3

»Geh, geh nur zu deinem Flittchen, du Hurenbock!«

Es war sieben Uhr morgens. Der Mann, dem diese Aufforderung nachgerufen wurde, wußte noch nicht, daß er außerplanmäßig auf die Bermudas fliegen sollte. Jeder in der Nachbarschaft der Blochs kannte derartige Verabschiedungsszenen, die an keine Tages- oder Nachtzeit gebunden waren.

»Schrei den halben Taunus zusammen, wenn es dir Spaß macht. Aber gib mir meine Arbeitstasche heraus!«

Sie stand breitbeinig vor dem Vestibülschrank, in dem er sein Reisegepäck zu verstauen pflegte. Sie riß die Tür auf und schob ihm die schwere Tasche wie einen Eiskegel über den glatten Fliesenflur zu.

»Und jetzt mach dich weg! Du kotzt mich an!«

Er griff seine Tasche und rettete sich durch die Haustür in den Vorgarten.

»Du elende Närrin! Das wird dir leid tun!«

»Das tut mir längst leid! Ich hätte dich gestern abend umbringen sollen!«

Obwohl seit mehr als einem Jahr jede körperliche Zuneigung in ihm erstorben war, hatte sie am Abend vorher wieder einmal versucht, ihn mit Gewalt in ihr Bett zu kriegen. Als ihr hautenges Cocktailkleid nicht wirkte, hatte sie es sich nach der dritten Flasche vom Leib gerissen und sich in Slip und BH aufs Bett geworfen, quite a sight, wie seine Kollegen gesagt hätten. Nicht für ihn! Er hatte die Tür hinter sich zugeknallt und sich in seinem eigenen Schlafzimmer eingeschlossen. Nachts hörte er sie in ihrem Laboratorium hantieren, wie so oft hatte sie sich dorthin zurückgezogen wie ein Kind in seine Spielhöhle.

»Ich weiß, daß du erst nachts fliegst, du Lump! Bedien deine verdammten Stratosphärenhuren besser als mich!«

Er floh in seinem Wagen, vergewisserte sich, daß sein Koffer vorhanden war, und jagte mit kreischenden Rädern davon.

Rut Bloch war 27, als sie ihre erste Fehlgeburt hatte; und obwohl ihr Mann bis zum heutigen Tag jeden Zusammenhang geleugnet hatte, stand für sie fest, daß damals seine Affären begonnen hatten. Spätestens nach der zweiten war die Kluft auch für ihre gemeinsamen Freunde offenbar; und öfter und länger zog sie sich in ihr Laboratorium zurück – eine Art Hobbyraum, wo sie die Experimente ihrer Studienjahre fortsetzte.

Anfang der sechziger Jahre hatte sie, eine der attraktivsten und intelligentesten Kommilitoninnen, drei Semester Physik und Chemie in Göttingen studiert. Allerdings verdrängten von Semester zu Semester mehr Partys und Budenfeste die Studienstunden. Bald hatte sie sich den Ruf einer zwar begeisterungsfähigen, aber krankhaft emotionalen und haltlosen Gefährtin erworben, mit der man durch dick und dünn gehen konnte, wenn sie dazu in Stimmung war, auf die jedoch kein Verlaß war. Sie konnte den ganzen Tag und die wichtigsten Termine verschlafen, die leutseligsten Zusammenkünfte mit ihren Heulkrämpfen schockieren und schreckte auch vor Selbstmorddrohungen nicht zurück, die allerdings niemand ernst nahm – irrtümlicherweise, wie sich nach dem ersten Versuch mit Schlaftabletten herausstellte.

Zwischen diesen Perioden tiefer Depression und Verzweiflung oder nackter, selbstzerstörerischer Wut auf alles und nichts konnte sie von bestrickendem Charme sein, so unwiderstehlich, daß selbst ein so korrekter und auf Form und Ruf bedachter Mann wie Christian Bloch davon angezogen wurde. Ihre Hochzeit fand im großen Kreis seiner Familie statt, in der schloßähnlichen Villa seiner Eltern bei Paderborn. Sie benahm sich so untadelig, daß die gesamte etikettehörige Verwandtschaft ihr höchstes Lob zollte.

Sie gab ihr Studium auf, blieb aber an ihrer Chemieküche hängen wie ein Teenager an seinen Puppen.

Irgendwann, wahrscheinlich schon während ihrer Universitätsjahre, hatte sie angefangen, Haschisch zu nehmen. Dann hatte sie darauf verzichtet zugunsten exzessiven Alkoholgenusses. Über ihre neuen Konsumgewohnheiten redeten sie nicht.

