwach erleuchteten Gang wirkte Lucivar wie eine Gestalt aus einem der Märchen, die Landen ihren Kindern erzählten: schwarze, weit ausgebreitete Flügel, die mit der Dunkelheit verschmolzen, gefletschte Zähne und goldene Augen, in denen die Kampfeslust loderte. Nicht einmal das Blut, das ihm aus einer oberflächlichen Schnittwunde am linken Oberarm tropfte, ließ ihn wie einen Mann aussehen, der zu den Lebenden gehörte.
Im Gegensatz dazu sah Jaenelle schrecklich real aus. Das kurze schwarze Nachthemd enthüllte zu viel des Körpers, den sie der Kraft geopfert hatte, die in ihr brannte, während sie vor einer Woche die Landen in dem Dorf geheilt hatte. Wenn man vorsichtig war, litt der Körper nicht derart extrem unter solchen Strapazen, nicht einmal, wenn er den schwarzen Juwelen als Instrument diente.
Die achtlose Haltung, die sie ihrem eigenen Körper gegenüber an den Tag legte, regte ihn auf. Als er sah, wie ihre Hand mit dem eyrischen Jagdmesser zitterte, mit dem sie noch vor einem Monat problemlos umgegangen war, gab er dem Zorn nach, der in ihm aufwallte. »Lady!«, meinte er schroff.
Jaenelle wirbelte zu ihm herum, wobei es ihr offensichtlich schwer fiel, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Auch ihre Augen loderten kampfeslustig.
»Man hat Daemon gefunden.«
Mit verschränkten Armen lehnte sich Saetan an die Wand und ging nicht auf den herausfordernden Unterton in ihrer Stimme ein. »Du hast also vor, deine Kraft mithilfe eines bereits geschwächten Körpers zu kanalisieren, um den Schatten zu erschaffen, mit dem du bereits ganz Terreille durchforstet hast, deinen Schatten an den Ort zu schicken, an dem sich Daemons Körper befindet, durch das Verzerrte Reich zu streifen, bis du Daemons Geist gefunden hast, und ihn anschließend zurückzuführen.«
»Ja«, entgegnete sie mit viel zu ruhiger Stimme. »Genau das habe ich vor.«
Lucivar schlug seitlich mit der Faust gegen die Wand. »Es ist zu viel. Du hast noch nicht einmal angefangen, dich von den Strapazen des Heilens zu erholen. Diese Freundin von dir soll ihn ein paar Wochen bei sich behalten.«
»Man kann jemanden, der sich in das Verzerrte Reich verirrt hat, nicht einfach ›bei sich behalten‹«, fuhr Jaenelle ihn aufgebracht an. »Leute, die sich im Verzerrten Reich befinden, leben nicht in unserer Welt und sind nicht in der Lage, die Wirklichkeit so wahrzunehmen, wie jeder andere es tut. Sollte ihn etwas erschrecken, sodass er meiner Freundin entschlüpft, könnte es Wochen oder gar Monate dauern, bis sie ihn wiederfände. Bis dahin ist es vielleicht zu spät. Ihm läuft die Zeit davon!«
»Dann soll sie ihn zum Bergfried in Terreille bringen«, schlug Lucivar vor. »Dort können wir ihn festhalten, bis du wieder stark genug bist, um ihn zu heilen.«
»Er ist wahnsinnig, nicht zerbrochen, und trägt immer noch Schwarz. Wenn jemand versuchte, dich ›festzuhalten‹, welche Erinnerungen riefe das in dir wach?«
»Sie hat Recht, Lucivar«, meinte Saetan ruhig. »Wenn er glaubt, dass diese Freundin ihn in eine Falle gelockt hat, wird das wenige Vertrauen zerstört, das er in sie setzt; ganz egal, was ihre wahren Beweggründe sein mögen. Und ein weiteres Mal wird sie ihn gewiss nicht finden. Zumindest nicht, solange es noch etwas zu finden gibt, das der Mühe wert wäre.«
Erneut schlug Lucivar mit der Faust gegen die Wand. Immer wieder hieb er auf das Gestein ein, während er leise vor sich hin fluchte. Schließlich massierte er sich die Handkante. »Dann gehe ich nach Terreille zurück und hole ihn.«
»Weshalb sollte er dir vertrauen?«, meinte Jaenelle verbittert.
In Lucivars Augen stand sein Schmerz geschrieben.
Saetan konnte fühlen, wie sich Jaenelles innere Barrieren einen Spaltbreit öffneten. Er dachte nicht lang nach. In dem Augenblick, als sie zwischen ihrem Zorn und ihrem Mitgefühl Lucivar gegenüber hin- und hergerissen war, tauchte er kurz durch die Lücke, um ihre Gefühlslage zu erspüren.
So, so. Sie ging also davon aus, sie zwingen zu können, ihren Wünschen nachzugeben. Sie glaubte, dass sie im Grunde eine Waffe in der Hand hielt, der sie sich nicht widersetzen konnten.
Sie hatte Recht.
Doch jetzt befand er sich in derselben Situation.
»Lass sie gehen, Lucivar«, erklang Saetans besänftigender Singsang. Seine Stimme war ein leises, gedämpftes Donnergrollen. Immer noch mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt, verbeugte er sich spöttisch. »Die Lady hat uns in der Hand, und sie weiß es.«
Mit grimmiger Zufriedenheit beobachtete er, wie ihm aus Jaenelles Augen Argwohn entgegenschlug.
Sie warf beiden einen raschen Blick zu. »Ihr werdet mich nicht aufhalten?«
»Nein, wir werden dich nicht aufhalten.« Saetan lächelte boshaft. »Jedenfalls dann nicht, wenn du einwilligst, den Preis für unser ergebenes Einlenken zu bezahlen. Solltest du dich weigern, kommst du nur über unsere Leichen von hier fort.«
Welch eine hübsche Falle, welch süßer Köder!
Er hatte sie verwirrt. Endlich war es ihm gelungen, sie aus der Fassung zu bringen. Gleich würde sie herausfinden, wie raffiniert er sie in ein Netz einspinnen konnte.
