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Lähmende Stille in der Zentrale.
Unter Thomas' Füßen schwankte der Boden. Allermann wiederholte stereotyp: »Hallo AVI 2000 hallo 2000 hören Sie uns hören Sie uns hallo AVI 2000 …«
Thomas versuchte, sich auf der herabhängenden Lehne abzustützen. Sie brach und fiel endgültig zu Boden. Er barg das Gesicht in seinen Händen.
Ulla rief die AVI 1167, die gerade aus Warschau zurückkehrte.
»AVI 1167, hören Sie mich, oder ist unsere Anlage defekt?«
»Höre Sie laut und klar!«
»Rufen Sie bitte die Zweitausend. Wir kriegen keinen Kontakt mehr mit ihr!«
»Ist das unser Unglücksrabe?«
»Unglücksrabe wäre geschmeichelt! Rufen Sie mich, sobald Sie ein Lebenszeichen von ihr haben!«
»Roger!«
Allermann hatte schon den Kontrollturm am Telefon.
»Haben Sie die AVI 2000 von uns zur Zeit auf Ihrem Radarschirm? Sie muß auf dem Weg nach Süden sein.«
»Ja natürlich … Moment mal …«
»Keinen Kontakt mit der Zweitausend hergestellt!« meldete inzwischen die AVI 1167 aus dem Lautsprecher. »Sorry!«
»Hallo FDZ? Hier Beerling, Schichtleiter vom Dienst, Frankfurt Control … Ja, wir haben Ihre Zweitausend auf dem Schirm!«
»Eindeutig?«
»Eindeutig! Allerdings: Wir versuchen verzweifelt, Sprechkontakt herzustellen. Sie meldet sich nicht mehr!«
»Aber sie fliegt?«
»Sie fliegt noch immer!«
Mahlberg schluckte heftig. Stechender Schmerz durchzuckte seinen Körper. Dies war die Todessekunde. Trotzdem war er überrascht, daß der Vorgang des Sterbens nicht noch grauenvoller war. Sein Leib revoltierte. Aber tief innen, sozusagen auf der anderen Seite seiner Nerven und Muskeln, breitete sich kosmische Ruhe aus. Eine Feststellung, die jenseits aller bisherigen Erfahrungen lag. Etwas war da, das inmitten des Grauens wie ein Felsen ausstrahlte, unerschütterlich und unbezwingbar, und zu wachsen begann.
Er spürte Bewegung, leichtes Schaukeln. Flogen sie noch? Weich und träge, wie auf einer Oberfläche aus heißem, flüssigem Kupfer, glitt er dahin. Oder hing er – und der Kosmos kreiste um ihn?
Wie lange dauerte die Tortur der Ungewißheit schon? Sekunden? Äonen? Was war Realität? Was Traum? Was Tod? Wo war er?
Er spürte Flüssigkeit in den Mundwinkeln. Er bewegte die Zunge, um den Speichel, das Blut abzulecken. Er bewegte die Zunge; er lebte also. Der Speichel troff auf seine Luftstraßenkarte, ›Variation for 1976 annual change – 5' … FIR/CTA Shanwick Oceanic Radio 127.9 … cruising levels applicable in all fir's an this chart …‹ Botschaften, die ihn nicht mehr erreichten. Unentschlüsselbare Codeworte … Die Maske, die Sauerstoffmaske wo war sie? Er tastete rückwärts, er war gedrillt worden, sie sich im schlimmsten Fall, der plötzlichen Dekompression, überzustülpen.
Wieder spürte er Schmerzen. Kamen sie aus der Lunge? Wenn er Schmerzen fühlte, lebte er. Ja, er lebte; und er flog: Er flog noch immer!
Er hörte ein neues Geräusch: Die Tür flog auf!
Bloch starrte ins Cockpit, als erblicke er die Zerstörung Pompejis. Der Bezug seines Sitzes war gespickt mit Splittern und Metallfetzen, die Arbeitstasche nichts als ein zerfranstes Stück Leder. Blitzartig registrierte er das Wichtigste:
Sie flogen! Nummer zwei: Niemand war tot oder ernsthaft verletzt. Nummer drei: Es hatte kein Feuer gegeben. »Alle Systeme in Ordnung?«
Er war wieder voll da; seine Blicke glitten fieberhaft über die Instrumente des Bordingenieurs. Brinkmann meldete:
»Ein Generator ist abgefallen. Den krieg' ich aber wieder!«
»Den brauchen wir nicht! Kabinendruck okay?«
»Druck okay!«
Dem Himmel sei Dank: keine Beschädigung der Außenhaut! Und Mahlberg flog von Hand. Natürlich, bei der Detonation waren Autopilot und Flugleitsystem herausgesprungen. Aber man würde sie wieder einschalten können. Und wenn nicht: auch gut!