Ohne Rücksicht auf seine Flüge am nächsten Morgen pflegte sie ihn manchmal nachts, wenn sie sich schlaflos wälzte, aufzurütteln:

»Du schnarchst wie ein Walroß, Chris!«

Wenn er sich murrend auf die andere Seite warf, begann sie ihre großen, versoffenen Monologe:

»Du Lufttiger, du Wolkenhacker, du Stratosphärenhengst hast wohl durch meine Fehlversuche einen Kinderkomplex gekriegt. Jetzt treibst du es in der ganzen Welt, nur hier am Taunus nicht, weil du so penetrant auf deinen Scheißstinkruf bedacht bist. Aber in Burma, in Ghana, in Mexiko, da laufen sie rum, deine globalen Balgen, dutzendweise, die Mütter stehen Schlange an der Rolltreppe, wenn du landest.«

Inzwischen sah man ihrem einst fein ziselierten, zartknochigen Gesicht die durchwachten Nächte und geleerten Flaschen an. Das einzige, was die Gesellschaft noch interessierte, war, mit wem sie sich eigentlich schadlos hielt; seltsamerweise hatte sie niemand je mit in Frage kommenden Männern ertappt.

Ihr Holzbungalow, Statussymbol eines erfolgreichen Kapitänslebens, stand bei Königstein – ›in bezaubernder Südlage‹, wie es im Grundstücksprospekt einst geheißen hatte. Hangabwärts garantierte alter, unter Naturschutz stehender Baumbestand unverbaubare Weitsicht.

Sie hatte sich abgewöhnt, zu fragen, wann er wirklich flog, und nahm von vornherein pauschal an, er werde zunächst einmal die Nacht bei einer anderen verbringen. Manchmal rief sie ihm zum Abschied ein paar Schmährufe nach – ein normales, leidenschaftsloses Gespräch hatten sie in den letzten Monaten kaum je geführt.

Manchmal konnte sie stundenlang im Bad vor dem Spiegel verbringen: Sie legte ihre reizlose Hauskluft ab, suchte verbissen in ihrem Kleiderschrank und zog ein extravagantes Abendkleid, einen Cocktaildreß aus Organza oder ein elegantes Straßenkostüm heraus. Sie streifte ihre schäbig-billigen Stumpfhosen ab, zwängte sich in einen Strumpfhaltergürtel, wählte sorgfältig Nylon und Seide aus, zog Lippen und Brauen nach der letzten Mode nach und entzog sich auf hochhackigen Abendschuhen allen nachbarlichen Nachforschungen in Richtung Frankfurt oder Mainz.

Über Bad Soden fuhr Bloch rasch mit seinem weißen Mercedes zur Schnellstraße nach Wiesbaden. Von dort bog er ab auf den neuen Autobahnring, der den Flughafen umrundete – bis auf den westlichen Teil, wo er an den Altrheinarm stieß.

Natürlich hatte Rut recht, wenn sie argwöhnte, er würde den Tag bei einer anderen verbringen. Seine neueste, seine erregendste Eroberung hieß Karin … Aber wie konnte seine Frau das einfach als gegeben voraussetzen?

Er wollte sich genußvoll seinen Plänen für diesen Tag hingeben. Aber je tiefer er in die Ebene gelangte, um so dichter wurde der Nebel, um so dichter der Verkehr. Er kämpfte sich mühsam und im Schrittempo vorwärts.

Einmal wurde er gestoppt, weil eine geschlossene Kolonne schwarzer Mercedeswagen, eskortiert von weißen Mäusen auf BMW-Rädern, Vorfahrt erhielt: das Eröffnungskomitee im Anrollen. Er hatte nicht die Absicht, die Flughafeneröffnung mitzuerleben; aber er fühlte sich verpflichtet, einfach vorher einen Blick hineinzuwerfen. Bei Dispatch. Bei Operations. Bei Catering. An einem solchen feierlichen Tag mußte man spüren, daß er da war … Er würde Gundolf guten Tag sagen, ihm wünschen, er möge sich wohl fühlen in seiner neuen Behausung, wer weiß, wie man diese Leute einmal brauchen konnte, wenn man verspätet im Anflug aus Teneriffa zurückkehrte und gern eine Privatnachricht an Karin durchgeben wollte – nur Ehefrauen wurden offiziell über Verspätungen informiert.