»Was ist euer Preis?«, fragte Jaenelle widerstrebend.
Gelassen musterte er sie von Kopf bis Fuß. »Dein Körper.«
Sie ließ das Messer fallen.
Wahrscheinlich hätte es sich in ihren Fuß gebohrt, hätte Lucivar es nicht mitten in der Luft verschwinden lassen.
»Dein Körper, Mylady«, sagte Saetan sanft. »Wir wollen den Körper, den du mit solcher Geringschätzung behandelst. Da du ihn offensichtlich nicht haben willst, nehme ich ihn für denjenigen in Verwahrung, der letzten Endes Anspruch darauf hat.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jaenelle ihn entgeistert an. »Du möchtest, dass ich meinen Körper verlasse? Wie … wie damals?«
»Verlassen?« Seine Stimme klang seidenweich und gefährlich. »Nein, du brauchst ihn nicht zu verlassen. Ich bin mir sicher, dass der Anwärter darauf nichts dagegen hätte, ihn dir für immer zu borgen. Doch es wäre nur eine Leihgabe – verstehst du? –, und du müsstest mit dem Körper genauso pfleglich umgehen wie mit jeder anderen Sache, die dir ein Freund geliehen hat.«
Sie musterte ihn lange. »Und wenn ich nicht pfleglich damit umgehe? Was machst du dann?«
Saetan stieß sich von der Wand ab.
Jaenelle zuckte zusammen, doch sie hielt seinem Blick stand.
»Nichts«, antwortete er eine Spur zu sanft. »Ich werde mich nicht mit dir streiten. Ich werde keine körperliche Gewalt oder die Kunst anwenden, um dich zu zwingen. Ich werde nichts tun, als deine Vergehen aufzunotieren. Ich werde niemals eine Erklärung von dir verlangen, aber auch niemals etwas für dich erklären. Du kannst eines Tages versuchen Daemon zu erklären, weshalb du derart schlechten Gebrauch von etwas gemacht hast, für das er so teuer bezahlt hat.«
Jaenelle wurde kreidebleich. Saetan fing sie auf, als sie zu taumeln anfing, und hielt sie an die Brust gepresst.
»Herzloser Bastard«, flüsterte sie.
»Mag sein«, entgegnete er. »Wie lautet also deine Antwort, Lady?«
*Jaenelle! Du hast es versprochen!*
Jaenelle sprang aus seinen Armen, wobei sie das Gleichgewicht verlor und gegen die Korridorwand fiel. Ihre schuldbewusste Miene ließ arglistige Freude in Saetan aufkeimen. Als er sah, dass Lucivar sich ihr von der anderen Seite näherte, wandte er seine Aufmerksamkeit dem verärgerten, mittlerweile halb herangewachsenen Sceltie und der schweigsamen, jedoch gleichermaßen erzürnten arcerianischen Katze zu. Letztere wog mittlerweile genauso viel wie Lucivar, obgleich sie noch fünf Jahre vor sich hatte, in denen sie weiter wachsen würde.
»Was hat die Lady versprochen?«, fragte er Ladvarian.
*Du hast versprochen zu essen und zu schlafen und Bücher zu lesen und kurze Spaziergänge zu machen, bis du wieder ganz gesund bist*, meinte Ladvarian vorwurfsvoll, den Blick unverwandt auf Jaenelle gerichtet.
»Das habe ich getan.«, stammelte Jaenelle.
*Du hast mit Lucivar gespielt!*
Lucivar löste sich von der Wand, um den Tieren seinen linken Arm zu präsentieren. »Sie hat sogar mit mir gerauft.«
Ladvarian und Kaelas knurrten Jaenelle zornig an.
»Das hier ist etwas anderes«, stieß sie hervor. »Es ist wichtig. Und Lucivar und ich haben miteinander gekämpft.«
»Ja«, pflichtete Lucivar ihr düster bei. »Und alles nur, weil ich dachte, sie sollte sich ausruhen, anstatt sich so sehr anzustrengen, dass sie einen Zusammenbruch erleidet.«
Das Knurren wurde lauter.
*Pfui, Lady!*, meinte Saetan, der einen schwarzen Faden benutzte, um ihre Unterhaltung vor den anderen abzuschirmen. *Ein Versprechen zu brechen, dass du deinen kleinen Geschwistern gegeben hast! Möchtest du nun meinen Bedingungen zustimmen, oder sollen wir alle dich noch ein bisschen länger anknurren?*
Ihr giftiger Blick beantwortete seine Frage nicht nur, sondern ließ auch darauf schließen, wie häufig sie bei derartigen Diskussionen den Kürzeren zog, sobald Ladvarian und damit auch Kaelas sich etwas in den pelzigen Kopf gesetzt hatten.
»Meine Brüder.« Saetan neigte den Kopf höflich in Richtung der beiden Tiere. »Die Lady würde ein Versprechen niemals ohne triftigen Grund brechen. Trotz der damit einhergehenden Risiken für ihr eigenes Wohlbefinden hat sie sich zu einer heiklen Aufgabe verpflichtet, die unter keinen Umständen verschoben werden kann. Da dieses Versprechen gegeben wurde, bevor sie euch etwas gelobte, müssen wir uns den Wünschen der Lady fügen. Wie sie schon sagte, es ist wichtig.«
*Was ist wichtiger als die Lady?*, wollte Ladvarian wissen.
Saetan blieb eine Antwort schuldig.
Jaenelle wand sich. »Mein … Gefährte … ist im Verzerrten Reich gefangen. Wenn ich ihm nicht den Weg nach draußen zeige, wird er sterben.«
*Gefährte?* Ladvarian spitzte die Ohren. Er wedelte kurz mit dem Schwanz, der eine weiße Spitze besaß, und blickte Saetan an. *Jaenelle hat ein Männchen?*
Der Höllenfürst fand es interessant, dass der Sceltie erst seine Bestätigung einholte. Diesen Umstand sollte er für die Zukunft im Hinterkopf behalten.
