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»Könnten wir Sie ein paar Minuten sprechen, Dr. Jason?«
Er hatte in der ›Altrheinschenke‹ gesessen. Wie einst Niko und Hanna hatte auch er eisgekühlten Kirschwein getrunken; die Schenke war bekannt dafür. Dann war er zurückgefahren in sein zum Künstleratelier umgebautes Bauernhaus. Zufällig hatte er über das Radio der Schenke von der Bombendrohung gehört. Sie ließ ihn eigentümlich kalt. Seine eigenen Aktionen waren alle gescheitert. Nicht einmal ein polizeilich genehmigter Protestzug zur Eröffnung war gelungen. Er hatte kapituliert. Die Koalition Regierungs-Industrie schaffte jeden Gegner.
Er war aus seinem Wagen gestiegen; schon waren drei Männer um ihn. Unwirsch versuchte er, sie abzuweisen. Er freute sich auf die schönste Stunde des Tages: Gegen Sonnenuntergang pflegte er in der riesigen Diele zu sitzen und einen Tee oder Whisky zu trinken. Aber schon lief ein Tonband, ein schmächtiger Assistent tastete ihn mit einem Belichtungsmesser ab, die Kamera surrte. Er hatte es mit einem Fernsehteam der ARD zu tun. Bildhintergrund: der verwilderte Garten mit der weißgetünchten Bauernhauswand. Sorgfältig beschnittene Rosensträucher, die in krassem Gegensatz zu dem verwahrlosten Durcheinander des Gartens standen.
Daß Jason von diesem Team und nicht von der Polizei im Empfang genommen wurde, hatte er einem seltsamen Zufall zu verdanken. Die Beamten waren nach halbstündiger Wartezeit ins offizielle Büro der ›Vereinigung Umweltschutz e.V.‹ gefahren, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen.
»Herr Dr. Jason: Sie gelten als der geistige Initiator der Flughafenprotestaktion. Wie stehen Sie zu dem jüngsten Terrorakt?«
»Ich verurteile ihn natürlich.«
»Er kommt aber Ihrem eindeutig proklamierten Ziel entgegen: Verhinderung eines neuen Großflughafens und seines Luftverkehrs.«
»Sie hätten nur eine einzige unserer Versammlungen zu besuchen brauchen – dieser Blödsinn wäre Ihnen im Hals steckengeblieben!«
»Bitte?«
»Um es noch einmal unmißverständlich zu betonen: Wir anerkennen die Notwendigkeit eines neuen Großflughafens in Mitteleuropa. Wir sind nicht gegen den Fortschritt, nicht gegen die Piloten. Im Gegenteil: Wir sehen die Piloten geradezu als unsere Verbündeten an. Sie bedienen ein lärmerzeugendes Gerät, das sie nicht konstruiert haben. Sie bemühen sich wie keine andere Berufsgruppe auf irgendeinem ähnlich gearteten Sektor um Lärmminderung im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Ihre An- und Abflugverfahren sind vorbildlich. Nein, es geht nicht um die Verhinderung des Baus …«
Er wartete, bis er gefragt wurde, worum es denn sonst ginge.
»Wir wehren uns gegen das rücksichtslose Vorgehen auf Kosten der unberührten Natur. Was uns aufrüttelt, ist nicht der Flughafen an sich. Es ist sein Standort! Kapieren Sie das doch endlich mal!« Wie immer steigerte sich Jason nur allzu leicht ins rein Emotionelle. »Wir kämpfen um die Einsicht, daß ein Sumpf in Zukunft wertvoller sein wird als ein sogenanntes kultiviertes Stück Ackerland. Darauf werden Tomaten angebaut, die dann mit staatlicher Subvention vernichtet werden, weil niemand an der Ernte interessiert ist.«
»Sie halten den Kühkopf für genauso wichtig wie die Nachtruhe der Einwohner von, sagen wir, Darmstadt?«
»Wenn ganz Deutschland betoniert ist, werden Sie mir recht geben. Da wird den Darmstädtern ihre Nachtruhe nichts mehr nützen. Sie zeugen nur noch Kinder, die für den Gifttod vorgesehen sind …«
Er rückte seine abgeschabte Kordjacke zurecht und nestelte am offenen Kragen seines dunkelbraun karierten Baumwollhemdes. Er wußte, daß er sich wieder wie ein Elefant im Porzellanladen benahm, daß Understatement nicht seine starke Seite war, daß er sich die letzten Sympathien verscherzte.