Als er am Rhein-Spessart-Flughafen eintraf, erwartete ihn eine jener Überraschungen, an denen der moderne Luftverkehr so reich ist. Ob er Interesse daran habe, den Eröffnungsflug nach den Bermudas zu machen?

Bloch schluckte. Er hatte schon vor Wochen geschluckt, als ihm mitgeteilt wurde, er würde den Eröffnungsflug nicht machen. Als einer der drei ältesten Check-Kapitäne hatte er auf diesen Prestigeflug gehofft. Captain Laszt, dessen gleichgeartete Hoffnungen sich erfüllt hatten, war krank geworden – Virusinfektion. So korrigierte das Schicksal mitunter sich selber.

Er stand jetzt am Pult der Einsatzleitung, hinter dem hektisch telefoniert wurde. Hier trugen die Besatzungen sich anderthalb Stunden vor dem Flug ein, um zu dokumentieren, daß sie pünktlich zum Einsatz erschienen waren. Die beiden Burschen hinter der Glasscheibe hatten alle Hände voll zu tun, die drei pausenlos klingelnden Telefone und die Crewtrauben zu bedienen. Geriet ein Einsatz durcheinander, so wurden sie von den Betroffenen mit einer Sturzflut von Fragen und Wünschen überschüttet. Behielten sie die Vorgänge nicht unter Kontrolle, so zogen ihre Fehlentscheidungen meistens weitere Einsatzstörungen nach sich; und innerhalb weniger Minuten konnte durch drei Telefonanrufe mit falschen Informationen das schönste Chaos ausbrechen.

Bloch machte es sich in dem neuen kahlen, ungemütlichen Raum so gemütlich wie möglich. Von den kaum getrockneten Wänden bröckelte bereits der erste Putz. Gut, daß er alle Reiseutensilien schon im Wagen hatte. Die Streckenunterlagen würde er sich von der Kartenstelle in aller Ruhe besorgen können. Ihm blieben noch weit über zwei Stunden Zeit. Karin, allerdings, würde warten müssen. Anrufen nicht vergessen, vorausgesetzt, im neuen Gebäude existierte überhaupt schon ein funktionierendes Privattelefon. Bisher hatte er an den öffentlichen Zellen nur heraushängende Kabel und plastikverpackte Wählautomaten stehen sehen.

Karin Swoboda: In welcher Kleidung auch immer er sie sich vorzustellen begann – nach wenigen Atemzügen sah er sie immer nur nackt vor sich. Sie war knapp dreißig und die Assistentin eines Universitätsprofessors. Sie besaß die makelloseste Haut, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Allerdings, seine Erfahrungen mit Frauen waren nicht übermäßig groß. Er hatte die Hälfte seines Lebens auf dem Standpunkt gestanden, man könne die Freuden von Sex und Erotik nur in einer langen, intensiven Ehe voll auskosten und vertiefen. Da er die korrekte Ausübung seines Berufs über alles stellte, war überdies die Zeit für Seitensprünge begrenzt.

»Ja, Captain Bloch ist bereit, einzuspringen. Er steht hier vor mir und hat alles dabei.«

Sie war von herber Schönheit, sehr natürlich und ungeniert. Wenn sie sich auf die Kissen zurückfallen ließ, den Kopf zur Seite geneigt, aber die großen Augen fest und unablässig auf ihn gerichtet, wenn sie …

»OPS will wissen, ob Sie die theoretische Platzeinweisung für Hamilton schon gemacht haben.«

»Schon gemacht«, murmelte Bloch.

Am liebsten mochte er sie in ihrem hauchdünnen Chiffonnachtkleid. Er war ein Mann, der sich nicht lange mit Präliminarien aufhielt und ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse seiner Partnerin auf sein Ziel losging. Dafür besaß er die Gabe, sich danach mit einem gewissen Grad von Einfühlungsvermögen mit ihr beschäftigen zu können.

»Also: Die Sache ist okay. Sie übernehmen dann den Bermudatrip. Briefing mit der Crew in einer Stunde!«

»Fein!« sagte er und dachte an etwas anderes.

Schade, daß er vorher nicht mehr zu ihr konnte. Andererseits fand er die Aussicht, sich in einem langen, komplizierten Flug mit Repräsentationsfeierlichkeiten nach ihr zu verzehren, nicht einmal so übel. Ein Mann mußte sich beherrschen können.