»Ja, das hat sie.« Saetan nickte bestätigend.
»Nicht mehr lange, wenn ihr mich noch weiter aufhaltet«, warnte Jaenelle.
Alle traten höflich beiseite und sahen ihr nach, wie sie quälend langsam durch den Gang wanderte.
Saetan zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie mithilfe der Kunst schweben würde, sobald sie außer Sichtweite war. Körperlich würde es sie noch mehr beanspruchen, doch sie würde schneller den Dunklen Altar erreichen, der sich im Schwarzen Askavi befand. Und solange sie sich nicht von jemandem tragen ließ, war dies ihre einzige Möglichkeit, das Tor zu erreichen, das sie zum Bergfried in Terreille brächte.
Nachdem Ladvarian und Kaelas losgetrottet waren, um Draca vom Männchen der Lady zu erzählen, wandte Saetan sich an Lucivar: »Komm in den Arbeitsraum der Heilkunst. Ich kümmere mich um deinen Arm.«
Lucivar zuckte mit den Schultern. »Es hat längst aufgehört zu bluten.«
»Junge, ich kenne den eyrischen Drill so gut wie du. Wunden werden gereinigt und geheilt.« *Außerdem möchte ich in einem abgeschirmten Zimmer mit dir sprechen, fern von pelzigen Ohren.*
»Meinst du, sie wird es schaffen?«, erkundigte sich Lucivar ein paar Minuten später, während er zusah, wie Saetan die oberflächliche Schnittwunde säuberte.
»Sie verfügt über die nötige Stärke, das Wissen und das Verlangen. Sie wird ihn aus dem Verzerrten Reich holen.«
Das war es nicht, was Lucivar gemeint hatte, und sie wussten es beide.
»Warum hast du sie nicht aufgehalten? Warum gestattest du ihr, ihr Leben aufs Spiel zu setzen?«
Saetan beugte den Kopf und wich Lucivars Blick aus. »Weil sie ihn liebt. Weil er wirklich ihr Gefährte ist.«
Eine Minute lang schwieg Lucivar. Dann stieß er einen Seufzer aus. »Er hat immer gesagt, er sei dazu geboren, der Geliebte von Hexe zu sein. Sieht aus, als hätte er Recht gehabt. «
2
Terreille
Surreal beobachtete, wie Daemon in der Mitte des überwucherten Irrgartens umherschlich, und fragte sich, wie lange sie noch in der Lage sein würde, ihn hier zu behalten.
Er traute ihr nicht. Sie konnte ihm nicht trauen.
Sie hatte ihn etwa eine Meile vor der Ruine von Burg SaDiablo gefunden, wo er stumm geweint hatte, während er zusah, wie ein Haus abbrannte. Nach dem Haus oder den zwanzig kürzlich niedergemetzelten hayllischen Wachen hatte sie ihn nicht gefragt; ebenso wenig danach, weshalb er ohne Unterlass Tersas Namen vor sich hin flüsterte.
Stattdessen hatte sie ihn bei der Hand genommen, war auf die Winde aufgesprungen und hatte ihn hierher gebracht. Wer immer dieses Anwesen einst besessen haben mochte, hatte es entweder freiwillig verlassen oder war vertrieben oder umgebracht worden, als das Territorium Dhemlan im Reich von Terreille sich schließlich Haylls Herrschaft unterworfen hatte. Jetzt benutzten hayllische Wachen das Herrenhaus als Kaserne für die Truppen, die den Dhemlanern beibrachten, welche Strafen auf Ungehorsam standen.
Daemon hatte unbeteiligt zugesehen, wie sie mithilfe von Illusionszaubern die Lücken in den Hecken gefüllt hatte, die ansonsten in die Mitte des Irrgartens führten. Er hatte nichts gesagt, als sie einen doppelten grauen Schild um ihr Versteck legte.
Sein passiver Gehorsam war jedoch dahingeschmolzen, als sie das kleine Netz herbeirief, das sie von Jaenelle hatte, und vier Blutstropfen in die Mitte gab, um es zu aktivieren und in ein Signalfeuer zu verwandeln.
Seitdem strich er unruhig umher, und jenes vertraute kalte, brutale Lächeln umspielte seine Lippen, während sie wartete. Und wartete. Und wartete.
»Warum rufst du nicht deine Freunde, meine kleine Kopfgeldjägerin? «, sagte Daemon, als er an der Stelle vorbeiglitt, wo sie an die Hecke gelehnt saß. »Möchtest du dir nicht deine Belohnung verdienen?«
»Es gibt keine Belohnung, Daemon. Wir warten auf eine Freundin.«
»Natürlich tun wir das«, erwiderte er eine Spur zu sanft und machte eine weitere Runde um die Mitte des Labyrinths. Dann blieb er stehen und sah sie an, eiskaltes Feuer in den glasigen goldenen Augen. »Sie mochte dich, und sie hat mich gebeten, dir zu helfen. Erinnerst du dich daran?«
»Wer, Daemon?«, fragte Surreal leise.
»Tersa.« Seine Stimme versagte. »Sie brannten das Haus nieder, in dem Tersa einst mit ihrem kleinen Jungen lebte. Sie hatte einen Sohn. Wusstest du das?«
Beim Feuer der Hölle und der Mutter der Nacht, möge die Dunkelheit Erbarmen haben! »Nein, das wusste ich nicht.«
Daemon nickte. »Doch dieses Luder Dorothea hat ihn ihr weggenommen, und Tersa ging weit, weit fort. Und dann legte das Luder dem kleinen Jungen einen Ring des Gehorsams um und ließ ihn zum Lustsklaven ausbilden. Nahm ihn in ihr Bett und …« Daemon erschauderte. »Du bist Blut von ihrem Blut.«
Surreal rappelte sich auf. »Daemon, ich bin nicht wie Dorothea! Ich erkenne sie nicht als meine Verwandte an.«
»Lügnerin«, knurrte er mit gefletschten Zähnen. Er kam einen Schritt auf sie zu und schnalzte dabei mit dem rechten Daumen gegen den eingerissenen Nagel seines Ringfingers. »Seidene, bei Hof abgerichtete Lügnerin.« Noch ein Schritt.