»Sind Sie verletzt?«
Brinkmann schüttelte den Kopf; aber er blutete aus einer Splitterwunde an der Stirn.
»Nichts Schlimmes!«
»Und Sie, Mahlberg?«
»Alles in Ordnung und unter Kontrolle! Alle Steuersysteme sind einwandfrei. Nur die Glasscheibe vom Variameter ist hin!«
»Gut! Mein Sitz wohl auch!«
Er sah sich um. In der Cockpittür drängten sich drei Stewardessen mit verstörten Gesichtern. Aus dem Deckenlautsprecher schepperte die Stimme eines Fluglotsen:
»AVI 2000, AVI 2000! Hören Sie uns? Hören Sie uns?«
»Sogar der Funksprechverkehr scheint in Ordnung zu sein!« kommentierte Bloch gelassen. »Die sollen nur schreien. Wir haben Wichtigeres zu tun! Frau Gundolf: Wie wäre es mit einem Pflaster für unseren Bordingenieur?«
Margot war schon fort, um den Erste-Hilfe-Koffer zu holen.
Nachdem Bloch den ersten Überblick gewonnen hatte, spürte er ungeheuerliche Erleichterung! Kein Druckverlust in der Kabine – das Schreckgespenst aller Piloten! Kein Sturzflug notwendig! Wenn Druck und Sauerstoff in großer Höhe schlagartig entwichen, standen ganze drei Minuten zur Verfügung, das Flugzeug auf eine Höhe unter 4.000 Meter zu stürzen, wo die Gefahr des Höhentodes gebannt war. Zwar fielen bei Druckverlust für die Passagiere Sauerstoffmasken heraus. Auch die Besatzung war in harter Ausbildung darauf trainiert worden, sofort die Masken aufzusetzen und nach einem exakt festgelegten Verfahren durch Ziehen der Bremsklappen, Abkippen und Andrücken einer über 200 Tonnen schweren Maschine zu stürzen. Aber man wußte: Da gab es Passagiere, alte Mütterchen und geschockte Frauen, hilflose Kinder und verletzte Männer, die dachten nicht daran, die vor ihrem Gesicht baumelnde Sauerstoffmaske auf Mund und Nase zu drücken. Mochten die Stewardessen bei jedem Start noch so eindringlich und mit stereotyper Beharrlichkeit auf diese Masken hinweisen und ihre Benutzung demonstrieren – für den Ernstfall machte er sich keine Illusionen. Dabei reichten zwanzig Sekunden ohne Sauerstoff schon für den Höhentod aus – bei Herzkranken noch weniger!
Diese Gefahr war gebannt. Bloch atmete auf.
Während Margot den Bordingenieur behandelte, ließ er sich eine Decke nach vorn reichen, entfernte mühsam die gröbsten Metallsplitter aus seinem Sitzkissen, ritzte sich die Finger, ohne darauf zu achten, und sank behutsam nieder.
Mit dem Fuß schob er die Überreste seiner Tasche nach hinten – wie einen toten Hund, den man aus Versehen überfahren hat. Als schäme er sich, daß die Bombe in seiner Tasche versteckt gewesen war!
Denn daran war kein Zweifel mehr: Er selbst hatte die Bombe in seiner Tasche mit sich getragen! Er schluckte diese Erkenntnis so blitzschnell herunter, wie sie gekommen war. Im Augenblick gab es wichtigere Arbeit: die ›Steppenadler‹ heil an den Boden zu bringen! Keine Zeit für Mutmaßungen, Ursachenforschung! Damit mochten sich Eierköpfe und Sesselkacker herumschlagen! Er war ein Mann der Tat!
»Das war sie dann wohl – die Bombe!« sagte er laut und klar.
Er spürte die Welle der Erleichterung, die durch das Cockpit schwappte. Sie tat ihm gut wie ein erfrischendes Bad. Und Brinkmann, sein Ingenieur, stieß ihn geradezu mitten hinein in die frühlingshafte Frische:
»Jetzt können wir beruhigt nach Hause fliegen! Und wir fliegen noch immer! Den abgefallenen Generator können wir auch wieder aufschalten! Keine Probleme mehr!«
Thomas spürte, wie ihn Wellen der Freude durchliefen, als er endlich wieder die Stimme Blochs hörte.