Um die Zeit bis zum Briefing zu überbrücken und sich abzulenken, gleichzeitig, um seine Fähigkeiten immer wieder beruflich up to date zu bringen, beschloß er, sich im Einweisungsautomaten noch einmal die Anflugkarten Teherans anzusehen. Er war nur selten dort gewesen, kannte lediglich die Hauptziele der ›Avitour‹ im mediterranen Raum, wollte aber jederzeit auf dem laufenden sein.

Der fensterlose Raum bestand aus einem Projektionsapparat, der mit einem Tonbandgerät gekoppelt war. Aus einem Regal zog man unter der Gruppe ›Plätze‹ T – Z die Diakassette für Teheran, setzte sie in den Apparat ein, schaltete nach einer aushängenden Bedienungsvorschrift alle Geräte ein und kam so in den Genuß einer mündlichen und bildlichen Einweisung in die Anflugprobleme Teherans.

Bloch schloß den Raum auf, schaltete das Licht ein, schnüffelte unbehaglich den feuchtmuffigen Geruch des ungelüfteten Zimmers ein und machte sich an die Arbeit.

Eberhard Mahlberg, 1. Offizier und Copilot auf der ›Steppenadler‹, wußte zu diesem Zeitpunkt nicht, was ihm bevorstand: Er ahnte nicht, daß Bloch die Stelle des erkrankten Kommandanten Lazst einnehmen würde.

Er war mehr als eine Stunde zu früh am Flughafen angelangt. Er hatte mit immensen Stauungen aufgrund der Eröffnungsfeierlichkeiten gerechnet, aber dann eine Seitenspur entdeckt, auf der er alle Schlangen überholen konnte. Um die Wartezeit zu überbrücken, hatte er zunächst die Arbeit der Flugdienstzentrale verfolgt, die inmitten eines Chaos nicht funktionierender Elektronik die Flüge von mehr als einem Dutzend ›Avitour‹-Maschinen überwachen und betreuen mußte.

Danach war er durch die Trümmerlandschaft der umziehenden Abteilungen geschlendert. Irgendwo hatte er zwischen kalkberieselten Akten sein eigenes Dossier entdeckt und darin geblättert. Den Piloten war vertraglich die Einsichtnahme in ihre Akten zugesichert worden. Bestand ein Copilot allerdings auf seinem Recht, so waren die entsprechenden Unterlagen oft gerade nicht greifbar, oder der zuständige Betreuer machte süffisante Bemerkungen (›Warum wollen Sie unbedingt diesen Schmarren lesen? Erwarten Sie etwa eine negative Beurteilung? Was haben Sie denn verbrochen, mein Bester?‹).

Er hatte ungestört in seinen Beurteilungen blättern können – sie interessierten ihn nicht übermäßig. Aber die Beurteilungsart warf ein interessantes Licht auf seine Vorgesetzten.

Mahlberg, Eberhard, geb. 7.2.1940 in Stade. Eintrittsdatum ›Avitour‹ 1.12.1964. Personalkontonummer 7439. Airline Transport Pilot Licence Nr. 128-33 am 30.4.1968. Copilot auf Caravelle, DC-9, DC-10.

… Herr Mahlberg ist an und für sich ein guter, zuverlässiger Pilot. Er hat auf zahlreichen Flügen mit mir bewiesen, daß er alle Funktionen eines zweiten Offiziers zur vollen Zufriedenheit erfüllen kann. Seine Schwierigkeiten liegen auf persönlichem Gebiet. Die Zusammenarbeit an Bord gestaltete sich oft unerquicklich, weil Herr M. nicht bereit ist, den Kapitän als grundsätzliche Autorität uneingeschränkt anzuerkennen. Seine Aufmüpfigkeit hat mehrmals zu Situationen geführt, in denen ich nur durch energisches Bestehen auf meiner Befehlsgewalt …

gez. Capt. Chr. E. Bloch

War Herr Eberhard Mahlberg nicht nur an Bord, sondern auch auf den Stops ein Kumpel, auf den man sich verlassen konnte …

gez. Walther K.

… M. fliegt nicht nur einwandfrei; er sorgt auch für gute Laune – ein wesentlicher Faktor auf einem öden Achtstundenflug …

gez. Capt. Zedler

… Mehrmals mußte Herr M. auf die Grenzen seiner Copilotenfunktion hingewiesen werden. Einmal griff er mir ins Steuer, als ich …

gez. Hoboldt, Checkkapitän DC-9.

