16


Verdammt noch mal, dieses Haus hätte ihr gehören sollen!

In dem einstmals imposanten Queen-Anne-Landhaus auf den Klippen über der Bucht, einem Anwesen, das früher genauso majestätisch gewesen war wie das Haus der Cahills, legte Elyse ihre Kleider ab. Als Kind hatte sie zu den verzierten, palladianischen Bogenfenstern, den weitläufigen Veranden und den kunstreichen Türmchen aufgeblickt und davon geträumt, was sich wohl im Inneren verbergen mochte, welche Geheimnisse das vor einem Jahrhundert erbaute Haus hüten mochte.

Jetzt wusste sie es.

Mit ihrem Erbe wäre sie endlich in der Lage, das Haus zu mieten, und bald, sofern alles nach Plan verlief, würde es ihr gehören, und sie würde das verfallende Gebäude wieder in seinem alten majestätischen Glanz erstrahlen lassen. Es war nur eine Frage der Zeit. Und die Uhr tickte.

Sie duschte und schlüpfte in ihren Lieblingsbademantel. Hierher gehörte sie, dieses Gebäude nannte sie insgeheim ihr Zuhause. Das Haus stand schon lange leer und wies bereits Zeichen der Vernachlässigung auf, was eine Schande war. Sie wusste, dass hier früher einmal glänzende Partys stattgefunden hatten, und wenn sie die Augen schloss, hörte sie das Klirren von Gläsern, das Lachen und leise Musik in den Fluren und Treppenhäusern. Vor ihrem inneren Auge sah sie den gedämpften, romantischen Schimmer von Kronleuchtern, die vom stetigen Polieren glänzten. Das Grundstück war gepflegt, aus der Küche drangen immer warme Düfte, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, Personal gab es im Überfluss.

Und dort hätte die Liebe einziehen können …

Oder … bildete sie sich das alles nur ein? Manchmal verhaspelte sie sich in ihren eigenen Phantasien … oder?

Doch sie war sicher, dass es hier Glück und Hoffnung gegeben hatte, die menschliche Wärme und Geborgenheit, die sie nie hatte erfahren dürfen.

Und sie gehörte hierher.

Ihr Herz tat weh bei dem Gedanken an die Zeit, die es nie gegeben hatte, das Leben, das sie nicht gelebt hatte … oder doch? Manchmal verwischten sich ihre Erinnerungen an die Vergangenheit ein wenig, was sie beunruhigte. Sie konnte sich auf ihren scharfen Verstand und ihre Wachsamkeit verlassen, aber die Vergangenheit … Das war etwas, woran sie nicht gern dachte, aber die Erinnerung war nicht immer deutlich. Manchmal war es so, als wäre der Kristalllüster staubig geworden – verschwommen und undeutlich in ihrem Bewusstsein. Als ob sie den Verstand verlöre. Aber sie war viel zu jung, um von etwas so Beunruhigendem wie Demenz behindert zu werden. Ausgeschlossen.

Nein, sie war nur nervlich überreizt.

Und emotional.

So konnte es einem ergehen, wenn man mit Marla zu tun hatte … Sie brachte die Menschen an den Rand des Wahnsinns.

Elyse verdrängte die düsteren Gedanken, zündete im Schlafzimmer Feuer im Kamin an, entkorkte eine Flasche Wein und wartete, während die Standuhr im Flur die Minuten ihres Lebens wegtickte, die Kerzen, die sie um das Bett herum aufgestellt hatte, weiches Licht verstrahlten und die Gasheizung zischte.

Sie sah nach, wie spät es war. Den Bruchteil einer Sekunde lang fürchtete sie, er könnte wieder absagen.

Und wenn es tatsächlich vorbei wäre?

Was würde sie dann tun?

Plötzlich fühlte sie sich so klein und allein … Ihr ganzes Leben lang war sie allein gewesen. Klar, sie hatte Eltern gehabt, aber hatten die jemals wirklich mit ihr geredet, Interesse gezeigt? Höchstens, wenn es in ihren Plan passte. Für zwei Menschen, die behaupteten, sich dringend ein Kind zu wünschen, hatten sie sich eindeutig als unzulänglich in Bezug auf elterliche Fürsorge erwiesen.

