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»Wie wollen wir denn in Zukunft unser neues Passagiervereinnahme- und ausstoßsystem nennen? Otto-Lilienthal-Platz, das ist nun wirklich zu lang in unserem Jetzeitalter!«
Ulla Voorst war brünett, schlank und aktiv. Sie sorgte dafür, daß die Atmosphäre in ihrer Gruppe nie muffelig wurde. Sie erledigte hauptsächlich Sekretärinnenaufgaben und hatte sich einen Jux daraus gemacht, den Farbfernseher, das einzige elektronische Gerät, das einwandfrei funktionierte, auf tiefrote Farben einzuregulieren. Dadurch erschienen die Gesichter der einweisenden Politiker dunkelrot vor Zorn oder Erregung.
Sie besaß einen großen, aber weichen Mund, und ihre braunen, leicht schräggeneigten Augen funkelten stets temperamentvoll. Aber als sie den Anruf Quandts entgegengenommen, die böse Nachricht notiert hatte, schienen sie zum erstenmal erloschen. Sie war gerade dreiundzwanzig geworden; und niemand aus der Belegschaft der Zentrale hatte jemals so viele Glückwünsche und Geschenke erhalten. Sie war, wie jeder wußte, in festen Händen: ein schmalschultriger, blaßäugiger Medizinstudent im dritten oder vierten Semester holte sie gelegentlich in einem alten Opel Rekord ab. Viel zu hübsch für ihn und mindestens genauso gescheit, lautete das gemeinsame Urteil der FDZ. Niemand konnte sich beschweren – sie flirtete mit jedermann gern und gleichermaßen, bis zu einer exakten Grenze. Im übrigen war sie der gute Geist, der stets im rechten Augenblick für die richtige Bemerkung, die richtige Aufmunterung sorgte. Wesentlicher als ihre Verdienste an Schreibmaschine und Fernschreiber waren die an der belegschaftseigenen Kaffeemaschine: Sie konnte aus einem simplen Kaffeegebräu wahre gastronomische Kunstwerke schaffen.
Zur Feier des Tages hatte sie einen kanariengelben Hosenanzug angezogen, betont leger geschnitten, trotzdem ihre ansehnlichen Formen betonend. Zu der knalligen Popfarbe kontrastierte ihr dunkles Haar aufs vorzüglichste. Ulla Voorst stand dem Riesenaufgebot an Technik mit der Naivität eines Kindes gegenüber – und meisterte sie dadurch am besten. Sie behandelte ihren Fernschreiber, die Galerie der Telefone, Interphonanlagen, Fernsehmonitoren und den Computer, als streichle sie eine neurotische Wildkatze, der man gut zureden müsse.
An diesem festlichen Morgen, an dem außer den Eröffnungsreden nicht allzuviel funktionierte, hatte sie ihren brandneuen Siemens-›Telex‹-Schreiber mit einem Schild behängt:
›Theorie ist, wenn man alles weiß und nichts funktioniert. Praxis ist, wenn alles funktioniert, und niemand weiß, weshalb.‹
Als gleich bei der Inbetriebnahme drei Tasten ihres Fernschreibers versagten, versetzte sie ihm eine gelinde Ohrfeige und sprach ihm zu: »Ich weiß, daß dich deine Homotrone quälen wie Hämorrhoiden; aber denk mal an mich: Ich soll hier diese Message in Rotchinesisch absetzen, die muß in 22 Sekunden in Aleppo ankommen – also reiß dich am Riemen; und heute abend reden wir mal in Ruhe über deine Wehwehchen!«
Was das seien: Homotrone, wollte Allermann wissen.
Kleine grüne Männchen, die ihre Finger zwischen Schreibmaschinentasten hielten, so daß sie klemmten. Und wenn man die Frankfurter Vorwahlnummer 0611 wählte, sorgten sie dafür, daß 06103 ankam – und das war Sprendlingen. Oder man schaltete sich die Arbeitslampe über dem neuen plastikeichenen Schreibtisch ein, und am Fenster rasselten die Rollos herunter.
Oder man besucht die neue vollelektronische Toilette, sagte Allermann, und zieht und siehe: Köstlicher Champagner sprudelt ins Becken!