Als er die rechte Hand hob, sah Surreal einen winzigen glänzenden Tropfen von dem spitzen Nagel perlen, der sich unterhalb des normalen Fingernagels befand.
Sie hechtete nach links und rief ihren Dolch herbei.
Im nächsten Moment hatte er sich bereits auf sie gestürzt.
Surreal stieß einen Schrei aus, als er ihr das rechte Handgelenk brach. Sie schrie abermals, als er ihre beiden Handgelenke mit der Linken packte und die Knochen zusammendrückte.
»Daemon«, stieß sie atemlos hervor. Sie geriet in Panik, als sich seine rechte Hand um ihren Hals schloss.
»Daemon.«
Surreal musste beim Klang der vertrauten Mitternachtsstimme ein erleichtertes Schluchzen unterdrücken.
Hoffnung und blankes Entsetzen spiegelten sich in Daemons Augen wider, als er langsam den Kopf hob. »Bitte«, flüsterte er. »Ich wollte dir nie … Bitte.« Er warf den Kopf in den Nacken, stieß einen herzzerreißenden Schrei aus und brach bewusstlos zusammen.
Mithilfe der Kunst schob Surreal ihn von sich. Anschließend setzte sie sich auf und wiegte ihr gebrochenes Handgelenk behutsam in der anderen Hand. Ihr war schwindlig und schlecht, und sie schloss die Augen. Sie konnte spüren, wie Jaenelle herankam. »Mir ist schon klar, dass deine Ankunft weniger spektakulär gewesen wäre, wenn du ein paar Sekunden früher eingetroffen wärst, aber ich hätte es durchaus zu schätzen gewusst.«
»Zeig mir dein Handgelenk.«
Surreal blickte zu ihr empor und stieß ein Keuchen aus. »Beim Feuer der Hölle, was ist denn mit dir passiert?«
Immer wenn Jaenelles ›Schatten‹ bisher bei Surreal aufgetaucht war, um nach Daemon zu suchen, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, dass es sich nicht um eine lebendige Frau handelte; es sei denn, man versuchte, sie zu berühren. Doch niemand würde dieses durchsichtige, aufgezehrte Wesen für etwas halten, das in den Reichen der Lebenden zu Hause war. Doch in den saphirblauen Augen brannte immer noch jenes uralte Feuer, und die schwarzen Juwelen glühten vor unverbrauchter Energie.
Jaenelle schüttelte nur den Kopf, als sie die Hände um Surreals verletztes Gelenk legte. Betäubende Kälte schoss in die Knochen, gefolgt von stetig zunehmender Wärme. Sie konnte fühlen, wie die Knochen bewegt wurden und sich wieder aneinander fügten.
Wieder und wieder verblassten Jaenelles durchsichtige Hände, um gleich darauf erneut zu erscheinen. Einen Augenblick lang verschwand sie völlig, und ihre schwarzen Juwelen schwebten in der Luft, als warteten sie auf ihre Rückkehr.
Als sie endlich erschien, waren ihre Augen voller Schmerz, und sie schnappte verzweifelt nach Luft.
»Ich … breche zusammen«, stieß Jaenelle keuchend hervor. »Nicht jetzt. Noch nicht!« Ihr durchsichtiger Körper zog sich wie von Krämpfen geschüttelt zusammen. »Surreal, ich kann dein Gelenk nicht ganz heilen. Die Knochen sind gerichtet, aber …« Ein verziertes Lederarmband schwebte in der Luft. Jaenelle zog es über Surreals Handgelenk und ließ den Verschluss einrasten. »Das wird die Knochen stützen, bis alles verheilt ist.«
Mit dem linken Zeigefinger fuhr Surreal den aufgeprägten Hirschkopf nach, um den sich ein Kranz blühender Reben rankte – der gleiche Hirsch, der das Wappentier von Titians Volk war, den Dea al Mon.
Bevor Surreal Jaenelle nach dem Armband fragen konnte, fiel ganz in der Nähe etwas Schweres zu Boden. Ein Mann fluchte leise.
»Mutter der Nacht, die Wachen haben uns gehört!« Surreal stand auf, indem sie sich mit dem linken Arm aufstützte. »Bringen wir ihn fort von hier und …«
»Ich kann hier nicht weg, Surreal«, meinte Jaenelle leise. »Ich muss tun, weswegen ich hergekommen bin … solange ich dazu noch in der Lage bin.«
Die schwarzen Juwelen loderten auf, und Surreal spürte, wie sich flüssige Dunkelheit in den Irrgarten ergoss.
Jaenelle rang sich ein Lächeln ab. »Sie werden keinen Weg durch das Labyrinth finden. Jedenfalls nicht durch dieses Labyrinth.« Dann blickte sie traurig auf Daemons ausgezehrten, von Blutergüssen übersäten Körper und strich ihm das lange, schmutzige schwarze Haar aus der Stirn. »Ach, Daemon! Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, dass mein Körper eine Waffe ist, die gegen mich verwandt wird. Ich hatte vergessen, dass er auch ein Geschenk ist. Wenn es nicht schon zu spät ist, werde ich mich besser darum kümmern. Das verspreche ich dir.«
Jaenelle nahm Daemons Kopf zwischen ihre durchsichtigen Hände. Sie schloss die Augen. Die schwarzen Juwelen erglühten.
Während die hayllischen Wächter sich nicht weit von ihnen entfernt deutlich hörbar durch den Irrgarten schlugen, ließ sich Surreal auf den Boden sinken und wartete.
*Daemon.*
Die Insel versank allmählich in dem Meer aus Blut. Er rollte sich in der Mitte des weichen Bodens zusammen, während die Worthaifische um ihn kreisten und auf ihn warteten.