Elyse war nicht in Armut aufgewachsen, hatte aber auch nie solchen Reichtum erlebt wie Cissy, ebenso wenig wie all die Beachtung, die Cissy fand, allein deswegen, weil sie eine Cahill war.

Cissy. Himmel noch mal, wie war sie zu diesem blöden Kleinmädchennamen gekommen? Elyse fragte sich, wie es wohl gewesen sein mochte, in diesem riesigen Herrenhaus mit Blick auf die City aufzuwachsen, niemals mit anhören zu müssen, wenn die Eltern, im Glauben, das liebste Töchterlein würde sie nicht hören, wegen Geld stritten. Cissy war umgeben von Eltern und Großeltern, war die Tochter einer der angesehensten Familien in der gesamten Umgebung von San Francisco. Das dachte Elyse zumindest. Das kleine Vermögen, das ihre Eltern im Lauf ihres Lebens hatten anhäufen können, war ein Nichts im Vergleich zu dem Reichtum der Familie Amhurst-Cahill.

Das Leben ist ungerecht, sagte sie sich. Du darfst nicht erwarten, dass das Schicksal Vermögen austeilt. Du selbst bist deines Glückes Schmied. Und du handelst entsprechend.

Jetzt wartete sie auf einen Mann, der sie, wie sie wusste, nicht wirklich liebte, auf einen Mann, dem sie nie so wichtig sein würde wie seine verdammte Frau.

Wer ist hier der Idiot?

Überleg mal, was du für ihn getan hast.

Überleg, wie viele Menschen du betrogen, getötet hast.

Für ihn.

O ja, du erzählst Marla, du tätest es für sie, aber du weißt es besser. Du belügst dich nur selbst, und jetzt liegst du in diesem großen Bett, in einem Zimmer mit Blick auf die Bucht, in einem Haus, das dir gehören sollte, dir aber vorenthalten wird, während du auf einen Mann wartest, dem du im Grunde nicht traust.

»Er wird kommen«, sagte sie laut, und ihre Stimme schien von den Wänden widerzuhallen. »Er wird kommen. Es wäre besser für ihn.«

Ihr Therapeut hatte ihr geraten, keine falschen Hoffnungen zu nähren, nicht mehr von den Menschen zu erwarten, als sie fähig waren zu geben. Aber warum konnten sie nicht geben? Warum hatte sie keine wahre Mutterliebe erfahren können? Oder die Liebe eines Ehemanns? Der Sack, mit dem sie verheiratet gewesen war, hatte nie Zeit für sie gehabt, war mit seinem Beruf verheiratet und verstand sie nicht. Vielmehr tat er so, als wäre sie diejenige, die ein Problem hatte. Als wäre sie verrückt. Wie hatte er sie genannt? Eine »psychopathische Ziege«? Sie konnte sich glücklich schätzen, ihn los zu sein. Wirklich glücklich!

Dennoch machte es ihr immer noch zu schaffen, dass sie keinen Mann fand, dem sie etwas bedeutete, der sie liebte, um sie kämpfte, sogar bereit war, für sie zu sterben.

Bald würde dieses Marla-Dilemma vorüber sein, dann würde Elyse haben, was sie wollte. Dann musste sie nicht mehr zu dem Bungalow hetzen, in dem sich Marla immer noch versteckte. Herrgott, wie ihr das allmählich auf die Nerven ging. Früher oder später würde jemand sie sehen. Da war dieser Zwischenfall mit dem Radfahrer, und kürzlich abends war sie über eine Katze gestolpert. Das verfluchte Vieh hatte geschrien wie am Spieß, während eine neugierige Nachbarin durch die Jalousien linste, dieselbe alte Hexe, die sie schon einmal beobachtet hatte.

Elyse durfte keine Risiken mehr eingehen.

Es war Zeit, die Sache zu Ende zu bringen. Das Endziel anzuvisieren.

Aber wo zum Teufel blieb er?