Aber das war noch, bevor er wirklich mit seinem Chef zum erstenmal im neuen Gebäude seinen Bedürfnissen nachging … Nur so schützte sich Ulla Voorst gegen eine technische Gigantomanie, die ihr die Kehle zuzuschnüren drohte.
»Hör mal, Kompu!« sagte sie zu dem ›IBM‹-Rechner, der ihr unmögliche Daten für die Flugplanung ausspuckte. »Jetzt reiß dich zusammen, aktiviere deine grauen Zellen und verrate mir rasch, wieviel dreimal zweiundzwanzig ist, dann lade ich dich heute abend auch zu einem Drink auf meiner sturmfreien Bude ein!«
Und der Computer reagierte, und Ulla Voorst streichelte ihm zart über die angestaubte Tastatur. Kunststoff zog Staubteilchen an; gegen diese elektrostatische Aufladung, die jeden Plattenfan auf die Palme trieb, waren die Götter der futuristischen Technologie machtlos.
Sie gehörte mit Gundolf und Allermann zum ersten FDZ-Team, das im neuen Flughafen arbeitete. Die Westfront des Raums bestand aus kupferverspiegeltem Glas. Ein sinnloser Kostenaufwand, da wegen der hohen Lage auf dem Dach der ›Avitour‹ ohnehin nur jemand, wie Gundolf sich ausdrückte, von einem tieffliegenden Flugzeug aus hätte hineinsehen können.
Vor dieser Glaswand stand Gundolfs Arbeitstisch mit einem elektrisch verstellbaren Sessel. Die Südwand war behängt mit elektronisch schaltbaren Informationstafeln, auf denen alle ›Avitour‹-Flüge ausgedruckt werden konnten. Davor erstreckten sich über die gesamte Länge Pulte mit Rechenanlagen, Fernschreibern, Schreibmaschinen, Telefon- und ›Intercom‹-Ausrüstungen.
An der gegenüberliegenden Wand standen Regale mit Dienstvorschriften, Bedienungsanweisungen, Flugunterlagen, Personalakten.
Inmitten der ›Univac‹-, ›IBM‹-, ›Siemens‹- und ›AEG‹-Elektronik hütete Ulla Voorst ihre kostbarste Anlage: die Kaffeemaschine. Sie hatte sie in der Ecke zwischen Fensterfront und Regalwand untergebracht, zusammen mit Tassen, Filtertüten und vier Büchsen mit verschiedenen Bohnenarten. Wenn aus dieser Ecke der heiße, aromatische Dampf aufzusteigen begann, verbreitete sich ungeachtet der Anspannung vor den Pulten eine heimelige Atmosphäre im Raum.
»Lange Wortgebilde schüchtern mich ein wie große Hunde!« sagte sie. »Nennen wir dieses Ungetüm aus nicht funktionierenden Superlativen doch einfach ›Unseren Oli!‹ Das macht ihn menschlicher. Wie ihr wißt, hat jeder Baukomplex seinen Schutzgeist.« Geschickt formte sie aus herumliegendem Telexpapier, das sie in eine Serviette wickelte, ein Phantasiegebilde nach Art skandinavischer Nonsenspuppen. ›Olis Hausgeist!‹ Allermann kramte in seiner Aktentasche, die er neben seinen neuen Arbeitstisch mit weißem Resopalüberzug gestellt hatte.
»Ich habe auch zur Humanisierung beizutragen! Eine Parodie im Zeitungsstil des vorigen Jahrhunderts, als die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth eingesetzt und darüber berichtet wurde. Übertragen auf einen Mallorca-Charterflug. Gestern aus der Witzblattseite geschnitten.«
»Erste Eisenbahn?« machte Ulla verzweifelt. »War das nicht 1855? Ich bin auch mit einem Trostpreis im Quiz einverstanden!«
»Geradezu genial auf den Kopf getroffen!« kommentierte Gundolf. »Wenn auch nicht den Nagel. Minus zwanzig Jahre, dann stimmt's!«
»Mein alter Russe würde sagen: Wissen bereitet Schmerzen!« Ulla Voorst würzte ihre Kommentare gern mit osteuropäischen Sprichwörtern, die sie einen imaginären Russen zitieren ließ. »Vorlesen, bitte!«
Allermann entfaltete den Zeitungsausschnitt und begann zu lesen:
»Zum Abfluge hatte sich auf dem wohleingehegten, zum Schutze gegen blinde Passagiere, Terroristen und Allzubegeisterungswütige ausgiebig mit stacheligem Drahte versehenen Aviatik-Terminale halb Frankfurt versammelt. Das geehrte, ff: Publikum bewunderte insbesondere die feinsinnige Konstruktion der Mallorca-Flugmaschine gebührend. Das ruhige, vertrauenerweckende Benehmen des Maschinenlenkers faszinierte speziell die weibliche Zuschauerschaft, die sich in hellen Entzückensschreien, die hie und da bis an den Rand einer hingebungsvollen Ohnmacht reichten, aeronautisch äußerte.