*Daemon.*
Hatten sie nicht alle auf das Ende seiner Qualen gewartet? Hatten sie nicht alle darauf gewartet, dass die Rechnung vollständig beglichen wurde? Jetzt rief sie nach ihm und wollte, dass er bedingungslos kapitulierte.
*Verdammt, Sadi, beweg dich endlich!*
Er rollte auf seine Hände und Knie und starrte die Frau mit der goldenen Mähne und den Saphiraugen an, die jenseits des Meers an einer blutdurchtränkten Küste stand, die es eben noch nicht gegeben hatte. Mitten auf ihrer Stirn befand sich ein winziges, spiralförmiges Horn. Ihr langes Gewand sah aus, als sei es aus schwarzen Spinnweben gefertigt, und es reichte ihr nicht ganz bis zu den zierlichen Hufen.
Die Freude, sie wiederzusehen, verursachte ihm Schwindel, doch ihre Stimmung ließ ihn auf der Hut sein. Er setzte sich auf seine Fersen. *Du bist wütend auf mich.*
*Sagen wir mal so*, erwiderte Jaenelle freundlich, *wenn du untergehst, und ich dich herausziehen muss, werde ich verflucht wütend sein.*
Langsam schüttelte Daemon den Kopf. *Ts, ts, ts. Du solltest wirklich auf deine Ausdrucksweise achten!*
Übertrieben deutlich sagte sie einen Satz in der Alten Sprache.
Er riss den Mund auf und musste ein Lachen unterdrücken.
*Na, zufrieden, Prinz Sadi?*
Du bist mein Instrument.
Worte lügen. Blut nicht.
Haylls Hure.
Er geriet ins Schwanken, fand sein Gleichgewicht jedoch wieder und erhob sich vorsichtig. *Bist du gekommen, um die Rechnung zu begleichen, Lady?*
Den Kummer in ihren Augen verstand er nicht.
*Ich bin hier, um eine Rechnung zu begleichen.* Ihre Stimme klang schmerzverzerrt. Langsam hob sie die Hände.
Zwischen dem Strand, auf dem sie stand, und der versinkenden Insel peitschte das aufgeschäumte Meer. Die Wellen erhoben sich und erstarrten zu hüfthohen Wänden. Dazwischen wurde das Meer zu einer festen Masse, einer Brücke aus Blut.
*Komm, Daemon.*
Seine Hände strichen leicht über die Kämme der roten, erstarrten Wellen. Er betrat die Brücke.
Die Worthaifische zogen ihre Kreise und rissen Teile der Insel in die Tiefe. Sie versuchten, die Brücke unter seinen Füßen zu zerstören.
Du bist mein Instrument.
Jaenelle rief einen Bogen herbei, legte einen Pfeil auf und zielte. Der Pfeil schwirrte durch die Luft und traf den Worthai, der sich in den Wellen hin und her warf und verfiel, während er unterging.
Worte lügen. Blut nicht.
Ein weiterer Pfeil schwirrte todbringend durch die Luft.
Haylls Hu –
Die Insel und der letzte Worthaifisch gingen gemeinsam unter.
Jaenelle ließ den Bogen verschwinden, wandte dem Meer den Rücken zu und ging in die verzerrte, zerborstene Kristalllandschaft hinaus.
Ihre Stimme wurde immer schwächer zu ihm getragen: *Komm, Daemon.*
Daemon stürmte über die Brücke und lief über den Strand der fremden Küste. Er fluchte verzweifelt, weil er nicht wusste, wohin sie verschwunden war.
Er spürte ihre mentale Signatur, noch bevor er die glitzernde Spur auf dem Boden wahrnahm. Es war wie ein Band sternenbesetzten Nachthimmels, das durch die verzerrte Landschaft zu einer Stelle führte, an der sie weit über ihm auf einem Felsen thronte.
Sie blickte auf ihn herab. Ihre Lippen umspielte ein halb verzweifeltes, halb belustigtes Lächeln. *Sturer Kerl.*
*Sturheit ist eine zu Unrecht übel beleumdete Tugend*, stieß er keuchend hervor, während er zu ihr emporkletterte.
Ihr silbernes, samtweiches Lachen erfüllte die Landschaft. Dann hatte er endlich Gelegenheit, sie in Ruhe zu betrachten. Er sank auf die Knie. *Ich stehe in deiner Schuld, Lady.*
Sie schüttelte den Kopf. *Ich stehe in deiner Schuld, nicht umgekehrt.*
*Ich habe dich enttäuscht*, meinte er verbittert mit einem Blick auf ihren gemarterten Körper.
*Nein, Daemon*, erwiderte Jaenelle sanft. *Ich habe dich enttäuscht. Du hast mich gebeten, den Kristallkelch zu heilen und in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Und das habe ich getan. Aber ich glaube, ich habe meinem Körper niemals vergeben, dass er das Instrument war, dessen man sich bediente, um zu versuchen, mich zu zerstören. Also wurde ich seine ärgste Peinigerin. Das tut mir Leid, denn du schätzt diesen Teil von mir hoch.*
*Nein, ich schätze alles an dir hoch. Ich liebe dich, Hexe. Das werde ich immer tun. Du bist alles, was ich mir je erträumt habe.*
Sie lächelte ihn an. *Und ich …* Sie erschauderte und hielt sich eine Hand an die Brust. *Komm. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.*
Sie floh durch die Felsen und war außer Sichtweite, bevor er sich bewegen konnte.
Er eilte ihr nach, immer der Glitzerspur folgend. Dann keuchte er auf, als sich ein erdrückendes Gewicht auf ihn senkte.
*Daemon.* Ihre Stimme drang schwach und voller Schmerzen an sein Ohr. *Wenn mein Körper überleben soll, kann ich nicht länger bleiben.*
Er kämpfte gegen das Gewicht an, das ihn zu zermalmen drohte. *Jaenelle!*
*Du musst langsam weitergehen. Ruh dich erst einmal aus. Ruhe dich aus, Daemon. Ich werde dir den Weg markieren. Bitte folge meinen Zeichen. Am Ende warte ich auf dich.*
*Jaenelle!*
Ein wortloses Flüstern. Sein Name, gesprochen, als sei es eine Liebkosung. Dann Stille.