Durchs offene Fenster hörte sie den sonoren Ton eines Nebelhorns, dann das leise Rumpeln eines Motors. Sie lächelte erleichtert, als sie das Geräusch erkannte.

Er hatte sie nicht versetzt.

Unmöglich.

Er kam! Ihr Lächeln wurde breiter, als sie sich vorstellte, was sie mit ihm tun würde, um ihm zu beweisen, wie sehr sie ihn liebte, um ihm zu zeigen, wie wichtig er für sie war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich ein wenig; sie zupfte die Aufschläge ihres Bademantels zurecht und warf einen Blick in den Spiegel, um zu kontrollieren, ob ihr Haar angemessen zerwühlt und ein guter Einblick in ihr Dekolleté gewährleistet war, ob ihre Lippen feucht schimmerten und ach so sündige Freuden verhießen.

Das Motorengeräusch kam näher, wurde lauter und verstummte dann plötzlich.

Sie wartete. Zählte ihre Herzschläge.

Binnen Sekunden wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht. Sie krallte die Finger ins Laken.

Er sprach kein Wort, schloss nur leise die Tür hinter sich. Sie hörte seine Schritte auf dem Fußboden der Eingangshalle. Liebster, dachte sie.

Er stieg die Treppe herauf, seine Schritte beschleunigten sich, als er sich dem ersten Stock näherte.

Er klopfte leicht an die Tür, öffnete sie, und Elyse lag mit hellwachen Sinnen in den Kissen, als er in das dunkle, nur von Kerzen beleuchtete Schlafzimmer trat.

Sein immer so verführerisches Lächeln wurde breiter. Himmel, er sah so gut aus.

»Tut mir leid wegen gestern Abend«, sagte er ohne jedwede Einleitung und knöpfte sein Hemd auf. Sie sah zu, wie die kleinen perlmuttfarbenen Scheibchen durch die Knopflöcher glitten. Er war braungebrannt und durchtrainiert, sein Waschbrettbauch muskulös, sein Brusthaar dicht und kraus.

»Tu das nie wieder.«

»Aber nein.« Er sagte es leichthin, viel zu leicht, keineswegs wie ein Versprechen.

»Komm her, du«, sagte sie, und er kam zu ihr, warf sich auf die weiche Matratze, packte Elyse und küsste sie, bis sie nach Luft rang. Seine Hände waren überall, lösten den Gürtelknoten ihres Bademantels, schoben den weichen Samt beinahe grob von ihren Schultern. Als könnte er es nicht erwarten. Er küsste ihre Brüste, seine Finger kneteten ihren Rücken, doch sie wollte ihn nicht mit einem raschen, flüchtigen Fick davonkommen lassen. Genau das würde sie jetzt nicht zulassen. Er sollte sie lange und gründlich befriedigen, und sie würde das Gleiche für ihn tun.

»Langsam«, flüsterte sie ihm ins Ohr, obwohl sie innerlich schmolz vor Verlangen.

»Ich kann nicht.«

»O doch … Wir haben die ganze Nacht vor uns.«

Er widersprach nicht und ließ sich Zeit, doch lange, bevor sie bereit war, drang er in sie ein und vergaß alle Hemmungen. Auch sie geriet in den wilden Sog des Liebesakts, bettelte um mehr. »Härter«, schrie sie. »Mach schon, schneller.« Sie wollte so viel von ihm. Sie schwitzte und schrie und kratzte, während er sie zum Höhepunkt brachte. Kein Vorspiel, kein Betteln ihrerseits, nur um sich dann zu verweigern und von vorn anzufangen.

An diesem Abend war es anders. Etwas wie Verzweiflung war im Spiel. So schnell. So heftig. So wild. Beinahe so, als fürchtete er, es würde nie wieder geschehen.

Aber das stimmte doch nicht … oder?

Als er auf sie sank und sie ins flackernde Licht der Kerzen blickte, spürte sie, wie unglücklich sich alles entwickelte. Er liebte seine Frau immer noch. Und er würde sie immer lieben. Und das brachte sie um.