Aus allen Handlungen des Flugmaschinisten sprach das Bewußtsein seiner Wichtigkeit. Jede Kanne Kerosin, die er nachfüllte, erfüllte die jubelnde Menge mit jenem ehrfürchtigen Schauer, die den Unterlegenen beim Anblick des Erhabenen wohl ansteht.
Ein Böllerschuß kündigte den Abgang seiner Maschinerie an. Der kühne Lenker und Aviateur ließ nach und nach die ganze Kraft der fortschrittlichen Technik in Wirksamkeit treten. Aus den Düsenschloten fuhren in gewaltigen Stößen die Auspuffwolken, ein Beben erfüllte die Erde und die zitternden Herzen der Augenzeugen – und unter den Klängen der k.u.k. Regimentskapelle begann sich die ganze ehrfurchtheischende Klapparatur in Bewegung zu setzen. Diese steigerte sich sogleich in einem schwindelerregenden Maße, so daß einige zartere Weibspersonen das gewaltige Ereignis zum Anlaß nahmen, auf die holdseligste Art zu Boden zu sinken. Der eben errichtete zollfreie Kolonialwaren-Laden konnte indessen mit Riechfläschchen und duty-freiem Riechsalz die bedrängte Kundschaft versorgen.
Bald jagte die riesige Aeroplane mit steil gerecktem Bug in die obere Atmosphäre. Ihre Galionsfigur, eine reizende Büste der verehrten Gattin unseres Ministers für öffentliche Ordnung und Verkehr, wurde durch die rosige Morgensonne wie von einer zukünftigen Morgenröte der Menschheit angestrahlt.
Freilich: Wer zum Schwindel neigt, sollte den allzu häufigen Anblick dieses Spektakulums tunlichst meiden – zumindest das vorbeiheulende Ungetüm nicht näher ins schockierte Auge fassen. Auch das Schnauben und Fauchen der unter den Flügeln befestigten Kraftwerke verfehlt seine Wirkung nicht. Es wird von Kühen berichtet, die unter dem Eindruck des heranbrausenden neuen Zeitalters die Milchabgabe eingestellt haben; ja, es möchte wohl auch der Hartgesottenste unter diesem Eindruck nicht gleichgültig davonkommen.«
Ulla lachte lauthals auf; Allermann mußte selber lächeln. Aber Gundolf schien geradezu von tierischem Ernst besessen.
»Ist Ihnen irgendwas daran gegen den Strich gegangen?« fragte Ulla.
Statt Gundolf antwortete Allermann:
»Haben Sie vergessen, daß wir Bombenalarm hatten?«
»Natürlich nicht. Ich habe ihn nur nicht ernst genommen!«
»Ich nehme ihn sehr ernst!« sagte Gundolf.
»Haben Sie nicht irgendwann einmal geäußert, es wäre Ihr vierter? Und bisher sei noch nie etwas passiert?«
»Ich nehme ihn sehr ernst!«
Gundolf sah kalkweiß aus. Plötzlich spürte Ulla Voorst, daß ihr Chef etwas verschwieg.