Die Zeit hatte an Bedeutung verloren, während er dort zusammengerollt lag. Es kostete ungeheuer viel Kraft, sich an die glitzernde Spur zu halten, die nach oben führte, während er gleichzeitig machtvoll in die Tiefe gezogen wurde.
Mit glühendem Eifer hielt er sich an der Erinnerung an ihre Stimme fest, an ihrem Versprechen, dass sie auf ihn warten würde.
Später, viel später ließ das Zerren nach, und das niederdrückende Gewicht wurde allmählich leichter.
Das sternbesäte Band führte weiter nach oben.
Daemon begann zu klettern.
Surreal beobachtete, wie der Himmel heller wurde, und lauschte den
Rufen und Flüchen der Wachen, die sie jedes Mal ausstießen, wenn
sich die dunkle Kraft im gesamten Irrgarten gefährlich knisternd
entlud. Die ganze lange Nacht hindurch hatten sich die Wächter mit
Gewalt immer weiter zur Mitte des Labyrinths durchgekämpft, während
Jaenelles Schilde Stück für Stück zerbrachen. Den Schreien nach zu
schließen, war es die Männer teuer zu stehen gekommen, überhaupt
so weit vorzudringen, wie sie es bisher getan hatten.
In diesem Gedanken lag eine gewisse Befriedigung, doch gleichzeitig konnte Surreal sich vorstellen, was die überlebenden Wächter denjenigen antun würden, die sie in der Mitte des Irrgartens vorfinden würden.
»Surreal? Was ist los?«
Einen Moment lang brachte Surreal keinen Ton heraus. Jaenelles Augen wirkten tot und matt, das innere Feuer war erloschen. Ihre schwarze Juwelen sahen aus, als habe sie die darin gespeicherten Kräfte größtenteils aufgebraucht.
Surreal kniete neben Daemon nieder. Abgesehen vom Heben und Senken seiner Brust hatte er sich nicht gerührt, seitdem er zusammengebrochen war. »Die Wachen sind dabei, die Schutzschilde zu durchbrechen.« Sie versuchte, möglichst gelassen zu klingen. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, glaube ich.«
Jaenelle nickte. »Dann musst du mit Daemon fort von hier. Der grüne Wind verläuft über den Rand des Gartens. Meinst du, du kannst ihn erreichen?«
Surreal zögerte. »Bei den ganzen Kräften, die sich hier in der Umgebung entladen haben, bin ich mir da nicht so sicher.«
»Zeig mir deinen grauen Ring.«
Sie streckte die Hand aus.
Jaenelle strich mit ihrem schwarzen Ring über Surreals grauen.
Ein mentaler Faden schoss aus den Ringen, als sie einander berührten, und Surreal konnte fühlen, wie das grüne Netz an ihr zerrte.
»So«, keuchte Jaenelle atemlos. »Sobald du springst, wird dich der Faden in das grüne Netz ziehen. Nimm das Signalnetz mit dir und zerstöre es vollständig, sobald sich dir die Gelegenheit dazu bietet.«
Da regte sich Daemon und stöhnte leise auf.
»Was ist mit dir?«, wollte Surreal wissen.
Jaenelle schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wichtig. Ich werde nicht zurückkommen. Aber die Wachen werde ich lange genug aufhalten, um euch einen Vorsprung zu verschaffen. «
Sie öffnete Daemons zerrissenes Hemd. Dann griff sie nach Surreals rechter Hand, stach ihr in den Mittelfinger und drückte ihn auf Daemons Brust. Die ganze Zeit über murmelte sie Worte in einer Sprache, die Surreal nicht kannte.
»Dieser Bindezauber wird dafür sorgen, dass er bei dir bleibt, solange er sich noch im Verzerrten Reich befindet.« Jaenelle verblasste, um gleich darauf wieder zu erscheinen. »Eine letzte Sache noch.«
Surreal griff nach der Goldmünze, die vor ihr in der Luft schwebte. Auf der einen Seite befand sich ein verschnörkeltes S, auf der anderen standen die Worte ›Dhemlan in Kaeleer‹.
»Das ist eine Passiermünze, die dir sicheres Geleit gewährt«, erklärte Jaenelle, der das Sprechen nun Mühe zu bereiten schien. »Solltest du jemals nach Kaeleer kommen, dann zeige sie der ersten Person, der du begegnest und verlange, zur Burg in Dhemlan gebracht zu werden.«
Surreal ließ die Münze und das kleine Signalnetz verschwinden.
Daemon rollte sich auf die Seite und schlug die Augen auf.
Jaenelle schwebte rückwärts, bis sie verblasste und mit der Hecke verschmolz. *Schnell, Surreal. Möge die Dunkelheit dich umarmen.*
Unter leisem Fluchen zog Surreal Daemon auf die Beine. Er starrte sie mit kindlichem Erstaunen in den Augen an. Sie zog sich seinen linken Arm über die Schultern und fuhr schmerzhaft zusammen, als sie ihn mit dem rechten Arm um die Hüften packte.
Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, ließ sie sich von dem mentalen Faden durch die Dunkelheit schleifen, bis sie auf den grünen Wind aufspringen und sich nach Norden wenden konnte.
Dort wartete bereits ein Versteck auf sie.
Vor der Nacht, in der sie leichtfertig und vom Alkohol benebelt ihre innige Freundschaft mit Daemon zerstört hatte, hatte er ihr von zwei Vertrauten erzählt: Lord Marcus, einem Geschäftsmann, der sich um Daemons geheime Investitionen kümmerte, und Manny.
Kurz nachdem Jaenelle mit ihr in Verbindung getreten war, hatte Surreal Lord Marcus aufgesucht, um mit seiner Hilfe ein Versteck zu finden. Der Geschäftsmann hatte ihr verraten, dass bereits eines existierte – eine kleine Insel, die angeblich von einem zurückgezogenen, kampfversehrten Krieger zusammen mit einem halbem Dutzend Dienstboten bewohnt wurde.