»Tut mir leid, aber ich muss gehen«, sagte er außer Atem.

»Aber, hey, das war … toll.«

»Toll«, wiederholte sie.

»Wie immer.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, und sie empfand eine so tiefe Enttäuschung, dass sich ein dunkler Abgrund in ihrer Seele auftat.

»Ich dachte, du würdest bleiben.«

»Ich kann nicht. Heute nicht.« Er wälzte sich von ihr herab und begann bereits, sich hastig anzuziehen, als könnte der Abschied gar nicht schnell genug kommen.

»Warum?«

»Du weißt, warum. Kann es nicht riskieren, erwischt zu werden. Ich habe jetzt ständig mit den Bullen zu tun und mit der Familie, und wir dürfen einfach kein Risiko mehr eingehen.«

»Du machst Schluss mit mir?«, fragte sie und verabscheute den hysterischen Unterton in ihrer Stimme, die unangenehm kreischend klang. Sie musste sich zusammenreißen.

»O nein, nein! Machst du Witze? Mit dir habe ich den besten Sex meines Lebens, aber wir dürfen unser Ziel nicht aus dem Auge verlieren.«

»Und wenn wir es erreicht haben? Das Ziel? Was dann?«

»Dann ist der Himmel die Grenze«, sagte er, zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und spannte den Bauch an, als er den Knopf schloss. »Warte nur.« Er griff nach seinem Hemd und schob die Hände in die Ärmel. Elyse hatte sich gefangen; sie versuchte es mit einem enttäuschten, schmollenden Blick, doch er ignorierte sie und schlüpfte im Kerzenschein in seine Schuhe.

»Verlass mich nicht, Jack«, flüsterte sie, doch er gab vor, sie nicht zu hören, hatte nicht einmal den Mut, sich ihr zu stellen. Stattdessen verließ er ihr Schlafzimmer, vierzig Minuten, nachdem er es betreten hatte.

Und dann war der Scheißkerl fort.

»Hör dir das an«, sagte Paterno, als Janet Quinn sich auf dem Beifahrersitz seines Cadillacs niederließ. »Die Polizei in Sausalito hat am Schauplatz des Mords an Cherise Haare gefunden. Rote Haare. Cherise’ waren es nicht, auch nicht die von anderen Familienmitgliedern.«

»Rote Haare?«

Er drehte den Zündschlüssel, und der alte V-8-Motor erwachte röhrend zum Leben. »Und sie stimmen auch nicht mit den Haaren an dem Schraubenzieher überein, der an dem Abend das Torschloss blockiert hat, an dem Cissy glaubt, ihre Mutter gesehen zu haben.

»Und wenn wir der Videoaufzeichnung vom Krankenhausparkplatz Glauben schenken wollen, hat sie sie tatsächlich gesehen.« Quinn furchte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ergibt das einen Sinn?«

»Wer weiß?« Paterno seufzte und fädelte den Cadillac, immer noch rätselnd, in den fließenden Verkehr ein, wobei ihm auffiel, wie schmal die Straße war. »Cissy behauptet, außer dem Becher ihres Kleinen und ihrem Handy wäre auch ihre Haarbürste verschwunden. Vielleicht hat Marla die Haare an den Schraubenzieher appliziert.«

»Um dann ihre eigenen in Faviers Haus zu hinterlassen?«, fragte Quinn skeptisch.

Er riss das Steuer herum und fuhr in nördlicher Richtung weiter. »Bei der Haustür wurden ziemlich viele Haare gefunden, und eines davon war anders. Es war synthetisch.«

»Eine Perücke?«

»Ja. Und die Polizei in Sausalito hat keine weiteren auf dem Grundstück gefunden. Die Reinigungskräfte waren am Vortag dort, also ist es unwahrscheinlich, dass das Haar von einem anderen Besucher stammt.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Quinn. »Dass die echten Haare oder die von der Perücke absichtlich dort hinterlassen worden sind?«

»Das ist ja das Problem. Ich weiß nicht, was ich damit sagen will«, gab Paterno zu und lenkte seinen großen Wagen um einen Lieferwagen herum, der in zweiter Reihe parkte. Ein jüngeres Jaguarmodell, das ihm entgegenkam, musste Paternos wegen warten, und der Fahrer, ein Weißer in den Zwanzigern, hupte den Cadillac an. Kaum vorbeigefahren, gab der Typ ordentlich Gas, um seine Männlichkeit und seine Ungeduld unter Beweis zu stellen.