»Was haben Sie?« drängte sie beunruhigt. »Da ist noch etwas, nicht?«
»Ja«, bestätigte Gundolf. »Da ist noch etwas. Meine Frau ist an Bord!«
Als Thomas Gundolf im ostpreußischen Rastenburg geboren wurde, brach der Zweite Weltkrieg aus – im gleichen Monat, im gleichen Jahr: 1939. Sein Vater, ein strebsamer, aber nicht übermäßig geschäftstüchtiger Kolonialwarenhändler, fiel schon in den ersten Tagen des Polen-Feldzugs, so daß Thomas ihn niemals zu Gesicht bekam. Dafür entwickelte sich bei ihm von den ersten Denkanfängen an ein ausgeprägter Haß auf den Krieg, den er später nicht als schicksalhaftes Naturereignis empfand, sondern als von Menschen angezettelt und unterhalten.
Rastenburg ruhte in sehr vielem Grün am Oberlauf der Guber, einem Seitenfluß der Alle; die gleichnamige Burg war 1329 von den Ordensrittern erbaut, 1345 von den Litauern zerstört und danach mehrfach umgebaut worden. Thomas lernte das mächtige Gebäude nur noch als Behördenhaus kennen – sofern man bei einem vierjährigen Knaben überhaupt davon sprechen konnte. Immerhin glaubte er später, Erinnerungen an das besonders hübsche Portal behalten zu haben.
Seine Mutter war eine einfache, aber in praktischen Dingen außerordentlich kluge Frau. Im Gegensatz zu ihren nachbarlichen Zeitgenossen glaubte sie weder an einen späten Sieg der Wehrmacht im Osten noch an einen Sieg des Führers überhaupt. So harrte sie als einzige nicht bis zum Winter 44/45 aus, als die Russen die benachbarten Dörfer in Brand schossen, sondern setzte sich schon im Frühjahr 43 durch eine als Besuchsreise nach Berlin getarnte Flucht mit ihrem Sohn ab. So entging sie dem furchtbaren Massaker und Sterben in den Flüchtlingstrecks.
In bezug auf sein zukünftiges Leben in der Bundesrepublik pflegte er später zu sagen: »Schicksal ist eine Randnotiz in einem Buch.« Tatsächlich hatte seine Mutter Anfang der fünfziger Jahre nicht mehr gewußt, wohin sie sich nach der Flucht aus Ost-Berlin wenden sollte. Thomas las gern in den nachgelassenen Büchern seines gefallenen Vaters. Er hatte aus ›Hauffs Werke‹ nicht nur die Geschichte vom Kalif Storch, die Geschichte von dem kleinen Muck und den Zwerg Nase verschlungen, sondern auch Die letzten Ritter von Marienburg und Das Wirtshaus im Spessart. Und dort, bei der Sage vom Hirschgulden, hatte sein Vater an den Rand gekritzelt: Einmal durch die dunklen Wälder des Hoch-Spessarts wandern …
Er wolle in den Spessart, habe er, berichtete seine Mutter später, ausgerufen; und so hätte sie, vom Flüchtlingslager Friedberg aus, dort eine Stelle angenommen, als Kassiererin in einem der gerade aufkommenden Supermärkte.
War es ein Wunder, daß sich der junge Thomas sofort einem Wanderverein anschloß und das unerreichte Traumziel seines Vaters zu erforschen begann? Als Mitglied des Spessartbundes durchstreifte er den Goldbacher Wald, war auf dem Sternberg und Hahnenkamm zu Gast, besichtigte Alzenau und das Wasserschloß Mespelbrunn und lernte das liebliche Wiesthal kennen.
Er durchforschte auch Heigenbrücken, den Engländer und den Eselsweg und das Schloß Johannisburg. Daß ihm große Teile des Spessarts trotzdem nicht übermäßig ans Herz wuchsen, war weniger der Fehleinschätzung seines Vaters als vielmehr der bundesrepublikanischen Forstwirtschaft der Nachkriegsjahre zuzuschreiben. Das Profitdenken hatte die ökologischen Zusammenhänge eines Waldes vergessen und aus ihm eine Holzproduktionsstätte werden lassen. Da Fichten am schnellsten und am bedürfnislosesten wuchsen, waren große Teile mit dem düsteren Nadelbaum aufgeforstet worden. Weil Unterholz und Mischwald fehlten, blieben große Bestände an Singvögeln aus, worum sich aber in einer total materiellen Gesellschaft niemand zu kümmern schien. Diese düsteren Fichtenwälder übten auf Thomas zunächst keinen übermäßigen Wanderreiz aus, bis er durch seine Spaziergänge inmitten der Düsterheit wahre Perlen landschaftlicher Schönheit entdeckte.