»Wo habt ihr gesteckt? Was war los?« Und Ulla schaltete sich vor lauter Aufregung mit ein und tat das mit ihrem Chef, was man im Slang ausblocken nannte: »Sie haben uns tüchtigen Schrecken eingejagt, AVI 2000!«
Bloch berichtete kurz; er war gelassen wie eh und je; die Periode des Nichtstuns und Ausgeliefertseins war vorbei. Er konnte wieder handeln und Entscheidungen fällen. Er fühlte sich großartig. Er lebte!
»Wir hatten eine Explosion im Cockpit. Glücklicherweise, als ich gerade nach hinten gegangen war. Hier sieht es aus wie Kraut und Rüben. Aber wir fliegen; wir haben keine ernsten Probleme. Wir bereiten uns auf die Landung vor. Wir sind noch in 41.000 Fuß; und wir waren auf dem Weg nach Frankfurt. Aber als es Bomm-Tschumm machte, hat unser INS vor Schreck um 180 Grad kehrtgemacht.
Jetzt fliegen wir also wieder in Richtung Norden. Aber sobald wir unsere Absteiggenehmigung haben, kehren wir um.«
»Und Sie haben echt keine ernsten Probleme?«
»Technisch nicht. Körperlich schon. Den Bordingenieur hat es erwischt. Aber nicht ernst. Und mein Sitz sieht aus wie eine Gartenmauer mit aufzementierten Glassplittern. Vorläufig fliege ich lieber im Stehen!«
»Da kann man nur gratulieren! Da hat der Herrgott noch einmal den Finger dazwischen gehalten, was? Jetzt sehn Sie zu, daß Sie rasch runterkommen! Wir stellen schon mal das Bier kalt!« Plötzlich war Thomas, als rede er im Traum. Als verhalte sich die Wirklichkeit ganz anders. Hatte er etwas übersehen, vergessen? Er strich sich über die Stirn. Er zuckte mit den Schultern. »Bloch? Hier sind meine beiden Mitarbeiter, die möchten Ihnen allen ebenfalls gratulieren!«
»Nur zu!«
Und dann war er da – der Schock! Der letzte Anruf auf der Fernleitung. Er reagierte so heftig, daß er Ulla das Mikrofon aus der Hand riß.
»Captain Bloch?«
»Kommen Sie nur!«
»Wo, sagten Sie, ist die Bombe detoniert?«
»Im Cockpit!«
»Ich meine: Wo war sie versteckt? Sie lag doch sicher nicht auf dem Mittelpodest?«
Es blieb so lange still, daß Thomas fürchtete, die ›Steppenadler‹ könne neue Schwierigkeiten haben.
»Nein … nicht auf dem Mittelpodest, Sie Witzbold!« Bloch versuchte, seine Stimme unbekümmert klingen zu lassen; man spürte es. »Sie war in meiner Crewtasche versteckt. Die ist hin, die Tasche!«
»Nämlich …« Und jetzt klang Thomas' Stimme wie die eines strengen Kriminalrats. »Hier ist kurz vor Ihrer Explosion noch einmal eine Bombenwarnung eingegangen. Als wir sie durchgeben wollten, war die Verbindung schon weg. Von einer Frau, die sich als Ihre Gattin ausgegeben hat. Eine Finte natürlich.«
»Was … eh … was hat sie denn gesagt, meine angebliche Frau?«
»Das, was wir alle seit heute morgen wissen: daß eine Bombe an Bord ist. Besser gesagt: war!«
Bloch zögerte wieder mit der Antwort.
»Seltsame Sache … dieser Anruf. Sie wissen nicht zufällig, wo sie jetzt steckt, meine Frau?«
Ulla übernahm:
»Captain Bloch: Ich habe gleich versucht, bei Ihnen zu Hause anzurufen, um das zu klären. Es meldet sich aber niemand!«
»Weiß dieser Krisenstab schon darüber Bescheid?« Jetzt war Allermann dran; Thomas sah ihn erstaunt an – er hatte das gar nicht mitgekriegt:
»Ja, der ist informiert. Leider haben wir hier kein Tonband mitlaufen bei Anrufen von auswärts. Sonst hätten wir Ihnen den Anruf vorspielen und Sie hätten die Stimme identifizieren können.«
»Na, das nenne ich Teamwork! Bei Ihnen kommt wohl jeder mal ran ans Mikrofon, was?«
Aber Thomas war nicht mehr nach Lachen zumute.