»Blöder Sack«, sagte Paterno und fuhr ungerührt weiter auf die Golden Gate Bridge zu. Sein Ziel war Sausalito, wo er den Tatort in Faviers Haus noch einmal in Augenschein nehmen wollte. Er hatte die Berichte gehört, die Bilder gesehen und die anderen Polizisten und die Leute vom FBI ihre Arbeit erledigen lassen, doch jetzt wollte er alles mit eigenen Augen sehen, sich selbst ein Bild von dem machen, was geschehen war.

Der Himmel war klar, die Wintersonne strahlte, ließ das Wasser aufblitzen und schien mit so viel Kraft auf die Windschutzscheiben, dass es im Wageninneren warm wurde. Unter anderen Umständen hätte Paterno den Tag genossen, wäre hinunter an die Docks gegangen und hätte vielleicht ein bisschen geangelt. Heute war er angespannt; der Fall machte ihm schwer zu schaffen. Wieder war Marla Cahill augenscheinlich das Bindeglied, doch es steckte noch mehr dahinter, und der Dreh- und Angelpunkt war Marlas Komplizin, ein Gespenst mit üblen Absichten.

Für den eher unwahrscheinlichen Fall, dass der Mord an Cherise in keinem Zusammenhang mit den anderen Morden stand, hatte er Ex-Männer, Kinder, entferntere Verwandte und Freunde überprüft. Alarmglocken hatten dabei nicht geläutet. Heather Van Arsdale, die Geliebte des Reverend, hatte ein Alibi; sie war zur Tatzeit mit dem Prediger und anderen Teilnehmern auf der Konferenz in Sacramento zusammen gewesen. Es gab auch keinerlei Hinweise darauf, dass sie einen Auftragskiller auf die Frau ihres Liebhabers angesetzt haben könnte. Das war bestenfalls an den Haaren herbeigezogen.

Paterno hatte Karten von der Umgebung studiert, die Orte, an denen die Opfer gefunden wurden, mit Kopfnadeln markiert und versucht, ein Muster zu entdecken, einen Hinweis auf der Karte, dem man den Wohnort des Mörders entnehmen könnte. Bislang war alles reine Zeitverschwendung gewesen, sinnlose Übungen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Marla Cahill hinter den Morden steckte. Die Tatorte gaben jedoch keinen Aufschluss über ihr Versteck. Sie verrieten ihm lediglich, dass sie systematisch ein Mitglied ihrer Familie nach dem anderen aus dem Weg räumte. Offenbar hatte sie ihren Ausbruch aus dem Gefängnis geplant, um irgendwie Rache zu nehmen. Ein Statement abzugeben.

Inzwischen hatte die Polizei eine Kopie der Telefonprotokolle von Faviers Festnetz und Cherise’ Handy angefertigt. Die meisten Personen, die auf dem Handy angerufen hatten, waren Freunde und Gemeindemitglieder, sie alle hatten hieb- und stichfeste Alibis. Es gab nur eine Abweichung. Die letzte Person, die Cherise angerufen hatte, war Cissy Cahill Holt. Sie hatte von ihrem Handy aus angerufen – von dem Gerät, das »verschwunden« war – und ein paar Minuten mit Cherise geredet. Nach Aussage der Mobilfunkgesellschaft war der Anruf in der Nähe eines Funkmasts nicht weit von Cissys Haus getätigt worden … Hatte Cissy, was das gestohlene Handy betraf, gelogen und persönlich Cherise angerufen? Oder hatte jemand das Gespräch von einem Ort in der Nähe von Cissys Wohnung geführt, um die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu treiben und Cissy die Schuld zuzuschieben?

Wie groß war die Chance, dass dies zutraf?