Mömbris hieß die erste Station nach Friedberg; hier wurde er groß, hier begrub er seine Mutter; in Aschaffenburg machte er sein Abitur, nahm Beziehungen zum Luftverkehr auf. Mömbris war eine Kleinstadt an der Kahl, südöstlich des Hahnenkamms. Später, als er eine Stewardeß heiratete, erfuhr er, daß sie, im benachbarten Hörstein, genauso unter dem Kleinstadtmief gelitten hatte wie er. Die Sorgen, Interessen, Hobbys und Aktivitäten der braven Bürger drehten sich um die Gestaltung eines Trimmpfades im Hübnerwald, um die Verpachtung eines Bolz- und Kinderspielplatzes am Untermain, um die Grundwassererschließung in der Gemarkung Weibersbrunn. Eltern forderten eine Wartehalle für die Fünftkläßler aus Pflaumheim, berieten die Mittel für den Pfarrausflug nach Veitshöchheim und kritisierten den Zustand der Statue des Heiligen Franz auf der Anhöhe zwischen Unterbessenbach und Schmerlenbach. An kulturellen Veranstaltungen gab es: das Königs- und Pokalschießen des Wörther Schützenvereins. Die Schulung für Prediger aus dem Kreis Miltenberg in der Stadthalle Heidelberg für die Zeugen Jehovas. Den Festabend des Glanzstoff-Männerchores aus Erlenbach. Die Kapelle ›Les Cornos‹, die zur Nachkirchweih in der Turnhalle von Hofstetten spielte. Das Schwimmen der Versehrtensportgruppe. Die Monatsversammlung des Karnevalvereins ›Losse Babbele‹. Das Treffen der Bäcker-Donnerstagsrunde im ›Weißen Roß‹. Die Stammtischrunde des Eisenbahn-Kaninchenzuchtvereins H 509. Die Klubversammlung des Kegelklubs EK Nilkheim im Lokal ›Zur Bretzel‹. Freilich: Für die Stewardeß Margot Felgenthaler bedeutete die Rückkehr in diese Welt das Zurückziehen auf einen ruhenden Punkt. Wer monatlich um die halbe Erde katapultiert wurde, lernte die Stille am heimatlichen Dorfbach wieder schätzen. Und wenn die Stille zu still wurde, so winkte schon der nächste Einsatz nach Sevilla, Beirut, Casablanca. Für den Flughafenangestellten Thomas Gundolf war seine Bewerbung eine Flucht aus der Enge in den Duft der großen weiten Welt. Er arbeitete sich am alten Rhein-Main-Flughafen von der Pike auf empor; und als er später mit seiner Frau dichter ans Luftkreuz Europas zog, vermißte Margot die Abgeschiedenheit der Spessarttäler mehr als er.
Seine große berufliche Stunde schlug, als Quandt seine Flugdienstzentrale, die vorher aus einem einzigen Mann bestanden hatte, erweitern und einen Leiter einsetzen wollte Thomas, bisher in der Abteilung ›Gewicht und Vertrimmung‹ tätig, rauschte in diesen neuen Posten hinein wie eine Jungfrau in ihre erste Verführung. Ihm waren die unorthodoxen Managementmethoden des ›Avitour‹-Chefs bekannt; so ließ er sich fast vertrauensvoll in diese offensichtliche Fehlbesetzung hineinverplanen. Damals machte Quandt gerade Schlagzeilen. Sogar ›Der Spiegel‹ widmete ihm einen langen Artikel, wenn auch kein Titelbild. Es ging um die Neuanschaffung von Mittelstreckenmaschinen. Zur Wahl standen die zweistrahlige DC-9, die BAC-111, auch zweistrahlig, und die dreistrahlige britische ›Trident‹. In langen Beratungen und Konferenzen wurden nächtelang die Vorteile und Finanzierungsmöglichkeiten dieser drei Typen durchgesprochen. Die dreistrahlige Boeing 727, von der gerade die ›Lufthansa‹ eine Riesenoption in feste Bestellungen umgewandelt hatte, kam von vornherein wegen der größeren Kapazität, den höheren Kosten und den katastrophalen Finanzierungsbedingungen Boeings nicht in Frage.