Landung bei 200 Fuß/700 m (unerwartet auftretender Seenebel) auf Teneriffa einwandfrei. Beim Ausrollen etwas nervös im Seitenruder, aber sicher. Start bei 18 Knoten Querwind o.k … Aber weshalb muß Herr M. immer wieder die Meinung von Kapitänen korrigieren wollen, die mehr Erfahrung als er besitzen?

Gez. Capt. Chr. E. Bloch.

Dann hatte Mahlberg sich in den Crew-Aufenthaltsraum begeben, wo eine durcheinanderwirbelnde Fülle von Besatzungsmitgliedern ihre Wartezeiten verbrachte: Bordingenieure, Piloten, Stewardessen in den umbrabraunen Sackkleidern mit riesengroßen aufgesetzten Taschen, die von Rudi Gernreich entworfen waren und nur schmalhüftigen Mädchen standen.

Trotz der laufenden Eröffnungszeremonien war in diesem Raum so gut wie nichts fertig. Das überraschte keinen alten Hasen: Die Crews rangierten auf der Bedarfsliste der Flughafenverwaltungen stets an allerletzter Stelle. Mahlberg hatte im Vorbeischlendern am Fünf-Sterne-Lindbergh-Luxusgrill (Spezialitäten aus fünf Kontinenten) das Reporterteam beobachtet, das entzückt seine Breitwandfotos schoß. In den schäbigen Ruheräumen der Crews hatte sich noch kein Fotograf blicken lassen. Es hätte eines Wallraff oder einer Erika Runge bedurft, hier einem interessanten Stoff auf die Spur zu kommen. Aber beide waren offensichtlich der Ansicht, daß es jenseits der profanen Arbeiterwelt keine Mißstände gab, schon gar nicht in den olympischen Gefilden der Vierstreifenkoryphäen.

Gesprächsfetzen, Bruchstücke, Anglizismen, ins Gebrauchsdeutsche übertragen: Und wir völlig auf dem Zahnfleisch völlig out of service arriven zwar an time aber am falschen gate … schon beim climb-out eine fluctuation auf dem Einser … am counter hatten sich drei upgegradet und ausgerechnet die schlugen sich um den Kaviar … mit dem fuel hätten wir die Welt umsegeln können aber wir sind trotzdem divertet.

»Die Fliegerei«, sagte Mahlberg zu einer Gruppe von Kollegen, »könnte so wunderbar wie ein ordentlicher Geschlechtsverkehr sein. Wenn nur die Kapitäne nicht wären!«

Er ließ sich über die einzelnen Kapitänstypen aus; nach seiner Typologie gab es ›den Übervorsichtigen‹, ›den Frauenhelden‹, ›den nostalgischen Kriegsflieger‹, ›den von Minderwertigkeitskomplexen Geplagten‹ und ›den Herrn Luftfahrt in Person‹! Über die letzte Gattung äußerte er sich:

»Er ist der Stellvertreter der Heiligen Aeronautik auf Erden. Ein vom Himmel Gesandter. Die Formel von Auftrieb und Widerstand ist für ihn eine magische Beschwörungsformel, die Flugbetriebsvorschrift eine religiöse Erbauungsschrift. Natürlich muß er an Bord alles selber machen, weil außer ihm niemand auch nur die Grundbegriffe der Aerodynamik begriffen hat.«

»Wozu würdest du deinen heutigen Leitstern rechnen?«

»Den Laszt? Oh … ertragbares Altertum. Einer der Tolerantesten der alten Schule.« Mahlberg meinte die Generationsgruppe der alten Luftwaffenpiloten. Sie hatten ihre Eigenheiten. »Ich kenne einen, der war beleidigt, wenn man nach dem Flug im Restaurant nicht das gleiche bestellte wie er. Ein Affront gegen seinen einzigartigen gastronomischen Geschmack. Ich hatte gewagt, T-bone-Steak zu nehmen, als er Schnitzel à la Holstein bestellte. Ich durfte das Steuer nicht mehr anrühren. Von der Kommißkoppvulgärterminologie, mit der diese Herren die Leistungen ihrer Novizen bedenken, gar nicht zu reden!«

Seine Zuhörer sahen sich scheu um, ob keiner der Betroffenen in der Nähe war.

»Wieso Laszt?« fragte einer der Piloten ihn. »Du fliegst mit Bloch.«

Die Bombe schlug ein. Eberhard Mahlberg ging in die Knie.

»Last Minute Change?«

Alle nickten mitleidig: Änderung in letzter Minute.

»Scheiße!« sagte Mahlberg vernehmlich. »Das war der mit dem Holstein-Schnitzel. Und das auf einem Eröffnungsflug!«