»Sind Sie noch in 41.000 Fuß?«
»Natürlich! Wir haben noch keine Abstiegsgenehmigung!«
»Bleiben Sie um Himmels willen oben! Ihre Bombe ist um 20 Uhr 45 detoniert, nicht war? In Ihrer Reiseflughöhe!«
»Ja? Eine barometrische Bombe war das nicht! Ich ahne, worauf Sie hinaus wollen!«
Äußerlich beherrscht, aber kalkweiß im Gesicht, antwortete Thomas:
»Es besteht begründeter Verdacht, daß Sie mit zwei Bomben durch die Gegend geflogen sind. Und eine Bombe ist noch immer nicht detoniert!«
Blochs Besatzung benötigte die Strecke vom Funkfeuer Warburg bis Fulda, um die zweite Bombe zu akzeptieren. Warburg war ein Städtchen, das im Dreißigjährigen Krieg eine Rolle gespielt hatte. Wenn in einer Ansage vom Überflug Warburgs die Rede war, glaubten fast alle Passagiere, Marburg sei gemeint. Eine winzige Verwechslung; man traute dem Landläufigen mehr als dem Außergewöhnlichen. Nach der gleichen psychologischen Reaktionsweise hatte die Crew die erste Bombe als die ›Bombe schlechthin‹ betrachtet.
Die Detonation war von den Passagieren nicht wahrgenommen worden. Der Geräuschpegel war nicht nur im Cockpit, sondern auch in der Kabine relativ hoch. Nur durch stundenlange Gewöhnung an die gleichförmigen Geräusche des Fahrtwindes, der Hydraulik und der elektrischen Systeme wurde er als niedrig empfunden. Aber die gesamte Kabinencrew wußte, daß trotz einer Explosion an Bord noch immer nicht die Bombe unschädlich gemacht worden war.
Die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. Keiner wußte eine Lösung.
Einsamkeit, Verlorenheit, dachte Margot Gundolf auf ihrem Sitz … über zweihundert Passagiere um mich – wie ist das möglich? Das gleiche Schicksal – warum verbindet es nicht? Eine Melodie ging ihr durch den Kopf … das Concierto de Aranjuez … Adagio, der zweite Satz. Thomas hatte die Platte oft aufgelegt, an stillen Herbstabenden, wenn die Kinder zu Bett waren … Das Duett zwischen Englischhorn und Gitarre … Einmal hatten sie in der Höchster Jahrhunderthalle Julien Bream gesehen, den Thomas für den besten Gitarristen hielt. Dieser zweite Satz hatte sie mehr als alles andere gefangengehalten, dieses klagende Melisma, das an die Passionszeit erinnerte … Sie hatte seltsame Imaginationen dabei gehabt: Don Quichotte, der über die öde Mancha ritt, Klepperspuren auf dem zerklüfteten, versalzten Wüstenboden, auf dem nichts wuchs als spärlicher Kameldorn. Seine traurige Gestalt hoch aufgereckt gegen einen blutenden Abendhimmel … Eine gewaltige Einsamkeit war um ihn … Aber sie rührte nicht nur von der spröden Landschaft her; es war eine Einsamkeit, die der Ritter auch und gerade inmitten Massen von Menschen gehabt hätte: Wer entschied eigentlich, was Traum, was Spuk, was Realität war? Sah Don Quichotte in simplen Windmühlenflügeln Dämonen? Oder hielt das Volk die Dämonen für simple Windmühlenflügel?
Thomas hatte einmal gefragt, ob sie wisse, daß Joaquin Rodrigo (er sei übrigens blind) dieses Konzert 1939 geschrieben habe. Und ob sie wisse, was in jenem Jahr passiert sei? (Sie konnte sich nicht erinnern; sie lebte damals noch nicht.) Am 1. September 1939 sei Hitler in Polen eingefallen. Die gleiche Masse, die Don Quichottes Imaginationen für Wahnvorstellungen eines blöden Möchtegernritters gehalten habe … die gleiche Masse habe auch das aufsteigende Reich der Dämonen für eine harmlose Landschaft mit Windmühlenflügeln gehalten!
Sie schrak auf. Ein älterer Mann, grauschläfrig, Schmisse auf der rechten Backe, stand vor ihr:
»Könnte ich einen doppelten Whisky haben, Fräulein?«
»Ich will nicht sterben!« sagte sie zu sich. Laut sagte sie: »Gern! Scotch oder Bourbon?«