Cissys Telefonprotokoll ergab zudem, dass sie nach dem Anruf bei Cherise ihren Mann angewählt, aber gleich wieder aufgelegt hatte. An diesem Abend waren keine weiteren Gespräche hinausgegangen, und die eingehenden waren sämtlich kurz, weniger als zwanzig Sekunden lang, wahrscheinlich Kurzmitteilungen. Wahrscheinlich hatten zahlreiche Personen angerufen, um ihr Beileid oder ihre Anteilnahme auszudrücken, und ein Anruf kam aus dem Haus der Holts, vermutlich, weil Cissy auf der Suche nach ihrem Handy ihre eigene Nummer angewählt hatte.

Paterno klappte den Sonnenschutz gegen das unglaublich grelle Licht herunter. Sein Instinkt riet ihm, Cissy zu glauben, insbesondere, da Marlas Bild von der Überwachungskamera der medizinischen Fakultät neben dem Haus der Cahills aufgetaucht war, nachdem Cissy angegeben hatte, Marla auf Eugenias Grundstück gesehen zu haben. Die Polizei hatte die Videoaufnahme sowie das Phantombild des Polizeizeichners an die Presse weitergeleitet. Lokale Fernsehsender und die Zeitungen hatten die Aufzeichnungen der Kamera eifrig veröffentlicht und ausführlich besprochen. Die Zeitungen hatten die Phantombilder von Mary Smith und ein Foto von »Marla« aus dem Filmmaterial veröffentlicht.

Daraufhin meldeten sich ständig Personen im Präsidium, die glaubten, Marla gesehen zu haben. Bisher hatte keine dieser »Marla-Sichtungen« ein Ergebnis gebracht.

Und auch, was das Fahrzeug betraf, gingen sie leer aus. Der Besitzer des silbernen Taurus, der auf der Überwachungskamera der medizinischen Fakultät zu sehen war, hatte sich augenscheinlich gar nicht dort aufgehalten; auch war sein Wagen nicht gestohlen worden. Hector Alvarez war mit seiner Frau zu Hause gewesen; sein Wagen stand zu dem Zeitpunkt, als der Strafzettel an der Fakultät ausgestellt wurde, in seiner Zufahrt. Zwei Nachbarn konnten bezeugen, dass er nicht bewegt worden war. Und sein hinteres Kennzeichen stimmte nicht mit dem vorderen überein. Jemand hatte es ausgetauscht.

Und dieser Jemand war wahrscheinlich der Fahrer des Wagens – und dieser war Marla Cahill oder eine Person, die ihr ähnlich sah. Die Kennzeichen und Alvarez’ Fahrzeug waren von den Kriminaltechnikern untersucht worden.

Bisher ohne Ergebnis.

Doch sie kamen der Sache näher. Paternos Finger spannten sich fester um das Lenkrad. Er konnte nur hoffen, dass sie Marla schnappten, bevor ein weiteres Familienmitglied vor seinen Schöpfer treten musste.

Ein Überwachungsteam war außerdem vor Cissy Holts Haus abgestellt worden. Die Person, die die Angehörigen der Familie Cahill umbrachte, hatte bestimmt auch Cissy auf ihrer Liste.

Es sei denn, sie war die Mörderin.

Wie auch immer, sie wurde beschattet.

Am Ende der langgestreckten Hängebrücke wechselte Paterno die Spur. »Hast du in den Tagebüchern der alten Dame irgendetwas Interessantes gefunden?«

»Ein paar Sachen«, antwortete Quinn. »Ich bin noch damit beschäftigt, sie zu enträtseln.« Sie ließ sich tiefer in den geräumigen Schalensitz des Cadillacs sinken und blickte aus dem Beifahrerfenster. »Wie sich herausstellt, haben die Cahills eine ganze Reihe Leichen im Keller.«