»Herr Dr. Jason: Ihr Motto lautet ›schafft mehr Sümpfe‹, statt ›schafft mehr Wohnraum‹. Sie sehen sich als unverstandener Prophet in der Betonwüste, dessen Wort erst gelten wird, wenn wir alle im Kohlendioxyd erstickt sind. Richtig?«
»Richtig!«
Nachdem die Kamera abgeschaltet war, zog Jason den jungen, sommersprossigen Mann am Jackenknopf heran und sagte: »Und wenn ich Ihnen noch privat einen Rat geben darf, junger Freund: Verbieten Sie Ihren Kindern, mit Spielzeugpistolen auf Menschen zu zielen! Dann verhindern Sie mehr zukünftige Terrorakte als all jene Heuchler, die als Nato-, Kriegs- und Krimibegeisterte nur dann gegen Gewalt sind, wenn sie gegen sie selbst gerichtet ist!«
Als er in der milden Dämmerung in der Wohnstube saß, verflog sein Ärger genauso rasch, wie er gekommen war. Das Birkenfeuer im offenen Kamin duftete nach einsamen Mooren, feuchtem Moos, endlosen Steppen. Er schlürfte Tee. Nördlich des Kühkopfes, über Schuster Wörth, glühte der Himmel vor den Erlen- und Weidengardinen in tiefem Purpur, der sich zum Kühkopf hin entfärbte.
Jason war vertraut mit der gesamten Landschaft des Mittelrheins. Er kannte alle Altrheinarme, den bei Lampertheim, bei Ketsch und im Taubergießengebiet. Sie glichen alle dem Kühkopf, den er am meisten liebte. Hier wohnte er, hier hatte er seine Kindheit verbracht.
All diese Schutzgebiete waren nicht nur geographisch Inseln oder Halbinseln. Sie waren die letzten Zufluchtstätten der vergewaltigten und ausgebeuteten Natur.
Man konnte in ihnen durch dschungelähnliches Dickicht streifen, bis zum Hals versinkend in Nessel- und Farnwüsteneien. Man konnte an schlingpflanzenüberwucherte Baumstumpflandschaften geraten, die an Borneo oder Burma erinnerten. Zwischen schimmernden Sumpfinseln ragten Moderstämme und versengte Äste in den laubverdeckten Himmel. Unwillkürlich stellte man sich die gelben Blitze von Tigern vor, griff nach der imaginären Machete, um sich einen Pfad durch unwegsame Lianenschlingen zu schlagen.
In manchen von diesen Urlandschaften konnte man mit Weitlingbooten fahren wie mit Einbäumen in Neuguinea. Man glitt durch Baum- und Parasitenpflanzengewölbe, flankiert von lila blühendem indischen Springkraut. Wenn die Sommersonne über der Rheinebene stand, herrschten hier Tropentemperaturen bis zu vierzig Grad. Die Luft flirrte und sirrte von Libellen – der braungelben Vierfleckigen, der bläulich schillernden Plattbauchlibelle, der metallisch glänzenden Metall-, der goldgrünen Goldjungfer. Skorpionwasserwanzen, Tauchkäfer, Wasserasseln und rostrote Teichschwimmer durchzuckten die Tümpel. Im Uferschilf raschelten Nutrias, schlängelten sich Nattern, blubberten Wechselkröten und Wassermolche.
Jeder, der hier eindrang, wurde durch die Wildnisatmosphäre in ihren Bann gezogen. Es gab in den Sumpfniederungen Löcher, die mit glasklarem Wasser gefüllt waren, auf deren Grund zahllose Quelltrichter sprudelten. Wer das Blauloch im Taubergießengebiet besuchte, wurde an die Kyanequelle bei Syrakus erinnert. Freilich wuchs hier nicht der dreikantige Papyrus, sondern Springkraut.
Wer sich nicht tief in die Saurierurlandschaft wagte, konnte durch Orchideenwiesen und Maisfelder schlendern, vorbei an Weißdornbüschen, Sumpfdotter und Berberitzen. Man konnte sich an einer Uferböschung niederlassen, die Beine baumeln lassen und auf den Tümpeln die Schwimmspuren der fleckigen Steinbeißer oder Bartgründel verfolgen. Oft wühlte eine Bisamratte oder Wasserschlange das Wasser auf. Irgendwo stand ein Graureiher und fischte. Der Gesang von Pirolen, Grasmücken, Laubsängern und Nachtigallen begleitete die wenigen Besucher. In den Sommermonaten waren es die Schnaken, die ›Rheinmoskitos‹, die den landläufigen Touristen abhielten. Dafür kamen echte Naturliebhaber aus Holland, England, Skandinavien angereist. Manche von ihnen übernachteten und kampierten wochenlang; nachts hörten sie das Schluchzen der Nachtigallen, den Schrei der Luchse, den Jagdruf der Käuzchen.