Die Insel gehörte Daemon, und jeder, der dort lebte, war körperlich oder psychisch von Dorothea SaDiablo zum Krüppel gemacht worden. Es war ein Zufluchtsort, an dem sie alle versuchen konnten, wieder so etwas wie ein Leben aufzubauen.
Sie hatte nicht gewagt, die Insel zu betreten, während sie noch auf der Suche nach Daemon war, um auf keinen Fall Kartane SaDiablo dorthin zu führen. Nun konnten Daemon und sie dort untertauchen, und der fiktive Krieger und seine neu auf der Bildfläche erschienene Begleiterin würden Wirklichkeit werden.
Doch zuerst galt es, jemandem einen Besuch abzustatten und eine bestimmte Frage zu stellen. Sie hoffte inständig, dass Manny Ja sagen würde.
*Surreal …*
Surreal versuchte, den weiblichen Faden zu stärken. *Jaenelle?*
*Surreal … zum … fried …*
Es kostete sie beinahe ihre Selbstbeherrschung, als der Faden abriss. Sie würde ihr Bestes tun, um Daemon in Sicherheit zu bringen.
Das schuldete sie ihm. Außerdem war er Jaenelle wichtig.
Surreal flog weiter, ohne sich zu gestatten, über das nachzudenken, was sich gerade in der Mitte des Irrgartens zutragen mochte.
3
Kaeleer
Ladvarians wütendes Gebell und Lucivar, der laut »Vater!« rief, ließen Saetan aus seinen brütenden Gedanken auffahren. Er sprang aus dem Sessel, der sich in Jaenelles Wohnzimmer im Bergfried befand, und stürzte auf ihre Schlafzimmertür zu. Im nächsten Moment musste er sich wie gelähmt an den Türrahmen klammern, als er den verwüsteten Körper erblickte, den Lucivar in den Armen hielt.
»Mutter der Nacht«, murmelte der Höllenfürst, wobei er Kaelas am Genick packte und die fauchende junge Katze vom Bett zog. Er schlug die Bettdecke zurück und belegte die Laken mit einem Wärmezauber. »Leg sie hin.«
Lucivar zögerte.
»Leg sie hin«, fuhr er ihn unwirsch an, da er beim Anblick der Tränen in Lucivars Augen die Nerven verlor. Sobald Lucivar Jaenelle behutsam auf das Bett gelegt hatte, kniete Saetan neben ihr nieder. Er legte ihr leicht eine Hand auf die Brust und benützte einen zarten mentalen Faden, um ihre Verletzungen zu untersuchen.
Ihre Lungen begannen zu kollabieren, ebenso die Arterien und Venen. Der Herzschlag war unregelmäßig und schwach. Die restlichen inneren Organe standen kurz vor dem Versagen. Ihre Knochen waren so zerbrechlich wie Eierschalen.
*Jaenelle!*, rief Saetan. Süße Dunkelheit, hatte sie die Verbindung zwischen Körper und Geist gekappt? *Hexenkind! *
*Saetan?* Jaenelles Stimme klang schwach, als käme sie von weit her. *Da habe ich etwas Schönes angerichtet, nicht wahr?*
Es kostete ihn Mühe, ruhig zu bleiben. Sie besaß das Wissen und die Fähigkeiten in der Kunst, um sich selbst zu heilen. Er musste nur dafür sorgen, dass sie die Verbindung zu ihrem Körper nicht abbrach. Dann bestand vielleicht eine Chance, sie zu retten. *Das kannst du laut sagen.*
*Hat Ladvarian das heilende Netz aus dem Bergfried in Terreille geholt?*
»Ladvarian!« Auf der Stelle bereute er es, die Stimme erhoben zu haben, denn der Sceltie kauerte nur winselnd vor ihm, zu verängstigt, um mit ihm zu kommunizieren. Bleib ruhig, SaDiablo. Aufregung und Zorn sind in keinem Krankenzimmer angebracht, doch in diesem hier könnten sie tödliche Folgen haben. »Die Lady fragt nach dem heilenden Netz«, sagte er mit sanfter Stimme. »Hast du es geholt?«
Kaelas legte die Vorderpfoten zu beiden Seiten des kleinen Hundes und leckte seinem Freund aufmunternd das Fell.
Nachdem Kaelas den Hund ein zweites Mal gestupst hatte, meinte Ladvarian: *Netz?* Er erhob sich, wobei er sich immer noch im Schutz des riesigen Katzenkörpers befand. *Netz. Ich habe das Netz geholt.*
Zwischen Ladvarian und dem Bett erschien ein kleiner Holzrahmen.
Auf Saetan wirkte das heilende Netz an dem Rahmen zu einfach, um einem Körper helfen zu können, der so schwer verletzt war wie Jaenelles. Dann bemerkte er den einzelnen Spinnenseidenfaden, der von dem Netz zu dem Ring mit dem schwarzen Juwel führte, der unten an dem Rahmen befestigt war.
*Drei Blutstropfen auf dem Ring werden das heilende Netz zum Leben erwecken*, erklärte Jaenelle.
Saetan warf Lucivar einen Blick zu, der in der Nähe des Bettes stand und kreidebleich war. Der Höllenfürst zögerte – und fluchte innerlich, weil ihm noch immer der Stachel früherer Beschuldigungen im Fleisch saß, obwohl er nicht für sich selbst fragte. »Sie braucht drei Tropfen Blut auf dem Ring. Ich wage nicht, ihr meines zu geben, weil ich nicht sicher bin, wie sie auf Hüterblut reagiert.«
Zornig funkelte Lucivar ihn an, und Saetan wusste, dass sein Sohn begriff, weswegen er mit seiner Bitte gezögert hatte.