»Erzähl mir was Neues.«

»Willst du es hören?«

»Gib mir die Kurzfassung.«

»Vergiss es. Du kriegst es Wort für Wort.« Sie ignorierte seinen Seufzer und sagte: »Zunächst mal die alte Geschichte: Eugenia Cahill war verlobt, bevor sie Samuel Cahill kennenlernte, doch sie schickte den ersten Verlobten zugunsten des Mannes, den sie dann heiratete, in die Wüste. Das ist nichts Außergewöhnliches, der Kerl ist schon lange tot, und ich bezweifle, dass er einen Groll hegte. Er hat ein paar Jahre später geheiratet, hatte eine Frau und drei Töchter. Seine Frau ist ebenfalls tot, die Töchter sind alle verheiratet und haben Kinder. In ihrem Leben gibt es überhaupt keine Berührungspunkte mit Eugenia Cahill; in diesem Punkt stecken wir also in einer Sackgasse.«

Paterno hielt vor einer roten Ampel und wartete, während eine Frau mit einem Stock und einer Einkaufstasche die Straße überquerte. Es war einfacher, Quinn schwafeln zu lassen, als den Frust, den er verspürte, zum Ausdruck zu bringen.

»Dann ist da Alex, Sohn Nummer eins. Er hatte ein paar Affären während seiner Ehe mit Marla.«

»Keine Sackgasse also«, bemerkte Paterno. Die Ampel schaltete auf Grün, und er fuhr weiter durch die inzwischen vertrauten Straßen von Sausalito.

»Treue schien in ihrer Ehe keinen großen Stellenwert zu haben. Interessant ist dabei, wie Marla überhaupt in Kontakt mit der Familie Cahill kam: Sie hat eine Zeitlang in Cahill House gelebt – diesem Heim für ledige Mütter –, nicht als Ehrenamtliche, sondern als Bewohnerin.«

Paternos Augenbrauen schossen in die Höhe. »Sie hatte ein Kind, das sie zur Adoption freigab?«

»Eugenias Tagebuch legt die Vermutung nahe. Es ist vermutlich im Grunde keine große Sache, aber ich wüsste gern mehr über dieses Kind. Was ist aus der Tochter geworden? Wer war der Vater? Eugenias Aufzeichnungen ist nur zu entnehmen, dass Alex’ Verheiratung mit Marla Amhurst nicht ihre Zustimmung fand. Sie war, ich zitiere: ›vom gesellschaftlichen Standpunkt aus akzeptabel, vom moralischen dagegen verwerflich‹.«

»Das muss weh getan haben.«

»Falls Marla die Einstellung ihrer Schwiegermutter kannte.«

»Eugenia war ziemlich spießig. Mag sein, dass sie sich der Öffentlichkeit gegenüber mit dieser Schwiegertochter einverstanden gezeigt hat, doch wenn sie Marla nicht mochte, dann hat Marla es garantiert gewusst.«

Quinn nickte. »Stoisch nach außen hin, eine rabiate Hexe gegenüber den Menschen, die sie liebte.«

»Wir wissen also nicht, wo sich diese Tochter jetzt aufhält?«

»Noch nicht, aber ich forsche nach. Die Adoptionsakte ist wohl nicht einsehbar, aber es gibt ja Personen, die während der Zeit von Marlas Schwangerschaft in Cahill House gearbeitet haben – Leute, die sich inzwischen im Ruhestand befinden. Ich habe eine Liste, die ich nach und nach abarbeite. Irgendjemand muss doch etwas über dieses Kind wissen.«

Paterno fuhr an der Dreifaltigkeitskirche vorbei, an der ein Plakat einen schlichten Gruß verkündete: »Geh mit Gott, Cherise, unsere Schwester«, gefolgt von einem Bibelvers.

Er runzelte die Stirn, als er das Plakat sah, und spürte das gleiche Brennen im Magen wie zu dem Zeitpunkt, als er in den Nachrichten Reverend Donald in seiner Rolle als trauernden, gebrochenen Ehemann gesehen hatte, der, obwohl er ein Sünder war, Cherise’ Tod als »Zeichen Gottes« verstand, dass er auf den Pfad der Tugend zurückkehren solle. Die Kameras waren sowohl auf ihn als auch auf die ihn umringende Menschenmenge gerichtet gewesen, und Paterno hatte sämtliche Lokalsender aufgezeichnet.