… Wenige Tage vorher, als es um die letzten Aktionen gegen den Flughafen und für den hessischen Kühkopf ging, hatte Jason noch einmal in alten Papieren geblättert. Schon 1972 hatte er auf die zunehmende Gefahr durch kritische Begegnungen mit Vögeln hingewiesen alles im Zusammenhang mit dem geplanten Otto-Lilienthal-Flughafen.
Die unmittelbaren Birdstrike-Schäden der ›Lufthansa‹ aus dem Jahr 1971 betrugen zum Beispiel 2,4 Millionen DM. Im letzten Jahr waren dem Luftfahrtbundesamt mehr als 260 Birdstrike-Schäden gemeldet worden.
In Anbetracht dieser Situation wirkten die Bemühungen, neben dem Vogelschutzgebiet Kühkopf einen internationalen Großflughafen aus dem Boden zu stampfen, geradezu atavistisch.
Jason legte einen neuen Scheit auf. Da schellte es.
Fluchend schlurfte er zur Tür, erspähte durch die Gardine des Flurfensters einen grünen Polizei-BMW, löste die Sicherungskette, drückte die Klinke, stellte fest, daß die Tür abgeschlossen war, der Schlüssel in seiner Hausjacke steckte, langte, das Auge an den Spion gepreßt, mit der Rechten zurück an die Garderobe und in die Jackentasche, schloß, noch immer auf das optimistische Uniformgrün des Polizisten im Ausschnitt starrend, auf, atmete tief den herbfrischen Abendwind ein und hob fragend die rechte Braue.
»Sind Sie Dr. Matthias Jason?«
»Ja?«
Die beiden Beamten waren jung und wirkten salopp und leger; der eine trug einen ansehnlichen Schnurrbart. Seine Haare quollen kraus unter der abgetragenen Dienstmütze hervor.
»Wir müssen Sie bitten, mit aufs Polizeirevier zu kommen.«
»Warum?«
Die beiden Beamten sahen sich zweifelnd an.
»Darüber können wir Ihnen nichts sagen!«
»Ich habe pünktlich meine Steuern bezahlt, bin kein Schwarzhörer und habe keine Geschwindigkeitsbegrenzungen überschritten!« sagte Jason.
Die beiden lachten.
»Darum geht es wohl nicht. Wir müssen Sie bitten, mit zum Flughafen zu kommen.«
»Nicht aufs nächste Polizeirevier?«
»Zum Flughafen, bitte.«
»Wenn ich mich weigere?«
»Dann würden Sie zwangsweise vorgeführt werden. Außerdem könnten Sie dadurch Menschenleben gefährden.«
»Menschenleben – ich gefährde keine Menschenleben!«
Die beiden jungen Männer in Uniform zuckten die Schultern.
»Kommen Sie?«
Er löschte das Feuer im Kamin, umständlich und sorgfältig, trank seinen Whisky aus, warf einen wehmütigen Blick auf Haeckers Tag- und Nachtbücher.
Er kam. Ein Riesenschwarm Krähen durchzog den sanft flammenden Abendhimmel.
Zum erstenmal an diesem Tag spiegelte das Gesicht des Polizeipräsidenten nach einem Telefongespräch pure, entspannte Zufriedenheit wider: Jason war auf dem Weg zum Flughafen.
Er sah auf seine Armbanduhr: 17.58 Uhr.
Er hatte seine große Aktion für 19.30 Uhr angesetzt: die Stunde der Dämmerung. Er wußte, daß die Spezialtruppe ausgezeichnet trainiert war, im Zwielicht zu schießen und zu treffen. Er konnte sich eine entsprechende Ausbildung bei den Terroristen schlecht vorstellen.
Für 18.45 Uhr hatte er die ›Generalstabsbesprechung‹ des Krisenstabes vorgesehen. Somit verblieben ihm, wenn Jason in den nächsten Minuten eintraf, knapp vierzig Minuten für ein Verhör.
Aber vorher versuchte er zum zweitenmal, Walkie-talkie-Kontakt zur Terroristengruppe herzustellen. Der erste Versuch war mißlungen; niemand hatte geantwortet.
Wie beim erstenmal befahl er seinem Assistenten, das Sprechgerät zu halten und zu bedienen, während er selber beim Anruf mit dem Fernglas das Funkhaus beobachtete.