Nach monatelangen Berechnungen entschied sich das gesamte Finanzierungsgremium für die DC-9, die für die Belange der ›Avitour‹ am geeignetsten schien. Quandt schob die gesamten Unterlagen mit den neuesten finanztechnischen Erkenntnissen in die äußerste Ecke seines Schreibtisches und zog unter den ungläubig staunenden Blicken der hohen Herren ein zerknittertes Bild aus seiner Brieftasche und entfaltete es.
Ob die Herren erkennen könnten, was das darstelle.
Natürlich, zögerte einer der Dresdner-Bank-Koryphäen, das sei eine Boeing Sieben-Zwo-Sieben; die sei ja aus sattsam bekannten Gründen von vornherein aus der Diskussion ausgeschieden.
»Die möchte ich!« verkündete Quandt dem sprachlosen Gremium mit dem verträumten Blick eines Kindes, das seine Weihnachtswünsche bekanntgibt. Und als einer der Aufsichtsratsvorsitzenden so etwas wie einen Satz zu formulieren anhob, kam ihm Quandt zuvor: »Ich will Ihnen sagen, warum: Der Flieger erinnert mich an die gute alte Tante Ju. Die war auch dreimotorig; und eine Ju-52 hat mir damals das Leben gerettet, als sie mich, schwerverwundet, aus Stalingrad ausflog. Das werde ich ihr nie vergessen, der Dreimotorigen!«
Irgendwer unter den Schweigenden begann:
»Aber Herr Quandt, wir können natürlich gern noch mal die Daten für die dreistrahlige ›Trident‹ überprüfen …«
»Nicht die ›Trident‹, Herr von Stolp!« unterbrach Quandt und starrte sinnend auf das Foto. »Die mag ich nicht, mit ihrem asymmetrischen Bugrad und ihrem British Styling. Diese Sieben-Zwo-Sieben, die strahlt so etwas wie Vertrauen aus. Die möchte ich!«
Jetzt brach eine irrsinnige Kakophonie von erregten Stimmen aus, in der vom Wirtschaftlichkeitskoeffizienten, von Optimalhöhe, Zuwachsgradienten, Kilometerpassagiertonnen und immer wieder von der Arroganz der Firma Boeing die Rede war, keine wie auch immer gearteten Zugeständnisse finanzieller Art zu machen; sie hatte das einfach nicht nötig.
»Offenbar haben die anderen es durchaus nötig!« warf Quandt schlicht ein. »Also: die Sieben-Zwo-Sieben – oder gar keine!«
Der Finanzmann, den Quandt als Verbindungsmann zur Dresdner Bank eingesetzt hatte, versuchte mühsam, sich auf das Niveau seines Chefs hinunterzubegeben und das ABC der Finanzierungspolitik einem I-Männchen beizubringen:
»Herr Quandt: Die Sieben-Zwo-Sieben ist nicht nur zu teuer; sie ist vor allem zu groß. In Deutschland schießen Chartergesellschaften wie Unkraut aus dem Boden. Der Zuwachs pro Teilhaber am Luftverkehr, selbst unter den günstigsten Umständen, liegt …«
Quandt war an den Zahlen gar nicht mehr interessiert:
»Die können noch rascher pleite gehen, als sie aus dem Boden schießen. Haben Sie das auch berücksichtigt, Kessler?«
Immer, wenn Leute wie Kessler in die Enge getrieben wurden, zogen sie sich auf die Automation zurück:
»Die IBM-Computer haben das alles exakt errechnet und ausgespuckt …«
»Sie spucken immer das aus, was vorher hineinprogrammiert wurde, Kessler! Können Sie nicht mal ein bißchen Optimismus hineinprogrammieren lassen? Und Liebe zur Sieben-Zwo-Sieben? Und einen Hauch von Nostalgie – für die gute alte Ju?« Und als Kessler sich, um Verständnis heischend und peinlich berührt, im illustren Kreis der Bankleute und Wirtschaftsexperten umsah: »Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Treten Sie Ihrem Computer kräftig in den Arsch und geben Sie ihm drei Wochen Erholungsurlaub!«
Sprach's, packte geradezu liebevoll sein Foto ein, erhob sich und verschwand.