Heather Van Arsdales Gesicht hatte in der Menge gefehlt, wenngleich andere Nachrichten zeigten, wie Reporter ihr vor ihrer Wohnung auflauerten, sogar vor der Schule warteten, an der sie unterrichtete, doch sie war den Bitten um ein Interview nicht nachgekommen. Paterno konnte es ihr nicht verübeln. Sie war »die andere Frau« in einem schlechten Theaterstück. Irgendwie drehte der Reverend die Situation um, wieder einmal der Schönredner, der sich Publicity verschafft und sich das Image eines reuigen Ehebrechers verleiht, der den tragischen gewaltsamen Tod seiner Frau betrauert. Er gab sich selbst die Schuld – und seine Show war erfolgreich. Die Gemeinde stand geschlossen hinter ihm, dem schwachen Mann, der der Versuchung erlegen und jetzt stark war. Faviers Alibi war, wie auch Heathers, hieb- und stichfest. Bisher hatte die Polizei keine Spur verfolgen können, die verraten hätte, dass er einen Auftragskiller bezahlt hätte … oder eine Killerin, wenn man der kurzsichtigen Zeugin, die ihren Hund ausgeführt hatte, glauben wollte.

Paterno fand eine Parklücke, die groß genug für seinen Cadillac war, gleich gegenüber vom Haus der Faviers, einem hübschen Gebäude im Ranchostil. Kränklich wirkende Palmen warfen ein wenig Schatten auf das rote Schindeldach. Der Rasen war sauber und gepflegt, das Haus sandfarben frisch verputzt. Ein gepflasterter Weg führte auf eine Veranda, auf der Hängepflanzen in großen Kübeln dar auf warteten, in den kommenden Monaten Blüten zu treiben.

»Sieht das wie ein Tatort aus?«, fragte Paterno, als sie aus dem Wagen stiegen.

Quinn schüttelte den Kopf. »Nein, aber Cherise Favier sah das bestimmt anders.«


Kopfschmerzen pochten hinter Elyses Augen, und sie musste blinzeln, als sie in den Medizinschrank griff. Sie fand ein Röhrchen Ibuprofen und schluckte das Doppelte der gewohnten Dosis. In letzter Zeit wurden ihre Kopfschmerzen heftiger, lähmten sie nahezu.

Das liegt nur daran, dass sich alles zuspitzt. Du hast beinahe alles erreicht, was du wolltest … bis auf Cissys Tod, und der steht kurz bevor.

Nachdem sie einen Schluck Wein aus der fast leeren Flasche auf ihrem Nachttisch getrunken hatte, dehnte sie ihre verkrampften Muskeln und lockerte die Verspannungen in ihrem Nacken. Es war an der Zeit, ihren Arbeitsplatz aufzusuchen, vorzugeben, eine Frau zu sein, die sie nicht war. Die Vorstellung ärgerte sie.

Nur noch ein bisschen länger … Mehr ist es ja nicht.

Das Räderwerk ist in Gang gesetzt.

Sie warf einen Blick auf das große zerwühlte Bett und dachte an den Mann, den sie liebte. Er war natürlich der Schlüssel zu all ihren Plänen. Er war der entscheidende Faktor, er hatte sogar ganz am Anfang Kontakt zu ihr aufgenommen, doch dann hatte sie sich leider in ihn verliebt.

Einmal ein Narr, immer ein Narr.

Aber nur, wenn du es zulässt.

Lass dich nicht von ihm benutzen.

Lass dich nicht von ihm herabsetzen.

Gib ihm nicht zu viel von dir selbst.

Und um Gottes willen, schenk ihm nicht dein Herz.

Er ist es nicht wert. Kein Mann ist es wert.

Vergiss nicht: Er ist entbehrlich.

Jeder ist entbehrlich.

Und jetzt beweg deinen Hintern zur Arbeit. Heute ist der letzte Tag, an dem du dorthin gehst und vorgibst, jemand zu sein, der du in Wirklichkeit nicht bist.

Heute ist der Anfang vom Ende.