»Hallo Terroristen! Hallo Terroristen! Hier spricht der Polizeipräsident. Er hat eine Nachricht für euch! Ich wiederhole .«
Während die zu laut gesprochenen Worte hinausklirrten, beobachteten auch die übrigen Anwesenden voller Spannung das Rollfeld: der Darmstädter Kripochef mit wild zerpflügter Haarmähne, ein Hauptmann des am Hafen stationierten Grenzschutzes, einige untergeordnete Beamte, Brändel, dem man die Sorge um seinen Flughafen aus jeder Faser eines erschöpften Gesichtes ablas, der Verkehrsminister, der fast pausenlos in den Nebenraum rannte, um die Verbindung mit Bonn aufrechtzuerhalten, und, als gelegentlicher Gasthörer, der hessische Innenminister.
»Hier ›Fall Lilienthals‹. Was gibt's?«
Die Erwiderung kam so unerwartet, daß Querholz zu antworten vergaß; sein Assistent mußte ihn anstoßen. Er habe eine wichtige Mitteilung zu machen. – Es gäbe nur eine einzige Mitteilung, die interessiere: die Übergabe von Kampinsky und zweieinhalb Millionen.
»Die zweieinhalb Millionen und das Flugzeug könnt ihr haben!« sagte Querholz forsch. »Kampinsky bekommt ihr nicht!«
»Dann werden noch vor Mitternacht die Bruchstücke eines Jumbos und die von zweihundertundzwanzig Passagieren über Deutschland herunterfallen!« sagte eine Stimme – es war eine weibliche.
»Kampinsky bekommt ihr nicht!« wiederholte er energisch. »Wir wissen inzwischen, daß eure Story mit der versteckten Bombe Bluff ist!«
»Gratulation! Morgen denkt ihr anders drüber. Lest mal die Morgenzeitung!«
»Wir wissen noch mehr: Du, Ira Hagenow, hast vor einem Jahr noch Hanna Mertz geheißen!«
Drüben blieb es still. Querholz zerbiß sich die Lippen; auf den nächsten Satz kam alles an. Er mußte treffsicher nachstoßen.
»Nochmalige Gratulation!« Sie antwortete doch noch, fügte hinzu: »Damit kriegt ihr euren Scheißdampfer nicht heil runter. Der geht drauf, ohne Kampinsky!«
»Ich will dir noch was verraten, Hanna: Ihr habt gar keine Bombe versteckt. Ihr blufft. Ihr versteht viel zuwenig von einem Flugzeug, um so was zu inszenieren! Dazu braucht man einen exakten Plan! Und weil ihr den nicht habt, deshalb kriegt ihr auch Kampinsky nicht! Niemals!«
Im Konferenzsaal konnte man ein Streichholz fallen hören. Obwohl nicht jeder wußte, was Querholz vorhatte, spürten alle, daß jetzt eine Entscheidung bevorstand. Selbst der Polizeipräsident war so angespannt, daß er trotz des vorgehaltenen Glases auf die Membrane des Funkgeräts starrte.
Drüben schwieg man sich aus. Aber als Querholz jetzt wieder das Glas höher nahm, sah er, daß das Mädchen sich mit zwei Männern beriet. Einer verschwand im Hintergrund ins Innere des Funkhauses.
Dann hörte man die weibliche Stimme:
»Ihr seid ein paar gottverdammte Arschlöcher, ihr Bullen! Ihr traut uns nicht mal einen astreinen Furz zu, was? Hört zu, ihr Trauerweiden: Wie ich euch kenne, beglotzt ihr uns jetzt durch eure japanischen Feldstecher! Seht mal gut her: Wir werden euch genau verraten, an welchem Spant, an welcher Querrippe die Bombe hängt, falls ihr wißt, was das ist, ein Spant! Wir kriegen Kampinsky; ihr kriegt unser Papierchen!«
Und jetzt sahen alle im Großen Konferenzsaal durch ihre Gläser, wie das Mädchen ein zeitungsgroßes Papier schwenkte, das ihr aus dem Hintergrund gereicht worden war.
Der Polizeipräsident setzte sein Glas ab – mit ihm alle Anwesenden. Er spürte, wie man ihn bewundernd ansah. Lässig deutete er seinem Assistenten an, das Gerät auszuschalten. Er richtete sich auf und sah seine Stäbler der Reihe nach an.
»Meine Herren!« sagte er dann. »Wir wissen jetzt, daß ein Plan existiert. Um 19.30 Uhr startet unser Angriff. Um 19.35 Uhr werden wir wissen, wo die Bombe versteckt ist …!«