»Verdammt noch mal, scher dich in die Eingeweide der Hölle«, sagte Lucivar, während er ein kleines Messer aus der Scheide in seinem Stiefel zog. »Du hast mein Blut nicht getrunken, als ich noch ein Kind war, also hör auf, dich für etwas zu entschuldigen, das du nicht getan hast.« Er stach sich in den Finger und ließ drei Blutstropfen auf den Ring mit dem schwarzen Juwel fallen.
Saetan hielt die Luft an, bis das Netz zu glühen begann.
Lucivar steckte das Messer in die Scheide zurück. »Ich hole Luthvian.«
Der Höllenfürst nickte. Allerdings hatte Lucivar seine Zustimmung nicht abgewartet, sondern war sofort durch die Glastür getreten, die in Jaenelles privaten Garten führte, und hatte sich von dort in die Lüfte erhoben.
Jaenelles Körper zuckte. Mithilfe des mentalen Fadens konnte Saetan fühlen, wie die Kunst aus dem Netz sie durchflutete und ihren Zustand stabilisierte. Als er einen Blick auf das Netz warf, fiel es ihm jedoch schwer, nicht jegliche Hoffnung aufzugeben. Ein Drittel der Fäden war bereits eingedunkelt und somit verbraucht.
*Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schlimm sein würde*, meinte Jaenelle entschuldigend.
*Luthvian wird bald hier sein.*
*Gut. Mit ihrer Hilfe kann ich die Energien, die mein Körper im Moment nicht beherbergen kann, auf das Netz übertragen, um den Heilprozess zu unterstützen.*
Er spürte, wie sie schwächer wurde. *Jaenelle!*
*Ich habe ihn gefunden, Saetan. Ich habe ihm eine Spur gelegt, der er nur zu folgen braucht. Und ich … ich sagte Surreal, dass sie ihn zum Bergfried bringen soll, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verstanden hat.*
*Mach dir darüber jetzt keine Gedanken, Hexenkind. Konzentrier dich lieber darauf, wieder gesund zu werden.*
Sie versank in einen leichten Schlummer.
Als Luthvian im Bergfried eintraf, war Jaenelles einfaches Netz bereits zu zwei Dritteln verbraucht. Saetan fragte sich, ob die Zeit ausreichen würde, ein neues zu erschaffen, bevor der letzte Faden dunkel wurde.
Bleiben und zusehen konnte er nicht. Sobald Luthvian ihre Fassung weit genug wiedererlangt hatte, um sich um Jaenelle zu kümmern, zog er sich in das Wohnzimmer zurück, wobei er Ladvarian und Kaelas mit sich nahm. Er fragte nicht nach, wo Lucivar war, sondern war einfach nur dankbar, dass sie sich eine Zeit lang nicht gegenseitig zur Weißglut bringen würden.
Der Höllenfürst ging im Wohnzimmer auf und ab, bis seine Beine wehtaten, ohne dass ihm die körperlichen Schmerzen etwas ausgemacht hätten. Ganz im Gegenteil – es war viel besser, sich darauf zu konzentrieren als auf die Seelenqualen, die vielleicht vor ihm lagen.
Denn er war sich nicht sicher, ob er eine weitere Wache an Jaenelles Krankenbett durchhalten würde.
Dabei war noch nicht einmal klar, ob sie Erfolg gehabt hatte, oder ob ihr Leiden umsonst war.
4
Das Verzerrte
Reich
Er lernte, während er kletterte.
Sie hatte kleine Ruheplätze neben dem glitzernden Pfad eingerichtet: Veilchen, die sich an einen Felsblock schmiegten; süßes, sauberes Wasser, das den Fels hinab in einen ruhigen Teich rieselte, der eine besänftigende Wirkung auf sein Gemüt ausübte; einen Flecken saftiges, grünes Gras – groß genug, um sich darauf auszustrecken; ein dickes, braunes Kaninchen, das ihn beobachtete, während es Klee fraß; ein anheimelnd brennendes Feuer, das die äußerste Eisschicht um sein Herz schmolz.
Zuerst hatte er versucht, die Ruheplätze zu ignorieren. Mit der Zeit lernte er, dass er an einem, vielleicht zweien vorüberklettern konnte, während er gegen das Gewicht ankämpfte, das ihm jeden einzelnen Schritt erschwerte. Wollte er einen dritten ungenutzt hinter sich lassen, wurde ihm regelmäßig der Weg von einem Hindernis versperrt. Seine Instinkte warnten ihn jedes Mal, dass er sich verlaufen würde, wenn er die Glitzerspur verließ und versuchte, um das Hindernis herumzugehen. Also kehrte er zu dem letzten Ruheplatz zurück und streckte sich aus, bis er sich an das Gewicht gewöhnt hatte, und es ihm nicht mehr schwer fiel weiterzugehen.
Nach und nach stellte er fest, dass das Gewicht einen Namen hatte: Körper. Eine Zeit lang verwirrte ihn das. Hatte er nicht schon einen Körper? Er ging, er atmete, er hörte, er sah. Er fühlte sich müde. Er empfand Schmerzen. Dieser neue Körper fühlte sich anders an: schwer und massiv. Er wusste nicht, ob ihm dieser Körper gefiel.
Doch die Schwere war Teil desselben zerbrechlichen Netzes, zu dem auch die Veilchen, das Wasser, der Himmel und das Feuer gehörten – Erinnerungshilfen an einen Ort jenseits der zerstörten Landschaft um ihn her. Deshalb fand er sich damit ab, sich aufs Neue mit diesem Körper vertraut zu machen.
Nach einiger Zeit hielt jeder Ruheplatz außerdem ein Geschenk für seinen Geist bereit: ein Rätsel, das mit der magischen Kunst zu tun hatte, ein kleiner Teil eines Zauberspruchs. Mit der Zeit wurde aus den einzelnen Teilen ein Ganzes, und er erlernte die Grundlagen der Kunst Schwarzer Witwen, lernte, wie man einfache Netze erschuf, lernte wieder, er selbst zu sein.
Also nutzte er die Ruheplätze, rastete und sammelte ihre Geschenke und Rätsel.
Und er kletterte auf den Ort zu, an dem zu warten sie ihm versprochen hatte.